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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 05.05.2024
Gedankenspiele über die Ruhe
Knecht, Doris

Gedankenspiele über die Ruhe


sehr gut

Was ist Ruhe eigentlich? Welche Geräusche stören? Was hat innere Ruhe mit äußerer Ruhe zu tun? Und wen machen Ruheabteile in Zügen ruhig?

Viele Seiten könnte Doris Knecht ohne Mühe um das große Wort Ruhe füllen und Geschichten darum spinnen. Doch in dieser Kurzessay-Reihe geht es um Verknappung. Unter 50 Seiten bleibt sie und entwickelt ihren Ruhetext von einer inneren Aufregung in die Beruhigung, die für Knecht viel mehr damit zu tun hat, sich sicher und angenommen zu fühlen, als mit der Lautstärke an sich.

Sehr gern hab ich dieses Büchlein gelesen, das sich bestens auch an jene verschenken lässt, die nicht Teil dieses Kosmos der Viellesenden sind.

Bücher statt Blumen?

Bewertung vom 05.05.2024
Nachwasser
Paris, Frieda

Nachwasser


ausgezeichnet

»Nachwasser« ist eine Hommage an Friederike Mayröcker. Auf Zettel hat selbige ihre Gedanken und Dichtungen verfasst, sie dann zusammengebracht und daraus ihr Werk erschaffen.
Ausgehend von Mayröckers Zettel-Archiv hat die Schneiderin, Theater-, Film und Medienwissenschaftlerin Frieda Paris einen von Mayröckers Arbeitsweise und Werk inspirierten 𝑠𝑢𝑏|𝑐𝑜𝑛𝑐𝑖𝑜𝑢𝑠 𝑠𝑡𝑟𝑒𝑎𝑚 𝑜𝑓 𝑝𝑜𝑒𝑚 erschaffen, der sich auf die große Dichterin bezieht und sich traut, weiterzutreiben in einen ganz eigenen Sound. Das halten wollen, die Sprache, die Einsamkeit und ein den Stream verbindender Vogel sind im Spiel dieses harmonisch zugeschnittenen Langgedichts, wie das Drehen und Wenden der Zettel, denn »: jeder Satz hat eine Rückseite« |5.

»vielleicht ist dieser Text eine Auffaltung, von hier aus (ist gleich SCHNEIDETISCH) befinde ich alles.« |6

Alles? Frieda Paris befindet viel, wenn sie am SCHNEIDETISCH analog und konträr aus Stoffen, Papier, Büchern und Zitaten Szenen, Gedanken, Assoziationen, An- und Neuordnung der Fragmente schafft. Aber dieses Alles komplettiert sich erst, wenn ihre Ansprache Anklang findet, der Fluss des Sendens und Empfangens der Literatur weiterfließt. Indem Frieda Paris mit ihrer Ich-Figur Mayröcker loslässt, sich Erb, Monroe, Kirsch, Camus, Celan, Duras und anderen zuwendet, weitertreibt, zerschneidet und zusammensetzt, passiert beim Lesen ein Assoziieren, Treiben, Kreisen, Zerschneiden, ein Zusammengehen, -fallen und -setzen.
Das Sein, die Liebe, das Verlassen und Werden fallen in »Nachwasser« zusammen, sie fließen zu zentralen Motiven des Vogels, der Farbe gelb und zu aufeinander Bezug nehmenden Szenen wie

»dass ich einmal neben jemandes Rücken liegen möchte,
ohne Angst haben zu müssen, es könnte jederzeit vorbei sein,
weil einer weiter muss, weil noch immer einer fort muss,
auf die nächste Insel, indes ich dann wieder zurück
an den SCHNEIDETISCH« |10

»das Verlassen werden kam vor dem Schreiben
kurz nach der Geburt fast fallengelassen worden,
in der Ohnmacht meiner Mutter, kaum dass sie mich
auf die Welt gebracht/hatte/sie mich schon gerettet
und ich sie verloren ℎ𝑎𝑙𝑡𝑒𝑛 𝑆𝑖𝑒 𝑑𝑎𝑠 𝐾𝑖𝑛𝑑,
______________ℎ𝑎𝑙𝑡𝑒𝑛 𝑆𝑖𝑒 𝑑𝑎𝑠 𝐾𝑖𝑛𝑑 𝑓𝑒𝑠𝑡«|11
.
Ein beachtenswerter und erfreulicher Text, der nach Performance ruft. Menschen mit einem Herz für Lyrik und neue sich wagende Stimmen, verpasst Frieda Paris nicht.

Bewertung vom 05.05.2024
Wünschen
Ibeh, Chukwuebuka

Wünschen


ausgezeichnet

»"Sie meinen also, dass Homosexuelle ins Gefängnis gehören?"
"Ja", sagte der Mann.
"Warum?" Der Mann wich ein Stück vom Mikrofon zurück und starrte die Korrespondentin an, als habe sie den Verstand verloren. "Weil wir hier Werte haben"« |283

Wenn Obiefuna glücklich ist, spürt er das Gewicht von Missbilligung und Sorge auf sich. Er passt nicht in das Bild eines nigerianischen Jungen und sucht eher leise seinen Platz. Doch sein Wesen blitzt durch und als der Lehrling Aboy seinen Blick erwidert, entsteht eine zarte intime Verbindung, die ein dramatisches Ende nehmen wird. Sein hilfloser Vater verjagt Aboy und verbannt Obiefuna in ein streng christliches Internat und seine schützende Mutter zieht sich in Liebe und Rücksicht zurück.

Große Worte und Aussprachen sucht das beachtliche Debüt »Wünschen« nicht, auch wenn es zum Ende viel Kontext einfließen lässt zu der bedrohlichen Situation queerer Menschen in einer oppressiven nigerianischen Gesellschaft, die wenig Raum lässt für Menschen, deren Begehren und Wesen anders ist, als die strengen Ideale von durch Religionen und Traditionen begründeten Wertegrenzen. Wie Obiefuna nicht reden kann, manchmal auch noch nicht denken, spürt der Text auf und macht die Grenzen erfahrbar, auf die er in seiner schwulen Bewusstwerdung gestoßen wird. Doch es gibt auch unerwartete Öffnungen, Wärme und vertrauensvolle Nähe, unwiderstehliche Lust und Geborgenheit, die Obiefuna immer wieder finden. Durch die permanente Bedrohung baut »Wünschen« Spannung und Tempo auf, die Ibeh durch Zartheit und Stille der Figur ausbalanciert und mit der Zeichnung einer offen blickenden Liebe einer bemerkenswerten Mutterfigur komplettiert.

»Wünschen« berührt emotional und schafft es, ohne platte Verurteilungen die Konfliktlinien des bevölkerungsreichsten Landes des afrikanischen Kontinents nachzuzeichnen, die postkoloniale Situation einzuweben und mit Themen zu verbinden wie Flucht und Migration nach innen und nach Europa oder der Universalität, was Menschen ausmacht, wie sie zu ihren Talenten, zu Erfüllung und Magie im Leben finden können. Überraschend und beeindruckend ist die Dichte und einnehmende Wärme dieses Textes. Es ist mir kaum vorstellbar, dass Obiefuna und seine Mutter Uzoamaka anderes als Zuneigung, Sorge, Verzweiflung und Hoffnung auslösen können. Große Freude macht dieser Roman, ich empfehle ihn sehr.

Bewertung vom 05.05.2024
Meine Katze Jugoslawien
Statovci, Pajtim

Meine Katze Jugoslawien


sehr gut

Schlangen, die die Kontrolle übernehmen, die Alpträume bewohnen, würgen und dabei zu den wichtigsten Vertrauten und Gegenfiguren werden. Katzen, die sich in die Geschichte schleichen, ganz leise, fast nebensächlich, die dann Aufsehen errregen. Die sich in Schwulenbars aufreißen lassen, erst anschmiegsam, dann tyrannisch, fordernd die Kontrolle übernehmen und mit Schlangen um das Territorium kämpfen. Katzen, die die Selbstzweifel und negativen Gedanken einer Figur in verbaler Gewalt einflüstern und diese in der eigenen Wohnung zu verdrängen suchen.
Das klingt nach dystopischem Märchen, nach magischem Realismus und nach von der Psychoanalyse inspirierter Traumdeutung und Symbolik, vielleicht holzschnittartig, vielleicht auch nach Thesenroman, etwas Horror ist auch dabei und das Psychogramm verletzter Identitäten. Insbesondere weil der kosovarosch-finnische Autor Statovci sie mit einer Migrations- und Fluchtgeschichte verwebt und eine Familie entwirft, die nicht nur durch Krieg und Exil von Gewalt, Einsamkeit und Entfremdung gezeichnet ist.
Erfreulicherweise legt er sich nicht fest auf bestimmte Deutungen und entgeht damit den Fallstricken einer zu direkten und determinierenden Sichtweise auf das Erzählte, holzschnittartig und Thesenroman nehm ich zurück.

Einer der Protagonisten ist Bekim, ein queerer einsamer Student, der sich von seiner Familie abgewendet hat. Er findet am Anfang des Romans kaum Kontakt zu sich selbst und der Umwelt, bis er in einem Impuls eine Boa kauft. Seine Gedanken und Erinnerungen wechseln mit der Perspektive seiner Mutter Emine. Ihre vom Patriarchat gefütterten Mädchenträume platzten schon in der Hochzeitsnacht als sie 17 war. Emine hat vier Kinder bekommen mit einem Mann, der gewalttätig, stolz und nicht erreichbar war. Im finnischen Exil hat sie nur schwer Fuß fassen können und fast die Verbindung zum Kosovo, ihren Kindern und sich selbst verloren.

Mit seinem bereits 2014 in Finnland erschienenen Debüt »Meine Katze Jugoslawien«, das 2017 in Englische übersetzt und hoch gelobt wurde, wollte der Autor viel. Doch überfrachtet oder konfus ist der Roman nicht. Er lebt vor allem von der komplexen und lebendigen Figurenzeichnung. Bekim und Emine bekommen einen eigenen Raum, ihre Charaktere sind nahbar, sie ergänzen und irritieren die Perspektive der anderen Figur, auch derjenigen, die nicht zu Wort kommen und sie nehmen eine Entwicklung. Statovsci zeichnet detailliert den Schmerz einer Familie nach, die es schon im Kosovo nicht einfach hatte, die vor Krieg floh und sehenden Auges in die ausgrenzenden und abwertenden Bilder der Finnen fallen und sich kaum oder nur mühsam daraus befreien können. Er spielt dabei mit dem antizipierten diskriminierenden Blick der Lesenden und säht immer wieder Zweifel.
Für mich hätten es auch weniger magisch realistische Tiere und Szenen sein können, aber das ist Geschmackssache, doch auch so kann ich mich einreihen in die von Statovci Begeisterten. Ob es dazu kommen wird, dass er mal den Booker Prize bekommt? Mit Bolla, das glaub ich noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, landete er immerhin schon einmal auf der Longlist des Dublin Literary Award.

Bewertung vom 31.03.2024
Wir sind hier für die Stille
Riese, Dorothee

Wir sind hier für die Stille


sehr gut

»Und dann gab es noch dieses Wort, das sie im Dorf nur hintenrum sagten, manchmal aber auch vornrum, dann spuckten sie es auf dem Boden. Judith sagte das Wort nicht, selbst wenn Besuch kam und fragte, was es damit auf sich hatte.« |117

Als ich den ausführlichen FAZ Podcast zum Buch mit der Autorin hörte, stand die Entscheidung schnell fest. Dieses Buch möchte ich unbedingt lesen, wegen der Konstellation, wegen der Perspektiven, des Humors und wegen dem Blick, den die Autorin einzunehmen scheint. Auch wenn es aus Sicht eines Kindes geschrieben ist, war es zu interessant, eine deutsche christliche Aussteigerfamilie in der Provinz Rumäniens mit einer Tochter, die wichtige Jahre ihres Heranwachsens dort verbringt, die ganz anders dazugehört als ihre Eltern und trotz des Vielvölkergemischs in einem von außen blickenden Dazwischen verbleibt.

Anfang der 90er Jahre wandern die Eltern mit der 5jährigen Judith ins ihnen unbekannte Rumänien aus. »Wir sind hier für die Stille« und das einfache Leben, wir wollen geben und helfen, dem spießigen Deutschland und einem Elternhaus, das in der Nazizeit Schuld auf sich geladen hat, entfliehen, hätten die Eltern geantwortet, wäre Judith schon in einem Alter gewesen, in dem sie hätte fragen können.
In ihrem Hereinwachsen in die transsilvanische Provinz folgt Judith dem Blick vieler, ihrer Eltern, die immer außen vor bleiben, der alten siebenbürgischen Sächsin Lizitanti, die sie gleich adoptiert, der alten Frauen, die bei der "aufsuchenden Mützenarbeit" mitmachen, der Lehrerin, die ihr elaboriertes rumänisch lobt und den Gleichaltrigen George, Blanka, aber vor allem ihrer liebsten Freundin Irina. Armut, Abgrenzung, Ungleichheiten und Gewalt versteht Judith nicht. Sie läuft barfuß, wie ihr Papa und wie die "Schmutzigen", die keine Schuhe zu haben scheinen. Roma oder gar das Z-Wort mag sie nicht verwenden, sie liebt ihre Freundin Irina, die Interesse hat an der Schule, aber nicht immer kommen kann. Judith möchte wie Irina sein und Irina mitziehen in die Bildung und Chancen, doch kommen Grenzen, Widerstand und Widerspruch auf.

Sehr unterhaltsam, manchmal naiv, manchmal lustig und oft bestechend klar verhandelt das Debüt von Dorothee Riese so die Widersprüche von Fremdsein und Vertrautheit, von Macht und Ausschluss und von den Spannungsfeldern der naiven Utopie eines Universalismus aus einer priveligierten Position der "Helfenden" heraus. Sie trifft damit einen Kern der Ambivalenzen von Helfenden und Aussteigern, die sich auf sog. Entwicklungshilfe übertragen lassen, deren Widersprüche auch nicht mit dem Framing Entwicklungszusammenarbeit verschwinden. Sehr lesenswert.

Bewertung vom 29.03.2024
Nochmal von vorne
Suffrin, Dana von

Nochmal von vorne


sehr gut

»Du bist also an dem Tag, an dem wir sozusagen unsere Wurzeln verloren haben, über eine Wurzel gefallen, das ist doch hochinteressant, sagt sie, das ist quasi freudianisch, hast du darüber nicht nachgedacht heute Nacht? Ich antworte nicht, denn ich bin ja nur über die Wurzel gefallen, weil sie in meinem Weg war.« |230

Wem gehört unsere Geschichte? Unseren Eltern und was ist mit der Generation darüber? Und wann gehört unsere Geschichte uns selbst? Ist es, wenn Mutter und Vater gestorben sind und ihre Wurzeln nicht mehr im Weg? Ist es, wenn die Geschichten über unsere Großeltern zu fragmentierten Anekdoten werden? Oder ist es nie so weit, stellen sie sich immer quer und verästeln sich immer weiter in viele Richtungen? Es gibt doch immer Andere, die anderen Verläufe folgen und auch auf Quellen der Geschichte kommen.

Rosa ist voll von verästelten Wurzeln, den sichtbaren, den entdeckten und den verborgenen. Ihr Papa, der stark nach der Vaterfigur des Debütromans »Otto« klingt, ist gerade gestorben und nun sitzt sie in seiner Wohnung, isst sein abgepacktes Brot, die Oliven aus dem Glas und denkt über ihn und die Familie nach. Sie tastet seine zurückgezogene Schweigsamkeit ab, seine Strenge, die Bescheidenheit und den Wunsch nach ruhiger Normalität. Sie folgt der Geschichte ihres Vaters, der Jude war, der in Israel zur Welt kam als Kind einer Holocaustüberlebenden aus Ungarn, der ausgerechnet nach Deutschland ging und eine aus Sicht von Rosa lieblose Ehe mit einer Deutschen einging. Dass diese aus der Ehe ausbrach, wie zuvor aus ihrem Nazi-Elternhaus und dann für immer verschwand, ist eine Randnotiz für Rosa, während sie für ihre Schwester den Mittelpunkt ihrer Biographie bildet.

Harmonisch, gleichmütig fließend erzählt sich der Roman, unter dessen Oberfläche es brodelt, ohne zu explodieren. Von Suffrin gelingt es, über Andeutungen und in Nacherzählung von fragmentarisch überlieferten Geschichten, Spannungen in der jüdisch-deutschen Familiengeschichte aufzubauen. Mit der Schwester zeigen sich die Variationsmöglichkeiten in einer Familiengeschichte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.03.2024
Meine Arbeit
Ravn, Olga

Meine Arbeit


ausgezeichnet

Mit »Meine Arbeit« hat Olga Ravn DAS Buch über Mutterschaft geschrieben. Es ist umfassend, radikal, aufregend, einnehmend, erschöpfend, vielschichtig und lässt viele Lesarten zu.

Erste Lesart
Anna liefert der Autorin-Figur ein Manuskript ihrer Mutterwerdung, Mutterschaft und damit den Bauch der Geschichte. Zerstörung, Schmerz, Orientierungslosigkeit und Verlust zentriert Ravn in ihr. Anna bleibt auf Distanz, »Eine andere Frau, vollkommen anders als ich« |3, deren Mann Aksel heißt, wie der Mann der namenlosen am Buch
arbeitenden Autorinfigur, die näher kommt.

Zweite Lesart
Die Autorin-Figur ist auch schwanger, auch von Aksel, sie ist Arme und Beine der Geschichte. Permanent läuft sie ihre Reaktionen auf die Annageschichte auf und ab, hält sie, entwickelt einen Aufbau, lässt ihn los, choreographiert Textformen zueinander, findet und verwirft Geschichtsvarianten und zieht dabei Annas und ihre Erfahrungen ins Allgemeine.

Dritte Lesart
Das Autorin-Ich blickt auf den Roman und das Schreiben mit Herz, Kopf und Eingeweiden. Sie gießt Essayistisches zum Plot von Anna und zu den Reflexionen, Gedichten und Geschichten der Autorin-Figur und rahmt den Roman. Sie setzt immer wieder an, mit den Gedanken zu Mutterschaft und Kunst, mit Geschichten zu schreibenden Müttern, mit dreizehn Anfängen, mit achtundzwanzig Fortsetzungen und neun Enden.

Vierte Lesart
Körperlich fordert »Meine Arbeit« einiges ab. Ravn greift nach den Lesenden, entzieht sich selten, aber in entscheidenden Momenten. »Meine Arbeit« konfrontiert, provoziert und ist dabei nie ohne Spannung. Der Text folgt dem Erregungsniveau von Schwangerschaft und Geburt. »Meine Arbeit« lesen erschöpft, erfüllt und regt an.

Fünfte Lesart
Literarisch und intellektuell ist »Meine Arbeit« voller neuer Formen und Gedanken. Ravn bleibt nicht dabei stehen, andere als etablierte Wahrheiten des Mutterseins und des Schreibens zu finden, auch die Form ist entsprechend neu und radikal, sie erfüllt und bricht mit Konventionen. »Meine Arbeit« ist mehr als Fiktion, Autofiktion, Prosa, Lyrik und Essay. Es ist lesbare und durchdachte Postfiktion, Postautofiktion, Postprosa, Postlyrik, Postessay, mit Harmonie und Sinn.

Sechste Lesart
Rein subjektiv. Ich habe beim Lesen den Mund nicht mehr zu bekommen. Glühende Freude war die individuelle Reaktion. Zwischendurch Überforderung, der Gedanke von Überfrachtung und der Wunsch, Ravn möge mehrere Bücher über das Thema schreiben, statt alles in einem zu vereinen. Doch nach beenden der Lektüre blieb mir nichts als Zustimmung und Begeisterung, alle Ebenen und Formen gehören zusammen und müssen zusammen bleiben.
Olga Ravn kann meinetwegen von Geldautomaten, Stühlen oder Gurken schreiben, ich würde alles inhalieren. Aber erst einmal hat sie das für mich das beste Buch über weibliches Schreiben und Mutterschaft geschrieben. 

Bewertung vom 10.03.2024
Dear Mr. Saunders
Podhostnik, Thomas

Dear Mr. Saunders


ausgezeichnet

»Lieber Herr Saunders,
in Ihrem Buch 𝘉𝘦𝘪 𝘙𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘪𝘯 𝘦𝘪𝘯𝘦𝘮 𝘛𝘦𝘪𝘤𝘩 𝘴𝘤𝘩𝘸𝘪𝘮𝘮𝘦𝘯 sprechen Sie von der Leserbindung, die ein Text erst entwickeln muss, bevor er seine Wirkung entfalten kann. Dort sagen Sie, die Sätze einer guten Geschichte werfen Fragen auf, es geht darum, Erwartungen aufzubauen und diese Erwartungen später nicht zu enttäuschen, etwa durch zu große Simplizität.« |5

Halten wir kurz inne. Was wird erwartet von der Geschichte eines Gastarbeiterkindes, dessen Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland einwanderten, das sich in die Literatur verliebt, schlau ist, auf Schranken stößt, Kriminalität streift und nach einen Aufstieg strebt? Geschrieben von einem Autoren, der am Deutschen Literaturinstitut Leipzig war und über eben diesen postmigrantischen Hintergrund verfügt?

Thomas Podhostnik weiß mit »Dear Mr. Saunders« diese Erwartungen zu erfüllen, mit ihnen zu spielen und sie zurückzuwerfen auf die Lesenden, die sich wahrscheinlich vermehrt auf der Seite derer befinden, die seine briefschreibende Figur Sergej auf ihren Platz verweisen.
Sergejs erster von drei Briefen an den amerikanischen Schriftsteller George Saunders, die nach und nach in der Parasitenpresse erscheinen werden, ist nicht in der Welt der Geschichten, um auf simple Art zu gefallen, sondern »um herauszufordern, zu provozieren, zu empören. Und auf komplexe Weise zu trösten.« (|13 Saunders) und unternimmt damit den kühnen Versuch, sich mit den Größten der slawischen Literatur zu messen. Sind es doch Tschechow, Turgeniew, Tolstoi und Gogol, anhand derer Saunders Lesende und Schreibende darin schult zu erkennen, wie gute Geschichten funktionieren.
Podhostniks Briefroman ist gut durchkomponiert und funktioniert. Er verhandelt Sprache, Hürden und Außenseitertum. Ohne Gewalt, so einer der provokanten Gedanken, würde die Figur untergehen, wie der Sitznachbar oder der kleine Bruder, der im Gegensatz zu Sergej mit dem Besuch des Gymnasiums auf bestem Wege war, einen vorgezeichneten Bildungsaufstieg zu schaffen. Sergej hingegen schwänzt die Schule, treibt sich in einer Bibliothek...

(1)
...herum und liest sich durch Fehldrucke, die für ihn erschwinglich sind. Er lernt so mehr als in der Hauptschule, denn das »Ziel des Gymnasiums war der mündige Bürger, der freie Mensch, die Führergestalt. Das Ziel der Hauptschule war der gefügige Knecht.« (|36) Das Motiv vom Herr und Knecht der gleich lautenden Kurzgeschichte Tolstois, webt Podhostnik mit Sergejs Gedanken um Macht, Gewalt und seinen Lektüren ein. Thomas Mann, Herrschaftsliteratur, gefällig, satt, bürgerlich, hat ihm nichts nennenswertes zu sagen. Sie ist für Gymnasiasten, die ihn erst provozieren, aber dann die Polizei zu ihrem Schutz rufen, die schikanieren, oder für die Frau, die seine Unterschicht fetischisiert und ihn in einer Mischung aus sich erhebendem Mitleid und Anziehung immer wieder zu sich einlädt. Büchners Radikalität schätzt Sergej mehr und »Der Verdacht« Dürrenmatts stößt ihn auf das nationalsozialistische Erbe. Es sind die Zuweisungen an slawische Menschen, die ihn beschäftigen. Da findet er in den russischen Dichtern und Denkern eine Quelle von Identifikation und Stolz. Sergej sieht in Saunders einen Verbündeten, doch in einer Sache widerspricht er ihm entschieden und folgt seiner Aufforderung zur gleichen Zeit. Der Kritik Tolstoi habe sich zu wenig der Innenwelt des Knechtes gewidmet entgegnet Sergej, dass auch Tolstoi ein Herrschender war und nur in Projektionen über den Knecht habe schreiben können. Podhostnik schreibt aus einer anderen Position. Im zweiten Teil der Briefreihe wird Sergej im Literaturinstitut Leipzig schreiben lernen und diese Geschichte weiter spinnen.

(2)
...
Podhostnik hat mit dem ersten der drei Briefe an Saunders einen provokanten komprimierten, klugen und humorvollen Auftakt hingelegt.
Mit Feuer zerlegt er Lesegewohnheiten über sogenannte postmigrantische und bildungsferne Realitäten. Er liefert fast nebenbei eine Ergänzung zu Saunders Ansatz der Literaturkritik. Bleibt Saunders in seiner Frage, was eine gelungene Erzählung ausmacht textimmanent, erweitert Podhostnik den Blick auf europäische Art darauf, ob es sich um Literatur der herrschenden Ordnung handelt oder diese selbst Irritation erfährt. In Großverlagen kann ich mir derzeit eine solche Irritation nur in einer Übersetzung vorstellen, zu vorsichtig erscheinen mir die deutschsprachigen Veröffentlichungen. Schade, man müsste sich mehr trauen, denn Podhostnik versteht sich in Literatur.

Bewertung vom 10.03.2024
Samota
Hapeyeva, Volha

Samota


sehr gut

»Ein jeder hätte sich da gewundert – es war Samstag, an den Kassen herrschte Gedränge, alle schwitzten, während sie warteten, man beobachtete die Nachbarschlangen, und plötzlich war sie da: die Stille.« |5

Samota beginnt in dröhnender Stille und in einsamen Hotelzimmern. Maja sucht in den Archiven nach vulkanologischen Spuren. Die männlichen Teilnehmer des Kongresses zur Regulation von Tierpopulationen scheinen unheimlich und undurchdringbar. Sebastian, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, ist der Jäger Mészáros nicht geheuer. Der prahlt, tötet Wölfe und hat ein Buch aus Menschenhaut. Wird er sein Geheimnis lüften oder begibt er sich selbst in Gefahr? Helga-Maria ist an beiden Orten. Sie bindet sich nicht oder ist sie das Bindeglied? Teil der Empathischen scheint Helga-Maria jedenfalls nicht zu sein. Schwere schüttelt sie ab, Einsamkeit empfindet sie nicht.
Emotionale Kälte und Psychopathie sind in diesem dystopischen ins surreale gleitenden Roman die Norm und die empathischen Empfindsamen bleiben eine Ausnahme. Eine wichtige Ausnahme, den wer anderes soll für die Verbindungen und das Licht sorgen? Oder braucht es die Leichtigkeit der Helga-Marias?

Schwer greifbar ist der Plot, der einer ausufernden Assoziationskette folgt, die Klima, Tier-und Menschenwohl mit Fragen des Trennenden und Verbindenden zusammenbringt. Eigentlich ist das Konkrete, Gegenständliche und Auserklärte nicht wichtig, wo »Samota« doch vor Allem sprachlich überzeugt.

Bewertung vom 10.03.2024
Die Welt und alles, was sie enthält
Hemon, Aleksandar

Die Welt und alles, was sie enthält


sehr gut

Der bosnisch-amerikanische Autor Aleksandar Hemon wählt in seinem neusten Roman »Die Welt und alles, was sie enthält« ein großes Narrativ und einen Stoff mit ebenso großen historischen Vorgängen, die ihren Auftakt mit dem Schuss auf Franz Ferdinand in Sarajevo nehmen und im ersten weltumspannenden Krieg münden. Er platziert seine Figuren in Schützengräben und auf der Flucht immer weiter gen Osten über Uzbekistan und Shanghai nach Palästina in einem Sprach- Sound-, Religions- und Völkergemisch. Er malt eine queere Liebe zwischen zwei Söhnen Sarajevos, einer jüdisch und behütet, der andere muslimisch und allein, die ausgelebt wird und auf Grenzen stößt. Hinzu kommt eine Tochter, von dem einen gezeugt, von dem anderen durchgebracht, eine überdauernde Verbundenheit zwischen den Männern und ihrem Sehnsuchtssort Sarajevo, der nicht mehr der gleiche sein wird nach dem Krieg.

Den großen Wegen, dem sprachlichen Gemisch und den historisch bewegten Ereignissen stellt Hemon die Sehnsucht nach Beständigkeit und einem Zuhause in einem geliebten Menschen und den Orten der Kindheit gegenüber. Ich geh nicht soweit, dass »Die Welt und alles, was sie enthält« ein Meisterwerk ist, wie David Mitchell schreibt oder atemberaubend, wie Douglas Stuart bescheinigt. Doch hat es mein Herz, weil es all jenen mit brüchiger Heimat und weitgewanderten Familiengeschichten mit gemischten Sprachen und schwer lokal zuordnebaren Geschichten eine Bühne gibt. Hemon widmet es den »Flüchtenden dieser Welt« (|6), das sind viele und sie haben etwas zu erzählen. Auch das Nachwort über den Ausgangspunkt des Romans ist sehr lesenswert und Hemon sowieso.