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lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 44 Bewertungen
Bewertung vom 30.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


sehr gut

Ein Leben ohne Kontinuität, auf die Spitze getrieben, ohne Kontext, ohne Einbindung. Der Blick nach vorn: noch 5 Tage bis zur alles entscheidenden Party. Der Blick zurück: nicht hinnehmbar.

Alex ist 22, eine junge Frau, die als Call-Girl ein unstetes Leben führt. Zuletzt hatte sie sich von Simon aufgabeln lassen und den Sommer in seiner Luxus-Villa am Strand (mutmaßlich in den Hamptons) verbracht, bis er sie nach einer Party-Eskalation zurück in "die Stadt" (mutmaßlich NY) geschickt hat. Aus der Traum von Luxus und Stabilität. Doch Alex kann nicht zurück, will dieses Ende nicht akzeptieren und ist überzeugt: wenn sie es schafft, die nächsten 5 Tage an den Stränden zu verbringen, wird die Labour-Day-Party die beiden wieder vereinen. Was folgt ist ein absoluter Exzess, wo Alex war, bleibt Zerstörung zurück.

Das Buch lässt sich mit soziologischem Blick lesen als Kommentar zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Exklusion, eine Desillusion par excellence. Für mich dabei herausragend: die Nähe zu dieser faszinierenden Protagonistin, Alex. Mit einem starken Gespür für die Bedürfnisse anderer kann sie Menschen schnell um den Finger wickeln, emotional manipulieren. Sie nimmt sich, worauf sie Lust hat - diese unglücklichen Menschen, die annehmen, für ihr Glück Regeln befolgen zu müssen. Es ist alles ein Spiel, sie dreht sich die Welt zurecht. Und ist gleichzeitig getrieben von ihrer Paranoia, jede neue Eskalation eigentlich nur eine Ablenkung von ihren eigenen Gedanken, eigentlich nur ein bisschen Logistik des Überlebens. Sie schaut den Gefühlen hinterher, wie sie kommen und vergehen, von allzu viel Involviertheit hat sie sich abgekapselt, eine möglicherweise nachvollziehbare Reaktion auf ihre Lebensumstände - und hier schließt sich dann auch der Kreis der soziologischen Einbettung dieses authentisch-ambivalenten Psychogramms. Toller Summerread und große Leistung von Emma Cline, uns diesen ehrlichen Blick hinter die geklaute Sonnenbrille zu ermöglichen!

Bewertung vom 01.04.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


sehr gut

Innerhalb von 24 Stunden bin ich durch dieses Buch geflogen, denn dass dieser traumhafte Segeltörn in die schwedischen Schären in einer Eskalation enden muss, liegt von Anfang an in der Luft.

Dabei geht es den zwei Paaren, die es für eine mehrtägige Tour auf eine elegante Segelyacht verschlägt, eigentlich um Spaß, Entspannung und ein wenig Beziehungskitt. Der Staranwalt Andreas sponsert die Reise und will seine Frau Caroline wieder für sich gewinnen, er lädt seinen Mitarbeiter und zukünftigen Partner Daniel ein, der notgedrungen von seiner Frau Tanja begleitet wird. Dazu noch der geheimnisvoll verschlossene Skipper Eric und fertig ist das Kammerspiel.

Die ohnehin schon angeknacksten Beziehungsdynamiken bekommen an Bord eine besondere Brisanz, geraten unter Druck, der enge Raum verstärkt die Reibung. Die Spannungen zwischen den Personen verdichten sich zu Machtspielen, Fassaden bröckeln, Hemmschwellen und Vernunft werden mehr und mehr über Bord geworfen. Die Charaktere sind dabei an üblichen Schablonen orientiert, sollen einen Typ von Persönlichkeit vertreten und ihre zugeteilte Rolle im Drama übernehmen. Das atmosphärische Setting, die Dialoge im Crescendo und die kontinuierliche Frage "Wie wird das enden?" halten die Spannung hoch, das Finale selbst kann dann den geweckten Erwartungen dann zwar nicht richtig entsprechen - trotzdem ein willkommener Ausflug in blaukalte Tiefen mit sehr gelungenem Spannungsaufbau!

Bewertung vom 18.03.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


sehr gut

Allen, die zögern, dieses Buch allein wegen seines absolut traumhaften Covers zu kaufen, kann ich Entwarnung geben: tut es mit ruhigem Gewissen, der Inhalt ist es ebenso wert. Das gilt jedenfalls für all jene, die keine dramaturgischen Höhepunkte voraussetzen, sondern sich ganz darauf einlassen mögen, eine junge Frau am persönlichen Kipppunkt ihrer Biografie kennenzulernen.

Die Sätze ranken sich in diesem Roman gewissermaßen um ein prachtvolles Anwesen am See, den Sitz einer Familie, welche von der Großmutter beherrscht und kontrolliert wird. Männer gibt es hier nicht, sie sind im besten Fall abwesend und durch Reichtum repräsentiert. Stattdessen sind es drei Generationen von Frauen, die hier die Familiengeschichte prägen und von ihr geprägt werden, die in das patriarchale Machtsystem, das durch die Großmutter bewahrt und gestützt wird, eingebettet und aufeinander bezogen sind. Am Grab der Großmutter trifft Luise die anderen Frauen der Familie wieder und beginnt langsam zu verstehen: die Familiengeheimnisse, das Misstrauen untereinander, das Schweigen, das gegenseitige Verurteilen sind Teil des Systems. Lässt sich daraus ausbrechen?

Annika Reich schreibt stimmungsvoll, das prächtige, erhabene und doch düstere Anwesen hat seine ganz eigenen Anziehungskräfte und bildet einen atmosphärischen Hintergrund für die Beziehungsdynamiken. Es geht weniger um eine Erklärung dieser Zusammenhänge, vieles bleibt implizit und angedeutet, bewegt sich als Schatten unter der Oberfläche, an manche der Figuren hätte ich gerne näher ran gewollt und das Ende war mir ein wenig zu unkonkret. Und doch hat gerade diese undurchsichtige Stimmung das Thema das Buches getragen und bekräftigt, in mir eine intuitive Resonanz ausgelöst und viel bewegt.

Bewertung vom 05.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


sehr gut

Eine von zehn. So beschreibt sich die Erzählerin in Heidi Furres neuem Roman "Macht". Als eine von zehn Frauen, die im Laufe ihres Lebens eine Vergewaltigung erfahren. Doch der Roman stellt nicht die Tat an sich ins Zentrum, vielmehr geht es darum, was diese mit der jungen Frau macht.

Die Erzählerin ist eine junge Frau, das traumatische Erlebnis liegt schon einige Jahre zurück, mittlerweile ist sie verheiratet, Mutter von zwei Kindern, arbeitet als Pflegerin, ist glücklich. Doch der Alltag reißt sie immer wieder rein in Erinnerungen, die ihr Körper abgespeichert hat, sie lassen sich nicht regulieren, nicht abstellen, sie sind ein Teil von ihr. Die erfahrene Vergewaltigung steht hier unter der Überschrift des Romans: Macht. Welche Macht hat der "Vorfall" (so sagt sie), noch heute über sie? Wenn sie nachts nach Hause geht, wenn sie zum Zahnarzt muss, wenn sie unangenehme Kleidung trägt, wenn sie bestimmte Geräusche hört, Gerüche wahrnimmt? In ihrer Partnerschaft und Kindererziehung? Wie kann sie Kontrolle bewahren, was bewahrt sie vor der Ohnmacht, wo hat sie Macht über den Täter?

Heidi Furre schreibt sprachlich clean und wirkungsmächtig. Sie zeigt eindrücklich die Rollen, in die man von anderen gedrängt wird und diejenigen, in die man sich manchmal gern zurückzieht. Sie zeigt (mehr als dass sie analysiert), Strategien um Sicherheit, Selbstwert und Stabilität zu erhalten. Konsum, Kosmetik, die Tabletten in Griffnähe - das alles kann mehr bedeuten als nur den schönen Schein. Und doch ist es am Ende die Kunst, der die Schlüsselrolle zukommt. Ein Ende, das mir persönlich zu plötzlich und zu konstruiert war, zu sehr an "Eat, pray, love" erinnert und dennoch spannende Fragen aufwirft, nach dem Reden über die Tat, dem Anklagen, dem Sich-Ermächtigen und Raum einnehmen, auch durch die Kunst.

Bewertung vom 12.11.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


sehr gut

Dieses Buch zeigt für mich wieder einmal ganz deutlich, wie wunderbar Literatur dazu beitragen kann, andere Kulturen kennenzulernen und Empathie für andere Lebensweisen zu entwickeln. Ann-Helén Laestadius ist eine schwedische Journalistin und gebürtige Sámi. Als Angehörige des einzigen indigenen Volkes Europas, dem Volk der Samen aus dem hohen Norden Skandinaviens, erzählt sie die Geschichte einer jungen Sámi, Elsa, und erzählt gleichzeitig eine noch viel größere Geschichte.

Elsa ist neun Jahre alt als sie dem Mörder ihres Rentiers noch am Tatort begegnet. Er droht ihr, sie schweigt aus Angst und die Morde an Rentieren gehen weiter. Sie muss beobachten wie ihre Familie und ihre Freunde, die sich wie viele Samen mit Haut und Haaren der Rentierhaltung verschrieben haben, immer mehr unter der Bedrohung der Rentierherden leiden. Nach schwedischem Recht gelten diese Tierquälereien aufgrund des Privatbesitzes der Tiere lediglich als "Diebstahl" ("stöld" lautet der Originaltitel), die örtliche Polizei bagatellisiert die Vorfälle und verfolgt die Täter nicht weiter, auch aus der nicht-samischen Bevölkerung schlägt ihnen Unverständnis und sogar Hass entgegen. Als die Situation sich dramatisch zuspitzt, muss Elsa all ihre Kraft aufwenden, um sich der Situation endlich stellen zu können.

Auf knapp 450 Seiten macht Ann-Helén Laestadius die Lebenswelt der Samen erfahrbar. Für mich war es weniger die vordergründige Handlung, die den Wert dieses Buches ausmacht, auch wenn diese größtenteils durchaus ansprechend erzählt war. Es hätten allerdings gerne 150 Seiten weniger sein dürfen, um im Mittelteil einige Längen zu vermeiden, und die Perspektivwechsel zwischendrin waren für mich nicht stringent und haben mich jedes Mal ein wenig aus dem Konzept gebracht. Der letzte Teil hätte auch gerne ohne magischen Realismus auskommen dürfen - hier hatte ich den Eindruck, dass er weniger die Geschichte stützt sondern eher die Autorin bei der Konstruktion des Endes. Die kulturellen Hintergründe allerdings sind dermaßen spannend, dass ich begleitend zum Buch mehrere filmische Dokumentationen zur Rentierhaltung der Samen gesehen habe. Die Ignoranz der Behörden, die Vorurteile in der Bevölkerung, die zusätzlichen Schwierigkeiten durch den Klimawandel, die belastenden Identitätskonflikte junger Menschen, die zu Suiziden führen können, haben genauso ihren Platz im Buch wie die Traditionen und Werte der indigenen Bevölkerung. Die vielfältigen Themen treten souverän auf und verbinden sich harmonisch miteinander. Insgesamt eine Empfehlung für alle, die sich vom Leben im hohen Norden angezogen fühlen!

Bewertung vom 12.11.2022
Alle_Zeit
Bücker, Teresa

Alle_Zeit


ausgezeichnet

Zeit. Wir alle haben 24 Stunden davon, jeden Tag. Wir verbringen Zeit und haben mal mehr und mal weniger Einfluss darauf, auf welche Weise wir das tun - eine Erfahrung, die uns alle verbindet. Als zentrale Ressource unserer Gesellschaft ist die Zeit eng mit Gerechtigkeitsfragen verbunden. Und doch, so Teresa Bücker, ist der diskursive Austausch dazu unterentwickelt, fehlen uns die Begrifflichkeiten, um unsere Zeitgestaltung präzise benennen zu können, denken wir über die Zeit hinweg. Mit "Alle_Zeit" ist nun ein Sachbuch erschienen, welches sich in diese Lücke hineinschreibt, indem es verschieden Arten von (Lebens-)zeit differenziert und die Frage danach stellt, wie eine neue, gerechtere Zeitkultur aussehen könnte.

Dieses Buch wirbt für die Wahrnehmung der eigenen Zeitvielfalt. Die Kapitel thematisieren unter anderem Arbeits_Zeit, Zeit für Care, Freie Zeit und Zeit für Politik. Es war wunderbar bereichernd, während des Lesens so tief in die Reflexion der eigenen Zeiten einzusteigen, darüber nachzudenken, wie viele Tätigkeiten einen (subjektiven) Muss-Charakter haben und welche Zeiten tatsächlich vollständig der sozialen Bewertung entzogen sind. Doch Teresa Bückers Blick geht weit darüber hinaus und betrachtet uns als Gesellschaft. Den starken Fokus auf die Arbeits_Zeit, um die sich alles andere drumherum zu sortieren hat. Die ungerechte Verteilung von Zeit für Care, die von einer Arbeitswelt verdrängt wird, die nicht darauf ausgerichtet ist, dass ihre Mitglieder Verantwortung in der Care-Arbeit übernehmen. Die Zeitarmut, die sich auch auf die politische Teilhabe und Wehrhaftigkeit einer Demokratie auswirkt. Die Schwerpunktsetzung empfand ich allerdings ganz klar bei dem Konflikt zwischen Care- und Erwerbsarbeit insbesondere in der Situation von Müttern, welcher in den verschiedenen Kapiteln wieder aufgegriffen wird.

Insgesamt ein sehr umfangreich mit Quellen belegtes Sachbuch, das inspiriert und mit konkreten Vorschlägen zur gerechteren Zeitkultur vor allem eins zeigt: dass die Art und Weise, wie wir leben, nicht alternativlos ist.

Bewertung vom 04.10.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


gut

Mein erster Roman von Celeste Ng, einer Autorin, deren Name mir schon häufig über den Weg gelaufen ist und die ich nun endlich einmal über eins ihrer Werke kennenlernen wollte.

Das Setting des Buchs war für mich überraschend dystopisch. Die USA der nahen Zukunft hat gerade eine gewaltige Krise hinter sich, Schreckensszenarien des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Gewalt haben die gesellschaftliche Stabilität in die Knie gezwungen. Was daraus erwächst sind neue Regeln zur "Aufrechterhaltung der Ordnung", neue Feindbilder, die sich gegen Menschen asiatischer Herkunft richten und die schließlich im PACT-Gesetz ihren Ausdruck finden, dem Gesetz zur Erhaltung Amerikanischer Kultur und Traditionen. Vor diesem Hintergrund lernen wir Bird kennen, einen 12-jährigen Jungen, dessen chinesisch-stämmige Mutter vor einigen Jahren von heute auf morgen verschwunden ist und dessen Vater seitdem kein Wort mehr darüber verliert. Doch dann trifft ein Brief ein, und Bird versucht, sich auf eigene Faust das Verschwinden seiner Mutter zu erklären.

Vor allem zu Beginn baut der Roman einiges an Spannung auf. Genau wie Bird habe auch ich mich erst an die gesellschaftlichen Umstände herantasten müssen. Celeste Ng malt ein Bild von Unterdrückung, Überwachung, Denunzierung, Widerstand, weckt viele Fragen, die mich flott durchs Buch getragen, letztlich jedoch ein wenig unbefriedigt zurückgelassen haben. Viele Passagen zur Erklärung der gesellschaftlichen Zusammenhänge wurden für mich zu sehr "runtererzählt", die Frage nach der Entstehung der Krise lässt die Autorin offen. Gerade eine Dystopie lässt sich zwar auch völlig abstrakt erzählen, hier sind jedoch die Verknüpfungen zur Realität und zur Gegenwart so eng, dass sich für mich unwillkürlich die Frage nach den Verbindungen von hier nach dort aufdrängte. Stattdessen steht die heldenhafte Suche des kleinen Bird nach seiner Mutter im Vordergrund, ein Plot, der zwar erzählerisch einfallsreich, aber auch zunehmend konstruiert und überzogen auf mich wirkte. Worüber ich gerne gelesen habe, war die Rolle von Büchern, Erzählungen, Kunst, Sprache in einer unterdrückten Gesellschaft - ein Thema, welches unter Bücherfreunden sicherlich viele ansprechen wird. Insgesamt eine spannend aufgebaute Welt, allerdings ein wenig zu nachgiebig, um mir nachhaltig im Gedächtnis zu bleiben.

Bewertung vom 06.09.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


sehr gut

Lisbeth und "die Kriegerin" lernen sich in ihrer Grundausbildung bei der Bundeswehr kennen. Die Erfahrungen beim Militär verbinden sie genauso miteinander wie ihre Liebe zur Ostsee. Doch während wenige Jahre später die Kriegerin noch immer Soldatin ist, ist Lisbeth früh ausgestiegen, arbeitet nun als Floristin, hat Partner und Kind. Und hält dieses Leben nicht mehr aus. Als sie aus ihrer gemeinsamen Wohnung in Berlin an die Ostsee flieht, begegnet sie der Kriegerin wieder und die beiden werden zu Sparringspartnerinnen im Kampf gegen ihre eigenen Dämonen.

In erster Linie ist dieser Roman eine Auseinandersetzung mit Verletzlichkeit, insbesondere im Soldatinnenberuf. Beide Frauen sind besessen von dem Gedanken, durch einen gestählten Körper, das Überziehen der Uniform und eine Ausbildung an der Waffe geschützt zu sein vor allem, was da draußen an Gefahren lauert. Und doch sind da die Verletzungen, die jeden Schutz durchbrechen, die ins eigene Ich eindringen und den Kern der Identität bedrohen. Lisbeths Schutz nach außen ist besonders fragil, sie kann sich nur schwer von den Gefühlen anderer abgrenzen, spürt deren Lasten auf ihren Schultern, träumt nachts fremde Träume und kämpft fremde Kämpfe, was sich daran bemerkbar macht, dass ihre Haut, der sinnbildliche Schutz nach Außen, rebelliert.

Die Bedeutung der eigenen Haut ist nur eins von vielen wiederkehrenden Motiven im Buch, da ist auch das Meer, da sind die Steine in der Hosentasche, die nächtlichen Träume - ein gestalterisches Element, was mir sehr gut gefallen hat. Helene Bukowski gelingt es eindrucksvoll, die Auswirkungen von Traumata sichtbar zu machen. Sie schreibt klar, distanziert, einfach lesbar, erzählt nicht linear und baut so eine geheimnisvolle Stimmung auf, die erst durch Rückblenden und Briefe langsam aufgelöst wird. Spannend ist auch eine wesentliche Leerstelle im Roman: die Mutter, die ihr Kind verlässt, wird in keinster Weise aufgearbeitet und löst wahrscheinlich gerade dadurch unheimlich viel bei den Lesenden aus. Was mir allerdings zu kurz gekommen ist, sind die Verletzungen selbst und die innerpsychischen Verbindungen, auf den wir den beiden Frauen folgen, es bleibt vieles unbeleuchtet. Im letzten Drittel wird es mir persönlich außerdem ein wenig zu abstrus - und damit meine ich nicht die rosa Papageien über Berlin. Etwas mehr Stringenz hätte mir gut gefallen, insgesamt jedoch ein Buch mit einem absolut starken Thema!

Bewertung vom 28.08.2022
Der gefrorene Himmel
Wagamese, Richard

Der gefrorene Himmel


sehr gut

Richard Wagamese, Kanadier indigener Herkunft, verfügt über eine reiche Erzählstimme, gehaltvoll, ausgereift. Für "Der gefrorene Himmel", die seine eigene Lebensgeschichte mit denen anderer indigener Personen verknüpft erhielt der leider bereits verstorbene Schriftsteller den Burt Award for First Nations, Inuit und Métis Literature.

Wie der Autor selbst wird auch der junge Saul bereits als Kind von seinen Eltern getrennt. Aufgewachsen mit seiner Familie in den abgelegenen Wäldern Kanadas bringt man ihn in eine kirchliche Schule, um seine indigenen Wurzeln von ihm fernzuhalten, ihm den "wahren" Glauben und das "wahre" Leben zu lehren. Es ist sein begnadetes Talent im Eishockey, das ihm hilft, einen Ausweg aus diesem grausamen System zu finden. Ein rasanter Aufstieg folgt, doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los und ein tiefer Fall kündigt sich an.

Die Schilderungen der sogenannten "Residential Schools" sind fürchterlich und erschütternd. Man mag es sich nicht vorstellen und dennoch ist es wichtig, die Augen zu öffnen für das große Unrecht, das indigenen Völkern hier angetan wurde. Indigenen Kindern sollte alles ausgetrieben werden, was auf ihre Kultur hindeutet, ihre Sprache, ihre Traditionen und mit der eigenen Kultur nicht selten auch der eigene Wille. Und das mit brutalsten Mitteln. Hier muss ich vorwarnen, es geht um Missbrauch, Gewalt, Folter, Selbstmorde. Zwar nüchtern erzählt, aber dennoch sehr eindrücklich.

Eishockey als kanadischer Nationalsport (in Kanada nur "Hockey" genannt, denn dass man es auf dem Eis spielt ist hier eh klar), spielt als verbindendes, identitätsstiftendes Element eine große Rolle. Den kometenhaften Aufstieg vom Underdog zum Star empfand ich zunächst ein wenig konstruiert, bevor ich gelesen habe, dass er an eine wahre Geschichte angelehnt ist. Doch auch der Sport ist kein safe place, auch hier erfährt Saul Demütigung, Ausgrenzung und Rassismus, die ihn schließlich in eine Alkoholsucht treiben. Er beschließt, sich seiner Vergangenheit in der Schule zu stellen.

Die letzten Residential Schools wurden in Kanada erst in den 1990er Jahren geschlossen, die Aufarbeitung dauert an. Für alle, die ähnlich wie ich, noch wenig darüber wissen die Empfehlung im lesenswerten Nachwort von Katja Sarkowsky: "Lies nicht einfach, was du weißt. Lies, was du wissen willst."

Bewertung vom 28.08.2022
Nachtwanderung
Achenbach, Cornelia

Nachtwanderung


sehr gut

Die Freundschaft zwischen zwei Frauen, für mich eine literarisch super spannende Thematik, greift Cornelia Achenbach in ihrem Roman "Nachtwanderung" auf, stellt sie in den Mittelpunkt, richtet den Fokus aus, dreht und wendet sie und schafft es so, auch die dunklen, unergründlichen Seiten einer Freundschaft zu beleuchten, "the dark side of the moon" einer Freundschaft quasi.

Ines und Kerstin waren beste Freundinnen zu Schulzeiten, bevor Kerstin von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwand und Ines in einer Schockstarre zurückblieb. Jetzt, 20 Jahre später, lebt Ines mit ihrer eigenen Familie längst nicht mehr im Heimatort und hat alle Verbindungen zur Schulgemeinschaft hinter sich gelassen. Und doch, die Erinnerung an Kerstin lässt sie nicht los. Nie hat jemand Kerstins Platz einnehmen können, noch immer fühlt sie sich tief mit ihr verbunden, sie ist die Person, die an ihrer Seite sein sollte. Als sie eine Einladung zu einem Klassentreffen erhält und in die Heimat fährt, werden Erinnerungen wieder wach. Auch die Erinnerungen an die eine verhängnisvolle Nacht, kurz bevor Kerstin verschwand.

Der Roman lebt von einer sanften Spannung, die sich zwar dezent im Hintergrund hält, mir beim Lesen aber dennoch ein stetiger und angenehmer Begleiter war. Der unbekannte Grund für Kerstins Verschwinden ist der Dreh- und Angelpunkt, um den die Geschichte kreist und der das Leben von Ines und Kerstin aus den Fugen gehoben hat. Die schlussendliche Auseinandersetzung mit dieser einen Nacht und der eigenen Rolle darin hätte ich mir noch etwas umfassender gewünscht, genug Anknüpfungspunkte für die eigenen Gedanken sind aber in jedem Fall vorhanden. Und der Roman bietet auch über die Themen Freundschaft und Verlust hinaus zahlreiche Möglichkeiten zur Identifikation mit der eigenen Jugend - wenn eure Jugend in den 90er Jahren lag, dann seid bereit für ein wenig Nostalgie. Sehr gut gelungen sind die feinen Beschreibungen von Dynamiken einer Freundschaft, in die neben Vertrautheit, Loyalität und Zuneigung auch Konkurrenz und Neid hineinspielen können. Ein Buch, das zum Reflektieren einlädt und mir Lust auf mehr Literatur zu Freundschaften zwischen Frauen gemacht hat.