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lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 40 Bewertungen
Bewertung vom 12.11.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


sehr gut

Dieses Buch zeigt für mich wieder einmal ganz deutlich, wie wunderbar Literatur dazu beitragen kann, andere Kulturen kennenzulernen und Empathie für andere Lebensweisen zu entwickeln. Ann-Helén Laestadius ist eine schwedische Journalistin und gebürtige Sámi. Als Angehörige des einzigen indigenen Volkes Europas, dem Volk der Samen aus dem hohen Norden Skandinaviens, erzählt sie die Geschichte einer jungen Sámi, Elsa, und erzählt gleichzeitig eine noch viel größere Geschichte.

Elsa ist neun Jahre alt als sie dem Mörder ihres Rentiers noch am Tatort begegnet. Er droht ihr, sie schweigt aus Angst und die Morde an Rentieren gehen weiter. Sie muss beobachten wie ihre Familie und ihre Freunde, die sich wie viele Samen mit Haut und Haaren der Rentierhaltung verschrieben haben, immer mehr unter der Bedrohung der Rentierherden leiden. Nach schwedischem Recht gelten diese Tierquälereien aufgrund des Privatbesitzes der Tiere lediglich als "Diebstahl" ("stöld" lautet der Originaltitel), die örtliche Polizei bagatellisiert die Vorfälle und verfolgt die Täter nicht weiter, auch aus der nicht-samischen Bevölkerung schlägt ihnen Unverständnis und sogar Hass entgegen. Als die Situation sich dramatisch zuspitzt, muss Elsa all ihre Kraft aufwenden, um sich der Situation endlich stellen zu können.

Auf knapp 450 Seiten macht Ann-Helén Laestadius die Lebenswelt der Samen erfahrbar. Für mich war es weniger die vordergründige Handlung, die den Wert dieses Buches ausmacht, auch wenn diese größtenteils durchaus ansprechend erzählt war. Es hätten allerdings gerne 150 Seiten weniger sein dürfen, um im Mittelteil einige Längen zu vermeiden, und die Perspektivwechsel zwischendrin waren für mich nicht stringent und haben mich jedes Mal ein wenig aus dem Konzept gebracht. Der letzte Teil hätte auch gerne ohne magischen Realismus auskommen dürfen - hier hatte ich den Eindruck, dass er weniger die Geschichte stützt sondern eher die Autorin bei der Konstruktion des Endes. Die kulturellen Hintergründe allerdings sind dermaßen spannend, dass ich begleitend zum Buch mehrere filmische Dokumentationen zur Rentierhaltung der Samen gesehen habe. Die Ignoranz der Behörden, die Vorurteile in der Bevölkerung, die zusätzlichen Schwierigkeiten durch den Klimawandel, die belastenden Identitätskonflikte junger Menschen, die zu Suiziden führen können, haben genauso ihren Platz im Buch wie die Traditionen und Werte der indigenen Bevölkerung. Die vielfältigen Themen treten souverän auf und verbinden sich harmonisch miteinander. Insgesamt eine Empfehlung für alle, die sich vom Leben im hohen Norden angezogen fühlen!

Bewertung vom 12.11.2022
Alle_Zeit
Bücker, Teresa

Alle_Zeit


ausgezeichnet

Zeit. Wir alle haben 24 Stunden davon, jeden Tag. Wir verbringen Zeit und haben mal mehr und mal weniger Einfluss darauf, auf welche Weise wir das tun - eine Erfahrung, die uns alle verbindet. Als zentrale Ressource unserer Gesellschaft ist die Zeit eng mit Gerechtigkeitsfragen verbunden. Und doch, so Teresa Bücker, ist der diskursive Austausch dazu unterentwickelt, fehlen uns die Begrifflichkeiten, um unsere Zeitgestaltung präzise benennen zu können, denken wir über die Zeit hinweg. Mit "Alle_Zeit" ist nun ein Sachbuch erschienen, welches sich in diese Lücke hineinschreibt, indem es verschieden Arten von (Lebens-)zeit differenziert und die Frage danach stellt, wie eine neue, gerechtere Zeitkultur aussehen könnte.

Dieses Buch wirbt für die Wahrnehmung der eigenen Zeitvielfalt. Die Kapitel thematisieren unter anderem Arbeits_Zeit, Zeit für Care, Freie Zeit und Zeit für Politik. Es war wunderbar bereichernd, während des Lesens so tief in die Reflexion der eigenen Zeiten einzusteigen, darüber nachzudenken, wie viele Tätigkeiten einen (subjektiven) Muss-Charakter haben und welche Zeiten tatsächlich vollständig der sozialen Bewertung entzogen sind. Doch Teresa Bückers Blick geht weit darüber hinaus und betrachtet uns als Gesellschaft. Den starken Fokus auf die Arbeits_Zeit, um die sich alles andere drumherum zu sortieren hat. Die ungerechte Verteilung von Zeit für Care, die von einer Arbeitswelt verdrängt wird, die nicht darauf ausgerichtet ist, dass ihre Mitglieder Verantwortung in der Care-Arbeit übernehmen. Die Zeitarmut, die sich auch auf die politische Teilhabe und Wehrhaftigkeit einer Demokratie auswirkt. Die Schwerpunktsetzung empfand ich allerdings ganz klar bei dem Konflikt zwischen Care- und Erwerbsarbeit insbesondere in der Situation von Müttern, welcher in den verschiedenen Kapiteln wieder aufgegriffen wird.

Insgesamt ein sehr umfangreich mit Quellen belegtes Sachbuch, das inspiriert und mit konkreten Vorschlägen zur gerechteren Zeitkultur vor allem eins zeigt: dass die Art und Weise, wie wir leben, nicht alternativlos ist.

Bewertung vom 04.10.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


gut

Mein erster Roman von Celeste Ng, einer Autorin, deren Name mir schon häufig über den Weg gelaufen ist und die ich nun endlich einmal über eins ihrer Werke kennenlernen wollte.

Das Setting des Buchs war für mich überraschend dystopisch. Die USA der nahen Zukunft hat gerade eine gewaltige Krise hinter sich, Schreckensszenarien des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Gewalt haben die gesellschaftliche Stabilität in die Knie gezwungen. Was daraus erwächst sind neue Regeln zur "Aufrechterhaltung der Ordnung", neue Feindbilder, die sich gegen Menschen asiatischer Herkunft richten und die schließlich im PACT-Gesetz ihren Ausdruck finden, dem Gesetz zur Erhaltung Amerikanischer Kultur und Traditionen. Vor diesem Hintergrund lernen wir Bird kennen, einen 12-jährigen Jungen, dessen chinesisch-stämmige Mutter vor einigen Jahren von heute auf morgen verschwunden ist und dessen Vater seitdem kein Wort mehr darüber verliert. Doch dann trifft ein Brief ein, und Bird versucht, sich auf eigene Faust das Verschwinden seiner Mutter zu erklären.

Vor allem zu Beginn baut der Roman einiges an Spannung auf. Genau wie Bird habe auch ich mich erst an die gesellschaftlichen Umstände herantasten müssen. Celeste Ng malt ein Bild von Unterdrückung, Überwachung, Denunzierung, Widerstand, weckt viele Fragen, die mich flott durchs Buch getragen, letztlich jedoch ein wenig unbefriedigt zurückgelassen haben. Viele Passagen zur Erklärung der gesellschaftlichen Zusammenhänge wurden für mich zu sehr "runtererzählt", die Frage nach der Entstehung der Krise lässt die Autorin offen. Gerade eine Dystopie lässt sich zwar auch völlig abstrakt erzählen, hier sind jedoch die Verknüpfungen zur Realität und zur Gegenwart so eng, dass sich für mich unwillkürlich die Frage nach den Verbindungen von hier nach dort aufdrängte. Stattdessen steht die heldenhafte Suche des kleinen Bird nach seiner Mutter im Vordergrund, ein Plot, der zwar erzählerisch einfallsreich, aber auch zunehmend konstruiert und überzogen auf mich wirkte. Worüber ich gerne gelesen habe, war die Rolle von Büchern, Erzählungen, Kunst, Sprache in einer unterdrückten Gesellschaft - ein Thema, welches unter Bücherfreunden sicherlich viele ansprechen wird. Insgesamt eine spannend aufgebaute Welt, allerdings ein wenig zu nachgiebig, um mir nachhaltig im Gedächtnis zu bleiben.

Bewertung vom 06.09.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


sehr gut

Lisbeth und "die Kriegerin" lernen sich in ihrer Grundausbildung bei der Bundeswehr kennen. Die Erfahrungen beim Militär verbinden sie genauso miteinander wie ihre Liebe zur Ostsee. Doch während wenige Jahre später die Kriegerin noch immer Soldatin ist, ist Lisbeth früh ausgestiegen, arbeitet nun als Floristin, hat Partner und Kind. Und hält dieses Leben nicht mehr aus. Als sie aus ihrer gemeinsamen Wohnung in Berlin an die Ostsee flieht, begegnet sie der Kriegerin wieder und die beiden werden zu Sparringspartnerinnen im Kampf gegen ihre eigenen Dämonen.

In erster Linie ist dieser Roman eine Auseinandersetzung mit Verletzlichkeit, insbesondere im Soldatinnenberuf. Beide Frauen sind besessen von dem Gedanken, durch einen gestählten Körper, das Überziehen der Uniform und eine Ausbildung an der Waffe geschützt zu sein vor allem, was da draußen an Gefahren lauert. Und doch sind da die Verletzungen, die jeden Schutz durchbrechen, die ins eigene Ich eindringen und den Kern der Identität bedrohen. Lisbeths Schutz nach außen ist besonders fragil, sie kann sich nur schwer von den Gefühlen anderer abgrenzen, spürt deren Lasten auf ihren Schultern, träumt nachts fremde Träume und kämpft fremde Kämpfe, was sich daran bemerkbar macht, dass ihre Haut, der sinnbildliche Schutz nach Außen, rebelliert.

Die Bedeutung der eigenen Haut ist nur eins von vielen wiederkehrenden Motiven im Buch, da ist auch das Meer, da sind die Steine in der Hosentasche, die nächtlichen Träume - ein gestalterisches Element, was mir sehr gut gefallen hat. Helene Bukowski gelingt es eindrucksvoll, die Auswirkungen von Traumata sichtbar zu machen. Sie schreibt klar, distanziert, einfach lesbar, erzählt nicht linear und baut so eine geheimnisvolle Stimmung auf, die erst durch Rückblenden und Briefe langsam aufgelöst wird. Spannend ist auch eine wesentliche Leerstelle im Roman: die Mutter, die ihr Kind verlässt, wird in keinster Weise aufgearbeitet und löst wahrscheinlich gerade dadurch unheimlich viel bei den Lesenden aus. Was mir allerdings zu kurz gekommen ist, sind die Verletzungen selbst und die innerpsychischen Verbindungen, auf den wir den beiden Frauen folgen, es bleibt vieles unbeleuchtet. Im letzten Drittel wird es mir persönlich außerdem ein wenig zu abstrus - und damit meine ich nicht die rosa Papageien über Berlin. Etwas mehr Stringenz hätte mir gut gefallen, insgesamt jedoch ein Buch mit einem absolut starken Thema!

Bewertung vom 28.08.2022
Der gefrorene Himmel
Wagamese, Richard

Der gefrorene Himmel


sehr gut

Richard Wagamese, Kanadier indigener Herkunft, verfügt über eine reiche Erzählstimme, gehaltvoll, ausgereift. Für "Der gefrorene Himmel", die seine eigene Lebensgeschichte mit denen anderer indigener Personen verknüpft erhielt der leider bereits verstorbene Schriftsteller den Burt Award for First Nations, Inuit und Métis Literature.

Wie der Autor selbst wird auch der junge Saul bereits als Kind von seinen Eltern getrennt. Aufgewachsen mit seiner Familie in den abgelegenen Wäldern Kanadas bringt man ihn in eine kirchliche Schule, um seine indigenen Wurzeln von ihm fernzuhalten, ihm den "wahren" Glauben und das "wahre" Leben zu lehren. Es ist sein begnadetes Talent im Eishockey, das ihm hilft, einen Ausweg aus diesem grausamen System zu finden. Ein rasanter Aufstieg folgt, doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los und ein tiefer Fall kündigt sich an.

Die Schilderungen der sogenannten "Residential Schools" sind fürchterlich und erschütternd. Man mag es sich nicht vorstellen und dennoch ist es wichtig, die Augen zu öffnen für das große Unrecht, das indigenen Völkern hier angetan wurde. Indigenen Kindern sollte alles ausgetrieben werden, was auf ihre Kultur hindeutet, ihre Sprache, ihre Traditionen und mit der eigenen Kultur nicht selten auch der eigene Wille. Und das mit brutalsten Mitteln. Hier muss ich vorwarnen, es geht um Missbrauch, Gewalt, Folter, Selbstmorde. Zwar nüchtern erzählt, aber dennoch sehr eindrücklich.

Eishockey als kanadischer Nationalsport (in Kanada nur "Hockey" genannt, denn dass man es auf dem Eis spielt ist hier eh klar), spielt als verbindendes, identitätsstiftendes Element eine große Rolle. Den kometenhaften Aufstieg vom Underdog zum Star empfand ich zunächst ein wenig konstruiert, bevor ich gelesen habe, dass er an eine wahre Geschichte angelehnt ist. Doch auch der Sport ist kein safe place, auch hier erfährt Saul Demütigung, Ausgrenzung und Rassismus, die ihn schließlich in eine Alkoholsucht treiben. Er beschließt, sich seiner Vergangenheit in der Schule zu stellen.

Die letzten Residential Schools wurden in Kanada erst in den 1990er Jahren geschlossen, die Aufarbeitung dauert an. Für alle, die ähnlich wie ich, noch wenig darüber wissen die Empfehlung im lesenswerten Nachwort von Katja Sarkowsky: "Lies nicht einfach, was du weißt. Lies, was du wissen willst."

Bewertung vom 28.08.2022
Nachtwanderung
Achenbach, Cornelia

Nachtwanderung


sehr gut

Die Freundschaft zwischen zwei Frauen, für mich eine literarisch super spannende Thematik, greift Cornelia Achenbach in ihrem Roman "Nachtwanderung" auf, stellt sie in den Mittelpunkt, richtet den Fokus aus, dreht und wendet sie und schafft es so, auch die dunklen, unergründlichen Seiten einer Freundschaft zu beleuchten, "the dark side of the moon" einer Freundschaft quasi.

Ines und Kerstin waren beste Freundinnen zu Schulzeiten, bevor Kerstin von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwand und Ines in einer Schockstarre zurückblieb. Jetzt, 20 Jahre später, lebt Ines mit ihrer eigenen Familie längst nicht mehr im Heimatort und hat alle Verbindungen zur Schulgemeinschaft hinter sich gelassen. Und doch, die Erinnerung an Kerstin lässt sie nicht los. Nie hat jemand Kerstins Platz einnehmen können, noch immer fühlt sie sich tief mit ihr verbunden, sie ist die Person, die an ihrer Seite sein sollte. Als sie eine Einladung zu einem Klassentreffen erhält und in die Heimat fährt, werden Erinnerungen wieder wach. Auch die Erinnerungen an die eine verhängnisvolle Nacht, kurz bevor Kerstin verschwand.

Der Roman lebt von einer sanften Spannung, die sich zwar dezent im Hintergrund hält, mir beim Lesen aber dennoch ein stetiger und angenehmer Begleiter war. Der unbekannte Grund für Kerstins Verschwinden ist der Dreh- und Angelpunkt, um den die Geschichte kreist und der das Leben von Ines und Kerstin aus den Fugen gehoben hat. Die schlussendliche Auseinandersetzung mit dieser einen Nacht und der eigenen Rolle darin hätte ich mir noch etwas umfassender gewünscht, genug Anknüpfungspunkte für die eigenen Gedanken sind aber in jedem Fall vorhanden. Und der Roman bietet auch über die Themen Freundschaft und Verlust hinaus zahlreiche Möglichkeiten zur Identifikation mit der eigenen Jugend - wenn eure Jugend in den 90er Jahren lag, dann seid bereit für ein wenig Nostalgie. Sehr gut gelungen sind die feinen Beschreibungen von Dynamiken einer Freundschaft, in die neben Vertrautheit, Loyalität und Zuneigung auch Konkurrenz und Neid hineinspielen können. Ein Buch, das zum Reflektieren einlädt und mir Lust auf mehr Literatur zu Freundschaften zwischen Frauen gemacht hat.

Bewertung vom 28.08.2022
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


ausgezeichnet

Was für ein wilder Ritt, dieses Buch! Es hat mich im Höhenflug aus meinen Lesegewohnheiten hinaus katapultiert und hinein in ein absurd spektakuläres Setting mit einer brillierenden Protagonistin.

Man darf es so sagen, in diesem Buch dreht sich alles um Marie. Marie wird mit 17 Jahren von ihrer verehrten Königin als ungeeignet für das höfische Leben erachtet und stattdessen als Priorin eines einsamen, armen Klosters in eine abgelegene Ecke Englands geschickt. Sie, die aus einer Familie von Kriegerinnen stammt, findet sich fortan unter Nonnen wieder. Was sie zunächst an den Rande der Verzweiflung bringt, birgt eine ungeheuerliche Entwicklung, welche das Kloster zu einem Imperium macht, mit Marie an seiner Spitze.

Marie ist in ihrer Persönlichkeit absolut vereinnahmend. Sie startet als Underdog, unterschätzt, ihren Namen muss sie sich erst erarbeiten, aber wie sie das tut. Sie wird geliebt für ihr Charisma, ihre Intelligenz, ihre Kreativität und gleichzeitig gefürchtet wegen ihres rebellischen Stolzes, ihrer unbändigen Wut. Langsam aber stetig baut Marie ihre Macht aus, sorgt für Reichtum und Besitz, spielt Schachzug um Schachzug, um den Einfluss des Klosters auszuweiten und sich der Kontrolle des Königshauses zu entziehen. Sie wird getrieben von der Frage, was sie auf dieser Welt hätte erreichen können, wenn man ihr nicht die Freiheit genommen hätte. Im einen Moment zeigt sie ihre Stärke durch Güte und Sanftmut, im nächsten durch einen ungeduldigen Schlag gegen die Krone. Sie ist Strategin, Kämpferin, großer Geist, Anführerin, Charismatikerin. Mit ihrem flammenden Willen ist sie ihren Gegnern immer einen Schritt voraus, beugt selbst die Natur, nimmt Land ein, macht es sich Untertan, denn Land ist Macht.

"Kraft ihrer Gedanken und ihrer Hände hat sie die Welt verändert. Sie hat etwas Neues hervorgebracht. Dieses Gefühl ist der Reiz des Erschaffens, und es durchzuckt sie lebendig und gefährlich (S. 169)".

Eine rein weibliche Gemeinschaft - Frauen, die kantig sind, sperrig, unbeugsam und unverhohlen. Die Nonnen betreiben Landwirtschaft, entwerfen und bauen riesige Anlagen, verkaufen ihre Veröffentlichungen, schalten ihre Feinde aus, bilden sich in Medizin weiter. Und müssen neben der Lichtgestalt Marie dennoch blass bleiben, können ihr nichts entgegensetzen, was ein kleiner Wermutstropfen für mich war. Dennoch, diese Welt hat allein Frauen als Bezugspunkte und das liest sich wunderbar, auch wenn der Stil eher Zeitraffer und Dokumentation ist und nur wenig Nähe zulässt. Für mich geht es hier nicht um "starke Frauen", wie es manchmal heißt, für mich geht es vielmehr um weibliche Ambitionen, um weibliche Macht, um weibliches Erschaffen, um weibliches Unternehmertum und das in einer Fülle, die wirklich eine Offenbarung ist.

Bewertung vom 28.08.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

So sehr dieser Roman auf der Weltbühne angesiedelt und von kosmopolitischen Weltanschauungen durchdrungen ist, so sehr vermag es Katie Katimura auf der anderen Seite, ins kleinste Detail zu zoomen und die feinen Unterschiede im menschlichen Handeln und deren Beweggründe zu beleuchten.

Die Erzählerin ist Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Sie ist vor kurzem erst aus New York zugezogen und hat ihr Leben bereits an vielen Orten der Welt verbracht. Nun also Den Haag, alles ein paar Nummern kleiner. Sie lernt den noch verheirateten Adriaan kennen und lässt sich auf eine Beziehung ein. Als Adriaan zu seiner Frau reist, um eine Scheidung auf den Weg zu bringen, wird sie mit jeder Woche die verstreicht, unsicherer. Sie versucht in Den Haag anzukommen, schließt Freundschaften und stürzt sich in den Prozess gegen einen Kriegsverbrecher, der sie nicht nur beruflich, sondern auch moralisch herausfordert.

Dieser Roman hat mich wirklich überrascht. Er schafft es auf unheimlich kluge Weise, die Abgründe zwischen Sprachen sowie zwischen Menschen, beschreibbar zu machen. Wie kann man verstehen, was die andere Person sagt, was sie wirklich meint, wie ihr Handeln zu deuten ist? Dolmetschen - die englische Bezeichnung "to interpret" hat sofort einen anderen Klang. Es geht nicht um eine stumpfe Übertragungsleistung, es geht immer auch um eine Interpretation. Der immensen Rolle der Dolmetscherleistung in einem Gerichtsprozess steht das Gefühl der Erzählerin gegenüber, fast unsichtbar zu sein, sich in den Worten zu verlieren. Sowohl beruflich als auch privat lässt sie sich auf Intimitäten ein, die es ihr schwierig machen, zu urteilen, Stellung zu beziehen, aus dem eigenen Leben ein klares Narrativ abzuleiten.

Was diesen Roman groß macht: die Präzision, mit der Katimura genau das in Worte fasst, was uns im Alltag häufig bloß als kurze Irritation begegnet. Ein kurzer Moment, in dem die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der eigenen Wahrnehmung durchscheint. In dem deutlich wird, dass unser Handeln nicht linear und kategorisch ist, sondern fließend, verschwommen, verwoben. Wie Katimura diese Komplexität in Sprache einfängt, das überzeugt auf jeder Seite.

Bewertung vom 22.05.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


ausgezeichnet

Ein Must-Read für alle, die von Bücherregalen magisch angezogen werden, die dem Duft eines neuen Buches nicht widerstehen können, die sich in Bibliotheken, Bücherläden, Antiquariaten wie zuhause fühlen, die manchmal ganz ehrfürchtig werden vor den Gedanken, die sich jedem von uns neu und anders unter Buchdeckeln offenbaren und so um die Welt gehen. Ein Buch für Bücherliebende. Nicht zuletzt aufgrund der tollen Gestaltung des Diogenes-Verlag, der sich hier wirklich selbst übertroffen hat. Seidene Seiten, goldschimmernde Prägungen, ein edles Cover - ein Schatz für jedes Bücherregal.

Man muss allerdings gewillt sein, mit dem Buch auf Reisen zu gehen, denn dieses Sachbuch beansprucht mehr als 700 Seiten für sich. Irene Vallejo verfolgt in "Papyrus" die Entwicklung des Buches von den ersten Schriftzeichen an, von der Bibliothek in Alexandria bis zum Untergang des römischen Reichs. Und das ist vielleicht das einzige kleine Manko, denn der deutsche Untertitel ist ein wenig irreführend gewählt. Nicht die "Geschichte der Welt in Büchern" wird hier beschrieben, sondern wie der Untertitel im spanischen Original treffender formuliert "La invención de los libros en el mundo antiguo": die Erfindung des Buches in der Antike. Es geht um den bahnbrechenden Wandel in der Menschheitsgeschichte, Gedanken und Informationen nicht länger nur mündlich weiterzugeben, sondern sie schriftlich festzuhalten, zu vervielfältigen, zu konservieren, teilweise für Jahrtausende.

Dass die Erfindung des Buchs für Vallejo ein Highlight der Weltgeschichte war, wird auf jeder Seite deutlich. "Papyrus" informiert, stellt Zusammenhänge her, sammelt Fakten, zieht Vergleiche zur gegenwärtigen Popkultur und aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen. In erster Linie jedoch ist es seine Absicht zu begeistern, mitzureißen, die Ehrfurcht und Leidenschaft der Autorin gegenüber dem geschrieben Wort auch den Lesenden zu vermitteln und das gelingt ganz wunderbar. Kein Buch, das einen chronologisch von A nach B bringt, sondern eins, dass ein Netz spinnt zwischen den Zeiten und zwischen zahlreichen geschriebenen Seiten, die noch heute überall auf der Welt die Menschen für sich begeistern.

Bewertung vom 24.04.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


gut

Wo ist der Unterschied zwischen einer guten Serie und einem guten Buch? Dass Miranda Cowley Heller erfolgreiche Serien wie "Six Feet Under" entwickelt hat, mag dazu beigetragen haben, dass sich mir beim Lesen immer wieder diesen Vergleich aufdrängte - aber dazu gleich mehr. Der Papierpalast ist ein stark atmosphärischer Roman über eine Frau, Elle, die mit Mann und Kindern in die malerische Seelandschaft ihrer Kindheit zurückkehrt und sich dort sowohl den Gefühlen für ihre Jugendliebe als auch den gemeinsamen traumatischen Erlebnissen stellen muss. Und die Chancen stehen gut, dass das Buch auch für euch ein absoluter Pageturner wird!

Warum? Weil Story und Spannung hier so geschickt aufgebaut werden, dass ich mich beim Lesen zügeln musste, nicht schon weiter nach vorn zu blättern. Gegenwart und Vergangenheit wechseln sich in kurzen Kapiteln ab - während in der Gegenwart quasi der Tag der Entscheidung zwischen Ehemann Peter und Jugendliebe Jonas Stunde um Stunde weiter vorrückt, werden immer wieder Szenen aus der Vergangenheit eingeblendet, welche nach und nach die dramatischen Erlebnisse in der Kindheit preisgeben. Suspense at its best. Lasst euch nicht vom romantischen Cover täuschen: die dysfunktionen Familien in diesem Roman sind Orte von Vernachlässigung, Missbrauch, Vergewaltigung, Mord und ein Hinweis darauf wäre tatsächlich wünschenswert gewesen.

Während nun aber meine Finger beim Blättern nur so durch die Seiten huschten, bekam ich zunehmend das Gefühl, dass das ganze Leid der Vergangenheit letztlich in erster Linie dazu dient, die Lovestory zwischen Elle und Jonas moralisch zu rechtfertigen und glaubhaft zu machen. Dass dafür so krasse Karten gezogen, ins Spielfeld geworfen und im weiteren Verlauf einfach unbeachtet blieben, da mittlerweile schon der nächste Paukenschlag erfolgt war, schlug mir mehr und mehr aufs Gemüt. Was mich zurück zur Ausgangsfrage bringt. Während es in einer Serie gut funktionieren mag, die Zuschauenden mit Spannungsaufbau, Schockmomenten, Cliffhangern bei der Stange zu halten und durch berührende Szenen Empathie für die Liebesgeschichte zu wecken, erwarte ich bei einem guten Roman mehr. Mehr Tiefe, mehr Bedachtheit, mehr Fokus, mehr Charakterentwicklung. Und weniger reißerische Aufmerksamkeit und Fäden, die nahezu unbemerkt ins Nichts verlaufen. Ich erwarte nicht nur gute Unterhaltung (das war es), sondern auch, dass man sich nach dem Lesen ein klein wenig "reicher" fühlt (das hat mir gefehlt). Vielleicht wäre eine Verfilmung hier ja eher meins.