Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Juma

Bewertungen

Insgesamt 126 Bewertungen
Bewertung vom 09.10.2024
Wohnverwandtschaften
Bogdan, Isabel

Wohnverwandtschaften


ausgezeichnet

Wie schön ist diese Welt!
Meine Überschrift zu dieser Rezension ist ein im Buch verwendetes Zitat aus dem Roman von Lili Grün „Zum Theater“ – es passt sehr gut zum neuen Buch von Isabel Bogdan, die diesmal nicht die feine schottische Gesellschaft oder das Laufen als innere Reinigung und Befreiung aufgreift, sondern mitten im Leben landet. Wohnverwandtschaften lassen – zumindest bei mir – ja sofort im Kopf das Wort Wahlverwandtschaften aufblitzen und beim Lesen stellte ich fest, dass auch letzteres gut als Titel getaugt hätte für dieses wunderbare Buch.
Die wichtigsten Protagonisten des Romans kann man an einer Hand abzählen, dadurch bildet sich schon von Beginn an eine sehr emotionale Nähe zwischen ihnen und dem Leser. Kaum hat man begonnen, kennt man Constanze, die junge Zahnärztin, Murat, den Zauberkoch, Anke, das verkannte Schauspielgenie, und Jörg, den Endsechziger mit großem Reisewunsch. Die vier sind es, die eine WG (gern auch Wohngemeinschaft genannt, vielleicht auch Wahlgemeinschaft) bevölkern, Jörg ist der Besitzer der Wohnung und Constanze das Kücken, das als letztes inklusive unnützem und ungeliebtem weißen Klavier zur WG stößt.
Bezaubernd die Beschreibungen des ersten Kennenlernens, gemeinsamen Kochens und Sinnierens. Mit gekonnter Leichtigkeit geht die Autorin in die Vollen und lässt die Hüllen der vier Stück für Stück fallen. Aber nichts ist so leicht, wie die Fantasie, und so kommen erhebliche Probleme auf das Kleeblatt zu, das gegenseitige Liebe und Freundschaft entwickelt hat. Und diese wird auf eine harte Probe gestellt, als Jörg zu einer Not-OP ins Krankenhaus muss. Den weiteren Verlauf dieser ungewöhnlichen und sehr zu Herzen gehenden Viererbeziehung möge jeder selbst lesen. Es lohnt sich auf jeden Fall.
Der Stil von Isabel Bogdan hat eine Leichtigkeit und Frische, die man nicht so häufig findet in den Gegenwartsromanen. Ihre Dialoge und Selbstgespräche lesen sich echt und lebensnah. Das hat mir sehr gefallen. Das Einstreuen von Zitaten und Liedtexten gelingt ihr punktgenau.
Jede der vier Hauptfiguren ist auf ihre Art lebendig und nachdenklich, es macht Freude, den Gedankensprüngen zu folgen, die Traurigkeiten machen etwas traurig und trotzdem bleibt bis zum Ende des Buches eine fast euphorische Lebensfreude erhalten. Meine Lieblingsfigur ist Murat, der Deutsche mit türkischen Wurzeln und einem großen Herzen und einem Händchen für Küche und Garten. Die fünfte Hauptfigur ist dann auch sein spontan adoptierter Hund Alien, eine perfekte Idee für die WG hatte die Autorin auch hier.
Gern würde ich das Buch auch als Hörbuch genießen, die Vorstellung ist jedenfalls sehr verführerisch, schon weil viele gute Schauspieler, z. B. Heikko Deutschmann, lesen. Und die Geschichte ist es auf jeden Fall wert!

Fazit: Ich kann das Buch aus vollem Herzen empfehlen, mir waren es bereichernde Lesestunden. Uneingeschränkt 5 Sterne!

#Wohnverwandtschaften #NetGalleyDE

Bewertung vom 06.10.2024
Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)


weniger gut

Kluftinger passt nicht in die Politik

Rein gefühlsmäßig ist schon der Titel Lückenbüßer eine große Bürde für einen Krimi. Nun ist dieser ja zu allem UNGLÜCK auch noch der 13. Teil einer bisher zumindest für mich recht unterhaltsamen Krimireihe. Hätte ich die beiden Autoren Klüpfel und Kobr beraten dürfen, hätte ich dazu geraten, Nummer 13 gekonnt zu überspringen und für Kommissar Kluftinger einen neuen, spannenden Fall zu erfinden. Selbst die sehr regionale und gekonnte Lesung der Autoren gemeinsam mit Martin Umbach reißt dieses Buch nicht mehr raus. Ich jedenfalls gehöre zu den Krimilesern, die Spannung, Ablenkung vom Alltag und gute Unterhaltung suchen. Mit politischen Witzchen, versuchter Satire und vermeindlich ÖRR-tauglichem Geschwätz fand ich mich aber nicht gut bedient. Der Kriminalfall an sich ist so unbedeutend, dass er fast verschwindet im Wahlkampfgetöse. Political Correctness hingegen wurde sehr groß geschrieben, wenn irgend etwas davon als Satire gemeint war, sollten die Autoren es gern als solche markieren. Sieht man in einem Hörbuch leider nicht.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.10.2024
Gebt mir etwas Zeit
Kerkeling, Hape

Gebt mir etwas Zeit


sehr gut

Opulente niederländische Geschichte(n)
Warum höre ich so gerne Hörbücher? Weil HP Kerkeling mich mit seinem "Ich bin dann mal weg" einfach süchtig gemacht hat. Das ist bald 20 Jahre her, ich höre immer noch gerne und ganz besonders ihn, HP! Trotzdem bin ich geneigt, dieses jetzt erschienene Hörbuch doch etwas kritisch zu betrachten. Ahnenforschung ist auch mein Hobby und unterdessen ist mir klar geworden, dass nicht jeder an den Tausenden Details interessiert ist, die ich im Laufe vieler Jahre über meine Vorfahren ausgegraben habe. Nun ist mir nicht das Talent des Romanschreibens in die Wiege gelegt, aber auch HP Kerkeling macht aus seiner Obsession nicht gerade einen Bestsellerroman. Sein Motto "Gebt mir etwas Zeit" hat er für meine Begriffe etwas zu lang gedehnt, insbesondere die niederländische Geschichte und die Geschichten, die er sich rund um seine Vorfahren ausgedacht hat, ließen mich ziemlich ermüdet in den Schlaf sinken. Nun gehöre ich wahrscheinlich zu den Ignoranten, die das Niederländische vor allem mit den Malern Rembrandt, Hals oder Vermeer, um nur drei zu nennen, und mit deren Gesellschaftsbildern verbinden. Aber nur deshalb konnte ich mir dann beim Zuhören auch einiges vorstellen, Städte, Schiffe, Leute und Gewänder, die beschrieben werden. Besonders gedehnt fand ich die Heraldik, die Wappenbeschreibungen sind wirklich nicht geeignet, meine Fantasie zu beflügeln. (Wobei ich mich gefragt habe, ob es im gedruckten Buch vielleicht Abbildungen gibt, die man als Hörer gar nicht sieht.)
Dass mir dann die Geschichten um Urgroßmutter Agnes und die uneheliche Oma Bertha wirklich gut gefallen haben, liegt vielleicht an den für mich eher vorstellbaren Gegebenheiten und dem Kuriosum der Abstammung vom englischen Königshaus. Solche Enthüllungen hätten mich bestimmt auch bei meiner Ahnenforschung beflügelt.
Die tragische Liebe zu Duncan wird von HP sehr zurückhaltend und doch mit Traurigkeit in der Stimme erzählt. Einiges kann ich nicht nachvollziehen, aber das Leben spielt manchmal mit den Menschen schon ein seltsames Spiel. In jedem Fall erinnerten mich diese Szenen um das Thema AIDS sehr an die 1980er Jahre und das Entsetzen über diese Krankheit, ja, Seuche ist der bessere Ausdruck, und an die Angst, die damals mit rasender Geschwindigkeit um sich griff und wohl niemanden ausließ.
HP Kerkeling ist ein begnadeter Sprecher seiner eigenen Bücher und ich hoffe, dass er noch ein weiteres schreiben und dann sprechen wird.
Fazit: bei den opulenten niederländische Geschichten kommt der englische König fast etwas zu kurz. Hörenswert schon weil HP Kerkeling so toll vorlesen kann!

#GebtmiretwasZeit #NetGalleyDE

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.09.2024
Im Warten sind wir wundervoll
Inden, Charlotte

Im Warten sind wir wundervoll


sehr gut

Mich kriegt nichts klein

Das Zitat „Mich kriegt nichts klein“ ist das Credo dieses Romans und seiner Hauptfigur Luise Adler, einer jungen Frau, die Vorbild sein kann auch für uns, die wir fast 80 Jahre später leben. Mutig und unerschrocken zeigt sie der Welt die Stirn, verzagt nicht und kämpft für ihr Glück.
Die Schriftstellerin Charlotte Inden schrieb bisher Kinder- und Jugendbücher, nun hat ihren ersten erwachsenen Roman – oder sagt man besser Erwachsenenroman? – vorgelegt und sich eines sehr emotionalen Themas angenommen. Die als War Brides (zu deutsch Kriegsbräute) bezeichneten Frauen, die nach dem zweiten Weltkrieg die Freundinnen, Verlobten und später manchmal sogar Ehefrauen der amerikanischen Besatzungssoldaten wurden, werden hier in einem neuen Licht gezeigt. Der „War Brides Act“, der Ende 1945 diese Beziehungen erlaubte, ist in die amerikanische Geschichte eingegangen. Unzählige Frauen machten sich in der Folge auf, ihren Verlobten in die USA zu folgen.
Der Roman – bzw. die Enkelin Elfie – erzählt die Geschichte von Luise Adler und Joseph Hunter, die alles andere als unkompliziert verläuft. Beginnend am Ende des Krieges, mit der Befreiung Deutschlands durch die Amerikaner, die nicht überall mit offenen Armen empfangen wurden, verläuft der Erzählstrang entlang Luises Leben bis zu dem Punkt, an dem sie „sitzengelassen“ auf dem US-amerikanische Flughafen strandet und dann weiter bis in die heutige Zeit.
Enkelin Elfie erzählt diese Geschichte ihrem zufälligen Sitznachbarn im Flugzeug, als sie auf der Reise von Europa nach Amerika etwas Zuspruch und Hilfe sucht. Der Sitznachbar entpuppt sich als Mann der Tat und des guten Zuhörens, so dass bald auch hier aus Interesse Zuneigung wird. Mehr als das, was aus dem Werbetext hervorgeht, will ich nicht vorwegnehmen, es lohnt sich aus meiner Sicht auf jeden Fall, diesen Roman bis zum Ende selbst zu lesen.
Die Autorin versteht es geschickt, die beiden Erzählstränge zu verknüpfen, es macht wirklich Spaß und erweckte meine Empathie für die Hauptfiguren dieses Buches. Eine moderne, erfrischende Sprache und ein nicht zu ausufernder Schreibstil lassen einen nur so durch die Seiten eilen, um recht bald zu erfahren, was sich noch ereignen wird. Die Charaktere der Protagonisten sind gut beschrieben, einzig Jo ist mir etwas fremd geblieben. Dagegen ist die Figur der Luise Adler einzigartig, wirklich nachvollziehbar und lebendig. Elfie als Gegenpart des zweiten Erzählstranges scheint mir jedoch eher einem Jugendbuch mit noch recht unfertigen Persönlichkeiten entsprungen, aber das ist nun wirklich subjektiv.
Zum Ende des Buches hatte ich aber trotz der flüssig laufenden Story das Gefühl, dass der Autorin die Puste etwas ausgegangen ist. Sollte sie sich vor Abgabe des Manuskripts auf eine genaue Seitenzahl festgelegt haben, hat sie wohl in den ersten 350 Seiten zu viel Pulver verschossen. Seien es Momente im elterlichen Zuhause, in der Wohngemeinschaft oder wo auch immer Luise sich aufhielt, überall war Leben drin, das echt wirkte. Zum Ende hin hätte ich mir genauso schöne und lebendige Szenen gewünscht, wie sie seit Beginn erzählt wurden.
Fazit: Ein Roman über die Nachkriegszeit, der sich mit anderen Romanen dieser Thematik, wie z. B. Stay away from Gretchen oder Als Großmutter im Regen tanzte durchaus messen kann. Lesenswert. Gute 4 Sterne.

#ImWartensindwirwundervoll #NetGalleyDE

Bewertung vom 26.09.2024
Tod am Teufelstein (eBook, ePUB)
Wöss, L. R.

Tod am Teufelstein (eBook, ePUB)


gut

Kriminalist als verdeckter Kurgast

Es kommt zu einem Todesfall im renommierten, sprich überteuerten, Schwarz-Vital-Naturheilzentrum, dann stirbt auch noch eine investigative Journalistin. Die Kriminalpolizei in Graz wird aufmerksam und sendet ihren Kollegen Toni Wakolbinger in ebenjenes Zentrum, nicht zur Erholung, sondern zur Ermittlung. Wobei dieser Toni nach anfänglichem Abscheu sogar die angenehmen Seiten jener Kur zu schätzen lernt. Aber es wäre kein Krimi, wenn nicht bald Ungemach droht und dann noch eine Leiche gefunden wird. Toni versucht sich im Dickicht der Klinik einen Reim zu machen auf die undurchschaubaren Vorkommnisse, bis es ihn fast selbst erwischt. Mehr sei nicht verraten. Nur das noch: zum Ende hin wird es endlich ein wenig spannend, aber es treten auch so viele Protagonisten und Bösewichter auf die Krimibühne, dass ich Mühe hatte, wohl sortiert zum Ende zu gelangen.
Es handelt sich hier um den vierten Band einer Reihe, die ich bisher nicht kannte. Vielleicht kommt da ja noch einer nach, mit einem Toni, der noch mal eine neue Frau findet.
Der Krimi ist flüssig geschrieben, bot ansprechende Unterhaltung und jede Menge Reichenbashing. Im Mittelteil fand ich es nicht so spannend, ich hätte da gerne ein bisschen gekürzt. Das Cover sieht recht verlockend aus, zum Titel passt es aus meiner Sicht weniger.

Bewertung vom 24.09.2024
An den grünen Hängen des Vesuv
Matisek, Marie

An den grünen Hängen des Vesuv


sehr gut

Italien hat schon so manchen verzaubert – Eine Familiengeschichte

Marie Matisek hat ein Thema aufgegriffen, das nicht nur mich, sondern viele Leser sehr interessiert: woher komme ich, wer sind meine Vorfahren, welche Geheimnisse nahmen sie mit ins Grab?

Selina, aufgewachsen in Wuppertal, Enkeltochter der lebenslustigen rheinländischen Marianne und des italienischen Eisdielenbesitzers Sergio, steht nach dem Tod ihres Großvaters plötzlich vor vielen Rätseln. Warum kam Sergio tatsächlich 1956 nach Deutschland und verließ sein geliebtes Dorf am Fuß des Vesuvs und seine Eltern? Nie wurden die Gründe in der Familie thematisiert, selbst Selinas Vater Marcello kennt sie nicht.

Selina beschließt, ihre „Auszeit“ zu nutzen und endlich ins Land ihrer Vorfahren zu reisen, um die Geheimnisse zu lüften. Wie ihr das gelingt und welche Schwierigkeiten zu überwinden sind, liest sich trotz der dahinter verborgenen Tragik leicht und angenehm. Einen Teil der Zeit in Italien verbringt sie sogar mit ihrem Bruder, der plötzlich als Überraschungsgast auftaucht. Mehr möchte ich zum Handlungsverlauf nicht verraten, ich empfand ihn als spannend und aufschlussreich.

Die ersten Kapitel fand ich nicht besonders aufregend und spielte schon mit dem Gedanken, das Lesen abzubrechen. Aber plötzlich, mit Beginn der Reise, gefiel mir das Buch dann doch von Seite zu Seite besser. Viel Platz wird der Liebesgeschichte von Sergio und Rosa vor seiner Auswanderung nach Deutschland gegeben. Aber das Kapitel 18 über Rosa und ihre Entscheidungen hat für mich den Spannungsverlauf unterbrochen, all das wäre besser am Ende der Spurensuche aufgehoben gewesen. Aber hier haben natürlich Autorin und Lektorat die Entscheidung getroffen. Als Leser muss man trotzdem den Spuren weiter folgen, die Selina und Bruder Fabio verfolgen, die beiden kennen ja das Kapitel 18 nicht.

Etwas irritiert hat mich der Ausdruck „Fremdarbeiter“, der für die Gastarbeiter der 1950er Jahre verwendet wird. Für mich ist diese Bezeichnung verbunden mit dem Nationalsozialismus und den aus vielen besetzten Ländern nach Deutschland zur Arbeit gebrachten Menschen, egal, ob aus Polen, der Ukraine oder Italien. Sie wurden alle mehr oder weniger gezwungen, für Hitlerdeutschland zu arbeiten. Die vielen insbesondere italienischen und türkischen Männer, die ab Mitte der 1950er Jahre zum Arbeiten nach Deutschland kamen, taten dies vor allem wegen der Not und Arbeitslosigkeit in ihren Heimatländern, in Deutschland waren sie in erster Linie willkommene, billige Hilfsarbeiter.

Sehr erfreut habe ich mich an den lebhaften Beschreibungen Italiens, kürzlich war ich in Neapel und auch auf halber Höhe des Vesuvs, an der Amalfiküste und in Neapels Umgebung. Die Autorin beschreibt alles sehr genau und liebevoll. Einfach traumhaft, dieses Italien! Dass Sergios Wohnort tatsächlich ein Fantasieort ist, lässt sie den Leser nicht merken.

Fazit: Ich bewundere die Autorin für ihren Einfallsreichtum und die Umsetzung in einen wirklich lesenswerten Roman. Danke für die gute Unterhaltung. Gute vier Sterne!

#AndengrünenHängendesVesuv #NetGalleyDE

Bewertung vom 10.09.2024
Die Bilder meines Vaters
Goltz, Astrid

Die Bilder meines Vaters


gut

Fragile Utopien zwischen Leben und Tod

Astrid Goltz hat sich mit ihrem Roman des Lebens der Marie Luise Vogeler, genannt Mieke, angenommen, aber es ist keine Biografie im Sinne zusammengetragener Tatsachen, sondern ein Roman. Diese künstlerische Freiheit hat Vor- und Nachteile. Die Autorin verleiht ihrer Hauptperson Mieke ihre Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Träume, Wachträume, all ihre Liebe und Verzweiflung. In chronologischer Reihenfolge lässt sie uns die letzten zwei Jahre des widersprüchlichen Lebens der Mieke miterleiden. Die starke Mieke ist krank, sehr krank, der Krebs wird sie zerfressen, gegen den Krebs ist sie nicht stark genug.
Ein feiner literarischer Kniff lässt den Leser zuerst ihre Kindheit und Jugend erleben und er wird dann Zeuge der großen Liebe zu Gustav Regler. Mieke berichtet zuerst Gustav, dann erzählt sie von der großen Liebe ihrer treuesten und besten Freundin Alice. So bleibt Mieke immer in der Ich-Form des Erzählens, auch dann, wenn sie ihre leisen Selbstgespräche führt, in romantischen, blumigen Bildern denkt und lebt, mit Katzen spricht oder mit einer Hexe.
Ihr Vater, der Maler Heinrich Vogeler, ist ein herber Gegensatz zu Mieke und ihr doch sehr ähnlich. In Worpswede lebt er zuerst auf dem Barkenhoff mit Frau und drei Töchtern, malt und lebt ein Künstlerleben. Das wird ihm dann manchmal recht sauer, besonders, weil mit im Haus auch Ludwig, der Geliebte seiner Frau Martha, ein merkwürdiges Dasein fristet. Als Vogeler es wagt, sich einer neuen Frau zuzuwenden, bricht die Idylle zusammen, Mieke wendet sich beschämt und „entliebt“ von ihm ab. Erst Jahre später kommen sich beide wieder nahe.
Vogeler zieht in den ersten Weltkrieg, der ein Schlüsselerlebnis für ihn wird, wendet sich den Kommunisten zu und wird schließlich in die Sowjetunion ziehen mit seiner Freundin und seinen Idealen. Vogeler ist verblendet vom Sowjetstaat, noch bevor Mieke stirbt, wird er dort auch zu Grunde gehen.
Der Barkenhoff derweil wird verkauft und Martha schafft eine neue Heimstatt für sich, die Töchter und jede Menge Gäste. Martha ist die Pragmatische in der Familie, anpassungsfähig und überlebensfähig, beinahe führt das in der Nazizeit zu einem endgültigen Bruch mit Tochter Mieke.
Mieke geht einen harten Weg, ihre künstlerische Begabung ist bemerkenswert, sie lernt das Goldschmiedehandwerk, zieht als Gelegenheitsarbeiterin durch die deutschen Lande, arbeitet und wird ausgebeutet in Schwerin, macht sich frei und lernt den romantischen Kommunisten, man könnte ihn auch den kommunistischen Romantiker Gustav Regler kennen. Beide bleiben über viele Jahre ein Paar, überstehen Gefahren und sind am Ende dort, wo das Buch beginnt, in Mexico im Exil.
Dieses Buch liest sich nicht schnell und leichtfüßig, es zieht den Leser in einen Sog von Natur- und Zustandsbeschreibungen, die so blumig und wortreich sind, als wären sie nicht von dieser Welt. Ob diese herbe Mieke, dieses norddeutsche Wesen, so gedacht hat? Mir war das zu viel der schönen Schreiberei, dafür muss man wohl künstlerisch, träumerisch und romantisch veranlagt sein.
Eingestreut in die Kalenderblätter – oder Tagebuchseiten, wie man es nennen will, ist nicht wichtig –, sind Beschreibungen von Vogelers Bildern. Nur das Porträt von Mieke schmückt auch das Cover, die anderen Bilder muss man sich vorstellen. Mir fiel das nicht so leicht, deshalb habe ich gegoogelt und die Bilder auch gefunden. Vor ein paar Jahre sah ich Vogeler-Bilder in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, die mich sehr beeindruckt haben, in ihrer Farbigkeit und ihrer Schärfe, wie leuchtende politische Plakate. Es ist schade, dass dem Buch – das ja den Titel Die Bilder meines Vaters trägt – nicht ein paar farbige Kunstdruckseiten mitgegeben wurden, die die beschriebenen Bilder zeigen. Die Fotos, auch Bilder des Vaters sind dabei, am Ende des Buches in Schwarz-Weiß sind sie eine schöne Ergänzung. Dass sich der Buchtitel nicht nur auf die materielle Seite bezieht, wird bei Lesen klar, denn es sind wohl vor allem auch die Bilder im Kopf, die die Autorin hier heraufbeschwört.
„Vor dem Tode solltest Du nicht vergessen, gelebt zu haben.“ Ein Zitat, Gustav zugeschrieben, dass das ganze Buch beschreibt, Mieke hat gelebt, aber ein Traumleben war es nicht. Zugleich ist der Roman eine biografische Ergänzung, wenn man Gustav Regler noch nicht kannte.
Fazit: Ein Künstlerroman über eine Künstlertochter, die ein hartes, aber erfülltes und abenteuerliches Künstlerleben gelebt hat. Auf dem Friedhof in Paris denkt Mieke „Ist man überflüssig, wenn man tot ist?“ – wenn man das Buch gelesen hat, beantwortet sich die Frage von selbst.
Gute drei Sterne.

Bewertung vom 08.09.2024
Torstraße 94
Ulrich, Andreas

Torstraße 94


ausgezeichnet

Ein Blick durchs Schlüsselloch aufs Universum

Die Idee, die Geschichte der Bewohner eines, hier explizit des eigenen ehemaligen Wohnhauses zu erforschen ist einfach genial. Der Mikrokosmos eines einzigen Berliner Mietshauses birgt die Geschichte der ganzen Stadt, wir schauen mit Andreas Ulrich durch ein Schlüsselloch und sehen ein ganzes Universum.
Der Autor, gebürtiger Berliner (wie auch ich), lebte bis zum neunten Lebensjahr in diesem kleinen Kosmos, dem Haus in der Wilhelm-Pieck-Straße 94, die heute wieder Torstraße heißt. Dort war seine Zuflucht, seine wärmende Hülle, sein Gespensterkeller. Wie durch ein Wunder fallen ihm die sogenannten Hausbücher aus der DDR-Zeit in die Hände, man könnte auch meinen, in den Schoß. Hinter jedem Eintrag könnte eine Geschichte stecken, ein Schicksal, eine Überraschung. Der Journalist Ulrich ist angestachelt, so einen Schatz lässt er sich nicht entgehen. Er nimmt dieses Geschenk als inneren Auftrag an und beginnt Stück für Stück, Person für Person die Geheimnisse zu lüften. Rund zwanzig Porträts entstehen von den unterschiedlichsten Menschen, eingebettet auch in die deutsche und DDR-Geschichte mit all ihren Eigenarten und verwoben mit seinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen.
Mich erinnert beim atemlosen Lesen diese intensive Suche an meine eigenen Recherchen zu meiner Familie, aus den vielen Puzzleteilen wurden plötzlich auch bei mir ganze Bücher. Besonders gut gefällt mir an Ulrichs Buch der Stil, der den Journalisten im Hintergrund immer erahnen lässt, er schreibt schnörkellos und doch sehr empathisch und emotional.
Dass sich in diesem kleinen Buch die Story der Ruth Penser findet und hier ihr Sohn Gilbert, der als Baby nur ganz kurze Zeit in der 94 lebte, heute darüber berichtet, hat mich besonders beeindruckt. Ich kannte Gilbert als Kind, auch damals schon mit Brille, er war der Sohn einer befreundeten Kollegin meiner Mutter. Welch ein Zufall. Denn später hörte ich nie wieder etwas von den beiden, erst jetzt in diesem Buch finde ich sie und staune.
Ulrich verbindet die Lebensgeschichten, die er ausfindig gemacht hat, mit einem Trick, am Ende der meisten Porträts leitet er auf wunderbare Weise weiter zum nächsten.
Dass mir gerade die letzte Lebensgeschichte der Jüdin Alice besonders nahe geht, liegt vielleicht auch daran, dass nur wenige Straßen weiter meine Großtante Philippine bis zu ihrer Ermordung in der Krausnickstraße wohnte. Egal, ob Piaski oder Sobibor, ihre Leben war unterschiedlich, ihr Tod nicht. Stolpersteine haben sie nun beide.
Dann schließt sich der Kreis auch meiner Erinnerungen wieder: Andreas Ulrich zog mit Eltern und Geschwistern zur Fischerinsel in eine Neubauwohnung, wo zu der Zeit auch mein Vater wohnte. Dass es ihn nun wieder nach Mitte gezogen hat, kann ich verstehen. Aber das alte Flair bekommt er wohl nicht mehr zurück, auch wenn die Erinnerungen es manchmal wieder auferstehen lassen.
Fazit: auch Nichtberliner werden dieses Buch mögen, die Kurzporträts von rund 20 Bewohnern bzw. Familien aus der Torstraße 94 bringen dem Leser das Berlin-Mitte-Flair und auch die längst vergangene DDR-Zeit sehr nahe. Anschaulicher kann man das kaum beschreiben. Volle fünf Sterne.

Bewertung vom 07.09.2024
Der Morgen nach dem Regen
Levensohn, Melanie

Der Morgen nach dem Regen


sehr gut

Wenn Ideale die Liebe töten
Das gestörte Verhältnis von Mutter zu Tochter oder Tochter zu Mutter wird in der Gegenwartsliteratur gern als Aufhänger für einen Familienroman oder für Biografien benutzt (schöne Beispiele: von Alena Schröder "Bei euch ist es immer so unheimlich still" oder von Angelika Schrobsdorff "Du bist nicht so wie andre Mütter"). Gerade diese beiden eigentlich so eng verbundenen Menschen sind als Kontrahentinnen oft bis aufs Messer verfeindet, ohne dass sich ein Silberstreif am Horizont zeigt. Melanie Levensohn hat genau das zu ihrem Thema gemacht. Es ist ihr zweiter großer Roman, den ersten habe ich leider nicht gelesen, das werde ich nun nachholen.
Im Roman begegnet dem Leser zuerst die Mutter, Johanna Glück, die ihren Job bei der UN in New York mit 60 Jahren hinter sich lässt und den Versuch eines Neuanfangs im kleinen Städtchen St. Goar am Rhein startet. Sie erbt das Haus ihrer Tante Toni, sie kennt es von Kindheit an, auch ihre längst erwachsene Tochter war oft bei der Tante zu Besuch. Kaum angekommen, lernt sie ihren Nachbarn Richard, einen Arzt aus der näheren Nachbarschaft kennen. Zwischen beiden prickelt es, aber Johanna versucht kühl zu bleiben und zu denken. Trotzdem genießt sie seine Hilfe im Bezug auf die Renovierung und Neugestaltung des alten, etwas heruntergekommenen Hauses und Grundstücks. In die Renovierungsaktivitäten von zwei ausländischen Handwerkern platzt die Nachricht, dass ihre Tochter, die in Den Haag am Internationaler Strafgerichtshof als Strafverteidigerin tätig ist, einen Burnout erlitten habe und in ihrem Haus Ruhe und Erholung finden möchte. Und an diesem Punkt beginnt das Drama sich zu entfalten.
Mutter und Tochter haben seit Jahren ein vollkommen unterkühltes Verhältnis. Das mag an der Gegensätzlichkeit ihrer Arbeit liegen, aber vor allem an der Erinnerung an die Kindheit der Tochter Elsa. Schweigen, Vorwürfe, Aggressivität und überzogene Reaktionen auf beiden Seiten erwarten die Leser.
Melanie Levensohn erzählt auf sehr subtile Weise von dem zuerst mühsamen Zusammenleben der beiden Frauen, wie auch von den mühsamen Versuchen, beim anderen Verständnis und dann auch Mitgefühl zu erlangen. Elsa tut sich sehr schwer damit und ist zu Beginn vollkommen hilflos und abweisend. Erstaunlich, welche Selbstbeherrschung die Mutter an den Tag legt. Hinter den Gedanken der beiden geistert immer auch die Stimme der Tante Toni herum, die zu Geduld und Mut ermahnt. Diese Geisterstimme wird aus meiner Sicht etwas zu häufig benutzt, besonders, weil der Tenor der Tante immer der gleiche bleibt.
Johanna war viele Jahre die Powerfrau, die sich bei den Vereinten Nationen in ihrem Job wahnsinnig stark engagierte, auf der Strecke blieben Ehemann Ralph und Tochter Elsa. Die detaillierten Beschreibungen der Arbeit bei den Vereinten Nationen waren es dann auch, die mir manchmal das Weiterlesen etwas verleideten, denn sie klangen wie Werbebotschaften für die UN, insbesondere das UNHCR. Dass es auf den Auslandseinsätzen auch sehr gefährlich werden konnte, schreckte die Ehefrau und Mutter jedoch keinesfalls ab, sie stürzte sich mit Vehemenz in jedes neue Krisengebiet.
Da ist es dann schon verwunderlich, dass sie sich plötzlich nur noch dem Haus und dem Garten widmet, natürlich im Hinterkopf dennoch den Gedanken, dass sie als Freelancer für die UN gern weiterarbeiten würde, wenn die Renovierungen abgeschlossen wären. Als in all diese Gedanken und Überlegungen die vollkommen erschöpfte Elsa eindringt, beginnt auch bei Johanna ein neuer Denkprozess.
Ob die beiden Frauen es schaffen werden, sich wieder einander zu nähern, das kann man auf über 400 Seiten mitverfolgen. Wer als Leser weder Mutter noch Tochter ist, kann sich vielleicht schwer hineinversetzen in das Gefühlschaos der beiden. Ich kann das sehr gut, bin beides und kenne alle nur denkbaren Hürden, die einem das Leben in den Weg legt. Gerade auch deshalb hatte ich mir dieses Buch ausgesucht, das bereits im Klappentext und auf der Umschlagrückseite die Problematik anreißt, Zitat „… über tief sitzenden Schmerz, Schuld und Versöhnung…“.
Das Buch ist flüssig geschrieben, die Kapitel wechseln zwischen der Ich-Erzählerin Johanna und der Ich-Erzählerin Elsa, so werden beide Positionen deutlich, auch die Dickköpfigkeit und Ich-Bezogenheit der beiden wird nicht ausgespart.
Ich empfehle das Buch gern, weil es auch ein Buch ist, das zur Beruhigung den Garten hat, die Farben und das Licht, den romantischen Rhein und den Blick zur Burg Katz und den Duft der reifen Mirabellen, so wie man es bereits auf dem fantasievollen Cover erahnt.
Gute 4 Sterne

Bewertung vom 06.09.2024
Eve (MP3-Download)
Towles, Amor

Eve (MP3-Download)


gut

Aufregende Tage in Hollywood - Ende der 1930er Jahre
Das Cover erinnert an ein Foto von Marilyn Monroe, man fühlt sich sofort nach Amerika, besser noch nach Hollywood versetzt, wenn man das Bild betrachtet. Und der Name Amor Towles lockt mich sofort, weil mir der Roman Lincoln Highway noch bestens in Erinnerung ist.
Amor Towles beschreibt dieses Hollywood und seine Protagonisten wie einen alten Filme, nicht mehr Schwarz-Weiß, auch nicht mehr Stummfilm, aber eben Film, das reine, glänzende und leuchtende Produkt der Phantasie. Das ist über Stunden unterhaltsam, auch Dank des wunderbaren Sprechers Hans Jürgen Stockerl (in rufe mir die Totengräber-Serie in Erinnerung!). Er lässt die Filmfiguren tanzen und springen, schießen und lieben, ganz wie der Autor befiehlt. Und immer punktgenau.
Da kommt eine schöne Frau mit rotem Köfferchen und Narbe im Gesicht in die verruchte Stadt, lernt natürlich gleich einen Mann kennen, einen Polizisten!, und schon geht der Tanz auf dem Vulkan los. Einfach bezaubernd.
Bis zum Ende hin ist es unterhaltsam, aber trotz des kriminellen Hintergrunds nicht richtig spannend oder fesselnd. Man hat es eher mit einer Gesellschaftssatire mit kriminellen Statisten zu tun, aber das tut der Unterhaltung keinen Abbruch. Ohne den Sprecher wäre das Buch jedoch für mich nicht interessant genug, an die amerikanischen Krimis von Chandler oder Hammett kommt es dann doch nicht ran.
Fazit: angenehme Unterhaltung und gute drei Sterne

#Eve #NetGalleyDE