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Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 136 Bewertungen
Bewertung vom 10.08.2024
Anständige Leute
Padura, Leonardo

Anständige Leute


ausgezeichnet

Conde, Ex-Polizist mit literarischen Ambitionen, ermittelt wieder, diesmal in seinem 10. Fall, der ihn quer durch alle Schichten Kubas führt: Neureiche, Intellektuelle, Künstler, Staatsfunktionäre, einfache Hausangestellte oder Menschen aus ärmlichsten Verhältnissen.
„Anständige Leute“ spielt zur Zeit des Obama-Besuchs in Kuba, 2016, der Auftritt der Rolling Stones steht kurz bevor und das ganze Land verfällt in eine Euphorie, die der desillusionierte Conde eher kritisch betrachtet.
Es geht um die Reichen und Mächtigen, denn ermordet wird gleich zu Beginn der alte Kulturfunktionär Quevedo, der es vielen Künstlern und Kulturschaffenden z.T. unmöglich gemacht hat, ihre Kunst zu veröffentlichen oder zu verkaufen. Er selbst hat sich an den Kunstwerken bereichert, sie für viel Geld illegal verkauft oder selbst in seinem Reich dargestellt. Die Künstler wurden mundtot gemacht, es gab Veröffentlichungsverbote, Berufsverbot oder Gefängnisaufenthalte, Suizidversuche, Depressionen. Ersichtlich wird auf den ersten Blick, dass es bei einer solchen Person des öffentlichen Lebens viele Geschädigte gibt, die möglicherweise Rachegelüste verspüren. Aber auch im privaten Leben geht es hoch her, so ist das zweite Mordopfer auch sein Schwiegersohn Marcel, der eigentlich in die USA ausgewandert ist, aber sich zufälligerweise gerade aus privaten Angelegenheiten in Kuba aufhält.
Ein zweiter Handlungsstrang führt uns in das Kuba der 1910-er Jahre, Tanz auf dem Vulkan, wieder geht es um die Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen und Schauplatz sind immer wieder Edel-Bordelle, in denen die schönsten der Frauen aus aller Herren Länder für konkurrierende Clans anschaffen. Auch in diesem Erzählstrang, der sich mit dem der Gegenwart abwechselt, gibt es einen Mord im Rotlichtmilieu. Ermittler ist hier der junge, anständige Polizist Arturo Saborit, der voller Eifer und Ideale in seinem ersten Mordfall ermittelt. Gefiltert durch seine Perspektive erfahren wir von den Ereignissen und nehmen an den Ermittlungen sowie seinen Überlegungen zu Anstand und Moral teil. Und auch in diesem Teil gibt es einen einflussreichen, charismatischen und zwielichtigen Geschäftsmann, Alberto Yarini, eine reale Gestalt, die im Zentrum steht, der sowohl Männer als auch Frauen verfallen und die seinen Aufstieg als Politiker plant.
Zwei spannende, handlungsreiche Kriminalfälle wechseln sich ab, es geht z.T. blutrünstig und direkt zu, nichts für zartbesaitete Leser. Mario Conde selbst zieht Parallelen eher zu Tarantino als zu Hemingway, seinem literarischen Vorbild, dem er – sowie sein Alter Ego Padura - sich eigentlich verpflichtet fühlt.
Leonardo Padura schafft mit diesem Roman aber mehr als nur einen Kriminalfall: Kuba selbst ist Hauptfigur, Themen sind die Korruptheit, Doppelmoral der Regierung, Repressionen, Zensur von Kunst, die Armut, der Erfindungsreichtum der Einwohner, der Wunsch zum Wandel und Überwindung der desaströsen Verhältnisse, die Schönheit des Landes und die Vielfalt der Menschen.
Ein eindrückliches Werk, das an einzelnen Stellen den alternden Conde etwas zu lang über seine Eindrücke und philosophischen Erkenntnisse deklarieren und sinnieren lässt, aber insgesamt eine klare Empfehlung für einen starken Roman, in dessen Zentrum die Liebe zu Kuba als auch der Wunsch nach politisch-gesellschaftlichen Veränderungen steht.

Bewertung vom 05.07.2024
Unter Wasser ist es still
Dibbern, Julia

Unter Wasser ist es still


sehr gut

Vergangenheit – Gegenwart, der Fluss der Zeit, das eine ist nur aus dem anderen heraus erklärbar und sinnstiftend und die Gegenwart lässt sich nur bewältigen, indem die Hauptfigur Maira sich der Reise in ihre Vergangenheit stellt.
Das Aufdecken von Verdrängtem lässt Wachstum, Neubeginn entstehen, auch wenn es für Maira unsagbar schwer und schmerzhaft ist, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, nachzuforschen, was passiert ist, an welchen Stellen sie Schuld auf sich geladen hat, die es unter Umständen zu überwinden gilt.
Dieser Roman ist wunderbar intensiv und emotional, ohne dabei kitschig oder sentimental zu werden. Man fiebert mit Maira, der jungen Restauratorin, mit, die aufgrund einer neuen beruflichen Chance ihren Wohnort, die Großstadt Frankfurt am Main, verlässt, um zu dem Ort ihrer Kindheit zurückzufahren, ein kleines Dorf im Norden.
Das Zentrum der Vergangenheit besteht in der Mutter und ihrer Krankheit, die Demenz, und die Erinnerungen an diese Zeit. Die junge Frau muss sich dem Verdrängten stellen, nur so können die Schuldgefühle und die Trauer überwunden, nur so kann die Wahrheit entschlüsselt werden und mit diesem Wissen ein Neuanfang und Heilung beginnen.
Trotz des schweren, schmerzhaften Inhalts schafft Julia Dibbern es, Wärme und Leichtigkeit zu vermitteln und je mehr wir Maira und ihre Vergangenheit kennenlernen, desto stärker können wir uns ihren Sorgen und Ängsten annehmen und sie verstehen.

Bewertung vom 05.07.2024
Trügerische Anziehung
Nevo, Eshkol

Trügerische Anziehung


ausgezeichnet

Eshkol Nevos vielschichtiger Roman „Trügerische Anziehung“ beschäftigt sich in drei Erzählungen mit Beziehungen unterschiedlicher Art – Mann–Frau, Mutter-Kind, Vater-Kind. Es geht um sexuelle Anziehung, um Liebe, Freundschaft, Verantwortung, Schuld und Tod, aber auch um die Suche nach der eigenen Identität, um Sehnsucht nach dem wahren Leben, nach Glück, Zufriedenheit, Erfüllung. Die Figuren, die uns begegnen, handeln häufig so nachvollziehbar und man kann ihre Ängste, Wünsche und Motivation verstehen. Andererseits werden viele Fehler gemacht und der einzelne steht sich selbst im Weg: die junge Witwe, die sich während der Totenwache mit einem Liebhaber trifft, der angesehen Arzt, der anscheinend einer jungen Medizinerin nachstellt, der Sohn, der die Mutter in einer schwierigen Situation allein lässt. Warum findet der / die einzelne nicht zu seinem / ihrem Glück, obwohl es doch so nahe liegt?
Die Stränge der drei Erzählungen sind lose miteinander verknüpft und wie in einem klugen Vexierspiel sucht der Leser nach Überschneidungen und Verbindungen. Spannend und mit Thriller-Elementen müssen die Fäden entwirrt werden, denn die Wahrheit ist versteckt. Wie war es wirklich? Was ist passiert? Wem können wir trauen? Wie genau kennt man den geliebten Menschen? Diese Fragen durchziehen den Roman und das Suchen und Miträtseln wecken einen anregenden Lesegenuss. Die einzelnen Figuren sind nicht durchweg vertrauenswürdig, die Perspektiven wechseln und immer wieder müssen wir die Darstellungen des Erzählers hinterfragen.
Eine klare Leseempfehlung für alle, die hintergründige, spannende und ungewöhnliche Geschichten lieben, bei denen gut und böse nicht klar definiert wird, viele Grauschattierungen auftreten, die unterschiedlichen Protagonisten vordergründig charmant und liebenswert wirken, dann aber doch eine ganz andere, dunklere Seite von sich preisgeben.

Bewertung vom 24.05.2024
In den Augen meiner Mutter
Leevers, Jo

In den Augen meiner Mutter


gut

Ein spannender Beginn voller Geheimnisse und Ungereimtheiten – der Leser muss mitdenken, die Zeitsprünge beflügeln die eigenen Vermutungen, Verbindungen werden geschaffen, man ordnet ein, entdeckt, wünscht, hofft und ist erschüttert vom Schmerz der Hauptfiguren, besonders von Mutter Nancy und Tochter Georgie - ein idealer Einstieg als Auftakt für eine ergreifende und mitreißende Lektüre. Aber dann dreht sich das Blatt und ich habe mich wiederholt gefragt, warum Charaktere derart unvernünftig handeln, warum sie nicht einfach miteinander kommunizieren, gemeinsam Probleme lösen, Schwierigkeiten überwinden, sich den alten Wunden stellen und gemeinsam einen Neuanfang schaffen können.
Aber so einfach ist es nicht – die Figuren handeln allesamt so unklug und nicht nachvollziehbar, dass mein Mitleid vom Anfang sich nach kurzer Zeit in Wohlgefallen auflöst und sich dann immer mehr in Ungeduld, ja fast in Ärger verwandelt. Das Scheitern ist Programm.
Die Protagonisten des Romans und vor allem die Frauen sind Opfer ihrer Umwelt, ungewollt, in Armut aufgewachsen, ungeliebt, angeblich ohne jegliche Chance. Sie hegen große Selbstzweifel, begehen Fehler über Fehler, enttäuschen die, die sie eigentlich lieben, ertränken ihr Unglück in Alkohol, fliehen vor Verantwortung oder vor den Villains dieser Welt, werden schuldig und fühlen sich von der Schuld erdrückt. Burn-Out, Anorexie, Suizidgedanken, Postnatale Depressionen, ungewollte Schwangerschaften, Alkoholismus, sexuelle Übergriffigkeit, Eifersucht und Neid, die Schuldenfalle, Eheprobleme, Geldsorgen, Arbeitslosigkeit, Studienabbruch, Kindheitstrauma und einiges mehr.
Nein, dieses ganze Setting und die Verwicklungen sind mir zu negativ, zu konstruiert, keine Figur aus dem Familienkreis handelt für mich nachvollziehbar, selbst Bruder und Schwester, die eigentlich eng und vertraut miteinander aufgewachsen sind, schweigen sich plötzlich an, verlieren sich aus den Augen, teilen ihre Probleme nicht mehr miteinander und haben sich entfremdet. Was für eine desaströse Welt!
Aber, so viel sei dann doch verraten: Aufgrund diverser unglaublicher Zufälle wendet sich das Blatt zum Schluss wieder, der Leser darf sich freuen, die eigentlich Guten werden belohnt und sie dürfen glücklich und zufrieden wieder zueinander finden.

Bewertung vom 01.05.2024
Mein ziemlich seltsamer Freund Walter
Berg, Sibylle

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter


sehr gut

Lisas Leben ist von Einsamkeit, Zurückweisung und Resignation geprägt:
Die arbeitslosen Eltern bewältigen ihren eigenen Alltag nicht, vernachlässigen Kind, Wohnung und sich selbst und werden weder ihrer Rolle als Bezugsperson noch ihrer Fürsorgepflicht gerecht.
Zweiter Schauplatz ist ein Spielplatz, auf dem Jugendliche ihre Macht demonstrieren müssen, indem sie typisches juveniles Machogehabe an den Tag legen, um Lisa zu verängstigen, beleidigen und zu quälen.
Die dritte Station des Leidensweges ist die Schule - gemeine Mitschüler, ungerechte Lehrer, Abneigung, Ausgrenzung, Mobbing.
Stoisch versucht Lisa den Tag zu überstehen und unterschiedliche Bewältigungsstrategien wie Tagträume, Wunschdenken, eventuell sogar Hoffnung auf Veränderung anzuwenden.

Aus dieser Thematik sind gesellschaftskritische Coming-of-age-Romane wie „Shuggie Bain“, „Elmet“ oder auch Bergs eigener Roman „Brainfuck“ gestrickt. Hier aber begegnet uns ein Comic für Kinder und Jugendliche mit einer unglaublichen Wucht, unterstützt von den aussagekräftigen, intensiven, pointierten Zeichnungen Julius Thesings. Ein passendes Team ist hier am Werk, das in wenigen Strichen und Worten zeigt, wie schrecklich die Welt für jeden einzelnen sein kann, wie unglaublich wichtig es aber auch ist, die Hoffnung nicht aufzugeben und seine Ängste zu überwinden - auch wenn sich die überraschende Lösung in Form Walters, eines außerirdischen Freundes, der hilft, tröstet, stärkt und Augen öffnet, offenbart.

Ein besonderes, ungewöhnliches Kinderbuch, das sicherlich als Mut-Mach-Buch verstanden werden, das Groß und Klein beglücken und unterhalten kann und zeigt, von welcher Relevanz das eigene Handeln und das Vertrauen in die eigene Kraft ist.

Bewertung vom 30.04.2024
Tyger
Said, S. F.

Tyger


sehr gut

Eine Geschichte über Mut und Freundschaft, Treue und Kraft, Kunst und Literatur und das Hinauswachsen über sich selbst.
Das Gute zählt, der Glaube an Gerechtigkeit und die Möglichkeit, die Welt zu verändern, den Schwächeren zu helfen und sich für das Richtige einzusetzen.
Es geht auch um Selbstüberwindung, das Erkennen der eigenen Kraft und die Umsetzung seiner Ideen in die Realität.
Adam, ein Junge, der aus dem unterprivilegierten Sektor Londons stammt, begegnet durch Zufall einem magischen Wesen, einem riesigen Tyger, der seine Hilfe braucht, ein wunderbares, leuchtendes Geschöpf, das vom Erzfeind bedroht wird. Gemeinsam mit seiner neuen Freundin Zadie, einer Büchernärrin, versucht er, nicht nur Tyger zu retten, sondern im Kampf gegen das Böse geht es um den Erhalt der Welt, die Unterstützung der Armen und Hilflosen und die Überwindung der eigenen Angst. Adams Intuition und sein Herz führen ihn durch die Dunkelheit, helfen ihm bei wichtigen Entscheidungen und er nimmt die gefährliche Herausforderung an.
In poetischer und für Jugendliche geeigneter Sprache schafft es Said, seine Leserschaft in der Welt der Vorstellung und Magie zu entführen und die wunderbaren, eindringlichen Illustrationen unterstützen diesen Prozess.
Ein Buch, das mehr als ein Abenteuerroman ist, eine Lektüre, die von den wichtigen Dingen im Leben erzählt, die Mut macht, die das richtige Handeln und die Überwindung der Angst in den Mittelpunkt stellt.
Als Schullektüre ist dieser Roman durchaus geeignet, von prägnanter Kürze, vielfältige Diskussionsanlässe sind möglich, die z.T. lyrische Sprache kann analysiert werden und kreatives Arbeiten bietet sich an. Allerdings könnte das Mystische, Poetische z.T. auch Stirnrunzeln oder Ablehnung hervorrufen und Schüler, die mehr Action erwarten, werden zum Teil enttäuscht. Das positive Ende stimmt allerdings versöhnlich, es geht um das Wahre und Gute, die Verantwortung des Einzelnen, um Gleichheit, Akzeptanz, die Schönheit der Welt, gegen Diskriminierung, Rassismus und jegliche Form von Grenzen, Verstößen gegen die Menschenrechte. Die Message lautet: Die Schreckensherrschaft und Ungerechtigkeit können durch eigene Kraft überwunden werden, wenn du nur daran glaubst und den Mut zur Veränderung aufbringst.

Bewertung vom 30.04.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

Was für ein Roman - schockierend, schrecklich, bewegend, todtraurig, Leid und Zerstörung als übergeordnetes Motiv.
Man leidet mit den beiden unterschiedlichen Figuren Philipp und Faina, hat immer wieder Hoffnung, dass sie es doch schaffen, dass sie ihr Leben aus eigener Kraft oder auch mit Hilfe von Freunden in den Griff bekommen, dass sie den äußeren Umständen trotzen, dass sie ihre Intelligenz, Freundlichkeit, Liebe, Schönheit nutzen, um für sich und andere zu sorgen und ihres eigenen Glückes Schmied werden.
Aber was für eine Welt ist das, in der alle Sehnsüchte und Hoffnungen zerbrechen? Wer trägt die Verantwortung für jegliches Scheitern? Wer ist Täter, wer Opfer?
Wunderbar einfühlsam führt uns die Autorin Lana Lux in ihrem dritten Roman „Geordnete Verhältnisse“ in die Geschichte der beiden Außenseiter ein. Hervorragend gelingt ihr die Charakterisierung, Handlungen, Motive, Ängste, Bedürfnisse, Gefühle und Gedanken werden in ihrer Widersprüchlichkeit genau analysiert und in den Figuren zum Leben erweckt. Beide werden unvoreingenommen dargestellt und man entwickelt schon zu Beginn für beide Seiten Sympathie und Verständnis, was sich im Laufe des Romans allerdings verschiebt.
Der introvertierte Philipp wird vom Kind bis zum jungen Erwachsenen genauso wie sein Pedant, die junge Ukrainerin Faina, begleitet. Eine ganz besondere Freundschaft verbindet die beiden. Sie schaffen es nicht, in einer Liebesbeziehung glücklich zu werden und es besteht Hoffnung, dass ein alternativer Lebensentwurf Zufriedenheit und Glück zu bringen vermag - eine tiefe Freundschaft als funktionierendes Band einer modernen Familie. Allerdings wird auch dieses fragile Konstrukt von menschlichen Leidenschaften und Gefühlen wie Eifersucht, Besitzdenken, Freiheitsstreben, Liebe und Hass geprägt und derjenige, den man zu lieben glaubt, wird zum größten Feind.
Dieser Roman lässt den Puls rasen, erschüttert, baut einen Sog auf und hinterlässt Betroffenheit. Eine toxische Beziehung steht im Mittelpunkt und der Leser fragt sich, wann der Ausweg möglich gewesen wäre. Einen Gewinner kann es nicht geben und selbst Unbeteiligte und völlig Unschuldige werden zum Oper, zum Spielball des Unglücks.
Eine klare Leseempfehlung für einen starken Roman - aber nichts für schwache Nerven.

Bewertung vom 01.04.2024
Kanak Kids
Dimitrova, Anna

Kanak Kids


ausgezeichnet

Auf der Suche nach Zugehörigkeit, Heimat, Freundschaft, Familie, Liebe & sich selbst
Die 16-jährige Dessi bewegt sich in zwei unterschiedlichen Welten und verwandelt sich jeweils in die, die in dieser Welt Akzeptanz und Anerkennung erfährt. Einerseits lebt sie mit ihrer bulgarischen Familie und ist mit ihrer Osteuropa-Clique als Dessi unterwegs, zum anderen geht sie als Daisy auf das schicke Gymnasium, wo sie blauäugig und mit blonder Perücke tagtäglich als erfolgreiche Schülerin auftaucht.
Einen Teil ihrer selbst lässt sie bei dieser Metamorphose jeweils zurück, er wird unterdrückt, da sie Zurückweisung oder sogar Ausschluss aus der Gemeinschaft fürchtet. Aber kann man seinen Freunden, seiner Familie tagtäglich etwas vorspielen? Hält man es auf Dauer aus, immer nur mit einem Teil präsent zu sein, den anderen Teil aber zu verstecken? Kann man mit diesem halben / geteilten Leben glücklich sein?
Die junge, energiegeladene Dessi geht sehr kreativ mit dieser Transformation um. Der Leser fühlt mit ihr und kann ihre Ängste und Befürchtungen verstehen, weiß aber, dass es keine Lösung auf Dauer sein kann.
Die Situation spitzt sich zu, die partielle Verleugnung der Realität nimmt dramatische Ausmaße an und nur noch ein Deus ex machina kann helfen. Aber wem kommt diese Rolle zu?
„Kanak Kids“ von Anna Dimitrova ist ein wunderbar leichter, unterhaltsamer und humorvoller Roman mit Tiefgang und ernsthafter Problematik, bei dem mir die Heldin schnell ans Herz gewachsen ist und ich voller Bewunderung staune, wie sie ihr Leben und ihre Freundschaften im Griff hat bzw. wieder in den Griff bekommt. Ein Akt der Befreiung steht am Ende, der einen Strudel auslöst und neue Wege und einen Neuanfang nicht nur für Dessi / Daisy ermöglicht.
Ein Jugendroman, der als Schullektüre durchaus geeignet ist und zu wichtigen Diskussionen über Themen wie Coming of Age, Sexualität, Coming out, kulturelle Identität anregen und außerdem noch Freude an Literatur vermitteln kann.

Bewertung vom 29.03.2024
Wer ist schon normal? / Willkommen bei den Grauses Bd.1
Bohlmann, Sabine

Wer ist schon normal? / Willkommen bei den Grauses Bd.1


ausgezeichnet

Originelle, wunderbar verrückte Geschichte mit einer positiven Message
Es geht um Freundschaft, Akzeptanz und Toleranz, um das bunte Miteinander jenseits festgefahrener Erwartungen oder Vorurteilen.
Die neuen, seltsamen Nachbarn haben es Ottilie angetan und beflügeln ihre Fantasie und nach dem allmählichen Kennenlernen entwickelt sich eine echte Freundschaft, bei der man einander unterstützt und für den anderen auch in schwierigen Situationen einsteht. Wenn man will, kann man nämlich alles schaffen! Gemeinsam sind wir stark!
Ottilie hilft der ungewöhnlichen Familie Grause auf dem Weg zur Normalität, denn das gefürchtete Institut will den verrückten Opa abschieben, da er sich nicht „normal“ benimmt. Aber dann bekommt der Schrat eine 2. Chance für 13 Tage, in denen er beweisen muss, dass er in der normalen Welt bestehen kann!
Opa wird geputzt, gewaschen, ordentlich angezogen und er soll lächeln, lieb zu seinen Enkeln sein und zusätzlich bekommt er neue Aufgaben: Geschichten erzählen, sauber machen, Süßigkeiten verteilen – ob diese Anstrengungen genügen?
Dieses Kinderbuch bringt auch Erwachsene zum Schmunzeln und Lachen durch die ungewöhnlichen Sprachschöpfungen und überraschenden Wendungen. Freundlich-schräge Illustrationen runden die Lektüre perfekt ab – ein tolles Geschenk für Kinder mit Fantasie, die gerne in fremde Welten abtauchen und skurrile, nette Gestalten kennenlernen möchten.

Bewertung vom 24.03.2024
Zeit der Schuldigen
Thiele, Markus

Zeit der Schuldigen


ausgezeichnet

Spannend, kurzweilig, tolle Rückblenden und mosaikhaftes Kennenlernen der unterschiedlichen Figuren und Beziehungen - man muss mitdenken, macht sich seine eigenen Gedanken, schließt aus, vermutet, hofft, kombiniert und wird gefordert und man muss die Wirklichkeit des Romans sowie die Realität unseres Rechtssystems ertragen.

„Zeit der Gerechtigkeit“ des Göttinger Rechtsanwalts Markus Thiele liest sich rasant; erstmal Feuer gefangen, kann man das Werk kaum zur Seite legen. Aber nicht nur die rasante Entwicklung der Geschichte zeichnet diesen Roman aus, sondern auch die verschiedenen Ebenen, die Handlungsstränge, die sich erst im Laufe der Zeit aufeinander zubewegen und miteinander verbinden.
Im Zentrum stehen die Vergewaltigung und der Mord an einem jungen Mädchen, die Polizeiarbeit, die zur Aufklärung des Falles führen soll, Mangel an Beweisen zur Überführung des Täters, persönliche Betroffenheit, Selbstjustiz. Die Geschichte basiert auf einem realen Fall, der im Anhang des Romans dargestellt und erläutert wird.

Der Leser wird indirekt aufgefordert, Stellung zu beziehen, eigene Überlegungen anzustellen, auf alle Fälle mitzudenken. Diese bewusst offengelassenen Leerstellen – dass man nicht alles auf dem silbernen Tablett serviert bekommt, auch dass nicht alle Fragen beantwortet werden - sind reizvoll und bieten aktiven Lesegenuss bei diesem schwierigen, kaum zu ertragenden Thema.
Thieles Roman hat wieder einmal zum Nachdenken angeregt und ich glaube, dass er gerade auch für junge Menschen sehr geeignet ist, einen Eindruck von der Vielschichtigkeit von Wahrheit zu bekommen. Gerechtigkeit und Schuld, Bestrafung, Genugtuung und Rache sind nie eine bloße mathematische Aufgabe, bei der es nur richtig oder falsch, sondern ganz viele Grauzonen gibt - und das wurde mir bei diesem klugen, hintergründigen und intensiven Roman so deutlich, der die Erwartungshaltung des Lesers nicht befriedigt. Es ist nicht wie im Film: Wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht das Ende – aber ein Happy End wäre in diesem Fall nur verstörend und würde uns auch nicht befriedigen.