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leukam
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Baden-Baden

Bewertungen

Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 31.03.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Gleichermaßen faszinierend wie abstoßend
Die Journalistin und Autorin Gaea Schoeters hat mit diesem Roman in ihrer flämischen Heimat Aufsehen erregt. Nun ist „ Trophäe“ auch in Deutschland erschienen und dem Buch wurde auch hier schon viel Aufmerksamkeit geschenkt. Denn es ist eine gleichermaßen faszinierende wie abstoßende Geschichte, die sie uns hier erzählt.
Der Protagonist mit dem sprechenden Namen White Hunter ist ein schwerreicher Amerikaner, dessen große Passion die Jagd ist, vornehmlich die Großwildjagd. Er ist in Afrika, um endlich seine „ Big Five“ abzuschließen. Nach Elefant, Löwe, Leopard und Kaffernbüffel fehlt ihm nur noch das Spitzmaulnashorn. Seiner Frau, einer Kunst- und Antiqitätenhändlerin, will er die Trophäe für ihre Sammlung zum Geschenk machen. Hunter hat sehr viel Geld für die Jagdlizenz bezahlt und gemeinsam mit dem Jagdleiter und Freund van Heeren begibt er sich auf die Spur des begehrten Tieres. Doch Wilderer kommen ihm zuvor, denn das Horn ist wertvoll und verspricht viel Geld. Hunter ist enttäuscht. Da macht ihm van Heeren ein verlockendes Angebot. Ob er schon mal von den „ Big Six“ gehört habe? Anfangs ist Hunter schockiert , doch dann siegt sein Jagdtrieb über seine moralischen Bedenken.
Es ist ein erschreckendes Gedankenexperiment, auf das uns die Autorin hier mitnimmt. Und sie versteht es sehr geschickt, uns beinahe zum Komplizen ihrer Hauptfigur zu machen. Sie nimmt uns mit in seine innersten Gedanken, Gefühle und Überlegungen und schreibt dabei so eingängig, dass man anfänglich bereit ist, seiner Argumentation zu folgen. Auch wenn man die Großwildjagd vehement ablehnt, scheint es doch glaubwürdig, dass eine gezielte Jagd dem Schutz der Tiere dient. Denn, so Hunter, das viele Geld, das einer bereit ist für den Abschuss eines Tieres zu bezahlen, werde in den Arten- und Umweltschutz der Region gesteckt. Die anderen Tiere werden weiterhin vor Wilderen geschützt, das Fleisch bekommt die Bevölkerung und die wiederum erhält Arbeit und Verdienst als Fährtenleser und Treiber. Angeblich eine Situation, bei der alle nur gewinnen können. Doch Recherchen im Netz haben mir dann gezeigt, dass es sich Hunter mit seiner Argumentation etwas sehr einfach macht, denn die Problematik erweist sich als weitaus vielschichtiger als er es darstellt. Umweltschützer und Ethnologen kommen auf ganz andere Ergebnisse als Jäger und Jagdverbände.
Doch das ist nur eine von vielen Erkenntnissen, die ich aus dem Roman mitnehme.
Denn es geht der Autorin nicht nur um das Thema Großwildjagd, sondern auch um den Zusammenprall zweier Kulturen und die Folgen des Kolonialismus.
Mit Hunter haben wir einen typischen Vertreter des weißen Mannes, der von seiner Überlegenheit und der der westlichen Kultur überzeugt ist.
Aber er sucht das authentische Leben, die existenzielle Gefahr. Das scheint er in der Jagd zu finden, in der wilden Natur Afrikas. Dabei weiß er schon lange, dass es das wahre Afrika, das Afrika vor den Weißen, nicht mehr gibt. Zerstört von Menschen wie ihm. Und am Ende muss Hunter erkennen, dass seine westliche Überlegenheit nur eine vermeintliche ist angesichts den Gesetzen, die in der wilden Natur herrschen.
Auch van Heeren, der sehr gut von den reichen Weißen lebt, die sich bei seinen organisierten Jagden vergnügen und bestätigen, weiß, welche Schuld die Kolonialherren von früher an der jetzigen Situation in Afrika tragen.
Und die Ausbeutung von Land und Leuten geht ja weiter. Der Leser wird sich entsetzt abwenden von der grausamen Jagd im Verlauf des Buches. Gleichzeitig nehmen wir es aber hin, dass die westliche Welt mit ihrem Geld immer noch die Bedingungen stellt und die afrikanische gezwungen ist, sich denen zu unterwerfen.
Doch nicht nur die weißen „ Herrenmenschen“ werden im Roman porträtiert. Der Leser bekommt auch einen kleinen Einblick in afrikanisches Leben und afrikanische Kultur. Dabei legt sich die Autorin nicht konkret fest auf eine Region oder eine Ethnie. Sie zeigt nur den Gegensatz zwischen westlicher Individualität zu afrikanischem Gemeinschaftsdenken, die unterschiedlichen Motivationen zur Jagd und die Unterschiede im Wertesystem. „ Deine westliche Moral ist ein Luxusprodukt, das man sich leisten können muss. Der Rest der Welt muss mit Pragmatismus auskommen.“ Auch das wieder Sätze, die zum Nachdenken zwingen.
„ Trophäe“ ist in vieler Hinsicht ein Roman, der Augen öffnet, uns neue Blickwinkel eröffnet, ohne belehrend zu sein. Die Autorin beschreibt, schildert Situationen und Abläufe, ohne zu werten. Ein Urteil muss sich der Leser selbst bilden.
Dabei ist das Buch unglaublich spannend und fesselnd. Die Autorin erzeugt faszinierende Bilder und schafft eine Atmosphäre, die den Leser direkt teilhaben lässt. Grandiose Tier- und Landschaftsbeschreibungen im Wechsel mit actionreichen Szenen und griffigen Dialogen entwickeln einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Ein ungewöhnlicher Roman, der Stoff bietet für lange Diskussionen.

Bewertung vom 30.03.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


ausgezeichnet

Gehen. Ein Vergehen?
Knapp vier Millionen Menschen sind zwischen 1991 und 2017 aus dem Osten Deutschlands weggegangen, fast ein Viertel der Bevölkerung. Die meisten, die gingen, waren Frauen.
So auch Kathleen, die Protagonistin und Ich- Erzählerin, in Sabine Rennefanz‘ neuem Roman. 1997, kurz nach dem Abitur, verlässt Kathleen ihr kleines Dorf Kosakenberg irgendwo im Osten Brandenburgs, wie viele aus ihrer Klasse. „ Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit….Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat.“
Ja, Kathleen hat es geschafft, hat als Erste ihrer Familie ein Studium abgeschlossen und ist weg aus der ostdeutschen Provinz in die Metropole London. Doch wirklich heimisch geworden ist sie dort lange nicht. Immer wieder reist sie zurück in ihr Dorf, zurück zu Mutter und Freundin. „ Heimreisen,…,waren Manöver durch energetische Felder. Es war, als kreiste man um einen Magneten, der entweder anzog oder abstieß.“ Jeder Besuch in der Heimat ist mit zwiespältigen Gefühlen verbunden. Denn jedes Mal spürt Kathleen stärker die Kluft, die sich zwischen ihr und den Zurückgebliebenen auftut. Jeder versucht im Grunde dem anderen zu beweisen, dass seine Entscheidung „ Gehen oder Bleiben“ die richtige war. „ Gehen, ein Vergehen.“ Ist Kathleen ein „ Verräter“ und ihr beruflicher Erfolg etwas, was ihr missgönnt wird? Schmerzhaft hierbei ist vor allem das Desinteresse der Eltern an ihrer Arbeit und ihrem Alltag. Wie sehr wünscht sich Kathleen ein bisschen Anerkennung. Doch hierbei zeigt sich ein Phänomen, das viele Bildungsaufsteiger erfahren und das wir aus den Büchern von Annie Ernaux und Didier Eribon kennen: Der soziale Aufstieg macht eine Kommunikation auf gleicher Ebene unmöglich, nicht nur bei denen, die man verlassen hat. Nein, auch in der neu angekommenen Klasse fehlen einem das Wissen um die richtigen „ Codes“. Nicht umsonst hat Sabine Rennefanz dem Roman ein Zitat des französischen Soziologen vorangestellt.
Und bei jedem Besuch verschwindet mehr aus dem früheren Umfeld. Die jüngere Schwester wandert nach Australien aus, der Vater verlässt die Familie, die Großmutter stirbt, das Elternhaus wird verkauft. Einzig Mutter Elke bleibt. Aber hier scheint Nadine , die frühere Schulfreundin, den Platz der Tochter eingenommen zu haben. Sie, die geblieben ist und Kinder hat, scheint der Mutter näher zu stehen. Denn Nadine hat, anders als Kathleen, den Lebensentwurf der Mutter bestätigt.
Es sind insgesamt zehn Heimfahrten, die dem Roman Struktur geben. Diese sind oft bedingt durch äußere Geschehnisse, wie Hochzeiten, Umzug, Beerdigungen. Entlang dieser Besuche wird erzählt, das bedingt Lücken im Roman. Z.B. erfahren wir sehr wenig vom Leben in London.
Dafür wird der Wandel in Ostdeutschland nach der Wende bis heute an zahlreichen Beispielen vorgeführt. Nicht nur Kathleen war der Heimat untreu geworden, „ …auch die Heimat war nicht treu geblieben, sondern veränderte sich.“
Da alles aus der Perspektive von Kathleen erzählt wird, erhält der Leser natürlich nur eine einseitige Sicht der Dinge. Er ist dadurch gezwungen, das Geschehene richtig zu deuten. Erleichtert wird dies aber, weil auch die anderen Figuren im Roman vielschichtig gezeichnet werden und somit Tiefe bekommen,
Sabine Rennefanz geht sorgfältig mit der Sprache um, findet schöne Vergleiche und macht sich Gedanken über das, was hinter den Worten steckt. „ Warum hieß es Vaterland, aber Mutterboden?“
Die das Cover zierenden Eier bekommen auch eine tiefere Bedeutung im Roman. Zu DDR-Zeiten und auch später noch hielten sich die meisten Kosakenberger Hühner. Eier stellten eine eigene Währung dar,
„ waren Zahlungsmittel und Liebesbeweis.“ Eier haben aber auch eine tiefe Symbolik, ihre Zerbrechlichkeit steht für das Fragile in Beziehungen.
Sabine Rennefanz ist selbst in einem kleinen Ort in Brandenburg aufgewachsen, hat dann einige Jahre in London gelebt und gearbeitet, bevor sie in Berlin heimisch geworden ist. Sicher ist deshalb vieles aus ihren eigenen Erfahrungen in dieses Buch eingeflossen.
„ Kosakenberg“ ist ein wunderbarer Roman über das Weggehen und Ankommen, über Heimat und Verlust, über schwierige Mutter- Tochterbeziehungen und speziell über den Wandel in Ostdeutschland. Viele werden sich darin wiederfinden, unabhängig davon, ob sie aus einem ostdeutschen oder westdeutschen Ort weggingen. Was bedeutet Heimat, was deren Verlust, wie lässt sich eine neue Heimat finden? Welche Konsequenzen hat der Aufstieg aus seiner sozialen Klasse? Welches Leben will ich führen? Das sind universelle Themen, die der Roman gekonnt verknüpft, ohne überfrachtet zu sein.
Auch das Ende kann überzeugen, es ist versöhnlich, aber schlüssig.

Bewertung vom 29.02.2024
Leute von früher
Höller, Kristin

Leute von früher


ausgezeichnet

Packend und vielschichtig
Kristin Höller ist mit achtundzwanzig Jahren noch eine sehr junge Autorin, die trotzdem schon ein beachtliches literarisches Werk aufweisen kann. Verschiedene Hörspiele, ein Theaterstück und einen Roman, der gleich mit dem Kranichsteiner Jugendliteraturstipendium ausgezeichnet wurde, hat sie bisher veröffentlicht . Da sind die Erwartungen an ihren zweiten Roman dementsprechend hoch.
Im Zentrum von „ Leute von heute“ steht eine junge Frau. Marlene, Ende Zwanzig, hat endlich ihr neun Jahre dauerndes Studium abgeschlossen und hängt gerade etwas in der Luft. Für ihr Studienfach „ Medienpraxis“ besteht auf dem Arbeitsmarkt wenig Bedarf. Das muss sie immer wieder feststellen, wenn sie auf diversen Jobportalen unterwegs ist. Zur Überbrückung nimmt sie eine Arbeit als Saisonkraft an. In einem Erlebnisdorf auf der nordfriesischen Insel Strand wird sie als Verkäuferin in einem Kramladen arbeiten. In diesem Dorf wird den Touristen ein Leben wie zu Ende des 19. Jahrhunderts vorgegaukelt. Fachwerkhäuser mit Strohdächern, Inschriften wie Webstube, Tischlerei, Fischräucherei usw., Kopfsteinpflaster, knospende Sträucher rund um den Dorfplatz vermitteln eine heimelige Atmosphäre . Zahlreiche Saisonarbeiter in entsprechender Kostümierung halten die Inszenierung am Laufen.
Bald erregt Janne, eine junge Frau von der Insel, Marlenes Aufmerksamkeit. Langsam kommen sich die Beiden näher und eine zarte Liebesbeziehung entwickelt sich. Doch Marlene spürt, dass Janne, wie andere Einheimische auch, ein Geheimnis mit sich trägt, ein Geheimnis, das mit der Vergangenheit der Insel zu tun hat.
Die Autorin vermag es, den Leser von Anfang an zu fesseln. Sehr gut kann sie sich einfühlen in ihre Hauptfigur. Marlene steht für viele junge Menschen heute, die zwar über eine gute Ausbildung verfügen, doch auch mit bald Anfang Dreißig immer noch nicht wissen, wo ihr Platz im Leben ist. Das unverbindliche Studentenleben ist vorbei, doch wie es weitergehen soll, ist fraglich. Zwar hat sie in ihren Freunden Luzia und dem homosexuellen Robert eine verlässliche Stütze, doch schon ihre Beziehung zu Paul ist locker und unverbindlich. Der Kontakt zu ihrer Familie beschränkt sich auf ritualisierte Geschenke und Besuche. Einzig zur Großmutter besteht eine innigere Bindung. Doch auch sie weiß nichts von Marlenes Job auf der Insel. „ Marlenes Leben jetzt, ihr langes Studium, die Urlaube mit Luzia, die Wohnung mit Robert - all das war für ihre Großmutter der Prolog zu ihrem richtigen Leben, einem, das ihr noch bevorstand.“
Auch ob sie eine intensivere Beziehung zu Janne möchte, weiß Marlene erst, als es beinahe zu spät ist. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen beschreibt die Autorin sehr feinfühlig und behutsam und mit großer Selbstverständlichkeit.
Mit dem Roman erhält man aber auch einen guten Einblick in die Arbeitswirklichkeit von Saisonarbeitern. Wenig Freizeit und viel Reglementierung bestimmen den Alltag. Untergebracht sind die Arbeitskräfte in einfachen Baracken mit kleinen Zimmern, gemeinsamer Küche und gemeinsamen Sanitätsbereich. Hier ist wenig von der inszenierten Idylle des Dorfes zu spüren.
Und als Leser schaut man hinter deren Fassade. Die vermeintlich originale Kleidung, die alle Mitarbeiter hier tragen müssen, stammt aus dem Fundus eines Theaters. Die Kekse, die Marlene in ihrem Kramladen verkauft, sind genauso wenig selbst gemacht wie die Marmelade oder der Holundersirup. Nur die Etiketten werden von Hand geschrieben. Doch die Touristen sehen das, was sie sehen wollen.
Janne dagegen zieht eine Parallele zwischen diesem Erlebnisdorf heute und der Piraterie von früher. Was früher die Irrfeuer waren, die man anzündete, um an die Fracht der Schiffe zu kommen, ist heute das Dorf mit seiner Scheinwelt.
Aber die Existenz der Insel ist bedroht. Der Klimawandel lässt das Wasser steigen, jede Flut richtet mehr Schaden an. Schon lange soll deshalb ein neuer höherer Deich gebaut werden, doch wirtschaftliche Interessen stehen dem entgegen.
Dabei hat man doch ein Mahnmal direkt vor Augen. Der Ort Rungholt ist vor ein paar hundert Jahren von einer großen Flut zerstört worden und liegt seitdem im Wattenmeer versunken. Legenden darüber werden im Ort noch wachgehalten.
Die Autorin verhandelt in ihrem Roman viele Themen, ohne dass er überladen wirkt. Alle stehen mit der Hauptfigur und der Geschichte in logischer Verbindung und werden unangestrengt in die Handlung eingebaut. Die Auflösung des dörflichen Geheimnisses nimmt zwar eine Wendung, die mir normalerweise nicht so liegt. Doch hier erscheint sie passend. Der Titel „ Leute von früher“ erschließt sich erst gegen Ende, geht doch der Roman vor allem um „Leute von heute“.
Die Autorin überzeugt überdies mit einer schönen Sprache, lebendigen Dialogen und einer differenzierten Figurenzeichnung.
„ Leute von früher“ ist ein fesselnder Roman, der sich zu lesen lohnt.

Bewertung vom 26.02.2024
Weiße Wolken
Seck, Yandé

Weiße Wolken


sehr gut

Moderner Familienroman, der aktuelle Lebenswelten beschreibt
Dieo und Zazie sind zwei Schwarze Schwestern. Dieo, die Ältere, lebt gut situiert mit Mann und drei Söhnen im trendigen Frankfurter Nordend. Sie arbeitet als Psychotherapeutin, ihr Mann ist Mitarbeiter in einem florierenden Finanz-Start-Up. Zazie, mit Ende Zwanzig ein paar Jahre jünger als ihre Schwester, hat gerade ihr Masterstudium hinter sich gebracht und jobbt in einem Jugendzentrum. Das teure Frankfurt kann sie sich nicht leisten, sie wohnt im günstigeren Offenbach. Ihre Mutter, ebenfalls Psychotherapeutin, hat die beiden Töchter alleine großgezogen, nachdem sie sich von ihrem Mann, einem Senegalesen getrennt hatte.
Während Dieo sich überfordert fühlt von ihren Aufgaben als Mutter, Hausfrau und berufstätiger Frau ( „ Warum war Sysiphos eigentlich ein Mann, wenn doch die Erfahrung der sich ewig wiederholenden Überlastung eine typisch weibliche war?“), arbeitet sich Zazie an den Ungerechtigkeiten der Welt ab. Überall sieht und erlebt sie die Anzeichen und Auswirkungen von Rassismus, Sexismus und patriarchalen Strukturen. ( Es war, als wäre in ihr ein Scanner eingebaut, der jeden Satz aufnahm und durch ein Diskriminierungs- Prüfsystem laufen ließ.“)
Die Autorin Yande Seck hat in ihre beiden Protagonistinnen viel aus ihrer eigenen Biographie einfließen lassen. Sie selbst ist in Heidelberg geboren und in Frankfurt aufgewachsen. Die Mutter ist Deutsche, der Vater stammt aus dem Senegal. Sie arbeitet als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und lebt mit Mann und Kindern in Offenbach.
Dass die Autorin die Lebensumstände und die Gesellschaftsschicht ihrer Figuren gut kennt, spürt man. Sehr authentisch beschreibt sie das urbane und bürgerliche Milieu mit ihren „Codes“ und sprachlichen Mustern.
Yande Seck wechselt kapitelweise die Erzählperspektive. Dabei nimmt sie nicht nur die der beiden Schwestern ein, sondern lässt auch Simon, Dieos Ehemann, seine Sichtweise darstellen. Simon versucht als „ mittelalter weißer Mann“ alles richtig zu machen. Doch seine Arbeit erfordert viel Zeit und Engagement, so dass er nicht immer der Partner und Vater sein kann, der er gerne wäre.
Die leicht überzeichneten Nebenfiguren lassen schmunzeln. Gerade die Elterngeneration entspricht so ganz dem Bild allzeit engagierter Alt- Linker. Da die Psychotherapeutenmutter, die beständig ihre Töchter analysieren muss. Da die Mutter von Simon, die darunter leidet, dass ihr Sohn in seinem Job so richtig gut Geld verdient. Hatte sie sich doch gewünscht, dass ihre Kinder „ den Drang haben, die Welt zu verändern, stattdessen…“
Entgegen den Erwartungen, die der Klappentext weckt, steht die Reise in den Senegal zur Trauerfeier für den plötzlich verstorbenen Vater nicht im Zentrum des Romans. Erst im zweiten Drittel des Buches werden die Schwestern in die frühere Heimat ihres Vaters aufbrechen. Trotzdem spielt diese Reise eine wichtige Rolle für die Frauen, besonders für Dieo, für die es die erste Begegnung mit der dortigen Verwandtschaft ist. Hier erlebt sie eine ganz andere Form von Familie; gleichzeitig bedeutet es für sie eine Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Teil ihrer Identität.
Der Titel verweist nicht auf eine romantische oder meteorologische Symbolik, sondern meint jene weißen Flecken auf den Fingernägeln, die man auch „ weiße Wolken“ nennt. Sie sind nicht, wie vielfach angenommen, Zeichen von Kalziummangel, sondern sind Überbleibsel von kleinen Verletzungen in der Nagelstruktur. Im Roman geht es also um Verletzungen und Einwirkungen, die ein Gesellschaftssystem auf die Identität eines jeden hat. „…dass Verletzungen uns zu dem Menschen machen, der wir sind.“ „ Viele winzige Verletzungen, die unseren Charakter formen.“
Yande Seck überzeugt mit einem genauen Blick und pointierten Dialogen. Ihr Text ist gespickt mit Anglizismen, einer woken Sprache und Begriffen aus der Psychoanalyse. Das macht ihn sehr gegenwärtig.
Neben den schon erwähnten Themen wie Rassismus und Sexismus verhandelt der Roman auch noch Fragen zu Frauen- und Männerbildern, sowie Mutterschaft und Vatersein. „ Übermächtige Mütter und abwesende Väter gehören zusammen.“
Auch wenn ich als alte weiße Frau aus der deutschen Provinz nicht zur eigentlichen Zielgruppe gehöre, so habe ich mich mit dem Buch doch bestens unterhalten gefühlt. Ein kurzweiliger moderner Familienroman, der aktuelle Lebenswelten beschreibt. Man darf nach diesem Debut gespannt sein auf weitere Bücher der jungen Autorin.

Bewertung vom 22.02.2024
Leuchtfeuer
Shapiro, Dani

Leuchtfeuer


sehr gut

Dramatisch und emotional bewegend
Dani Shapiro ist Schriftstellerin und betreibt einen erfolgreichen Podcast. Ihr jüngster Roman „ Leuchtfeuer“ war in den USA ein großer Erfolg und wurde von diversen Zeitungen zum „ Buch des Jahres“ gewählt. Dass eine Verfilmung geplant ist, überrascht nicht.
Der Roman beginnt an einem Abend im August 1985 in Avalon, einem Vorort von New York. Drei Teenager sind auf dem Heimweg von einer Party; am Steuer der fünfzehnjährige Theo Wilf, ohne jegliche Fahrerlaubnis . Neben ihm Misty, ein Mädchen, für das er schwärmt. Auf dem Rücksitz Sarah, Theos siebzehnjährige Schwester. Weil sie getrunken hat, übergibt sie ihrem Bruder die Autoschlüssel. Dann, ein Moment der Unachtsamkeit, und danach ist nichts mehr wie zuvor. „ Änderst du ein Element, ändert sich alles. Eine Erschütterung hier verursacht ein Erdbeben dort. Eine Bruchlinie vertieft sich.“
Misty kommt bei diesem Unfall ums Leben und für die gesamte Familie Wilf wird er zu einem Trauma, das ihr weiteres Leben bestimmt. „ Auf der Tonspur des Lebens läuft der Todesschrei eines Mädchens in Dauerschleife. Man kann ihm nicht entkommen.“
Sarah wird später eine erfolgreiche Produzentin werden, hat mit Mann und zwei Töchtern eine nach außen perfekte Familie. Doch glücklich wird sie nicht. Ihre Dämonen bekämpft sie mit zu viel Alkohol und lässt sich auf eine verhängnisvolle Affäre ein. Theo ist, nach Jahren des Suchens und Herumirrens, ein begnadeter Meisterkoch mit angesagtem Restaurant, privat aber ein wortkarger Einzelgänger.
Auch bei den Eltern hat diese Unglücksnacht ihre Spuren hinterlassen, v.a. beim Vater. Ben war als Erster bei der Unfallstelle und hat als Arzt Fehler gemacht. Und Mutter Mimi wird die unausgesprochene Vereinbarung, über das Geschehene zu schweigen, den Mantel des Vergessens darüber zu legen, zur Vollendung bringen. Sie erkrankt im Alter an Demenz.
Doch nicht nur die Familie Wilf steht im Zentrum des Romans. Jahre später zieht das Ehepaar Shenkman in das Haus gegenüber. Auch deren Familiengeschichte und ihre Verbindung zu den Wilfs beleuchtet die Autorin in eindrücklichen Szenen. Am Silvesterabend des Jahres 1999 wird Dr. Wilf Alice Shenkman bei der dramatischen Geburt ihres Sohnes Waldo zur Seite stehen. Jahre später bahnt sich eine innige Freundschaft zwischen dem hochbegabten und sensiblen Jungen und Dr. Wilf an. Und in einer der innigsten Szenen des Romans wird Waldo Mimi beistehen.
Die Autorin kann schreiben, mit Sprache umgehen, Spannung aufbauen und Figuren entwickeln. Sehr gut fühlt sie sich in ihre Charaktere hinein, aus deren Perspektive sie die Geschichte entwickelt. Kapitelweise stehen Sarah, Theo, Ben, Waldo und dessen Vater Shenkman im Fokus. Dass dabei die beiden Frauenfiguren Mimi und Alice Shenkman etwas blasser bleiben, ist deshalb nur folgerichtig.
Die Autorin erzählt ihren Roman, der sich über einen langen Zeitraum von fünfzig Jahren erstreckt, nicht chronologisch, sondern springt zwischen den Zeiten hin und her. Dabei greift sie Schlüsselmomente aus den Jahren 1999, 2010, 2014 und 2020 heraus. Das erfordert zwar etwas Aufmerksamkeit vom Leser, doch die Kapitel sind datiert, so dass man sich gut zurechtfinden kann. Dieses sprunghafte Erzählen wurde von Dani Shapiro zum einen benutzt, um nicht langweilig zu schreiben. Doch wichtiger hierbei war ihr mehr noch der Gedanke, dass alles mit allem verbunden ist. In den Erinnerungen und aus großer Distanz verschwinden die verschiedenen Zeitebenen.
Nicht jeder mag diese leicht esoterischen Gedankengänge der Autorin nachvollziehen können.
Doch davon abgesehen ist ihr ein vielschichtiger und spannend zu lesender Roman gelungen. Die Autorin belegt eindrucksvoll, wie schnell sich das Leben einer zuvor glücklichen Familie ändern kann, welche seelischen Narben durch unbeabsichtigt schuldhaftes Verhalten entstehen. Und sie zeigt, dass es nicht gut sein kann, Geheimnisse tief in sich zu vergraben, statt darüber zu sprechen. Aber auch, wie sehr wir miteinander verbunden sind und dass wir Liebe und Verständnis brauchen.
Wer Freude hat an dramatischen und emotional bewegenden Familiengeschichten, der ist mit diesem Unterhaltungsroman bestens bedient.

Bewertung vom 10.02.2024
Die Hoffnung der Chani Kaufman
Harris, Eve

Die Hoffnung der Chani Kaufman


ausgezeichnet

Zwischen Religion und Selbstbestimmung
Viele Jahre mussten die Leser warten, um endlich zu erfahren, wie es mit den Figuren aus „ Die Hochzeit der Chani Kaufman“ weitergegangen ist.
Chani und Baruch sind nach ihrer Hochzeit nach Jerusalem gezogen, wo Baruch für sein zukünftiges Dasein als Rabbiner den Talmud studiert. Ihr Glück wäre vollkommen, wenn Chani endlich schwanger würde. Doch bisher waren alle Versuche vergeblich. Nicht nur die Erwartungen von außen belasten Chani. Nein, ihre Ehe wäre ernsthaft in Gefahr, denn nach jüdischem Recht darf ein Mann die Trennung verlangen, wenn seine Frau ihm keine Kinder schenkt. „ Ein unverheiratetes Mädchen war wie ein ruderloses Schiff oder ein Topf ohne Deckel, doch eine unfruchtbare Frau war schlimmer. Ihr Mann konnte sie verstoßen. Er konnte sich neuen Weidegrund suchen.“
Deshalb reist das junge Paar nach London und lässt sich, finanziell unterstützt von Baruchs Eltern, in einer Fruchtbarkeitsklinik untersuchen. Die Ergebnisse sind einerseits beruhigend, denn es liegen keine organischen Gründe für die Kinderlosigkeit vor. Trotzdem stürzt der Befund das Paar in schwere Konflikte. Es sind die strengen jüdischen Gesetze, die einer Befruchtung im Wege stehen, denn diese regeln genau, wann ein Paar sexuell enthaltsam sein muss.
Baruch und Chani stehen somit vor einem riesigen Problem. Wie sollen sie Gottes Gesetz erfüllen, sich zu vermehren, wenn die Gebote das gleichzeitig unmöglich machen ?
Aber Chani ist nicht die einzige Frau, die sich zwischen religiösen Vorgaben und Selbstbestimmung entscheiden muss.
In einem zweiten Erzählstrang geht es um Rivka Zilbermann, die im ersten Buch als Rebezzin Chani auf die Ehe vorbereitet hat. Rivka hat mittlerweile ihren Mann Chaim verlassen, weil sie es in der streng reglementierten Welt der orthodoxen Gemeinde nicht mehr ausgehalten hat. Doch ihr Ausbruch hat schwerwiegende Konsequenzen. Ihr wird der Kontakt zu ihren Kindern verboten und ihr Mann übergibt ihr den „ Get“, den Scheidebrief. Seine Stellung als Rabbiner wäre nicht zu halten mit einer getrennt lebenden Frau. Doch das ist noch nicht alles. Der jüngere Sohn wird in der Schule wegen seiner abtrünnigen Mutter gemobbt, die Tochter will nichts mehr von ihr wissen. Rivka steckt „ zwischen zwei Welten fest und es zerreißt“ sie. Der Preis für ihre Freiheit ist immens hoch.
Und auch ihr ältester Sohn Avromi, der momentan in einer Talmudschule in Jerusalem studiert, steckt in einer tiefen Sinnkrise.
Eve Harris beschreibt nun mit sehr viel Einfühlungsvermögen die Schwierigkeiten, in denen sich ihre Figuren befinden. Es geht ihr dabei nicht darum, die Religion und Gott selbst in Frage zu stellen. Was sie kritisiert sind die z.T. unmenschlichen Gesetze und Verbote, die Männer vor Jahrhunderten erlassen haben und auf deren Einhaltung religiöse Eiferer dringen. Dabei prangert sie jegliche Intoleranz und Bigotterie an.
In ihrer Kritik bleibt die Autorin aber nicht einseitig, denn dass auch Männer unter dem rigiden Diktat leiden, zeigt sie eindrucksvoll an verschiedenen Beispielen.
Und längst nicht alle orthodoxen Juden verhalten sich hier hartherzig und engstirnig. Chani, Rivka und Avromi treffen auf Menschen, die sie in ihrem Bestreben, den richtigen Weg zu finden, bestärken und unterstützen.
Eve Harris beschreibt all ihre Figuren mit Liebe und Empathie und mit genügend Humor. Auch für die Fehler und Schwächen der weniger sympathischen Zeitgenossen zeigt sie Verständnis .
Kapitelweise wechselt die Autorin die Perspektive, so dass der Leser den Hauptfiguren sehr nahe kommt. Und auch die Schauplätze wechseln. Mal sind wir in Golders Green, jenem Stadtteil Londons, in dem vorrangig orthodoxe Juden wohnen, mal in Israel. Dort stellt sie dem ruhigen und traditionellen Leben in Jerusalem das lebendige und pulsierende Tel Aviv gegenüber.
Wie schon im Vorgängerroman bekommt der Leser einen tiefen Einblick in jüdischen Alltag, in Bräuche und Rituale orthodoxer Juden. Das ist ein Blick in eine uns eher fremde unbekannte Welt. Zur Atmosphäre tragen auch die zahlreichen, im Text verstreuten jüdischen Begriffe bei, von denen die wichtigsten in einem anhängenden Glossar erläutert werden.
Mit leichten Ton und in schnörkelloser Sprache greift die Autorin fundamentale Fragen auf.
Man muss den ersten Band nicht kennen, um den vorliegenden Roman verstehen und genießen zu können. Doch wer ihn liest, will sicherlich den Vorgänger kennenlernen und alle, die mit derselben Begeisterung wie ich „ Die Hochzeit der Chani Kaufman“ gelesen haben, werden sich auf die Fortsetzung stürzen.
Und wir alle können nur hoffen, dass Eve Harris nicht wieder so viele Jahre verstreichen lässt bis zum nächsten Folgeroman.
„ Die Hoffnung der Chani Kaufman“ ist Unterhaltungsliteratur vom Feinsten, ein Roman, der einem von Anbeginn an fesselt und nicht mehr loslässt.

Bewertung vom 05.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Fenster und Spiegel zugleich
Barbara Kingsolver, 1955 geboren und in Kentucky aufgewachsen, ist eine anerkannte und mehrfach ausgezeichnete Autorin. Ihr neunter Roman „ Demon Copperhead“ wurde zu einem der „ 10 besten Bücher des Jahres 2022“ gekürt.
Für den Protagonisten und Ich- Erzähler Demon sind die Chancen von Anfang an schlecht. Seine junge Mutter ist drogenabhängig und arm. Die beiden leben in einem Trailer am Rand einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung. Der Vater starb auf mysteriöse Weise vor Demons Geburt. Noch übler wird die Situation, als Demons Mutter heiratet. Der Stiefvater tyrannisiert und misshandelt Mutter und Sohn. Und dann stirbt die Mutter an Demons elftem Geburtstag an einer Überdosis Oxycontin.
Demon kommt in verschiedene Pflegefamilien, doch her erfährt er keine Liebe und Zuwendung. Von den einen wird er als billige Arbeitskraft ausgenutzt, die anderen sind nur am Pflegegeld interessiert.
Doch endlich scheint sich das Blatt zu wenden. Die Großmutter väterlicherseits verschafft ihm Zugang an eine High School und einen Platz im Haus des Footballtrainers der Schule. Für kurze Zeit wird Demon ein gefeierter Footballstar, bis ein Sportunfall die Karriere vorzeitig beendet.
Die Schmerzmittel, die er großzügig verordnet bekommt, führen in die Sucht und Abhängigkeit mit all ihren schrecklichen Folgen.
Es ist eine Zeit voller Leid, Gewalt und Verlust, aus der sich Demon nur mit der Hilfe guter Freunde befreien kann. Das Ende lässt Hoffnung aufkommen.
Diese Lebensgeschichte erzählt Demon im Rückblick. Sein schnoddriger, oftmals bissig- witziger Ton macht das Geschilderte einigermaßen erträglich. Denn es ist manchmal kaum zum Aushalten, was Demon und anderen Kindern angetan wird. Erschreckend zu sehen, wie Armut, Hunger, Gewalt und Verachtung das Leben so vieler bestimmt. Dazu kommt das institutionelle Versagen der zuständigen Behörden, die die ihnen anvertrauten Kinder nur verwalten.
Sicher, es gibt den Zusammenhalt der Familien und auch immer wieder Erwachsene, die sich Demons annehmen.
Demon selbst ist ein Kämpfer, der sich nicht unterkriegen lassen will. Aber auch er trifft falsche Entscheidungen, lässt sich mit Menschen ein, die ihm nicht guttun.
Die Autorin zeigt dabei sehr anschaulich, welche Auswirkungen Drogen auf die Konsumenten, aber auch auf deren Umfeld haben. Was es heißt, wenn sich alles nur noch darum dreht, Geld für den nächsten Kick zu verschaffen.
Barbara Kingsolver reagiert hier auf die Opioidepidemie in den USA . Durch das leichtfertige Verschreiben von Oxycontin und ähnlichen Schmerzmitteln stieg die Anzahl der Drogenabhängigen und Drogentoten enorm. Eine ganze Generation Kinder wächst ohne Eltern auf, weil diese entweder abhängig, im Knast oder tot sind. Die Pharmaindustrie macht ihre Gewinne auf Kosten der Ärmsten des Landes.
Ihr anderes großes Thema sind die Abgehängten dieser Region, die sog. „ Hillbillys“, auf die das andere Amerika herabschaut. Sie erzählt die Geschichte dieser Gegend, benennt die Schuldigen, die das Land heruntergewirtschaftet und die Bewohner ohne Perspektiven zurückgelassen haben.
Die Autorin hat sich für ihren Roman von Charles Dickens „ David Copperfield“ inspirieren lassen. Wie der englische Autor übt auch sie scharfe Kritik an den sozialen Missständen im Land und beleuchtet die verheerenden Auswirkungen von Armut und Perspektivlosigkeit auf das Leben von Kindern und Jugendlichen.
Man muss aber den englischen Klassiker nicht kennen, denn dieser Roman hier steht für sich.
Barbara Kingsolver wurde für „ Demon Copperhead“ 2023 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, gemeinsam mit Hernan Diaz, der die Auszeichnung für seinen Roman „ Treue“ erhielt.
Ich habe beide Bücher gelesen und auch wenn „ Treue“ mit seiner originellen Struktur und seinen unterschiedlichen Erzählformen literarisch ambitionierter sein mag, so halte ich „ Demon Copperhead“ für das wichtigere Buch. Wer Amerika, die Zerrissenheit des Landes und die Probleme seiner Bewohner besser verstehen möchte, der tut das nach der Lektüre des Romans.
Dieses Buch soll, so der Wunsch der Autorin, „ Fenster sein und Spiegel“. Die einen sollen verstehen und die anderen sich gesehen fühlen. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch und seine Botschaft von vielen gelesen und verstanden wird. Und dass sich niemand von seinem Umfang abschrecken lässt.

Bewertung vom 20.01.2024
Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
Cho, Nam-joo

Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah


gut

Ein Frauenleben in Korea

Wie schon in ihrem international erfolgreichen Roman „ Kim Jiyoung, geboren 1982“ ( das Buch wurde in 19 Sprachen übersetzt und über zwei Millionen mal verkauft ) steht auch hier wieder eine Frau Mitte Dreißig im Zentrum der Geschichte.
Die Ich- Erzählerin Mani lebt immer noch bei ihren Eltern in einem der ärmsten Viertel von Seoul. Hier hausen dicht an dicht die Menschen in heruntergekommenen Wohnungen, unter primitivsten Bedingungen. Ihr Vater betreibt einen kleinen Imbissladen, die Mutter sitzt freudlos zu Hause. Mani ist gescheitert, ohne Freunde, ohne Mann und Kinder. Dabei waren ihre Ansprüche an einen möglichen Ehepartner nicht hoch: Er sollte vor allem eine Wohnung mit Spültoilette haben.
Da wird ihr von einem Tag auf den anderen gekündigt und sie kann nicht mehr mit ihrem Verdienst zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Ein weiterer Tiefpunkt in ihrem ohnehin deprimierenden Leben.
Dabei hatte sie als Kind hochfliegende Träume. Angeregt durch Fernsehbilder von den Olympischen Spielen will sie Kunstturnerin werden, so wie ihr Vorbild, die rumänische Turnerin Nadia Comaneci.
Unter großen Entbehrungen ermöglichen ihr die Eltern den Besuch einer teuren Turnschule. Doch bald merkt Mani selbst, dass ihr dafür einfach das Talent fehlt und zwischen den reichen Sprößlingen fühlt sie sich fehl am Platz. Desillusioniert und gedemütigt begräbt sie ihren Lebenstraum und die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg.
Nun aber scheint sich eine Wende in ihrem Leben anzubahnen. Es tut sich endlich etwas im Viertel. Die Stadtverwaltung hat ein großes Sanierungsprogramm beschlossen und Mani und ihre Familie haben die Chance auf einen Neuanfang. Doch dafür müssen sie ihre Prinzipien hinter sich lassen.
Die koreanische Autorin Cho Nam-Joo kennt die Verhältnisse, über sie hier schreibt, aus eigenem Erleben. Sie weiß, was es bedeutet, in Armut aufzuwachsen. Das wird an vielen Details sichtbar. „ Jemand, der nie ein Hockklosett benutzt hat, hat kein Anrecht, sich über das Leben zu äußern.“ Sie beschreibt nicht nur das harte und trostlose Leben vieler Menschen, die sich täglich abmühen und trotzdem nie aus ihrer Armut herauskommen. Sondern sie zeigt auch politische Fehlentwicklungen und wie sich große Firmen selbst bereichern.
Neben der lautstark vorgetragenen Sozialkritik zeichnet der Roman auch das Psychogramm einer Frau, die sich fragen muss, wie sie dahin kommen konnte, wo sie heute ist. In Rückblenden lesen wir von geplatzten Träumen, von peinlichen Erlebnissen und Mobbing. Das alles ist zutiefst deprimierend, trotzdem lässt der Erzählstil keine wirkliche Nähe zu den Figuren zu. Man empfindet Mitleid und gleichzeitig Ärger über ihr Verhalten. Z.B. versinkt Mani nach ihrer Entlassung in völlige Apathie. Antriebslos verschläft sie ihre Tage, nur unterbrochen von den Streitigkeiten mit ihrer Mutter. Auch der Umgangston in der Familie war mir zu ruppig und zu derb.
Die Autorin beschreibt schonungslos und sehr ausführlich das eintönige und trostlose Dasein, das Vielen in dieser Welt vorbestimmt ist. „ Niemand ist glücklich, doch auch niemand betrübt. Es leben nur alle fleißig ihr Leben.“ heißt es am Ende .
„ Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe“ ist ein Roman, der ein wenig einnehmendes Bild vom Alltag in Korea vermittelt. Entstanden ist er schon 2016; es ist zu hoffen, dass sich manches seitdem verbessert hat.
Es ist sicherlich nicht der beste Roman der Autorin. Wer sie noch nicht kennt, dem empfehle ich den schon erwähnten Bestseller „ Kim Jiyoung, geboren 1982“ oder ihren ebenfalls auf Deutsch erschienenen Erzählband „ Miss Kim Bescheid“. Dort kann Cho Nam-Joo auch literarisch überzeugen.

Bewertung vom 16.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


ausgezeichnet

Ein literarisches Spiel
Michael Köhlmeier greift in seinem neuesten Roman eine historische Begebenheit auf und verknüpft diese mit einer fiktiven Biographie.
Die titelgebenden Philosophenschiffe gab es tatsächlich. Bei dieser Aktion der bolschewistischen Regierung wurden im September und November 1922 missliebige Intellektuelle außer Landes gebracht. Lenin war der Urheber dieser Ausweisung und Trotzki verteidigte die Maßnahme als Akt „ vorausschauender Humanität“.
Auf einem dieser Schiffe befindet sich in Köhlmeiers Roman die vierzehnjährige Anouk mit ihren Eltern. Der Vater, ein Professor der Universität Sankt Petersburg und die Mutter, eine Ornithologin, gehören beide der sog. Intelligenzija an und sympathisieren mit den Bolschewiken. Doch leider verkehrten sie mit Personen, die verdächtig waren und das machte sie gleichermaßen verdächtig.
Das Mädchen macht nun auf dem Schiff die Bekanntschaft eines Passagiers, der Tage später heimlich an Bord gebracht wird: Lenin selbst. Aber er ist nicht mehr der große Held des Volkes, sondern ein gebrechlicher, kranker Mann im Rollstuhl. Die beiden ungleichen Passagiere treffen sich öfter und unterhalten sich und eines Tages belauscht Anouk ein Gespräch zwischen Lenin und und einem Fremden. Ein sehr aufschlussreiches Gespräch, das für Lenin ein tragisches Ende nimmt.
Köhlmeier selbst, das will er uns zumindest glauben machen, hat die Geschichte von Anouk höchstpersönlich. Die ist mittlerweile eine hochbetagte Dame und war eine der bedeutendsten Architektinnen des 20. Jahrhunderts. Und sie wünscht sich den bekannten Autor als Biographen. Er soll ihre Lebensgeschichte niederschreiben, denn er steht in dem Ruf, ein Schriftsteller zu sein, „ dem man nicht glaubt, was er schreibt.“
Anhand der Vita dieser faszinierenden Frau entwirft Köhlmeier ein plastisches Bild russisch- sowjetischer Geschichte. Er schreibt von Hunger und Verfolgung, von Ermordung und Exil. Zahlreiche reale Figuren tauchen im Roman auf, ihre Lebensgeschichte und ihr oft gewaltsames Ende erzählt Köhlmeier.
Dabei geht er zurück bis in die Zarenzeit und zeigt eine Kontinuität innerhalb der russischen Geschichte. Despoten unterschiedlicher Coleur wechseln sich ab; mögen sich auch ihre Weltanschauungen unterscheiden, so bleiben ihre Methoden doch dieselben.
Anspielungen auf heutige Verhältnisse und Personen sind sicherlich beabsichtigt. So z.B. wenn Köhlmeier von Zar Pawel I. schreibt, „ Er ließ sich einen Tisch zimmern, gut acht Meter lang, an dem empfing er seine Gäste, immer nur einen, er auf der einen Seite des Tisches, der Gast auf der anderen. Zunächst habe er den benachbarten Staatsmännern geschmeichelt und so getan, als sei er einer von ihnen, aber dann habe er Kriegspläne erstellen lassen, zuerst gegen die Ukraine, die er Kleinrussland genannt haben wollte.“
Und auch mit solchen Sätzen entlarvt Köhlmeier den Typus des Autokraten: „ Einer zerstört ein ganzes Land, richtet Millionen Menschen zugrunde, lässt Millionen umbringen, schafft eine neue Gesellschaft - man denkt, solche Männer handeln aus ebenso großen Motiven, weltumfassenden Motiven, Gerechtigkeit, Freiheit, Friede, Ordnung, Ruhe. Und dann stellt sich heraus, es ist gar nicht so. Er ist gekränkt worden, persönlich gekränkt.“
Köhlmeier mischt hier sehr gekonnt und sprachlich versiert Fiktion und Realität. Seine fiktive Hauptfigur gibt ihm schriftstellerische Freiheiten, die er mit einer historisch verbürgten Figur nicht gehabt hätte. Sie und ihre Familie stehen exemplarisch für das Schicksal vieler Exilanten.
Dadurch, dass er sich selbst in den Roman schreibt, gewinnt dieser noch zusätzlich an Authentizität.
Ein literarisches Spiel und eine anspruchsvolle Lektüre!

Bewertung vom 03.01.2024
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


gut

Kein Buch für mich

Der Autor Shehan Karunatilaka war in Deutschland bisher ein Unbekannter. Doch die Tatsache, dass sein zweiter Roman „ Die sieben Monde des Maali Almeida“ mit dem renommierten Booker Prize 2022 ausgezeichnet wurde, weckte mein Interesse.
Wir sind im bürgerkriegsgeschüttelten Sri Lanka der 1990er Jahre. Hier tobt seit Jahren ein blutiger Kampf zwischen der singhalesischen Regierungspartei und tamilischen Seperatisten. Aber auch verschiedene andere Gruppierungen sind in die Kämpfe verwickelt. Zwischen 80.000 und 100.000 Menschen sind in diesem Bürgerkrieg, der erst 2009 sein Ende fand, umgekommen
Hauptfigur ist der 35jährige Maali Almeida, eine schillernde Figur. Er arbeitet als Kriegsfotograf und verkauft seine Bilder an jeden, der sie haben will. Nebenbei ist er leidenschaftlicher Spieler und heimlicher Homosexueller mit einer großen Liebe und vielen sexuellen Bekanntschaften. Und er ist tot, ermordet. Gleich zu Beginn des Romans befindet er sich in einem seltsamen Zwischenreich und ihm bleiben sieben „ Monde“, also sieben Tage, um herauszufinden, wer ihn ermordet hat.
Maali macht sich auf die Suche, begleitet von zahlreichen Geistern und Dämonen, die ihn unterstützen oder zu behindern versuchen. Aber noch eine andere Mission treibt ihn an. Maali plant eine Ausstellung mit unveröffentlichten Photos, die er sicher versteckt hat, brisante Bilder, die die Verantwortlichen eines Massakers zeigen. Von der Veröffentlichung erhofft sich Maali einen Skandal, der zu einem Politikwechsel führen soll. „ Vielleicht konntest du für den Bürgerkrieg in Sri Lanka tun, was das nackte Napalmmädchen für Vietnam getan hat.“ Deshalb versucht er Kontakt aufzunehmen zu den beiden Menschen, die ihm am nächsten standen: sein Geliebter DD und seine beste Freundin Jaki.
Tatsächlich wird Maali beide Missionen erfolgreich beenden: er findet seinen Mörder und die Ausstellung findet statt, allerdings ohne groß Wirkung zu erzielen.
Shehan Karunatilaki hat für seinen Roman eine ungewöhnliche Perspektive gewählt; Maali erzählt seine Geschichte sich selbst in der Du - Form. „ Du wachst auf mit der Antwort auf die Frage, die sich jeder stellt. Die Antwort lautet : Ja, und die Antwort lautet: Genau wie hier, bloß schlimmer. Mehr ist nicht drin an Erkenntnis. Also schlaf ruhig weiter.“ So rätselhaft beginnt das Buch.
Die Du- Perspektive ermöglicht eine genaue Innensicht der Figur, baut aber gleichzeitig eine Distanz zum Leser auf.
Wir begleiten die Hauptfigur zu vielen unterschiedlichen Schauplätzen in der Gegenwart, gehen aber mit ihm auch in die Vergangenheit zurück. Dabei entwirft der Autor ein erschreckendes Bild seines Heimatlandes. Verschiedene Ethnien und Religionen kämpfen um die Vorherrschaft. Korrupt und skrupellos sind alle Beteiligten.
In einer bilderreichen, oft drastischen und derben Sprache und vorrangig über Dialoge erzählt der Autor seine Geschichte. Zynischer Witz kann nicht über die Grausamkeiten hinwegtäuschen.
Doch der Roman erwies sich schon bald als anstrengende Lektüre. Normalerweise schreckt mich so etwas nicht ab, sondern ich nehme die Herausforderung gern an. Aber hier war für mich bald klar, dass das Buch und ich nicht zusammenfinden werden. Die überbordende Phantasie des Autors, die von vielen Lesern positiv bewertet wurde, war mir einfach zu viel. Die skurrile Welt der Geister und Untoten und die geschilderten Grausamkeiten haben mich eher abgestoßen. Und die enorme Anzahl an Figuren mit für mich kaum unterscheidbaren Namen und die schnellen Szenenwechseln ließen mich eher verwirrt zurück. Eine Nähe zu irgendeiner Person ließ die Erzählweise nicht zu. Es gab einzelne Passagen und Sätze, die mich packen konnten und die ich interessant fand, doch die gingen im geschwätzigen Gesamttext beinahe unter.
Wenn man wie ich mit der politischen Lage in Sri Lanka und mit der dortigen Religion nicht vertraut ist, bleibt manches unverständlich.
Diese Lektüre war eine Aufgabe, an der ich gescheitert bin.