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lustaufbuch

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Insgesamt 138 Bewertungen
Bewertung vom 10.09.2024
Emigrant des Lebens
Eisenhauer, Gregor

Emigrant des Lebens


ausgezeichnet

»Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?«

Eigentlich hatte Erich Kästner alles, um glücklich zu sein. Er war ein erfolgreicher Autor, beliebt bei Jung und Alt. Eigentlich.
Doch wirklich glücklich konnte er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr werden, ganz im Gegenteil. Kästner vegetierte in München vor sich hin, ertrank sich im Alkohol und zelebrierte seinen ganz persönlichen Gang vor die Hunde.

Doch warum war Kästner in seinen letzten Lebensjahren so unglücklich?
Schuld daran trug insbesondere sein übermäßiger Alkoholkonsum, wobei dieser eher eine Folge von Vorangegangenem war.
Verantwortlich für seinen Zustand war zuvorderst seine nicht ausgelebte Kindheit, unter seiner besitzergreifenden Mutter, für die er ihr alleiniger Lebensinn war. Dabei erdrückte sie ihren einzigen Sohn mit zu viel Liebe und verwehrte ihm das eigene Lieben zu lernen, woran er sein ganzes Leben litt.
Folglich konnte er keinen Schlussstrich unter die Jahrzehnte andauernde Beziehung zu Luiselotte Enderle setzen, betrog sie ständig mit Affären und belog sie bezüglich seinem Sohn mit der viel jüngeren Friedel Siebert.
Daneben prägten ihn die Jahre der Inneren Emigration nachhaltig. Sein angekündigter großer Roman über das Dritte Reich blieb schließlich ungeschrieben. Zu schwer lastete die Vergangenheit, zu tief waren die Wunden und zu grausam das persönliche Eingestehen, zu welchen Taten Menschen wirklich im Stande waren und immer noch sind.
Kästner hatte alles und war dennoch – anders als seine Romane es auf den ersten Blick vermuten lassen – ein von Kind auf unglücklicher und von der Zeit geprägter Mensch.

Auch wenn der Autor Gregor Eisenhauer für begeisterte Kästner-Leser nicht wirklich etwas Neues zu erzählen weiß, ist sein Buch eine ganz ungewohnte Annäherung an Kästner. Eisenhauer begibt sich auf eine biografische Suche nach Kästners Unglück und verfolgt mehrere mögliche Ansätze, deren Summe Kästners endgültigen Zustand nach sich zog.
Ein grandioses Buch, das bei keinem Kästner-Fan im Bücherregal fehlen darf!

Bewertung vom 08.09.2024
Daniel Kehlmann über Leo Perutz / Bücher meines Lebens Bd.6
Kehlmann, Daniel

Daniel Kehlmann über Leo Perutz / Bücher meines Lebens Bd.6


ausgezeichnet

»Was im Buch Plot ist, ist im Leben unser Schicksal.«

Wer sich mit Daniel Kehlmann beschäftigt weiß, dass dieser eine große Begeisterung für die Werke von Leo Perutz hegt. Wer es noch nicht wusste, wird dessen Begeisterung spätestens nach den ersten Seiten dieses Buchs merken. Darüberhinaus gelingt Kehlmann seine Leidenschaft auf den Leser zu übertragen, sodass dieser alle besprochenen und thematisierten Bücher gerne selbst – am Besten sofort – lesen möchte.
Allein aus diesem Grund lässt sich folgern, dass dieses nur knapp hundert Seiten umfassende Buch seine Wirkung – zumindest bei mir – regelrecht entfalten und mich begeistern konnte. Es wird Zeit, dass ich mich endlich(!) mal dem vielversprechenden Werke von Perutz widme.

Nach einer kurzen Einführung von Volker Weidermann, dem Herausgebers der Reihe „Bücher meines Lebens“, folgen knappe Kapitel über Besonderheiten bei Perutz’ literarischem Schaffen sowie eine Vorstellung dessen Biografie durch den Autoren. Währenddessen brilliert Kehlmanns Stil in diesen ersten Kapiteln!
Durch diese Kapitel erfahren die Lesenden z.B., dass Kafka zeitweise in der selben Versicherungsgesellschaft wie Perutz arbeitete.

Nachdem mehrere Erzählungen und Romane in nur wenige Seiten umfassenden Kapiteln angerissen wurden, widmet sich die gesamte zweite Hälfte des Buchs Perutz’ gemäß Kehlmann „beste[m] Roman“ und „geheimen Meisterwerk[]“: „Nachts unter der steinernen Brücke“. Dieses Buch umfasst vierzehn, auf den ersten Blick voneinander unabhängige Erzählungen, welche sich nach und nach zu einem Gesamtbild fügen.
Bis dato war mir nicht bekannt, dass Kehlmanns Roman „Ruhm“ in Anlehnung an diesen Roman geschrieben wurde und eine darin vorkommende Figur den Namen Leo als Würdigung dessen Kompositionsprinzips und Gesamtwerks trägt.

Ganz egal, ob ihr Leo Perutz bereits kennt oder ihr ihn erst noch entdecken wollt, dieses Buch bietet einen dankbaren Einstieg in sein literarisches Schaffen, das man sicherlich nicht nur einmal zur Hand nimmt.

Bewertung vom 05.09.2024
Freiheitsschock
Kowalczuk, Ilko-Sascha

Freiheitsschock


ausgezeichnet

Schonungslos, radikal und ehrlich. Diese Wörter treffen den Stil von Kowalczuks Essay, der sich mit der Gesellschaft Ostdeutschlands ab dem Fall der Mauer auseinandersetzt, wohl am Besten.
Dem Begriff „Freiheit“ wird dabei eine tragende Rolle zugeteilt, schließlich ist dieser für ihn kein starrer Zustand, sondern ein fortlaufender Prozess, mit dem sich jede Generation erneut auseinandersetzen muss, um sie zu erhalten.

Bei vielen Menschen aus Ostdeutschland lässt sich nach 1989 eine Überforderung, der sog. titelgebende „Freiheitsschock“, sowie eine Belastung durch Transformation und die dazukommende Verklärung der Vergangenheit erkennen. Darüberhinaus gab es keine Schulung über Demokratie und Freiheit, wie es in der BRD im Sinne der amerikanischen Re-Education stattfand.
So folgert Kowalczuk, dass keine mehrheitlich politische sowie demokratische Zivilgesellschaft entstanden ist, sondern sich die Trägheit autoritärer Vergangenheit widerspiegelt und teils gar als Sehnsuchtszustand fungiert.
Dazu kommt noch der Aspekt, dass nicht wenige Menschen der Auffassung sind, dass wir aktuell in einer Quasi-Diktatur leben und man sich durch die Wahl extremistischer Parteien davon befreien kann.
Anhand konkreter Beispiele macht der Historiker deutlich wie tief Diskriminierungen unterschiedlicher Ausprägung oder Nationalismus in den gesellschaftlichen Strukturen der DDR verankert waren und folglich nicht einfach verschwanden.

Für Dirk Oschmann, Sahra Wagenknecht und insbesondere die gesamte AfD hat er kaum ein gutes Wort übrig. Ebenfalls beäugt er die Umwandlung der SED zur PDS und zur späteren Partei „Die Linke“ als problematisch, schließlich wandelte sich eine Diktaturpartei zu einer demokratischen Partei der Emanzipation und unterstützt in mancher Hinsicht noch immer antiwestliche und prorussische Ansichten.
Dabei blickt er auch auf die Familien der Schauspielerin Sandra Hüller sowie der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck und kommentiert deren überwiegend positive Erinnerungen an die DDR kritisch.

Eine ganz große Empfehlung!

Bewertung vom 02.09.2024
Fabelland
Geipel, Ines

Fabelland


gut

»Wann fängt man an, jemanden in die Vergangenheitsform zu setzen?
Wenn die Geschichte vorbei ist? Wenn der andere einen nicht mehr interessiert? Wenn es noch einmal losgeht?«

Ines Geipel, kurz vor dem Fall der Mauer, im August 1989 nach Darmstadt geflohen, schildert in diesem Buch überwiegend subjektive Erinnerungen an ihre Zeit während und nach der DDR sowie zur Zeit des Mauerfalls.
Dabei reist die Autorin zurück in die Zeit des Umbruchs und geht verschiedenen Fragen auf die Spur:
Wie wirkte sich der Fall der Mauer auf die Menschen aus und wie nahmen diese ihn wahr? Wie vollzog sich die Einheit und wie lassen sich heutige rechtsextreme Tendenzen erklären?

Besonders der Bezug zu ihrer eigenen Familie bleibt in Erinnerung, schließlich stieß Geipel selbst erst 2003, bei Akteneinsicht, auf diese Tatsachen.
So erfuhr sie, dass ihr Vater unter acht verschiedenen Namen für die Staatssicherheit der DDR im Westen spionierte. Ihre Mutter wusste dabei über alles Bescheid.
Das Schweigen darüber, dass niemand darüber jemals redete, belastet noch heute.

Auch sonst bietet ihr Buch Abrisse über bestimmte Ereignisse, Erlebnisse und Personen. Beim Lesen bemerkt man ihre poetische Sprache. Kein Wunder, schließlich ist sie Professorin für Verskunst an der wohl renommiertesten Schauspielschule Deutschlands: „Ernst Busch“ in Berlin.

Gegen Ende wendet sie den Blick auf die (Erfolgs-)Geschichte der AfD, deren Radikalisierung und kritisiert die zunehmende Auferlegung von zuschreibenden Identitäten, seitens der rechtsextremistisch eingestuften Partei, wie sie auch aktuell im Wahlkampf zu bemerken sind.

Trotz der spannenden Einblicke, welche das Buch bietet, konnte es mich jedoch nicht wirklich überzeugen. Vielmehr hätte ich mir eine etwas geordnetere Struktur gewünscht, da diese meines Erachtens teils chaotisch und immer wieder sprunghaft war.
Auch wurde ich aus manchen geschilderten Ereignissen nicht wirklich schlau, einerseits weil der Zusammenhang nicht klar ersichtlich war und andererseits erschienen mir diese teils als belanglos.

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Bewertung vom 30.08.2024
Das Diamantenmädchen
Arenz, Ewald

Das Diamantenmädchen


ausgezeichnet

»Diamanten machen die Menschen meistens gierig. Fast immer werden sie mit Blut bezahlt.«

Als die Journalistin Lilli Kornfeld ihren Jugendfreund und sogleich ihre erste und einzige große Liebe Paul aufsucht, um ihm, da er Diamantenschleifer ist, einen geheimen Auftrag zu vermitteln, lässt sich noch nicht erahnen, welche weiteren Ereignisse diese Handlung auslöst, geschweige denn, wie tief diese sie in ihre eigene Vergangenheit führen. In eine Zeit der unbeschwerten Kindheit und zugleich in eine Zeit, als der Krieg Menschen veränderte und ihr Bruder sein Leben an der Front lassen musste.
Fast zur gleichen Zeit wird die Leiche eines schwarzen Trommlers entdeckt. Es herrscht Ratlosigkeit und diese verstärkt sich, nachdem ein Rohdiamant am Tatort gefunden wird.
Zwei Szenarien, die nur auf dem ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Spätestens als einer der beiden Ermittler des Mordfalls mehr durch Zufall auf Lilli trifft, wird den Beteiligten klar, dass diese Ereignisse mit hoher Wahrscheinlichkeit zusammenhängen müssen.

Dieser Roman entführt den Lesenden ins Berlin der zwanziger Jahre – eine Zeit des Umbruchs –, in der die Gedächtniskirche noch stand und es das Romanische Café noch gab. Dabei kommen wir dem mysteriösen Mord auf die Spur und begleiten perspektivisch sowohl Lilli als auch die Ermittler und erhalten spannende Einblicke in das Mysterium von Diamanten.
Wie es in einem guten Krimi sein soll, fühlt man sich dabei ertappt, den Schuldigen erraten zu haben und wird dann von unerwarteten Wendungen überrascht – Arenz ist es geglückt!

Was mich jedoch gestört hat, war die unkommentierte, häufige Nennung des N-Wortes. Natürlich war dieses vor knapp hundert Jahren geläufig, dennoch wäre zumindest eine kurze Anmerkung und Einordnung diesbezüglich, besonders in einer Neuauflage, wünschenswert gewesen.

Wer sich auf eine literarische Reise in die Goldenen Zwanziger begeben und zugleich ein für Arenz eher untypisches Buch – nämlich einen Krimi – lesen möchte, dem ist dieser Roman sehr empfohlen.

Bewertung vom 28.08.2024
Im Land der Wölfe
Koester, Elsa

Im Land der Wölfe


ausgezeichnet

»Diese Balken, diese dicken blauen Balken, wie sie wachsen. Jeden Tag wachsen sie drüben in Sachsen, länger als alle anderen blauen Balken der Republik.«

Grenzlitz, eine Stadt am Rand von Sachsen, ist das komplette Gegenteil von Berlin. Die sog. Blauen werden von etwa jedem Dritten gewählt und dennoch zieht es Nana dorthin – sie möchte Katja Stötzel, die dortige Kandidatin der Zukunftsgrünen, als Coach unterstützen, um ein bestmögliches Wahlergebnis zu erzielen und ggfs. Oberbürgermeisterin zu werden.
Dazu kommt ein Zwist mit ihrem größeren Bruder Noah, welcher nicht nur kein starker Mann, sondern gar keiner mehr sein möchte. Verschiedene Ansichten und Erinnerungen prallen aufeinander, eröffnen Auseinandersetzung, die beide Geschwister nicht kalt lassen und in den Wunden der Vergangenheit wühlen.
Ebenfalls lässt sich Nana auf Falk Schloßer ein, einem Mann, dessen Ansichten nur so vor nationalem Patriotismus strotzen und der dennoch teils Verständnis für Nana hat.
Mit Zwiespälten wie diesem setzt sich das Buch auseinander.
Kann man mit Menschen, die gedanklich weit am rechten Rand zu verorten sind, in einer Gemeinschaft wertschätzend zusammenleben?

Besonders um den Austausch mit ihrem Bruder möglichst präzise in Roman zu verweben, untergliedert sich dieser in drei verschiedene Perspektiven.

Auf ungewohnte, besondere und teils experimentelle Weise erzählt Elsa Koester von dieser Stadt, dem Miteinander, den Unterschieden sowie den damit verbundenen Problemen der Einwohner.
Dabei ließen mich manche Stellen aufgrund von blankem Hass der Blauen gegen Neues oder für sie Ungewohntes erschaudern. Schlimmer ist es, dass diese geschilderten Ereignisse nicht bloß fiktiv, sondern heutzutage wieder real sind.

Wenn es einen aktuellen, politischen Roman gibt, der sich mit den Aufwärtstendenzen der AfD beschäftigt, diese objektiv anhand verschiedener Themen, Reaktionen und Handlungen aufzeigt und den Lesenden aus dessen Komfortzone holt, weil schlichtweg nicht alle Menschen überall gleich eingestellt sind, dann ist es dieser!

Bewertung vom 26.08.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


ausgezeichnet

»Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen.«

Ludmilla, genannt Lou, ist, nachdem ihre erste Ehe abrupt von ihrem Ex-Mann im Alleingang beendet wurde, zum zweiten Mal verheiratet. Diesmal mit einem Pianisten, der die meiste Zeit nicht daheim, sondern auf Tournee ist. Somit bleibt es überwiegend ihre Aufgabe die gemeinsame Tochter Rosa zu erziehen und zugleich die ins Wanken geratene Beziehung aufrecht zu erhalten. Als das Paar eines Tages darauf zu sprechen kommt, wie sie ihr Kind über jüdische Identität aufklären können, ist das der Beginn einer Reihe von aufeinanderfolgenden Ereignissen und einer Spurensuche, tief in den Trümmern der eigenen Vergangenheit.
Gemeinsam mit Rosa, von ihrer Mutter überredet und begleitet, reist sie kurzentschlossen nach Gran Canaria zum 90. Geburtstag ihrer Großtante. Dort fasst sie nach und nach den Entschluss ihrer Vergangenheit, die alle angeht, in Israel nachzuspüren.

Was macht jüdisch sein heute noch aus?
Und wie geht man mit der Vergangenheit um?
Fragen der jüdischen Identität durchziehen den Roman von Olga Grjasnowa, sind sanft in ihm verwoben, geben Denkanstöße und lassen die Lesenden selbst darüber nachdenken.
Aber auch die Vergänglichkeit ist stets gegenwärtig und beschäftigt die Protagonistin sehr. Ihre Ehe scheint zu zerbrechen, jeder interessiert sich dafür und sie will es schlichtweg nicht fassen, sondern verzweifelt bei der Suche nach einem für sie erfüllenden Leben.

Besonders die stilvolle, bewusste Sprache der Autorin, welche schon nach wenigen Sätzen ein intensives, visuelles Lesevergnügen ermöglicht, hält den Leser in dieser besonderen Geschichte gefangen.

Ein aktueller, großartiger Roman, der sich bewusst mit der, die Gegenwart sowie die Zukunft beeinflussenden Vergangenheit auseinandersetzt!

Bewertung vom 22.08.2024
Wie der Osten Deutschland rettet
Czaja, Mario

Wie der Osten Deutschland rettet


sehr gut

»Wer die Biografien der Menschen in Ostdeutschland kennt, weiß, dass sie keine westdeutsche Belehrung brauchen.«

Mario Czaja, aktuelles Mitglied des Deutschen Bundestags und ehemaliger Generalsekretär der CDU, selbst aus dem Gebiet der ehemaligen DDR stammend und in Ost-Berlin aufgewachsen, widmet sich, wie sein Buch verrät, schon lange der wichtigen Ost-West-Thematik.

Schnell wird deutlich, dass er nicht nur über, sondern in erster Linie mit den Menschen reden möchte. Mit Menschen, aus den sog. neuen Bundesländern, die verzweifelt sind, wütend und enttäuscht. In erster Linie von der Regierung und Politik der letzten Jahrzehnte.
Doch wieso ist diese Lage so prekär?
All diesen Themen, wie es dazu kam, warum es jetzt so ist, wie der Ist-Zustand aussieht (auch im Vergleich mit dem Westen) und vor allem was man ändern könnte und muss(!), widmet sich der Politiker Mario Czaja.

So enthält dieses Buch viele durchdachte Lösungen für ein gemeinsames Miteinander auf gleicher Augenhöhe. Dafür plädiert er bspw. für einen zweiten Aufbau Ost, bei dem die dortig gegebenen Möglichkeiten und Zukunftspotenziale effektiv genutzt werden, indem u.a. mehr in die Bereiche Forschung und Entwicklung investiert wird.

Bemerkenswert dabei erscheint, dass er Teile seine eigene Partei, bezüglich der Gleichstellung der Partie Die Linke mit der AfD, gemäß der Hufeisentheorie, kritisch betrachtet und gar eine pragmatische Zusammenarbeit mit der Linkspartei als Möglichkeit sowie als potentielle Chance sieht. Schlicht und einfach, weil Czaja sich mit den Lebensgeschichten der Menschen beschäftigt, Veränderungen anstrebt, die Besserungen mit sich ziehen und er diese auf möglichst effektive Weise angehen will.

Auch wenn ich nicht allen Aussagen von Czaja persönlich zustimme und das Buch durchaus etwas Eigenlob, ihn sowieso seine Partei betreffend, überschattet, ist es eine große Empfehlung.
Lasst uns Czajas Devise folgen und anstelle (unwissend) über die Menschen, mit den Menschen reden und uns mit der Thematik auseinandersetzen!

Bewertung vom 04.08.2024
Senza casa
Bachmann, Ingeborg

Senza casa


ausgezeichnet

»Bleiben ist tödlich und Fortgehen ist keine Lösung.«

Dieser Band der Salzburger Bachmann Edition enthält sowohl autobiografische Skizzen, Tagebuchnotizen sowie Texte aus bisher gesperrten Teilen des Nachlasses. Da Ingeborg Bachmann keineswegs regelmäßig, sondern eher sporadisch private Erlebnisse und ihr eigenes Empfinden festhielt, sind der ergänzende literaturwissenschaftliche Kommentar sowie der Stellenkommentar bei der Lektüre nicht nur hilf-, sondern allem voran aufschlussreich.

Durch diese hier versammelten persönlichen Texte kommt man Ingeborg Bachmann so nah wie nur selten. Geprägt von den Erlebnissen des Krieges, schwierigen Liebesbeziehungen mit Paul Celan und später Max Frisch befand sie sich in einem umtriebigen Zustand. Sie war stets unterwegs, rastlos, geplagt von Fernweh und dem Gefühl, nie richtig angekommen zu sein und sich zu Hause fühlen zu können.

Das „Neapolitanische Tagebuch“, verfasst zwischen Mitte Februar und Ende September 1956, gibt darüberhinaus Einblicke in ihren Alltag auf Lesereise sowie in das Zusammenleben als Wohn- und Arbeitsgemeinschaft mit dem Komponisten Hans Werner Henze, welches sie doch sehr auf die Probe stellte. Schließlich hing sie gedanklich noch Celan nach und fühlte sich bereits direkt nach der Ankunft nicht wohl dort.
So notierte sie am 15. Februar 1956, bereits in Neapel, folgende kurze Sätze: „Senza casa. Sono senza casa.“ Treffend fassen diese ihren inneren Zustand zusammen, denn übersetzt bedeuten sie: „Ohne Heim. Ich bin ohne ein Zuhause.“

Aber auch ihre Schwierigkeiten beim Schreiben, auf Lesereisen und persönliche Leiden, bzw. Folgen aus all diesem Umständen, wie Schlafmangel oder übermäßiger Alkoholkonsum, werden deutlich.

Wer sich vertiefter mit Ingeborg Bachmann beschäftigen möchte – es lohnt sich sehr! –, dem ist dieser Band, bzw. die Salzburger Bachmann Edition insgesamt, sehr zu empfehlen!

Bewertung vom 04.08.2024
Die Geschichten in uns
Wells, Benedict

Die Geschichten in uns


ausgezeichnet

»Ich verstand früh, dass Lesen einen in manchen Momenten retten kann. Dieses Gefühl trage ich noch immer in mir.«

Seitdem ich vor einigen Jahren den Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ gelesen habe, zählt Benedict Wells zu meinen absoluten Lieblingsautoren. Kaum ein anderer kann Emotionen so treffend beschreiben und gleichzeitig bei den Lesenden das Gefühl erwecken, als wären sie mitten in der Geschichte und würden ebenfalls diese Gefühle empfinden. Seine Sätze sind ein Blick ins eigene Ich. Manche berühren einen sanft, andere sind geradezu hart, während seine Sprache stets einen euphancholischen (hierfür unbedingt Hard Land lesen!) Schleier hinterlässt.

Doch sein neues Buch ist kein Roman, sondern eine Mischung aus Autobiografie und Ratgeber, um seines Erachtens möglichst gute Prosatexte zu verfassen.
Seine ehrliche, von Leichtigkeit beflügelte Sprache bietet uns Einblicke in sein bisheriges Leben und zeigt Parallelen zu seinen Werken auf, wie sie bisher noch nicht fassbar waren. Zugleich gibt Wells nicht nur viele Schreibtipps, gespickt mit Anekdoten, sondern öffnet die Türen seiner Werkstatt: Dadurch dürfen wir ihm beim Überarbeiten und Umschreiben zweier Textstellen seiner Romane „Vom Ende der Einsamkeit“ und „Hard Land“ regelrecht über die Schulter schauen und von ihm lernen.

Um die Zusammenhänge jedoch vollkommen erschließen zu können, wäre es von Vorteil, wenn man bereits einige – bestenfalls alle – Bücher von Benedict Wells kennt. Schließlich bezieht er sich, um bestimmte Aspekte anschaulich zu schildern, öfters auf seine eigenen Texte.

Eine große Leseempfehlung, unabhängig davon, ob ihr bereits Wells-Fans seid, selbst gerne Texte schreibt oder einfach mehr über den Autor erfahren wollt.
Wer seine Bücher liest, stößt auf großartige Zitate, die man sich am liebsten alle merken möchte, weswegen ich das Schlusswort übergebe:
»Jahrelang trieb ich in meiner eigenen Wortlosigkeit und hatte keine Ahnung, ob ich mich dabei auf das Ufer zubewegte oder mich von ihm entfernte.«

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.