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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 31.03.2024
Wir sind hier für die Stille
Riese, Dorothee

Wir sind hier für die Stille


sehr gut

»Und dann gab es noch dieses Wort, das sie im Dorf nur hintenrum sagten, manchmal aber auch vornrum, dann spuckten sie es auf dem Boden. Judith sagte das Wort nicht, selbst wenn Besuch kam und fragte, was es damit auf sich hatte.« |117

Als ich den ausführlichen FAZ Podcast zum Buch mit der Autorin hörte, stand die Entscheidung schnell fest. Dieses Buch möchte ich unbedingt lesen, wegen der Konstellation, wegen der Perspektiven, des Humors und wegen dem Blick, den die Autorin einzunehmen scheint. Auch wenn es aus Sicht eines Kindes geschrieben ist, war es zu interessant, eine deutsche christliche Aussteigerfamilie in der Provinz Rumäniens mit einer Tochter, die wichtige Jahre ihres Heranwachsens dort verbringt, die ganz anders dazugehört als ihre Eltern und trotz des Vielvölkergemischs in einem von außen blickenden Dazwischen verbleibt.

Anfang der 90er Jahre wandern die Eltern mit der 5jährigen Judith ins ihnen unbekannte Rumänien aus. »Wir sind hier für die Stille« und das einfache Leben, wir wollen geben und helfen, dem spießigen Deutschland und einem Elternhaus, das in der Nazizeit Schuld auf sich geladen hat, entfliehen, hätten die Eltern geantwortet, wäre Judith schon in einem Alter gewesen, in dem sie hätte fragen können.
In ihrem Hereinwachsen in die transsilvanische Provinz folgt Judith dem Blick vieler, ihrer Eltern, die immer außen vor bleiben, der alten siebenbürgischen Sächsin Lizitanti, die sie gleich adoptiert, der alten Frauen, die bei der "aufsuchenden Mützenarbeit" mitmachen, der Lehrerin, die ihr elaboriertes rumänisch lobt und den Gleichaltrigen George, Blanka, aber vor allem ihrer liebsten Freundin Irina. Armut, Abgrenzung, Ungleichheiten und Gewalt versteht Judith nicht. Sie läuft barfuß, wie ihr Papa und wie die "Schmutzigen", die keine Schuhe zu haben scheinen. Roma oder gar das Z-Wort mag sie nicht verwenden, sie liebt ihre Freundin Irina, die Interesse hat an der Schule, aber nicht immer kommen kann. Judith möchte wie Irina sein und Irina mitziehen in die Bildung und Chancen, doch kommen Grenzen, Widerstand und Widerspruch auf.

Sehr unterhaltsam, manchmal naiv, manchmal lustig und oft bestechend klar verhandelt das Debüt von Dorothee Riese so die Widersprüche von Fremdsein und Vertrautheit, von Macht und Ausschluss und von den Spannungsfeldern der naiven Utopie eines Universalismus aus einer priveligierten Position der "Helfenden" heraus. Sie trifft damit einen Kern der Ambivalenzen von Helfenden und Aussteigern, die sich auf sog. Entwicklungshilfe übertragen lassen, deren Widersprüche auch nicht mit dem Framing Entwicklungszusammenarbeit verschwinden. Sehr lesenswert.

Bewertung vom 29.03.2024
Nochmal von vorne
Suffrin, Dana von

Nochmal von vorne


sehr gut

»Du bist also an dem Tag, an dem wir sozusagen unsere Wurzeln verloren haben, über eine Wurzel gefallen, das ist doch hochinteressant, sagt sie, das ist quasi freudianisch, hast du darüber nicht nachgedacht heute Nacht? Ich antworte nicht, denn ich bin ja nur über die Wurzel gefallen, weil sie in meinem Weg war.« |230

Wem gehört unsere Geschichte? Unseren Eltern und was ist mit der Generation darüber? Und wann gehört unsere Geschichte uns selbst? Ist es, wenn Mutter und Vater gestorben sind und ihre Wurzeln nicht mehr im Weg? Ist es, wenn die Geschichten über unsere Großeltern zu fragmentierten Anekdoten werden? Oder ist es nie so weit, stellen sie sich immer quer und verästeln sich immer weiter in viele Richtungen? Es gibt doch immer Andere, die anderen Verläufe folgen und auch auf Quellen der Geschichte kommen.

Rosa ist voll von verästelten Wurzeln, den sichtbaren, den entdeckten und den verborgenen. Ihr Papa, der stark nach der Vaterfigur des Debütromans »Otto« klingt, ist gerade gestorben und nun sitzt sie in seiner Wohnung, isst sein abgepacktes Brot, die Oliven aus dem Glas und denkt über ihn und die Familie nach. Sie tastet seine zurückgezogene Schweigsamkeit ab, seine Strenge, die Bescheidenheit und den Wunsch nach ruhiger Normalität. Sie folgt der Geschichte ihres Vaters, der Jude war, der in Israel zur Welt kam als Kind einer Holocaustüberlebenden aus Ungarn, der ausgerechnet nach Deutschland ging und eine aus Sicht von Rosa lieblose Ehe mit einer Deutschen einging. Dass diese aus der Ehe ausbrach, wie zuvor aus ihrem Nazi-Elternhaus und dann für immer verschwand, ist eine Randnotiz für Rosa, während sie für ihre Schwester den Mittelpunkt ihrer Biographie bildet.

Harmonisch, gleichmütig fließend erzählt sich der Roman, unter dessen Oberfläche es brodelt, ohne zu explodieren. Von Suffrin gelingt es, über Andeutungen und in Nacherzählung von fragmentarisch überlieferten Geschichten, Spannungen in der jüdisch-deutschen Familiengeschichte aufzubauen. Mit der Schwester zeigen sich die Variationsmöglichkeiten in einer Familiengeschichte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.03.2024
Meine Arbeit
Ravn, Olga

Meine Arbeit


ausgezeichnet

Mit »Meine Arbeit« hat Olga Ravn DAS Buch über Mutterschaft geschrieben. Es ist umfassend, radikal, aufregend, einnehmend, erschöpfend, vielschichtig und lässt viele Lesarten zu.

Erste Lesart
Anna liefert der Autorin-Figur ein Manuskript ihrer Mutterwerdung, Mutterschaft und damit den Bauch der Geschichte. Zerstörung, Schmerz, Orientierungslosigkeit und Verlust zentriert Ravn in ihr. Anna bleibt auf Distanz, »Eine andere Frau, vollkommen anders als ich« |3, deren Mann Aksel heißt, wie der Mann der namenlosen am Buch
arbeitenden Autorinfigur, die näher kommt.

Zweite Lesart
Die Autorin-Figur ist auch schwanger, auch von Aksel, sie ist Arme und Beine der Geschichte. Permanent läuft sie ihre Reaktionen auf die Annageschichte auf und ab, hält sie, entwickelt einen Aufbau, lässt ihn los, choreographiert Textformen zueinander, findet und verwirft Geschichtsvarianten und zieht dabei Annas und ihre Erfahrungen ins Allgemeine.

Dritte Lesart
Das Autorin-Ich blickt auf den Roman und das Schreiben mit Herz, Kopf und Eingeweiden. Sie gießt Essayistisches zum Plot von Anna und zu den Reflexionen, Gedichten und Geschichten der Autorin-Figur und rahmt den Roman. Sie setzt immer wieder an, mit den Gedanken zu Mutterschaft und Kunst, mit Geschichten zu schreibenden Müttern, mit dreizehn Anfängen, mit achtundzwanzig Fortsetzungen und neun Enden.

Vierte Lesart
Körperlich fordert »Meine Arbeit« einiges ab. Ravn greift nach den Lesenden, entzieht sich selten, aber in entscheidenden Momenten. »Meine Arbeit« konfrontiert, provoziert und ist dabei nie ohne Spannung. Der Text folgt dem Erregungsniveau von Schwangerschaft und Geburt. »Meine Arbeit« lesen erschöpft, erfüllt und regt an.

Fünfte Lesart
Literarisch und intellektuell ist »Meine Arbeit« voller neuer Formen und Gedanken. Ravn bleibt nicht dabei stehen, andere als etablierte Wahrheiten des Mutterseins und des Schreibens zu finden, auch die Form ist entsprechend neu und radikal, sie erfüllt und bricht mit Konventionen. »Meine Arbeit« ist mehr als Fiktion, Autofiktion, Prosa, Lyrik und Essay. Es ist lesbare und durchdachte Postfiktion, Postautofiktion, Postprosa, Postlyrik, Postessay, mit Harmonie und Sinn.

Sechste Lesart
Rein subjektiv. Ich habe beim Lesen den Mund nicht mehr zu bekommen. Glühende Freude war die individuelle Reaktion. Zwischendurch Überforderung, der Gedanke von Überfrachtung und der Wunsch, Ravn möge mehrere Bücher über das Thema schreiben, statt alles in einem zu vereinen. Doch nach beenden der Lektüre blieb mir nichts als Zustimmung und Begeisterung, alle Ebenen und Formen gehören zusammen und müssen zusammen bleiben.
Olga Ravn kann meinetwegen von Geldautomaten, Stühlen oder Gurken schreiben, ich würde alles inhalieren. Aber erst einmal hat sie das für mich das beste Buch über weibliches Schreiben und Mutterschaft geschrieben. 

Bewertung vom 10.03.2024
Dear Mr. Saunders
Podhostnik, Thomas

Dear Mr. Saunders


ausgezeichnet

»Lieber Herr Saunders,
in Ihrem Buch 𝘉𝘦𝘪 𝘙𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘪𝘯 𝘦𝘪𝘯𝘦𝘮 𝘛𝘦𝘪𝘤𝘩 𝘴𝘤𝘩𝘸𝘪𝘮𝘮𝘦𝘯 sprechen Sie von der Leserbindung, die ein Text erst entwickeln muss, bevor er seine Wirkung entfalten kann. Dort sagen Sie, die Sätze einer guten Geschichte werfen Fragen auf, es geht darum, Erwartungen aufzubauen und diese Erwartungen später nicht zu enttäuschen, etwa durch zu große Simplizität.« |5

Halten wir kurz inne. Was wird erwartet von der Geschichte eines Gastarbeiterkindes, dessen Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland einwanderten, das sich in die Literatur verliebt, schlau ist, auf Schranken stößt, Kriminalität streift und nach einen Aufstieg strebt? Geschrieben von einem Autoren, der am Deutschen Literaturinstitut Leipzig war und über eben diesen postmigrantischen Hintergrund verfügt?

Thomas Podhostnik weiß mit »Dear Mr. Saunders« diese Erwartungen zu erfüllen, mit ihnen zu spielen und sie zurückzuwerfen auf die Lesenden, die sich wahrscheinlich vermehrt auf der Seite derer befinden, die seine briefschreibende Figur Sergej auf ihren Platz verweisen.
Sergejs erster von drei Briefen an den amerikanischen Schriftsteller George Saunders, die nach und nach in der Parasitenpresse erscheinen werden, ist nicht in der Welt der Geschichten, um auf simple Art zu gefallen, sondern »um herauszufordern, zu provozieren, zu empören. Und auf komplexe Weise zu trösten.« (|13 Saunders) und unternimmt damit den kühnen Versuch, sich mit den Größten der slawischen Literatur zu messen. Sind es doch Tschechow, Turgeniew, Tolstoi und Gogol, anhand derer Saunders Lesende und Schreibende darin schult zu erkennen, wie gute Geschichten funktionieren.
Podhostniks Briefroman ist gut durchkomponiert und funktioniert. Er verhandelt Sprache, Hürden und Außenseitertum. Ohne Gewalt, so einer der provokanten Gedanken, würde die Figur untergehen, wie der Sitznachbar oder der kleine Bruder, der im Gegensatz zu Sergej mit dem Besuch des Gymnasiums auf bestem Wege war, einen vorgezeichneten Bildungsaufstieg zu schaffen. Sergej hingegen schwänzt die Schule, treibt sich in einer Bibliothek...

(1)
...herum und liest sich durch Fehldrucke, die für ihn erschwinglich sind. Er lernt so mehr als in der Hauptschule, denn das »Ziel des Gymnasiums war der mündige Bürger, der freie Mensch, die Führergestalt. Das Ziel der Hauptschule war der gefügige Knecht.« (|36) Das Motiv vom Herr und Knecht der gleich lautenden Kurzgeschichte Tolstois, webt Podhostnik mit Sergejs Gedanken um Macht, Gewalt und seinen Lektüren ein. Thomas Mann, Herrschaftsliteratur, gefällig, satt, bürgerlich, hat ihm nichts nennenswertes zu sagen. Sie ist für Gymnasiasten, die ihn erst provozieren, aber dann die Polizei zu ihrem Schutz rufen, die schikanieren, oder für die Frau, die seine Unterschicht fetischisiert und ihn in einer Mischung aus sich erhebendem Mitleid und Anziehung immer wieder zu sich einlädt. Büchners Radikalität schätzt Sergej mehr und »Der Verdacht« Dürrenmatts stößt ihn auf das nationalsozialistische Erbe. Es sind die Zuweisungen an slawische Menschen, die ihn beschäftigen. Da findet er in den russischen Dichtern und Denkern eine Quelle von Identifikation und Stolz. Sergej sieht in Saunders einen Verbündeten, doch in einer Sache widerspricht er ihm entschieden und folgt seiner Aufforderung zur gleichen Zeit. Der Kritik Tolstoi habe sich zu wenig der Innenwelt des Knechtes gewidmet entgegnet Sergej, dass auch Tolstoi ein Herrschender war und nur in Projektionen über den Knecht habe schreiben können. Podhostnik schreibt aus einer anderen Position. Im zweiten Teil der Briefreihe wird Sergej im Literaturinstitut Leipzig schreiben lernen und diese Geschichte weiter spinnen.

(2)
...
Podhostnik hat mit dem ersten der drei Briefe an Saunders einen provokanten komprimierten, klugen und humorvollen Auftakt hingelegt.
Mit Feuer zerlegt er Lesegewohnheiten über sogenannte postmigrantische und bildungsferne Realitäten. Er liefert fast nebenbei eine Ergänzung zu Saunders Ansatz der Literaturkritik. Bleibt Saunders in seiner Frage, was eine gelungene Erzählung ausmacht textimmanent, erweitert Podhostnik den Blick auf europäische Art darauf, ob es sich um Literatur der herrschenden Ordnung handelt oder diese selbst Irritation erfährt. In Großverlagen kann ich mir derzeit eine solche Irritation nur in einer Übersetzung vorstellen, zu vorsichtig erscheinen mir die deutschsprachigen Veröffentlichungen. Schade, man müsste sich mehr trauen, denn Podhostnik versteht sich in Literatur.

Bewertung vom 10.03.2024
Samota
Hapeyeva, Volha

Samota


sehr gut

»Ein jeder hätte sich da gewundert – es war Samstag, an den Kassen herrschte Gedränge, alle schwitzten, während sie warteten, man beobachtete die Nachbarschlangen, und plötzlich war sie da: die Stille.« |5

Samota beginnt in dröhnender Stille und in einsamen Hotelzimmern. Maja sucht in den Archiven nach vulkanologischen Spuren. Die männlichen Teilnehmer des Kongresses zur Regulation von Tierpopulationen scheinen unheimlich und undurchdringbar. Sebastian, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, ist der Jäger Mészáros nicht geheuer. Der prahlt, tötet Wölfe und hat ein Buch aus Menschenhaut. Wird er sein Geheimnis lüften oder begibt er sich selbst in Gefahr? Helga-Maria ist an beiden Orten. Sie bindet sich nicht oder ist sie das Bindeglied? Teil der Empathischen scheint Helga-Maria jedenfalls nicht zu sein. Schwere schüttelt sie ab, Einsamkeit empfindet sie nicht.
Emotionale Kälte und Psychopathie sind in diesem dystopischen ins surreale gleitenden Roman die Norm und die empathischen Empfindsamen bleiben eine Ausnahme. Eine wichtige Ausnahme, den wer anderes soll für die Verbindungen und das Licht sorgen? Oder braucht es die Leichtigkeit der Helga-Marias?

Schwer greifbar ist der Plot, der einer ausufernden Assoziationskette folgt, die Klima, Tier-und Menschenwohl mit Fragen des Trennenden und Verbindenden zusammenbringt. Eigentlich ist das Konkrete, Gegenständliche und Auserklärte nicht wichtig, wo »Samota« doch vor Allem sprachlich überzeugt.

Bewertung vom 10.03.2024
Die Welt und alles, was sie enthält
Hemon, Aleksandar

Die Welt und alles, was sie enthält


sehr gut

Der bosnisch-amerikanische Autor Aleksandar Hemon wählt in seinem neusten Roman »Die Welt und alles, was sie enthält« ein großes Narrativ und einen Stoff mit ebenso großen historischen Vorgängen, die ihren Auftakt mit dem Schuss auf Franz Ferdinand in Sarajevo nehmen und im ersten weltumspannenden Krieg münden. Er platziert seine Figuren in Schützengräben und auf der Flucht immer weiter gen Osten über Uzbekistan und Shanghai nach Palästina in einem Sprach- Sound-, Religions- und Völkergemisch. Er malt eine queere Liebe zwischen zwei Söhnen Sarajevos, einer jüdisch und behütet, der andere muslimisch und allein, die ausgelebt wird und auf Grenzen stößt. Hinzu kommt eine Tochter, von dem einen gezeugt, von dem anderen durchgebracht, eine überdauernde Verbundenheit zwischen den Männern und ihrem Sehnsuchtssort Sarajevo, der nicht mehr der gleiche sein wird nach dem Krieg.

Den großen Wegen, dem sprachlichen Gemisch und den historisch bewegten Ereignissen stellt Hemon die Sehnsucht nach Beständigkeit und einem Zuhause in einem geliebten Menschen und den Orten der Kindheit gegenüber. Ich geh nicht soweit, dass »Die Welt und alles, was sie enthält« ein Meisterwerk ist, wie David Mitchell schreibt oder atemberaubend, wie Douglas Stuart bescheinigt. Doch hat es mein Herz, weil es all jenen mit brüchiger Heimat und weitgewanderten Familiengeschichten mit gemischten Sprachen und schwer lokal zuordnebaren Geschichten eine Bühne gibt. Hemon widmet es den »Flüchtenden dieser Welt« (|6), das sind viele und sie haben etwas zu erzählen. Auch das Nachwort über den Ausgangspunkt des Romans ist sehr lesenswert und Hemon sowieso.

Bewertung vom 28.02.2024
Verdunstung in der Randzone
Matusko, Ilija

Verdunstung in der Randzone


ausgezeichnet

Wie riecht Klasse, wie riecht Kunst? Und klettern Aufsteiger:innen nach oben oder nur in einen anderen Raum? Können sie sich in dem neuen Raum frei bewegen? Wie verändert sich ihr Blick auf den Alten? Und können sie die Angst und Scham abstreifen, "fehl am Platz zu sein", ertappt oder deplatziert?

“Aufsteigern sieht man das Klettern an“, zitiert Matusko den Popstar der Soziologie Bourdieu, der alle Diskurse zu kulturellen Codes und Praktiken bestimmt und paradoxerweise selbst zu einem Code geworden ist.
Matusko tastet in seinem räumlich, gegenständlich und sinnlich suchenden Herkunft, Klasse und Aufstieg hinterfragenden Essay dieses Klettern in viele Richtungen ab. Er nimmt seine Eltern, die Mutter bayerische Gastwirtin, der Vater Gastronom, emigriert aus dem ehemaligen Jugoslawien, die bewirtschafteten Wirtshäuser seiner Kindheit, Pommes, Tennis, Lacoste, Quellekatalog und Sperrholz, das Gymnasium, die reicheren Freunde, die Kunst und das Geld. Er baut sich ihm eingebrannte Slogans und Dialoge ein und landet dabei immer wieder bei der sanktionierenden Kraft von Gerüchen und Essen.

»Warum ist der Geruch nach Zwiebeln oder Knoblauch oder Pommes denn so schlimm? Sind es wirklich die Gerüche, die so störend sind für die Angewiderten, oder eigentlich die Menschen und Eigenschaften, die jene mit ihnen assoziieren? Und sind nicht eher sie und ihre empfindlichen Riecher das Problem?« |175

»Verdunstung in der Randzone« geht vom Persönlichen auf das Allgemeine zu und beschreibt das Klettern durch gesellschaftliche Grenzräume, mit dem wahrscheinlich nicht nur Aufsteiger:innen eine Menge anfangen können. Die Unbedarftheit, die Beschämung und die internalisierte Scham, die Überkompensation und eine Neuverortung, die immer brüchig bleiben wird, sind nicht so individuell, wie sie scheinen. »Verdunstung in der Randzone« verändert die Blicke auf uns nahegelegte und verlassene Räume. Es erhellt die Selektionen und Hürden derer, die sich in den neuen Räumen zuhause fühlen. Vielleicht ist es auch eine Möglichkeit, auf der Schwelle stehen zu bleiben, oder sich einen dritten Raum zu erschaffen.

Bewertung vom 28.02.2024
An Rändern
Tijssens, Angelo

An Rändern


ausgezeichnet

»Die sehen schön aus. Wie Zeichnungen. Seine Finger streifen das Narbengewebe. Merkst du das?
Ja, sage ich.
Er sieht mich an und sagt: Trotzdem bist du intakter als früher. Ich sehe ihn an und ergänze: du bist stärker. Auch weniger blaue Flecken.«

Ein Mann zeitlosen Alters fährt zurück in die Kleinstadt, in der er einst mit einer Mutter aufwuchs, die bei jedem Blick, Schritt oder Geräusch explodierte. Die Szenen der Gewalt hallen in ihm, ebenso wie die Zärtlichkeit seiner einzigen Liebe, die aus einer verletzlichen Jungenfreundschaft entstand.

»Draußen wütet immer noch der Sturm. Hier drinnen legt ein junger Mann die Hand auf die Brust eines anderen, dann auch den Kopf. Sie atmen zusammen ein und aus.«

Ab tauchte der Mann in ein haltloses Leben, in dem sich neben flüchtigem Sex mit Fremden, die Vergangenheit hin und zurück spuhlt. Jetzt taucht er auf. Er nimmt den Faden der Liebe vorsichtig in die Hand, wie den Körper, der mit ihm in Extase und zur Ruhe kommt, während seine andere Vergangenheit ein Ende nimmt.

»An Rändern« ist intensive Reduktion. Unwesentliches lässt Tijssens weg, auch die Seitenzahlen, die nur ein linerares Voranschreiten eines Plots vortäuschen und das Kreisen, Fließen und Springen der Geschichte stören würden. Tijssens schafft so eine Essenz mit stillem, dabei vibrierendem Sound. Körperlichkeit und Sexualität erzählen sich intim und pur ohne Prüderie, wie ich es selten las. Dass es sich um eine queere Geschichte handelt, ist dabei nicht wichtig und zur gleichen Zeit das Wichtigste. »An Rändern« dreht sich um Grenzen im Außen und Innen einer suchenden, verletzten, traurigen und leuchtenden Figur, die nur wenig Worte braucht, um die Motive schwuler Literatur, Gewalt, Traumata, Sexualität, des Lebenswillens, der Hoffnung und der Nähe in ihrem Kern zu treffen.

Wer es noch nicht gemerkt hat, ich bin schwer begeistert von diesem Romandebüt des belgischen Autors, der mit dem gefeierten Film »Close« Bekanntheit erlangte. Es ist eins der Bücher, die ich vielen Menschen ans Herz und in die Hand legen möchte. Trotz der Trauer und Schwere der Themen, ist »An Rändern« hell und beglückend.

Bewertung vom 28.02.2024
Kafka
Safranski, Rüdiger

Kafka


ausgezeichnet

Es scheint vergeblich, als Laiin zu einer eindeutigen Aussage über Kafkas Werk kommen zu wollen. Auch über eine Biographie das Schaffen Kafkas zu begreifen, erscheint fast aussichtslos. Kafkas Texte verführen, ebenso wie die mythisch aufgeladene historische Figur Kafkas selbst. Text und Figur sprechen Instinkte an, die danach streben, nahe zu kommen, Intimität zu erleben, sie auch zu empfinden, um dann wieder zurück geworfen zu werden auf einen Echoraum in sich selbst. Naheliegend ist es, in einer Biographie nach Einordnung und Halt zu suchen, nach Bedeutung in der Familie, beim Vater, in der literarischen Tradition, der gesellschaftlichen Situation und Stellung oder in seinen nicht glücklich verlaufenden Beziehungen zu Frauen.

Zum Glück erliegt der souveräne Biograph Safranski dieser Verführung nur in Teilen. Seine auch mit wenig Kafka-Vorbildung flüssig zu lesende und in eine Kafka-Welt ziehende Biographie konzentriert sich auf die Texte, die zur Veröffentlichung bestimmt waren oder schon zu Lebzeiten veröffentlicht wurden und stützt sich auf Briefe sowie Tagebucheinträge, die eine ähnliche Wirkung haben wie das Werk; auch sie sind mehrdeutig, widersprüchlich, Interesse bindend und komplex. Der Familiengeschichte und dem Vater gibt Safranski wenig Raum, philosophische oder kabbalistische Deutungsspuren werden nur gestreift und eine literaturwissenschaftliche Einordnung unterbleibt fast. Der Reiz Safranskis Biographie liegt in den Frauen, bzw. in Kafkas Konzentration auf das Schreiben und in seinem schwankenden Begehren, dem nicht halten und nicht loslassen können von Bindungen. So wie mit den Frauen verhält es sich auch mit den Texten. Kafka sucht zu verführen und einzunehmen. Das Gegenüber sieht sich in einer exklusiven Verbindung, dann hält Kafka etwas zurück, er bleibt in seiner eigenen mit sich selbst beschäftigten Welt und sorgt so für Spannung. Einnehmend ist dieser emotionale Zugang, den Safranski in der Biographie nahelegt; je allgemeiner, desto überzeugender wirkt er. Sucht Safranski konkret nach Ereignissen und Motiven des Lebens im Werk, so beginnt auch diese Deutungsfährte zu verblassen. Denn macht die Stärke von Kafkas Texten nicht das Unbestimmbare, das Paradoxe und das nicht Feste aus? Die Verweigerung eindeutiger Motive, Bezüge und Botschaften nach Außen? Auch mit Hilfe einer Biographie bleibt das auf sich zurück geworfen sein bestehen.

Bewertung vom 28.02.2024
Die lichten Sommer
Kucher, Simone

Die lichten Sommer


sehr gut

»Die lichten Sommer« ist ein Text zum Schütteln. Sehnsucht und Leidenschaft scheinen durch die stille Verbundenheit von zwei Frauen, die sich und uns viel zu erzählen hätten, wenn sie mehr reden könnten. So gehemmt die beiden Figuren sind, so zeigt sich auch ihre Sprache gebremst und befangen.
Liz wünscht sich Bildung, Musik, Liebe, Ermutigung und Halt. Die Enge der Baracken für Vertriebene, eine in Trauer und Erduldung gefangene Mutter, trinkende Brüder, ein schweigender Vater, eine kalte Ehe und die Dorfgemeinschaft verweisen sie auf ihren Platz.
In ihrer Mutter Nevenka lebt das Tschechische Dorf. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs spuhlen sich in ihr vor und zurück, die Rolle der Volksdeutschen, ihre naive Perspektive, das Profitieren von der Deutschen Besatzung, die Geschichten über Lager, die Zwangsarbeit, der jüdische Junge. Sie landet immer wieder bei ihrer mutigen schönen Freundin, deren Vater im Gefängnis saß, bei der Euphorie der Befreiung, die in Verfolgung umschlägt bis zur Vertreibung und der Schuld und Scham, die den Folgen eines einfachen Spiels entspringen.

Im Wechsel deckt »Die lichten Sommer« die isolierten Innenwelten von Mutter und Tochter auf und legt Fährten über die Zusammenhänge beider einsamer Lebenswege. Ich hätte nicht alle Ereignisse auserzählt gebraucht. Wenn dir Schneeflocken wie Feuer von Elfi Conrad oder Hana von Alena Mornštajnová gefallen hat, dann könnte auch »Die lichten Sommer« etwas für dich sein. Sound, Zeit und Themen passen zueinander, auch wenn alle drei Romane in unterschiedliche Richtungen laufen.