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probelesen
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Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 51 Bewertungen
Bewertung vom 29.01.2024
Spur und Abweg
Tallert, Kurt

Spur und Abweg


ausgezeichnet

Der Rapper Tallert legt hier einen eindrucksvollen Text vor, in dem er sich der Persönlichkeit seines Vaters annähert und gleichzeitig versucht, sich selbst zu verstehen. Er selbst wurde 1986 geboren als viertes Kind des damals schon 58jährigen Bundestagsabgeordneten, dessen Kindheit und Jugend durch seinen jüdischen Vater geprägt wurde und ihn als 17jährigen noch 1944 ins KZ brachte. Er überlebt traumatisiert und sein Sohn erlebt bereits als kleines Kind bei einem Besuch im KZ Buchenwald Unberechenbarkeitder Umwelt. Es ist jederzeit möglich, dass "ein Mensch aus allen Situationen herausgerissen wird". Anhand von hinterlassenen Briefen, Tagebüchern, Tonbandaufzeichnungen verfolgt Tallert die Spur seines Vaters und dessen Familie, deren Schicksal über die Definition Jude bestimmt wurde. Die Menschen hatten es nicht mehr in der Hand, sich selbst zu bestimmen. Jude oder einfach nur Mensch? Über die Folgen der NS-Zeit, über Rassismus und Antisemitismus heute, über Erfahrungen und Erinnerungen gerade in heutiger Zeit viele kluge Gedanken. Sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 05.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


sehr gut

Der Autor lässt sich die Biographie einer 100jährigen russischen Architektin erzählen und verbindet so geschickt Fiktion und historische Fakten. Gleichzeitig stellt er gleich zu Beginn der Frage nach der Zuverlässigkeit der Erinnerung und der Wahrheit von Dichtung. Sicher hat Köhlmeier ein fundiertes Wissen über die russische Geschichte der 20er Jahre und mit einer großen Leichtigkeit verknüpft er die offenbar erfundene Figur der Anouk Perleman-Jacob (ich habe jedenfalls nichts über sie gefunden) mit vielen Personen der russischen Revolution von 1917. Sehr deutlich wird der Terror des Regimes, die Unsicherheit des kleinen Mädchens aus bürgerlichem Haus, die Verworrenheit der politischen und auch persönlichen Lebensumstände. Es gab sie wirklich, die Philosophenschiffe, mit denen Intellektuelle, die dem Regime vielleicht gefährlich werden könnten, 1922 in die Verbannung geschickt wurden. Lenins Deportation ist ein interessantes Gedankenspiel. Ein anspruchsvoller, aber dennoch leicht zu lesender Roman, mit viel Raum zum Nachdenken.

Bewertung vom 07.12.2023
Die Unbestechliche
Welser, Maria von;Horbas, Waltraud

Die Unbestechliche


gut

Der Roman der beiden Autorinnen beruht zum grßen Teil auf der Biographie der Fernsehjournalistin Maria von Welser und beschreibt die Zeit von 1968 bis 1977. In dieser Zeit beginnt die junge Frau (geb. 1946) ihre Ausbildung, gleichzeitig heiratet sie und bekommt ihr erstes Kind. Die Schwierigkeiten, wie sie Beruf und Mutterrolle auch nach ihrer baldigen Scheidung meistert, wird sehr realistisch geschildert, ihr Einsatz für eine Stärkung der Frauenrechte gewürdigt. Bei allem Respekt für das Vorhaben, der vorbildlichen Journalistin und Frauenrechtlerin ein Denkmals zu setzen und Ihre Rolle als Vorreiterin in einer von Männern dominierten Medienwelt zu würdigen, bleibt der Text doch recht farblos und der Funke springt bei mir nicht über. Sehr trocken werden Bereiche aus der Ausbildung zur Reporterin beschrieben. An wenigen Stellen kommt die innere Betroffenheit, die doch ein wesentlicher Beweggrund für ihre Arbeit ist, zum Ausdruck wie bei der Geschichte über den Selbstmord einer Politikerehefrau. Eine reine Biographie wäre vielleicht besser gewesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.10.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Der schwedische Bestsellerautor versteht es, schwierige Familienbeziehungen zu beschreiben. Wie in den beiden Vorgängerbänden "Die Überlebenden" und "Verbrenn all meine Briefe" erzählt er von gestörten, traumatischen Verhältnissen. Drei Menschen sind unterwegs in einem Zug: ein zehnjähriges Mädchen mit seinem Vater, ein junger Mann mit seiner Frau, die ihm vor der Trennung den Ort zeigen möchte, in dem sie aufgewachsen ist, eine junge Frau auf der Suche nach ihrer Mutter. Erst allmählich wird deutlich, dass sie alle auf der gleichen Strecke unterwegs sind, aber zu ganz verschiedenen Zeiten: 1976, 2002 und heute und dass es sich um eine Familie handelt: das kleine Mädchen wird die verheiratete Frau, deren Tochter die suchende Frau ist. Sehr raffiniert werden die Erzählstränge miteinander verwoben. Man spürt das Unheil, das diese Familie bedroht, die Sprachlosigkeit über Generationen hinweg. Spannend bis zur letzten Seite. Hervorragend!

Bewertung vom 05.10.2023
Tränen, Liebe, Lebensgier
Hagen, Kimberly

Tränen, Liebe, Lebensgier


gut

Selten fand ich die Beschreibung der Trauer so kurzweilig wie in diesem Buch. Die Autorin ist Gesellschaftskolumnistin einer Münchener Zeitung und versteht es zu schreiben. Auf den unerwarteten Tod ihres Mannes nach einem Routineeingriff reagiert sie mit tiefer Trauer und verfällt in eine Depression, aus der sie sich erst langsam herausarbeitet, ohne Therapie, ohne Medikamente, ohne Drogen. Es dauert ein halbes Jahr, bis sie sich wieder in die Gesellschaft traut, die ihr bisheriges Leben bestimmt hat. Diese Entwicklung protokolliert sie sie offen mit allen Tiefen, Widersprüchen, bizarren Erlebnissen bis sie wieder offen ist für eine neue Liebe. Trotzdem eignet sich das Buch nicht als Trauerbewältigungsratgeber, auch wenn die persönliche Entwicklung der Autorin zu bewundern ist. Denn wer hat schon die Mittel, ein halbes Jahr seine Arbeit aufzugeben, wer hat eine Familie, die Tag und Nacht Unterstützung bietet, wer hat so viele Freunde, hauptsächlich Männer, die sie umwerben, die immer Zeit für sie haben. Ein sehr spezielles Buch, das einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
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Bewertung vom 26.09.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


ausgezeichnet

Was passiert, wenn die Tochter das für sie vorgesehene Leben nicht leben will? Johanna hat ihr Familie vor 30 Jahren verlassen, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen: Kunst statt Jura, USA statt Norwegen, ein neuer Mann. Nachdem sie Witwe geworden ist, kommt sie zurück und versucht, Kontakt zu ihrer Mutter zu bekommen. Sehr berührend ist die versuchte Annäherung. Sie erinnert sich, begibt sich in die Situation der Mutter, sieht die Abhängigkeit vom Vater, bringt Verständnis auf. Das Buch ist ein Monolog, der die komplizierte Beziehung von Mutter und Tochter aufzeigt. Letztendlich scheitert der Versuch, eine Begegnung zu erzwingen, da die Mutter ein Gespräch verweigert. Aber dieser Versuch hat zu einer Klarheit der eigenen Position geführt und damit zur endgültigen Trennung von ihrer Familie.
Aber es ist ein zermürbender Kampf voller Wut und Schmerz. Packend geschrieben.

Bewertung vom 28.08.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Die Brenner-Krimis des österreichischen Autors Haas zeichnen sich sich aus durch lakonischen, aber hintergründigen Witz. Auch hier leben die ersten Kapitel des Buches von diesem Witz und lösten bei mir Heiterkeit aus. Dabei hat der Text einen ernsten Hintergrund. Es geht um das Sterben und den Tod der 95jährigen Mutter in einem Pflegheim, merkwürdigerweise in dem Gebäude, in dem sie in den 60ger Jahren ihre Kinder zur Welt brachte. Die Mutter erinnert sich und erzählt ihre Geschichte. Geboren 1923, geprägt durch Krieg und Wirtschaftskrisen, Heirat mit einen ungeliebten Mann, immer nur Armut. "Sparen, sparen, sparen" ist ihr Lebensmotto. Und trotzdem erreicht sie ihr Ziel nicht: sie erwirbt kein Eigentum. So bleibt ihr am Ende nur die 2qm Grab als Heimat. Haas schreibt in Monologen. Er selbst erinnert sich und dann wieder seine Mutter, deren Texte sind in gesprochenem Dialekt geschrieben. Dadurch entsteht ein besonderer Sprachstil der wie ein Gespräch mit dem Leser scheint. Sicher gewöhnungsbedürftig, aber ein heiterer, aber auch nachdenklicher Lesegenuss.
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Bewertung vom 20.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

Es sollte eine Auszeit werden für die 35jährige Cafébesitzerin aus München, als sie im Sommer an die französische Mittelmeerküste in das lange leer stehenden Haus ihrer Großeltern fährt, um sich von der Trennung ihrer langjährigen Freundin zu erholen. Aber ihre persönlichen Probleme treten in den Hintergrund, als sie vom Tod des Mädchens erfährt, das sie zufällig am Abend ihrer Ankunft kennengelernt hatte. Der Bruder, ein erfolgreicher Journalist und Podcaster, nimmt Kontakt zu ihr auf und zusammen versuchen sie zu verstehen, warum das Mädchen nach einer versuchten Abtreibung verstarb. Ein sehr komplexes Buch, das sich Fragen zur Geschlechtergerechtigkeit, zum Verhältnis von Lieben und Begehren, zur Trauerbewältigung stellt. Gleichzeitig wird ein wunderbares Panoroma der südfranzösischen Landschaft sichtbar. Eine eindrucksvolle Ferienlektüre, eine leicht lesbare, dabei sehr anregende Liebesgeschichte.

Bewertung vom 10.07.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


ausgezeichnet

Der 30jährige Autor verbringt drei Tage mit seinen Großeltern auf Sylt, die jetzt im Alter nicht mehr im Campingbus reisen, sondern sich eine Ferienwohnung leisten. Die Unterbringung aus Sparsamkeitsgründen im gemeinsamen Zimmer auf provisorischen Matrazen ist natürlich gewöhnungsbedürftig für den jungen Mann, passt aber wunderbar in das gemeinsame Ambiente. Er beschreibt die Tage mit den Alten, schweift aber immer wieder ab in Erinnerungen an Famlienereignisse, beschreibt liebevoll die Schrullen der Erwachsenen, die Streiche der Kinder, die gewöhnungbedürftige Art seiner Großmutter, ihre Liebe durch Kochen zu zeigen, die kauzige Sparsamkeit. Sehr komisch, dabei außerordentlich einfühlsam. Auch traurige Elemente bleiben nicht ausgespart wie der frühe Tod des Onkels, von dem mit sehr viel Empathie erzählt wird. Auf heitere Art entstehen lebendige Charaktere, die man trotz aller Eigenheiten lieb gewinnen kann. Ausgesprochen flüssig geschrieben, so dass man das Buch gut im Strandkorb lesen und sich dabei köstlich amüsieren kann.

Bewertung vom 26.06.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


gut

Eigentlich hätte der Plot für einen gesellschaftskritischen Roman gereicht: die Familie , ein Ehepaar und ihre drei Kinder treffen sich, um die Einweihung der queeren Buchhandlung der Tochter zu feiern und erleben eine Katastrophe, weil nichts so ist, wie es nach außen scheint. Betrug, Vertuschen, Verheimlichen: eigentlich lebt keiner, wie er möchte. Leider beschreibt der Spiegeljournalist diese Wirklichkeit in einem Ton, der mich ratlos macht. Er überspitzt die Situationen so, dass ich nicht erkennen kann, ob er es ernst oder satirisch meint. Die Entwicklung des Sohnes als Linguistikprofessor in New York von der Kündigung wegen Vertuschung des sexuellen Übergriffs eines Kollegen bis zum Sprecher der Republikaner Trumps scheint übertrieben und unglaubwürdig, aber in seiner Logik durchaus interessant. Alles ist aber eine Spur zuviel. Überall aktuelle Themen und Namen. Vieles könnte ja als Parodie durchgehen. Dafür ist mir der Schluss aber zu ernsthaft und zu konventionell.