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kaffeeelse

Bewertungen

Insgesamt 564 Bewertungen
Bewertung vom 08.06.2024
Mittsommertage
Woelk, Ulrich

Mittsommertage


ausgezeichnet

Das Gestern und das Jetzt

"Mittsommertage" ist mein zweites Buch von Ulrich Woelk. Schon mit "Der Sommer meiner Mutter" begeisterte mich Woelk. Aber hier in "Mittsommertage" gelingt ihm dieses Begeistern noch etwas intensiver.

Für Ruth Lember, eine Professorin in Berlin, beginnt eine Wandlung, eine Reise. Sie wird von einem Hund gebissen, aber dies ist nur der Auftakt von beginnenden Ereignissen, eine spannende und interessante Fahrt beginnt. "Mittsommertage" ist aber nicht nur ein Roman über eine Frau, dieses Buch ist ein Blick auf ein Paar, auf eine Familie. Ein Blick auf die Interaktionen in diesem Gespann. Ein Blick auf das Heute und ein Blick auf das Gestern. Durch diese Blicke zurück ist dieses Buch aber auch eine spannende und interessante Zeitreise. Denn das Gestern und das Jetzt haben natürlich Verbindungen, nicht nur in der Gruppe miteinander verbundener Menschen, sondern auch in gesellschaftlichen Geschehnissen. Dieses Buch zeigt sehr schön, was das Leben mit den Menschen macht, was Älter werden bedeutet. Aber gleichzeitig zeigt es auch dass die Vergangenheit nicht vergangen ist und ein kleiner Teil Vergangenheit weiter im Jetzt besteht. Ebenso wie auch früheres Denken, frühere Ziele zwar in der Vergangenheit ruhen, aber deshalb nicht zwangsläufig auch begraben sein müssen. „Mittsommertage“ ist so ein Buch zum Sinnieren, zur Reflexion, ein Buch für eine interessante Reise.

Ich finde bei den Büchern von Ulrich Woelk nicht diese in der deutschen Literatur so oft aufzufindende Distanz, dieses mich so oft verwirrende Kühle. Und dies gefällt mir ungemein! Denn die Bücher von Ulrich Woelk berühren mich. Ein Autor, den ich definitiv im Auge behalten werde. Denn "Der Sommer meiner Mutter" und "Mittsommertage" berühren und begeistern mich, "Mittsommertage" noch etwas mehr. Von daher bin ich natürlich neugierig auf weitere Bücher von Ulrich Woelk.

Mal schauen, was die kommende Lesezeit noch alles vor meine Augen führen wird. Denn diese 5 Sterne Reise hier war bezaubernd für mich.

Bewertung vom 03.06.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


ausgezeichnet

Misogynie hat Folgen

Und alle so still. Ja, genauso ist es. Wir sind still. So still. Kochen innerlich. Aber sind still. Entsetzlich still!

Schon mit "Die Wut, die bleibt" hatte mich Mareike Fallwickl getroffen, tief getroffen. Denn dunkle Phasen sind mir bekannt. Ich weiß, was dies mit einem macht, wie schwer es ist dagegen zu steuern, wie schwer die Schritte der Akzeptanz und der Aktion sind. Und natürlich weiß man um die Ursachen. Kämpft dagegen an, in den möglichen Rahmenbedingungen natürlich. Verändert, sinniert, erkennt und entdeckt sich neu. Gewinnt und scheitert. und man macht weiter. Doch dies geht nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn dies hat mit einer Selbstreflexion zu tun. Und dem Mut, dem Willen und der Möglichkeit zur Veränderung.

Aber genauso hat dies auch mit einer gesellschaftlichen Veränderung zu tun. Und dies zielt auf das uns bestimmende Patriarchat. Denn dieses System ist die Ursache vieler Probleme in der heutigen Zeit. Probleme von Männern und Frauen wohlbemerkt. Denn dieses Höher-Schneller-Weiter macht ja mit uns allen etwas. Wir funktionieren in diesem Höher-Schneller-Weiter. Um über die Runden zu kommen. Natürlich. Aber auch, weil dieses Höher-Schneller-Weiter einen gewissen Reiz hat, wir davon profitieren, wir alle in dieser westlichen Welt. Denn das sollte man sich klar machen. Es sind nun mal nicht die, es sind wir. Wir alle. Denn wir alle machen dieses System, dieses Patriarchat erst möglich. In dem wir funktionieren und in dem wir verbrauchen.

Mareike Fallwickl schaut in "Und alle so still" auf diesen imaginären Punkt in der Zukunft, in dem wir eben nicht mehr funktionieren. Sie schaut an diesen Punkt des Aufbegehrens. Ein Aufbegehren in der Form der Verweigerung. Ein interessanter Punkt! Denn gerade diese Care-Berufe sind ja von der Unterdrückung im Patriarchat besonders betroffen, wie Covid ja so anschaulich demonstrierte. Und ja. Es wurde geklatscht. Toll!?!? Aber was hat sich sonst noch getan? Außer, dass die Anforderungen und der Druck weiter steigen. Und das tangiert mich schon sehr. Denn auch ich bin einer dieser Care-Arbeitenden, eine dieser Beklatschten. Was also tun? Aufbegehren wie im Buch. Aber im Land des Untertans. Funktioniert dies bei uns? Dies muss sich jede/r selbst fragen. Dieses Buch legt den Finger tief in eine offene Wunde. Und dafür liebe ich dieses Buch und dich, liebe Mareike!

Denn wie funktionieren Veränderungen? Sicher nicht in dem man weiter abduckt und weiter funktioniert. Verbale Veränderungsgesuche zum Thema Frauenrechte und Gleichstellung gab es schon viele. Sie haben ja auch Veränderungen gebracht. Aber halt nur kleine. Wann kommen dann die großen Veränderungen? Muss es dazu wirklich erst zu revolutionsähnlichen Zuständen kommen wie in diesem Buch? Ich hoffe dies ja nicht!

Ein interessantes und ein mich anzündendes Buch!

Bewertung vom 13.05.2024
Mama Odessa
Biller, Maxim

Mama Odessa


sehr gut

Mutter und Sohn oder Das Jetzt und das Gestern

Maxim Biller hat mich schon mit zwei anderen Büchern beeindruckt, das erste Buch war "Sechs Koffer" und das zweite sein "Der falsche Gruß". "Sechs Koffer" fand ich autobiographisch und nachhallend, "Der falsche Gruß" war für mich eine schöne Gesellschaftskritik, die perfekt in die Zeit passt. "Mama Odessa" schließt wieder an das Autobiographische an, allerdings nicht so vollkommen durchschimmernd wie in "Sechs Koffer", hier in "Mama Odessa" ist mehr künstlerische Freiheit heraus lesbar. Allerdings ist es nicht weniger nachhallend.

Mutter und Sohn, eine komplexe Beziehungswelt. Maxim Biller meistert dieses Gefühlskonstrukt sehr schön in meinen Augen. Ich habe mich wie auch schon bei "Sechs Koffer" oft im Netz aufgehalten und gesucht. Nicht nur zur familiären Situation Billers. Nein. Auch zu geschichtlichen Ereignissen im Odessa des zweiten Weltkriegs. Denn auch um die Geschichte geht es. Gerade dies ist in der heutigen Zeit sicher schlimm für Maxim Biller. Dieser unsägliche Krieg. Wenn dieses Grauen nur bald vorbei wäre. Wenn diese unsägliche Gier nur endlich enden würde! Aber gut, dies fällt wahrscheinlich in das Reich der Träume. Gerade heute, wo die Kriegstreiber überall wieder lauter werden.

Maxim Biller erzählt in "Mama Odessa" eine Mutter-Sohn-Geschichte, eine Geschichte über die Liebe zur Literatur, aber auch eine Geschichte, die von einer Liebe zu Odessa spricht. Ein schönes Buch. Aber "Mama Odessa" ist nicht nur schön und rund. Es beschäftigt sich auch mit den weniger schönen Seiten des Menschen, mit den Fehlern in uns und mit dem Egoismus in uns. Aber wer erwartet schon ein nur schönes Buch von Maxim Biller. Denn Biller legt nun einmal gern den Finger in Wunden. Und mir gefällt dies sehr gut.

Bewertung vom 13.05.2024
Twilight Zone
Fernández, Nona

Twilight Zone


ausgezeichnet

Das wunderbare Gewissen oder Karma

Dieses Buch habe ich verschlungen, wer meinen Account kennt, wird wissen, an diesen Diktaturen, an ihren abscheulichen Taten habe ich ein schon lange währendes Interesse, ebenso wie mich Lateinamerika ungemein fasziniert. Vor kurzem habe ich die Biografie von Salvador Allende gelesen, von daher passt dieser Griff zu dem Buch "Twilight Zone" von Nona Fernández sehr gut. Ebenso wie ich auch diesen Titel sehr passend finde. Twilight Zone. Blicke auf ein Grauen, von welchen man hofft, dass sie nicht wahr sind. Nur sind sie leider wahr. In dieser "Twilight Zone" hier auf jeden Fall.

Der Mensch ist in meinen Augen ein tödliches Raubtier. Und ab und zu kommen die Konservativen an die Macht. Und ab und zu kommen mit diesen Konservativen dann auch noch ihre Ultras und leben ihre Ideologie aus, mit ungeheuren Folgen. Nona Fernández schildert dieses Grauen und gerade in der heutigen Zeit sollte solchen Büchern mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Denn diese Ultras der Konservativen stehen wieder in den Startlöchern, sie sind bereit für weiteres Grauen. Und Blicke zurück auf bereits Geschehenes können auch manchmal Augen öffnen und das lesende Hirn Gemeinsamkeiten ins Jetzt erkennen lassen.

Die Erzählstimme in "Twilight Zone" ist noch ein Kind, als sie in der Zeitung einen Artikel von einem der Täter des Pinochet-Regimes liest. Ich habe gefoltert. Dies ist die Botschaft des Artikels und dieser Artikel lässt die Erzählstimme nicht los und später als Journalistin recherchiert sie zu diesem Fall und durchläuft die Stationen des Folterers. Dabei wirft sie Blicke auf das Geschehen, Blicke auf die Natur des Menschen und damit Blicke auf das Böse. Aber auch ein Lichtschimmer erscheint. Denn dieser Täter kann mit seinen Taten nicht leben und redet, macht sich und sein Umfeld damit auch zur Zielscheibe. Das ist etwas, was sich jeder überlegen muss. Das eigene Gewissen. Dem auch Täter zum Opfer fallen können.

Trotz der Schwere des Themas liest sich dieses Buch leicht, denn die Autorin vermag es das Grauen nicht auszuschmücken und erreicht damit vielleicht auch größere Zielgruppen. Man kann es nur hoffen. Denn momentan braucht es viel Arbeit aller friedlich Gesinnten in allen politischen Bereichen. Denn wir alle wissen, Geschichte kann sich wiederholen! Und manches darf einfach nicht wiederkommen!!!

Bewertung vom 13.05.2024
Neun Stämme
Kohl, Karl-Heinz

Neun Stämme


ausgezeichnet

Wahrheiten, Irrtümer und Luftschlösser


Ich liebe ja schon seit einer langen Zeit die Ethnologie und die Ethnographie. Schon in meiner Schulzeit bin ich durch Erich Wustmann und Miloslav Stingl neugierig gemacht worden auf die kulturelle Vielfalt unserer Erde. Und diese Liebe zur Ethnologie/Ethnographie ist geblieben, auch wenn sich der diesbezügliche Berufswunsch nicht erfüllt hat. Aber so bleibt ein inspirierendes Hobby, welches neben meinem Schreibtisch plötzlich Bücherberge aus meinen Regalen hochwachsen lässt, weil ich wieder etwas Interessantes entdeckt habe, deshalb viel Zeit im Netz verbringe und plötzlich feststelle, es ist ja inzwischen wieder hell geworden. So ein Feuer tut aber ungemein gut in unserer recht monetär begründeten Welt. Denn gerade diese anderen Sichten, diese anderen Kulturen zeigen ja einen anderen Umgang mit unserer Erde.


Da ich solche Gedanken hege, kam mir dieses Buch von Karl-Heinz Kohl gerade recht. Der Autor und Ethnologe blickt auf unseren Blick auf diese anderen Stämme und beleuchtet dazu den westlichen Blick auf 9 verschiedene Stämme/Stammesgruppen unserer Erde. Denn gerade in diesem Blick auf Andere schwingt ja das eigene Erleben, die eigene Sozialisation immer mit. Jeder Ethnologe wird versuchen dies zu vermindern, aber da wir ja alle fehlbare Menschen sind, gelingt dies nicht immer gleich gut. Und der Blick der von uns Betrachteten tut dann noch ein Übriges dazu. Denn manch ein findiger Geist kann ja genau die Antworten/die Sichten auf unsere Fragen bringen, von denen er glaubt, dass die westliche Welt genau diese Antworten hören will. Und so kommen nicht nur Fehler in der Kommunikation/in der Übersetzung zum Tragen, sondern auch Fehler in den Betrachtungsweisen oder Fehler im Betragen gegenüber anderen. Wobei diese Fehler in dem Betragen gegenüber den Indigenen schon durch die Kolonialgeschichte bedingt waren und oft nichts mit den Ethnologen zu tun hatten.


Für mich besonders interessant waren die neun behandelten Gruppen. Es geht zu den brasilianischen Tupinambá, zu den amerikanischen Irokesen (Eigenbezeichnung Haudenosaunee, ein Stammesverband aus 5 Stämmen, später dann 6 Stämmen der irokesischen Sprachfamilie), zu den australischen Aranda (eine Sprachgruppe innerhalb der Pama-Nyungan-Sprachfamilie aus 4 Sprachen, darunter den eigentlichen Aranda oder Arrernte, die sich dann wieder in 6 Untergruppen teilen, wobei alle diese Gruppen immer wieder als Aranda geführt wurden, zu den brasilianischen Bororo, früher bis nach Bolivien hinein lebend, in eine westliche und eine östliche Gruppe unterteilt, zu den Einwohnern von Palau in Mikronesien, zu den kanadische Kwakwaka'wakw, den früheren Kwakiutl, ein Stammesverband von rund 30 Stämmen an der Nordwestküste, zu den amerikanischen Hopi des Südwestens mit 16 verschiedenen Siedlungen/Pueblos und 4 Dialekten, zu den polynesischen Samoanern und als letztes zu den Dogon in Mali (ein wunderbares Beispiel oberflächiger Blicke, die Dogon sind eine Bevölkerungsgruppe mit 20 verschiedenen Sprachen, die teilweise untereinander nicht verständlich sind, der Niger-Congo-Sprachfamilie angehören und einer Sprache, dem Bangime, welche isoliert ist, keiner Sprachfamilie angehört, aber einen großen Anteil an Nilo-Saharanischem Sprachgut hat. Kulturell bilden sie aber einen Block, sind daher die Dogon-Gruppe.


Diese für deutsche Ethnologen besonders interessante Gruppen initiierten ein Interesse in der deutschen Ethnologie. Heute allerdings werfen manche der alten Erkenntnisse Fragen auf.


Ein interessantes und lehrreiches Buch, welches ich wärmstens den Ethnologie-Interessierten empfehle, aber auch alle Anderen sollten sich angesprochen fühlen. Denn den Tellerrand zu erweitern hat ja bekanntlich noch keinem geschadet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.04.2024
Weiße Wolken
Seck, Yandé

Weiße Wolken


sehr gut

Frauen, Familie und Gesellschaft

Zwei Schwestern stehen zentral in Yandé Secks mitreißendem Roman, Dieo und Zazie. Zwei unterschiedliche Frauen. Dieo ist verheiratet, hat drei Söhne, versucht in ihrem Leben zurecht zu kommen, versucht zu funktionieren. Zazie ist jünger und versucht noch ihren Platz zu finden, ist aggressiver als Dieo, aus verschiedenen Gründen heraus. Die Eltern von den beiden Frauen sind die etwas herrisch auftretende Ulrike und der aus dem Senegal stammende Papis. Als weitere Personen treten in der Geschichte Simon, Dieos Mann, ihre drei Söhne Jonathan, Leander und Otis und Max, Zazies Freund auf. Über diese Konstellation lassen sich Einblicke in die Familienstruktur gewinnen. Revoluzzergeist trifft auf konformes Denken, in dieser Familie ist so einiges los. Das gefällt. Mir auf jeden Fall. Dann kommt mit den Örtlichkeiten Frankfurt und Offenbach und deren städtischen Gegebenheiten noch eine weitere Gesellschaftskritik hin zu. Ebenso wie nicht nur das Thema People of Colour zentral steht, sondern auch der Geschlechterdisput. Ein richtig interessantes Konglomerat. Und auch ein spannendes Konglomerat. Eine Reise der beiden Hauptprotagonistinnen in den Senegal lässt dann noch eine andere Kultur aufblitzen und damit auch Fragen zu unserer Kultur. Nicht schlecht, Frau Seck.

Durch die Menge an Protas erscheint das Buch etwas unstrukturiert, könnte man zumindest meinen, mir erschien es nur kurz am Anfang des Buches so, dann glättet sich alles, denn ich war im Flow. Aber zurück zur Struktur, ist denn das Leben generell strukturiert oder hüpfen wir nicht mehr oder weniger gekonnt von Termin zu Termin. Alles schnell und möglichst perfekt erledigen mit einem Blick auf einen Zeitpunkt, wo man mal kurz Luft holen kann. Und genau diesen Geist erfasst dieses Buch in meinen Augen. Dieses Funktionieren in unserer westlichen Welt. Man merkt, dass eine Psychotherapeutin hier ihren Blick auf eine von ihr gezeichnete Welt wirft, mit authentischen Protagonisten, die mehr oder weniger geschickt ihr Leben meistern. Wie wir alle. Denn diese präzise geschnittenen Geschichten gibt es wohl eher in der Fantasie, weniger in der Realität.

Hat mir gefallen dieser Blick in Dieos und Zazies Welt, dieser Blick auf die weißen Wolken, die wir mit uns tragen, die mal mehr oder mal weniger verblasst sind.

Bewertung vom 21.04.2024
Die Wut, die bleibt
Fallwickl, Mareike

Die Wut, die bleibt


ausgezeichnet

Alte Rollenbilder und die Wut

Ein drastisches Buch! Helene, Ehefrau und Mutter dreier Kinder, leidet in ihrer Ehe schon recht lange. Sie macht das, was wir alle machen. Sie funktioniert. Aber eben nur das. Denn die Freude am Tun ist ihr abhanden gekommen. Sie erstickt in dem Bild, welches sie sich selbst auferlegt hat. Aber nicht nur sie selbst. Auch ihr Umfeld macht dies. In ewig gestrigen Erwartungshaltungen wird uns Frauen schon recht früh beigebracht, wozu wir gedacht sind. In den Rollenbildern, in der seichten Belletristik und in filmischen Schätzen a la Hollywood wird uns suggeriert, was wir wollen sollen. In bestimmten weiblich assoziierten Berufen mit niedrigen Löhnen werden wir wirtschaftlich mehr oder weniger gezwungen Bündnisse mit anderen Menschen einzugehen, um über die Runden zu kommen, um etwas abzubekommen vom großen wirtschaftlichen Kuchen. Sich dem zu entsagen kostet Kraft. Denn es wird Fragen geben. Warum hast du keine Kinder? Zum Beispiel. Und nach der Antwort folgen dann schnell gefällte Urteile. Frau gerät ins Abseits, wird stigmatisiert, wenn sie sich traut, ein anderes Lebensbild zu propagieren. Und die, die sich nicht trauen gegen den Strom zu schwimmen landen in dieser Falle. Aber auch diejenigen Frauen, die eine Familie wollen, können sich schnell in dieser Situation wiederfinden. In einer Situation wie Helene.

Und sie können daran zerbrechen. Wie Helene. Denn Helene springt vom Balkon in die Tiefe, sie springt vom Balkon in den Tod. Und die Familie ist schockiert. Aber nicht nur die Familie, auch ihre engste Freundin, Sarah. Das Buch fängt dann die Reaktionen von Helenes Umfeld auf. Und zeigt hier einen schon recht kranken Umgang mit dem Verlust.

Die 14-jährige Tochter Lola soll laut dem Vater Johannes die Sorgearbeit im Haushalt und in der Kinderbetreuung der beiden Geschwister Lucius und Maxi übernehmen. Dies mag vielleicht etwas überzeichnet wirken. Aber ich bin mir sicher, dass es solche Sichtweisen immer noch recht oft gibt. Und nicht nur solche Sichtweisen. Sondern auch Handlungen.

Und noch etwas Überzeichnetes, die Freundin Sarah macht sich Vorwürfe und aus diesen Vorwürfen heraus handelt sie und unterstützt in ihren Augen Helenes Familie, übernimmt Helenes Rolle, übernimmt Helenes Care-Rolle, übernimmt die weibliche Pflicht. Besser kann es Johannes nicht treffen. Denn Sarah übt sich in der weiblichen Pflicht zur Selbstaufopferung. Was Lola wütend macht. Und diese Wut muss raus. Und hier kommen wir zum dritten überzeichneten Aspekt des Buches.

Da ist viel Überzeichnetes. Ja. Aber dennoch hat dieses Überzeichnete einen wahren Kern. Denn ein großer Teil unserer Gesellschaft denkt genau so. Dies muss man leider sagen. Und dies ist nicht überzeichnet. Denn wir leben nicht nur in den Städten und sind fortschrittlich und aufgeschlossen. Mitnichten. Gerade in der heutigen Zeit merkt man dieses Gefälle zwischen den fortschrittlichen Geistern und den ewig Gestrigen. Leider ist dies auch nicht überzeichnet. Siehe Paragraf 218. Oder manche Diskussion zum Thema Cannabis-Legalisierung. Oder im Zuspruch zur blauen Partei.

Und wer hier bemängelt, dass dieses Buch zu einseitig schaut. Ja. Mag sein. Männer kommen hier nicht gut weg. Aber mal ehrlich. Wie viele Männer helfen denn den Frauen aktiv in unserer patriarchalen Zeit, dass unsere Welt weniger aggressiv gegenüber den Frauen ist, weniger misogyn auftritt und die Geschlechter endlich gleichberechtigt sind? Auf die Taten kommt es an. Nicht auf die Worte. Nicht auf das Corona-Klatschen. Die Taten sind es, die zählen. Und sorry. Da gibts leider nicht so viel zu berichten. Von daher finde ich dieses Überzeichnete hier genau richtig. Denn es rüttelt auf. Es regt zum Nachdenken an. Und es berichtet leider viel Reales. Auch wenn man gern die Augen davor verschließt!

Bewertung vom 14.04.2024
Ein ehrenhafter Abgang
Vuillard, Éric

Ein ehrenhafter Abgang


sehr gut

Höher-Schneller-Weiter

In seinem Buch "Ein ehrenhafter Abgang" erklärt Éric Vuillard hervorragend was westliche Wirtschaftsinteressen, menschliche Gier und Politik tun, was sie bewirken, wie unsere postkoloniale Welt funktioniert. Dies alles wird anhand dem Beispiel Indochina erklärt, ist aber problemlos auch auf andere Gebiete anwendbar. Kein schönes Buch. Eher eine Aneinanderreihung von Schrecklichkeiten. Keine Wohlfühllektüre. Eher ein interessanter Blick auf das Raubtier Mensch. Aber eine wichtige Lektüre. Denn dies sollte man wissen. Denn wir in der westlichen Welt können nicht vollkommen unbeteiligt tun und anklagend mit dem Finger darauf zeigen.

Natürlich sind wir alle in der westlichen Welt an diesem Geschehen beteiligt. Sind ein Teil in diesem kapitalistischen Rädchen. Aber das heißt ja nicht, dass wir machtlos sind. In unserer Kaufkraft nämlich steckt ein wichtiges Mittel zur Regulierung von manchen Prozessen. In dem wir uns genau überlegen, welches Produkt in unserem Einkaufswagen landet, haben wir eine Möglichkeit einzugreifen. Eine kleine Möglichkeit, wenn man uns als Einzelne betrachtet, aber eine große Möglichkeit, wenn wir als größere Gruppe agieren. Proteste bewirken Aufmerksamkeit, sind ein probates Mittel. Aber ein Überdenken unseres Konsums greift dieses System aus Gier und Profit noch drastischer an. Denn mal ehrlich, brauchen wir wirklich ständig etwas Neues? Oder kann man sich dieses Belohnungssystem in uns nicht auch neu überdenken? Andererseits wieder kann man sich die Frage stellen, was will man denn sonst. Denn unser System hat für uns auch viele Annehmlichkeiten, auf die man vielleicht ungern verzichtet. Letztlich ist das immer eine Frage der Abwägung verschiedener Interessen und damit sind wir wieder in der Beteiligung. Ja, schwierig. So einfach kann man nicht sagen ihr seid die Bösen. Denn die Bösen sind wir alle, eben weil wir Menschen sind.

Dieses Geschehen hier in diesem Buch gibt es ständig und überall, auch jetzt. Wir brauchen nicht weit zu schauen. Und dazu kann man nur sagen, ist dieses Geschehen in Ordnung? Oder finden wir es einfach nur schrecklich? Nun denn Leute. Wir können im Kleinen handeln. In unseren politischen Entscheidungen. In unserem Konsumverhalten. In unserer Nachhaltigkeit. Ob dies nun großartige Veränderungen hervorbringt, keine Ahnung. Aber man selbst fühlt sich dadurch vielleicht etwas wohler und kann vielleicht etwas fröhlicher sein Konterfei im Spiegel betrachten. Vielleicht. Maybe.

Bewertung vom 14.04.2024
Der Verschwundene
Vekemans, Lot

Der Verschwundene


sehr gut

Familienangelegenheiten

Dieses Buch gibt einen Einblick in eine dysfunktionale Familie, Einblick in eine Familie, die das Reden verlernt hat und an der fehlenden Kommunikation krankt. Eigentlich möchte man die Familienangehörigen sehr oft einfach schütteln und/oder auch mal deftig anschreien. So viel Inkompetenz auf einen Haufen. Nun das ist mal etwas. Aber dies gibts leider sehr oft. Denn manche Ereignisse im Leben lassen Betroffene verstummen.

Der vor seiner Familie aus den Niederlanden nach Kanada geflohene Simon soll seinen Neffen, den Sohn seiner Schwester bei sich aufnehmen, als Ferienunterbringung sozusagen. Er sagt mehr oder weniger gezwungen zu. Sein Neffe, Daan, kommt zu ihm und die Differenzen lassen auch nicht lange auf sich warten. Denn Simon weiß ja auch nicht, warum seine Schwester ihren Sohn zu seinem Onkel schickt. Denn Simon hat ja mit sich und seinen Unzulänglichkeiten zu tun, versucht seine beschädigte Seele zu kitten, mit einem sehr zu hinterfragenden Erfolg.
Simon verliert seine Unabhängigkeit und auch Daan weiß nicht, woran er bei Simon ist, wie viel Simon von dem Geschehen in den Niederlanden weiß. Schlimm! Daan versauert in Simons Wohnung, weiß nichts mit sich anzufangen, ein Pubertier eben, er hat es sich in den Kopf gesetzt in die Rocky Mountains zu wollen, wo er schon mal in Kanada ist. Von der Größe des Landes scheint er unbeeindruckt, ebenso wie er es nicht hinterfragt, was dies für den arbeitenden Simon bedeuten könnte. Irgendwann gibt Simon aber trotz seiner Beinverletzung nach, er geht auf Daan zu und man denkt, juhu, ein Hoffnungsschimmer, aber nein, jetzt beginnt das Drama erst recht.

Ein interessantes Buch über eine dysfunktionale Familie, ihre Nichtstruktur und deren böse Folgen. Spannend und intensiv! Anfänglich plätschert dieses Buch etwas, aber dann entwickelt sich sehr schnell ein mächtiger Sog.

Bewertung vom 14.04.2024
Die Freiheit so nah
Kästner, A. A.

Die Freiheit so nah


ausgezeichnet

Wandernde Worte

In diesem Buch schaut die Autorin A. A. Kästner auf eine Clique von Freunden in der DDR, aber es ist nicht irgendeine Gruppe von Freunden. Es ist die Clique ihres Mannes. Das Buch ist ein Blick auf ein reales Geschehen, ist ein Blick auf ein nahes Geschehen. Und dies merkt man als Leser. Dieses Buch sitzt und dringt in mich ein. Denn die DDR kenne ich noch und von daher sitze ich auch nicht so weit weg vom Geschehen. Einiges von den gezeichneten Dingen ist natürlich für ehemalige DDR-Bürger besser zu verstehen, und auch dieser Staatsapparat ist natürlich ein Begriff.

Eine Clique von Freunden versucht nach der Schule ihr Leben zu führen und diese Clique scheitert an ihrem Leben. Denn in der Gruppe gibt es viel Kritik am System und diese Kritik bekommt leider ein Eigenleben und stürzt diese Gruppe von jungen Männern ins Chaos. Traurig. Aber leider wahr.

Aber nicht nur dadurch finde ich dieses Buch richtig gut. Die Autorin kann natürlich schreiben und sie hat einen besonderen Blick auf die Menschen, wobei ihre Ausbildung/ihr Studium/ihre Arbeit in der Psychologie und in der Psychiatrie sicher sehr hilfreich war. Dieses Buch ist spannend und intensiv. Aber es ist auch etwas düster, bzw. lauert dieses Düstere etwas am Rande. Bevor es dann zu Tage tritt. Manchen mag das natürlich zu viel erscheinen, besonders wenn man mit dem System nicht kollidierte. Aber dass dies einem nicht selbst widerfahren ist, heißt ja bekanntlich nicht, dass es das nicht gab.

Besonders zu jetzigen Zeiten finde ich dieses Buch sehr sehr passend. Hoffentlich lesen es viele von diesen Menschen, die unsere Demokratie so kritisieren, vielleicht hilft dieser Blich auf ein die Menschen zerstörendes System diesen Menschen ihre Gedanken etwas zu ordnen, also möglichst vor der nächsten Kreuzchenvergabe, bevor sie sich selbst und anderen mit ihrer Ignoranz schaden.