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jr17

Bewertungen

Insgesamt 39 Bewertungen
Bewertung vom 25.10.2023
The Magic Border
Parks, Arlo

The Magic Border


ausgezeichnet

Eine eigene Welt

"thank you
for staying as long as you have"
Damit endet Arlo Parks The Magic Border. Es sind Gedichte und Fragmente, die persönlicher kaum sein könnten. Dabei verändert sie immer wieder Stil und Form, um das auszudrücken, was jedes einzelne Werk ausmacht. Die Zweisprachigkeit der Ausgabe macht sie besonders: Wer des Englischen mächtig ist, kann im Original lesen - wer einzelne Wörter oder Ausdrücke nicht kennt, kann allerdings auf die Übersetzungen von Amanda Mukasonga zurückgreifen. Die Fotografien von Daniyel Lowden machen diese Ausgabe noch wertvoller. Sie passen zum Schmerz aber auch zur Alltäglichkeit vieler Schriften. Mir gefällt der Ausdruck, jemand habe eine starke Stimme nicht. Denn welche Stimme ist schwach? Was Arlo Parks jedoch ganz sicher hat: ihre ganz eigene Stimme. Es habe sie Überwindung gekostet, die persönlichen Gedichte zu veröffentlichen und anderen zu zeigen. Als Leserin kann ich nur sagen: Danke für die Überwindung.

Bewertung vom 16.10.2023
Vom Himmel die Sterne
Walls, Jeannette

Vom Himmel die Sterne


weniger gut

Show, don't tell - es ist der grundlegende Leitsatz, nach dem Autorinnen und Autoren meiner Meinung nach arbeiten sollten. Er bedeutet: Zeige mir, was du mir sagen möchtest, aber sage es mir nicht. Leider klappt das in diesem Roman gar nicht. Immer wieder werden Metaphern und Geschichten eingestreut, deren Bedeutung für die Romanhandlung aus Sicht der Hauptfigur Sallie direkt im Anschluss erklärt werden.
Dazu kommen wilde Verkettungen von Geschehnissen. Hier eine Schießerei, dort eine Schwangerschaft und ich werde das Gefühl nicht los, dass die Ereignisse recht unmotiviert aneinander gekettet wurden. Im Nachwort wird deutlich, dass sich Jeannette Walls an wahren Ereignissen der Zeit orientiert hat. Auch wenn sich das letzte Drittel des Romans in dieser Hinsicht etwas flüssiger liest, wünscht man sich doch, sie hätte etwas mehr erfunden und den Roman damit stimmiger gemacht.

Bewertung vom 05.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Sparen, sparen, sparen

Wenn die Mutter stirbt, ist das immer ein einschneidendes Erlebnis, selbst wenn man selbst nicht mehr der Jüngste ist. Wolf Haas lässt seinen Ich-Erzähler in seinem offenbar stark autobiografisch geprägten Roman die letzten Tage der Mutter und das, was da noch kommuniziert wird, in unnachahmlich Haas‘scher Manier schildern, fast so, als würde es einem mündlich erzählt. Die Verpflichtung, die Erinnerungen der Mutter an ein Leben, das immer darum kreiste, zu Eigentum zu kommen, in seinem Wissen zu bewahren, belasten den Erzähler, der eigentlich gerade eine Poetik-Vorlesung vorbereiten soll. Dabei scheint er kaum zu bemerken, dass das, was die Erinnerungen der Mutter mit dem Erzähler machen, eine prima Vorlage für seine Vorlesung sind. Das Ganze ist teilweise tieftraurig, aber auf jeder Seite auch gnadenlos schwarzhumorig.

Bewertung vom 17.06.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Tolle Atmosphäre

Robert Seethaler ist ein Meister darin, das Alltägliche zu beschreiben und daraus Erzählenswertes zu ziehen. In den 60er Jahren in Wien spielt der neue Roman - eine Zeit, deren Ton Seethaler schon in der Sprache toll trifft. Wenn in der Trafik die Zeitung geholt und im Café unter den Gästen getratscht wird, fällt es nicht schwer, sich 60 Jahre zurückversetzen zu lassen und sich die beschriebene Gesellschaft vorzustellen.
Dabei lässt Seethaler die Abgründe eben jener Gesellschaft nicht aus: Drogen- und Alkoholsucht, Depressionen, die Enge der durch die Erwartungen der Nachbarn generierten Pflichten und die Einsamkeit all derer, die auf den ersten Blick so wirken, als hätten sie das Leben im Griff. All das hängt er elegant an Öffnung und Schließung des Cafés ohne Namen auf. Wir sehen einen Ausschnitt dessen, was die beschriebenen Figuren in ihrem Leben erleben, trotzdem ist die erzählte Zeit abgerundet. Ein weiteres Mal ist Seethaler äußerst lesenswert!

Bewertung vom 27.04.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


sehr gut

Der Wert der Arbeit

Es ist das, wofür der deutschsprachige Raum berühmt ist: Menschen identifizieren sich mit ihrer Arbeit. Sie sprechen gerne darüber, wie schwer die Arbeit ist, wollen bemitleidet werden. Aber was passiert, wenn die Arbeit und damit der Sinn wegfällt? Das untersucht Birgit Birnbacher anhand ihrer knapp 40-jährigen Hauptperson. Es ist erschreckend wie verloren die Hauptperson ohne ihren Beruf ist, auch wenn ihr der nicht immer Spaß gemacht hat. Noch offensichtlicher wird das ungesunde Verhältnis, dass die Menschen zu ihrer Arbeit, ihrer Freizeit und ihren Interessen haben, bei den Beschreibungen der Dorfbewohner, nachdem die örtliche Firma zugemacht hat. Niemand weiß, was er mit sich anfangen soll. Mit bemerkenswerter Klarheit beschreibt Birnbacher den inneren Kampf einer Frau zwischen Pflicht und Selbstverwirklichung.

Bewertung vom 29.03.2023
Dschomba
Peschka, Karin

Dschomba


sehr gut

Wenn Gesellschaften mit einer Sache Probleme haben, dann ist es meist alles, was von außerhalb kommt. Fremde Menschen, fremde Bräuche, fremder Glaube: Ganz schnell entstehen Gerüchte, Geschichten und Meinungen, die auf Einzelbeobachtungen und falschen Schlussfolgerungen beruhen. So auch in diesem Roman. In einem spannenden Schreibstil, der immer wieder andeutet und Sätze nur halb beendet wird die Haltung der österreichischen Kleinstadt widergespiegelt. Zeitebenen werden nicht klar voneinander getrennt - auch das ein Zeichen dafür, dass das vor dem Hintergrund der Geschehnisse nicht möglich ist. Das Vergangene ist immer present.
Auch wenn der Roman in den 50er und 70er Jahren spielt, entsteht für mich ein Eindruck von hoher Aktualität. Es ist unerheblich, aus welchem Krieg oder Konflikt Trauma entsteht. Und es ist unerheblich, woher das Fremde kommt. Gesellschaften, vor allem kleine, haben mit beidem zu kämpfen.

Bewertung vom 24.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


sehr gut

Vererbtes Trauma

Kaan ist ein egoistischer Hauptcharakter. Er ist häufig damit beschäftigt, darüber nachzudenken, warum es ihm schlecht geht und warum er leiden muss. Und sein Umfeld arbeitet dagegen kaum an: Für seine türkischstämmige Mutter ist er ein Wunderkind, für seine Großeltern mütterlicherseits die gesamte Hoffnung der Familie. Die deutsche Familienseite seines Vaters scheint außer seiner blonden Haare kaum eine Rolle in seinem Leben zu spielen. Die türkisch-armenische Familiengeschichte ist omnipräsent während der Vater kaum häufiger als fünf Mal erwähnt wird.
Doch je länger der Roman dauert, desto klarer wird, warum: Der viel zu selten thematisierte Völkermord an den Armeniern wurde weder Familienintern noch national je aufgearbeitet. Das Trauma sitzt tief, viel zu viele Dinge wurden nie ausgesprochen. Und all das scheint sich in Kaan zu vereinen - die Hoffnung, das Trauma zu überwinden, die Hoffnung, die Schuld hinter sich zu lassen und nicht zuletzt die Hoffnung, eine Westernisierung könnte die Probleme lösen. Ohne Opfer zu idealisieren und Täter zu verteufeln schreibt Marc Sinan poetisch, ehrlich und unerbittlich.

Bewertung vom 04.12.2022
Frau mit Messer
Byeong-mo, Gu

Frau mit Messer


sehr gut

Der Beruf des Hauptcharakters aus Gu Byeong-Mos Roman ist selten. Sie ist Auftragsmörderin. Aber die Probleme, die ihr begegnen, nachdem sie dem Beruf 50 Jahre lang nachgegangen ist, sind die eines jeden und einer jeden. Ihre Mitarbeitenden scheinen sie nicht mehr richtig ernst zu nehmen. Ihre Chefs geben ihr einfachere Aufgaben. Und auch sie selbst merkt, dass nicht mehr alles so funktioniert wie früher. Vor allem ihr Körper lässt nach, aber auch mit ihrer Konzentration scheint sie mitunter Probleme zu haben. Ganz langsam lässt Gu mehr über die Vergangenheit des Hauptcharakters, die unter dem Decknamen Hornclaw geführt wird, durchscheinen. Warum führt jemand diesen Beruf aus? Wie so vieles beantwortet sie diese Fragen mit den Umständen des Aufwachsens - so schlicht, so glaubwürdig. Aber wann ist der richtige Moment, um loszulassen?

Bewertung vom 29.11.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


sehr gut

Kraftvoll

Es ist diese Mal kein Roman sondern eine Sammlung von Kurzgeschichten, die Cho Nam-Joo unter dem Titel "Miss Kim" vereint hat. Im Zentrum stehen ganz unterschiedliche Charaktere - mit einer großen Gemeinsamkeit: Sie alle sind Frauen im modernen Südkorea. Das reicht, um auch im Leben der insgesamt acht Frauen, die jeweils alleine im Mittelpunkt der acht Kurzgeschichten stehen, große Parallelen zu schaffen. Dabei tauchen vor allem die Motive der Einsamkeit, der Bevormundung und der absoluten Überarbeitung immer wieder auf. Rund 30 Seiten braucht Cho Nam-Joo, um eine neue Welt zu eröffnen. Ob Mutter, Großmutter, Tochter, egal. Keine von ihnen kann ohne soziales Umfeld gedacht werden, jede ist auf der Suche nach sich selbst. Zurück bleibt die Ahnung, dass sich wohl sehr viele Frauen in Südkorea in diesen Erzählungen wiederfinden können. Ich bin schon jetzt gespannt, worauf wir uns von dieser Autorin als nächstes freuen dürfen!

Bewertung vom 27.09.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


gut

Die Einsamkeit der Großstadt

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist ein interessanter Schauplatz für die junge, namenlose Erzählerin dieses Romans. Mit ihren Eltern von Ort zu Ort gezogen, ist sie heimatlos und versucht, in Den Haag Anschluss zu finden.
Während gegen Ende einige Erzählstränge offen bleiben, bleibt der Hauptstrang es nicht, was aus meiner Sicht eine vertane Chance ist. Allerdings gelingt Katie Kitamura vor allem eins: Ein tiefer Einblick in den Charakter ihrer Hauptfigur. Häufig sind erzählte Zeit und Erzählzeit weit auseinander - doch nicht etwa, weil so viel zusammengefasst wird. Sondern weil die Gedanken der Erzählerin abschweifen. Manchmal spannend, manchmal allerdings auch zu belehrend führt diese Technik dazu, dass man der Erzählerin immer näher kommt und ihre Namenlosigkeit gleichzeitig zur Verallgemeinerung ihrer Person führt. Und nicht wenige Charakterzüge beginnt man auch bei sich selbst zu hinterfragen.