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Benutzername: 
Julia
Wohnort: 
Kassel

Bewertungen

Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 06.05.2022
Das Leben eines Anderen
Hirano, Keiichir_

Das Leben eines Anderen


gut

Wer ist Wer?

"Das Leben eines Anderen" ist das erste ins Deutsche übersetzte Buch des japanischen Bestsellerautors Keiichirō Hirano

Inhalt:
Als Daisuke bei einem Unfall stirbt nimmt seine junge Ehefrau Rie Kontakt zu dessen Familie auf. Als sein Bruder für die Trauerfeier anreist, erkennt er ihn auf den Fotos nicht, der Tote ist ihm vollkommen unbekannt. Daisuke scheint in jungen Jahren mit seiner Vergangenheit abgeschlossen zu haben und eine neue Identität angenommen zu haben. Doch wessen Witwe ist Rie nun? Der Rechtsanwalt Kido versucht es herauszufinden und stellt dabei auch seine eigene Identität in Frage.

Kann man jemand Anderes werden, in die Rolle einer fremden Person schlüpfen? Wird man so auch die Last der Herkunft los? Keiichirō Hirano hinterfragt in seinem Roman, was einen Menschen ausmacht, wie er sich selbst definiert, in was man sich verliebt. Es sind spannende Denkansätze, zuweilen ist die Geschichte daher philosophisch angehaucht. Gleichzeitig ist es eine Detektivgeschichte und auch gesellschaftspolitische Themen kommen zur Sprache.
Das Buch ist nicht sehr lang, es ist leicht lesbar, die Seiten fliegen nur so vorbei. Jedoch blieb mir alles zu vage, zu oberflächlich, viel spielt sich in den Gedanken Kidos ab, doch die drehen sich im Kreis und wiederholen sich teilweise. Eine kontinuierliche Handlung konnte ich nicht ausmachen, was den Pepp total rausnimmt. Leider hat der Autor meines Erachtens das Potenzial der Idee nicht ausgeschöpft.

Bewertung vom 31.03.2022
Das Romanverbot ist nur zu begrüßen
Ito, Seiko

Das Romanverbot ist nur zu begrüßen


ausgezeichnet

Ausnahmeliteratur

Im Januar des Jahres 2036 sitzt ein namenloser, fast 75jähriger Häftling aus ihm unverständlichen Gründen seit nunmehr 12 Jahren in Isolationshaft einer Sammeleinrichtung des sogenannten ostperipheren Archipels, als man ihn damit beauftragt, monatlich einen Beitrag für die Gefängniszeitschrift beizutragen. Als junger Mann war er in Japan Autor für Science-Fiction, doch der Name seines Heimatlandes darf nicht mehr genannt werden und Romane schreibt er schon lange nicht mehr. Er gehörte sogar zu den Befürwortern des in den 2020ern erlassenen Romanverbots. In seinen Essays will er nun Stück für Stück die verwerflichen Aspekte nichtwissenschaftlicher Literatur aufdecken, seine Romantheorie soll die Leserschaft der Broschüre zur Vernunft bringen.

Ich denke es mir natürlich schon zu Beginn, dieser Roman wird mich nicht von der Schlechtigkeit Seinesgleichen überzeugen. Und doch ist es ein überraschendes Buch. Überraschend ist der Weg durch die Vielschichtigkeit, mit der Seiko Ito die Argumente selbst widerlegt. Dies geschieht teils offensichtlich, teils mit großer Raffinesse - im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Zeilen. Hierbei verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur. Seiko Ito gelingt es mit genialen Kunstgriffen zu zeigen, wie Literatur den Leser zum Teil der Geschichte macht und den Autor abzugrenzen unmöglich werden kann.
Ja, die Leserschaft, für die Herr 86 schreibt, die gibt es, doch man findet sie nicht im Buch.
Wir hier draußen, außerhalb der Seiten, sind die Leser dieser Essays, die zusammen eine fiktive Autobiografie ergeben, die letztendlich ein Plädoyer gegen Kategorisierung und Zensur von Literatur ist.

Man kann es nicht mal so nebenbei lesen. Wenn das Buch auch von geringer Seitenzahl ist, man benötigt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration, um den Ausführungen der herangezogenen Romanbeispiele aus der japanischen Literatur und den Literaturtheorien folgen zu können.
Belohnt wird man dafür mit einem ganz besonderen Leseerlebnis.
Die Übersetzung und Umsetzung der Lektüre ist mit einer solch liebevollen Sorgfalt und einem Einfallsreichtum geschehen, dass es von großem Respekt dem Autor und seinem Werk gegenüber zeugt. Und mir als Leser macht es immer große Freude, wenn Inhalt und Aufmachung des Buches ein Konzept ergeben.

Ich habe noch nicht viele Romane gelesen, die derart genial konstruiert waren und er wird in die Liste der besten Bücher aufgenommen.
Ich würde es am liebsten gleich nochmal von vorne anfangen zu lesen, aber andere Bücher warten. Dieses werde ich nie mehr vergessen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2022
Im Licht eines Meeres
Dahle, Wenche

Im Licht eines Meeres


ausgezeichnet

Hoffnungsvoll

Es ist 2014. Die gelernte Krankenschwester Wenche Dahle ist 45 Jahre alt und lebt in einem kleinen Dorf an der norwegischen Küste. Oft geht es ihr nicht gut, sie leidet unter einer Dunkelheit in ihrem Leben, weiß nicht, wie sie sich von ihren traurigen Gedanken befreien kann. Da bekommt sie zu Weihnachten von ihrem Mann eine Kamera geschenkt, sie hält so etwas zum ersten Mal in den Händen. Sie beginnt, in der Einsamkeit Norwegens zu fotografieren und über das, was sie sieht, was sie erlebt und fühlt, zu schreiben. Es ist Nature-Writing im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Autorin hat ein sehr persönliches Thema zu einem Buch zusammengefasst, sie beschreibt eine Reise und einen Wendepunkt in ihrem Leben. Bewusst leicht gestaltet, mit wenigen, melodischen Texten und großformatigen Bildern, soll das Buch Platz lassen sich einzufühlen, den Moment so wie sie wahrzunehmen. Es ist ein stilles Buch, harmonisch und hell. Die Fotografien wirken teils eher wie Grafiken, sie sind verschiedenartig, geheimnisvoll und mythisch, manche sind hochauflösend detailliert. Die Naturbeobachtungen und Gedanken sind anmutig, wie sie beschreibt, dass die Natur, vor allem das Meer da war als sie es brauchte, dass es ihr Trost und Mut geschenkt hat. Das kann ich mir gut vorstellen! Sie hat mit dieser Kamera eine neue Seite an sich entdeckt, durch die Linse sieht sie die Farben und das Licht nun wieder. Seit 2017 ist die talentierte Fotografin Mitglied von NN, der norwegischen Naturfotografen-Vereinigung und man sieht ihren Bildern den Bachelor in Ästhetik an. Der Begriff "Poetische Fotografien" beschreibt es wohl am treffendsten, sie sind wirklich unglaublich, ich könnte sie mir den ganzen Tag anschauen, mit der Lupe und von weitem, sie lassen mich das Wasser plätschern hören und die Nordlichter erstrahlen vor mir.

Das Buch beglückt mich auf so vielfältige Art, es ist sowohl optisch ansprechend und haptisch aufregend durch den weichen, bedruckten Leineneinband und ebenso emotional berührend. Das Layout, gestaltet von Sandra Bartocha, unterstützt die Texte und die Atmosphäre der unbeschreiblichen Bilder.

Nachhaltig bewegt mich ihre Erkenntnis "Ich kann nicht ohne mich leben". Ein Satz, der in den dunkelsten Stunden Mut und Hoffnung macht.

Bewertung vom 15.03.2022
Willkommen im Tal der Tränen
Lerch, Noëmi

Willkommen im Tal der Tränen


ausgezeichnet

Kunstvolle, lyrisch anmutende Geschichte

Mit Lyrik tue ich mich eher schwer, ich suche oft vergeblich den Rhythmus, die Atmosphäre. Nur wenige AutorInnen fallen mir ein, die mich erreicht haben. Na gut, es sind nur drei. Ich würde nicht sagen, dass ich um Lyrik einen Bogen mache, aber ich suche sie eben auch nicht. Was mir bei diesem Genre für Assoziationen in den Sinn kommen sind sperrig, umständlich, kompliziert.
Diese Art von Lyrik ist zeitgemäß. Jugendlich könnte man sagen, ungezwungen. Und doch muss ich zugeben dass es eben eine anspruchsvolle Textform ist, bei der zumindest ich nicht alles beim ersten Lesen erfassen kann.

Zum Inhalt:
Drei Männer verbringen den Sommer auf der Alp, sie haben die Kühe heraufgebracht. Der Lombard und Zoppo sind eingespielt, melken, käsen, die Rinder hüten. Der Tuinar ist neu, die Berge sind ihm fremd und so weit vom Meer und seiner Familie, von seinem Zuhause fort zu sein, macht ihm zu schaffen. Er versteht die Sprache der Männer nicht, versteht ihr stoisches Handeln nicht, bleibt ausgeschlossen und fühlt sich doch als Teil dieser Zweckgemeinschaft. Als Mann für alles wird auch er ein Rädchen im Uhrwerk der Arbeit, wird Teil des Kreislaufs von Leben, Natur, Arbeit und Sterben.

So heißen auch die 4 Kapitel dieses höchst ungewöhnlichen Buches. Es ist ein Schmuckstück und doch ist die Besprechung nicht einfach, nicht leicht ist es, das Leseerlebnis für andere verständlich zu machen. Wenn ihr euch darauf einlasst, kann ich euch nichts Geringeres als ein Gesamtkunstwerk versprechen, ich wage zu behaupten, dass ihr so etwas noch nie gelesen habt.

Ich möchte unbedingt auf die Äußerlichkeiten eingehen, denn direkt fiel mir der Duft des Buches auf. Durch viel schwarze Farbe riecht es schwer nach bedruckten Blättern, es duftet nach viel Papier und Buchstaben, als wollte die Geschichte sofort heraus aus den Seiten. Dann bemerkt man den mausgrauen Buchschnitt, der ebenfalls von den vielen schwarzen Seiten herrührt. Denn jede linke Seite ist schwarz bedruckt, mit einer hellen Illustration in der Mitte. Schnörkel, Linien, abstrakt und doch ist etwas zu erkennen, fügt sich in die Geschichte ein. Auf den rechten Seiten, die auch nicht reinweiß sind sondern vielmehr hellgrau, stehen zentral ausgerichtet die kurzen Textpassagen, manchmal bloß ein Satz.
Man könnte sagen, die Autorin stellt nicht allein mit Worten die Emotionen dar, sondern vielmehr mit dem Fehlen von Worten, dem vielen Platz auf den Seiten, der Leere und den Lücken in der Erzählung. Es ist keine wirkliche Handlung zu erkennen, es lässt sich nicht einfach weglesen, dieses merkwürdige Buch, es bremst einen aus und möchte, dass man sich Zeit nimmt, die Ursprünglichkeit und Eintönigkeit bekommt man nur durch langsames Lesen zu spüren, die Stille und die Stimmung. Ich persönlich habe das als sehr angenehm empfunden. Es ist wichtig, dass wenig Text auf den Seiten ist, die Worte müssen sich entfalten, sie brauchen Platz, um wirken zu können, um Bilder heraufzubeschwören, um Tiefe zu erzeugen.

Ein überraschendes Werk, herrlich melancholisch und zum nachsinnen gedacht, ein ganz besonderes Buch, das ich sicher nochmal ganz ganz langsam lesen werde. Den Literaturpreis der Schweiz 2020 hat es absolut verdient, auch mich hat dieses doppelt Kunstvolle, zum einen literarisch und zum anderen grafisch, sehr begeistert.

Bewertung vom 08.03.2022
Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut
Malcovati, Marie

Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut


ausgezeichnet

Für immer verbunden

Bei wundersamen Buchtiteln ist ja mein Interesse immer sofort geweckt, so auch hier, und so lang der Buchtitel, so kurz ist dieses Buch, in dem doch so viel erzählt wird von drei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten.

Iona, Tine und Karolin. Alle tragen sie schwer an ihrer Vergangenheit. Ihnen ist und war es aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht möglich, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Zu sehr beeinflussten sie die Verhältnisse der Kindheit und ihre Beziehungen zu Männern und letztendlich am meisten, der Verlust von Beziehungen, von dem, was man Familie nennen würde.

Was sie vereint ist, dass Mutterschaft in ihrer Wunschvorstellung und in der Realität divergieren. Eine konnte nie ein gesundes Kind zur Welt bringen, es war ihr jedoch möglich, ein Kind zu adoptieren. Eine hatte einst ein Kind, welches sie durch ein Unglück verlor. Eine ist schwanger und möchte dieses Kind nicht.

Sie alle verbindet aber noch etwas, vielmehr jemand. Tahvo.

Als jedes dieser Leben aus den Angeln gerät, suchen sie gemeinsam den einen, der ihrem Leben einen Sinn gab, gibt und geben soll. In der Abgeschiedenheit der Wildnis Finnlands finden sie schließlich aber vor allem sich selbst.

Marie Malcovatis wunderschöne Sätze haben mich angesprochen, aus so vielen verschiedenen Gründen. Es ist herzzerreißend, in die Seelen dieser Frauen zu blicken, ihr Scheitern und Versagen berührt, und ist doch nie hoffnungslos. Ich liebe die Traurigkeit, die Atmosphäre, die Melancholie. In sanfter, zarter Sprache schafft es die Autorin, eindrücklich, Trauer, Schmerz und Wut der Figuren zu vermitteln. Die Charaktere sind ungekünstelt und für die Kürze des Romans mit nur etwas über 200 Seiten präzise gezeichnet.

Vieles bleibt letztendlich offen, ungesagt, ungeklärt. Womöglich macht grade das die Glaubhaftigkeit aus. Alle drei haben ihre eigenen Geschichten, sie begannen vor den ersten Seiten, und nach der letzten Seite gehen sie weiter. So etwas liebe ich.

Bewertung vom 06.03.2022
Und das Universum schweigt
Wurzinger, Johanna

Und das Universum schweigt


ausgezeichnet

Wenn man nicht mal mehr man selbst sein darf..

Viktor ist Autor. In seinem Verlag schreibt er jedoch weniger die Bestseller, vielmehr sind es Klappentexte und Inhaltsangaben von Ratgebern. Aber das kann doch nicht alles sein, oder? Er hört gelegentlich eine "Erzählstimme", sie ist die Summe aller Meinungen, die stetig auf ihn einprasseln. Je mehr er alles satt hat und aneckt mit seiner Denk- und Lebensweise, umso öfter kommentiert der Erzähler seine Normlosigkeit. Ihm kommt es so vor, dass, als er alt genug wurde, um alles zu dürfen, sich die Welt dergestalt entwickelte, dass man kaum noch etwas durfte! Alles muss nun mit einer derartigen Konsequenz gelebt werden, mit einer Inbrunst, alles muss in Kategorien eingeteilt werden und gleichzeitig so verallgemeinert werden, dass ja nichts ausgeschlossen bleibt.
Patrizia möchte für immer das Leben einer 30-Jährigen leben. Für die ihr empfohlenen Einschränkungen (Familienplanung, Seriosität) hat sie kein Verständnis. Doch merkt auch sie zunehmend, wie ihre Lebenseinstellung zu Disharmonien im sozialen Umfeld führt. Macht sie es falsch? Oder sind es die Anderen, die durch selbst auferlegte Regeln langsam verbittern?
Wir gehen mit den beiden Hauptfiguren durch ihre Höhen und Tiefen, sehen dabei zu, wie sie ihre jugendliche Protesthaltung erhalten wollen, ja nicht Mainstream sein, nicht alles einfach hinnehmen, selbst denken, selbst entscheiden. Viktor betäubt seine Unsicherheit und die Unzufriedenheit über seine Inkonsequenz mit Alkohol. Ohne eine Idee, wie man in all dem Durcheinander glücklich sein soll, begegnen sich die beiden an einem Pool auf Mallorca.


Achtung. Dieses Buch beinhaltet sämtliche Hassthemen.
In rasendem Tempo und völlig impulsiv werden einem sämtliche (und ich meine damit alle!) Themen mit Streitpotenzial aufgetischt die man sich vorstellen kann. Das Explosivste aus Kindererziehung, Politik und Wirtschaft, Klima, Wohnungseinrichtung und Kuchenvorlieben. Dabei driftet Johanna Wurzinger nicht in Klischees ab, tatsächlich hält sie uns eher den Spiegel vor und entlarvt unseren inneren Viktor. Manchmal nicht ganz politisch korrekt, manchmal recht obszön ausgedrückt aber mit einer Menge Humor, mal feinsinnig, mal mit der Brechstange. Die Emotionen beschreibt sie so greifbar, dass einen jeder Satz mitreißt.
Das Buch kommt mit wenigen Figuren aus, doch diese werden feinstens ausgeleuchtet und zeigen herrlich differenziert ihre so gegensätzlichen Charaktere. Die Autorin beweist in diesem Debüt ein ganz enormes Talent, ich habe diese Personen tatsächlich kennengelernt, sie erlebt.

Es geht hier einerseits um eine Sinnkrise, um die Frage, was mache ich aus meinem Leben? Es geht aber auch darum, für wen ich es mache. Für Andere, die sich stetig das Recht herausnehmen, über mich zu urteilen? Die Welt, die "beste aller Welten", wie Viktor es gerne nennt, wird immer komplizierter, man kann es niemandem recht machen, es gibt zu viele Meinungen und Unwägbarkeiten. Da muss jeder bei sich selbst bleiben.

Bewertung vom 05.03.2022
Banksy
Mattanza, Alessandra

Banksy


ausgezeichnet

Kunst für Alle

Wer kennt nicht den Blumenwerfer, das Mädchen mit dem Luftballon oder - noch recht neu - das Kind, das alle Superheldenfiguren in den Müll wirft und mit einer Krankenschwesternpuppe spielt.

Banksy macht großartige Kunst, die gleichzeitig schön und anmutig ist, die Ästhetik macht deren pointierte Aussagen jedoch umso schmerzhafter. Oft sind Liebe, Krieg und Frieden Thema.

In diesem Bildband sind 175 hochwertige Fotos zu sehen, dazu erfährt man Wissenswertes zu deren Ort, ihrer Entstehung und Interpretationsansätze. Zudem wird an vielen Stellen aus Banksys Biografie (leider wurde sie bisher nicht ins Deutsche übersetzt) zitiert.

Für mich ist Banksy DER Künstler der Gegenwart. Indem er anonym bleibt, hebt er die Kunst über seine Person, sie steht im Mittelpunkt. Er lehnt kommerziellen Erfolg ab, seine Graffitis und Inszenierungen sollen Aufmerksamkeit erregen, sind politisch und sozialkritisch. Sie treffen - besonders in diesen Wochen - mitten ins Herz. Seine Kunst ist frei zugänglich und richten sich nicht an einen elitären Kreis, sie ist für jeden Menschen da.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.02.2022
Die göttliche Komödie
Dante Alighieri

Die göttliche Komödie


sehr gut

Must-read?

Ist "Die göttliche Komödie" ein Buch, das man gelesen haben muss? Nun, ich zumindest hatte den Anspruch an mich und ich bin froh darüber, dass ich es jetzt kenne und einschätzen kann. Ich hatte einigen Respekt vor dem 700 Jahre alten Buch, das aus 14.233 Versen besteht, aufgeteilt auf 100 Gesänge, quasi Kapitel, und um die 600 Seiten umfassend. Ich bin ja schließlich keine Literaturwissenschaftlerin. Kann man als normale Sterbliche ohne italienische Vorfahren oder Geschichtsstudium der Antike "Die göttliche Komödie" verstehen?

Ich fasse mich mit der Inhaltsangabe kurz, es geht um den steinigen Weg durch die Hölle und das Fegefeuer bis ins Paradies, den Dante selbst in Begleitung des berühmten Dichters Vergil beschreitet.
Sehr anschaulich verdeutlicht wird hierbei die damalige Weltanschauung, der Stand der Wissenschaft und Glaubensansichten sowie Moralvorstellungen und Gerechtigkeitssinn der damaligen Zeit.

Erwähnenswert finde ich, dass dieses Stück Weltliteratur nicht nur Dante Alighieri berühmt gemacht hat. Gustave Doré, begann 1841 - mit 9 Jahren - die ersten Illustrationen anzufertigen, letztendlich war er 29 Jahre alt, als er die 136 Holzstiche fertig stellte. Er illustrierte ebenfalls die Bibel. Ich hätte mich gefreut, wären alle diese Bilder abgebildet worden, jedoch wäre das Buch dann nochmal 100 Seiten dicker geworden. Aber ich liebe ihn einfach.

Bei diesen uralten Büchern druckt irgendwann jeder Verlag seine eigene Ausgabe, welche ist hier die Beste, fragte ich mich. Ich möchte euch die Ausgabe des Manesseverlages sehr ans Herz legen, aus 3 Gründen:
1. Die Übersetzung ist großartig, die Verständlichkeit und der Rhythmus ist sehr gelungen.
2. Enthalten sind mit Einleitung und Kommentaren und Hintergrundinfos etwa 400 Seiten Zusatzmaterial. Ohne wäre ich ab der Hälfte aufgeschmissen gewesen!
3. Die Papierqualität. Das Buch ist 1200 Seiten lang, aber genauso dick, wie eines mit 800 Seiten aus einem anderen Verlag. Mit Lesebändchen. Die Illustrationen sind hochwertiger als in den anderen Ausgaben.

Es gibt Klassiker, von denen man behauptet, man käme nicht an ihnen vorbei. Die "Divina Commedia" gehört meiner Meinung nach nicht dazu. Unbestritten ist die Bedeutung dieser Dichtung für die italienische Literatur, zuvor wurden Schriftstücke vor allem auf latein verfasst. Sie ist jedoch so unglaublich umfangreich und komplex, dass man ohne Hintergrundwissen irgendwann nicht mehr gut mitkommt. Mit dem Einstieg in die ungewohnte Form bin ich gut zurecht gekommen, zu Beginn habe ich die Erläuterungen des Übersetzers nur überflogen, da ich dem Text sehr gut folgen konnte. Nach erfolgreicher Durchwanderung der Hölle wurde es schleichend schwieriger, im Fegefeuer musste ich doch das eine oder andere nachlesen, im Paradies kam ich dann überhaupt nicht mehr zurecht, vom Textverständnis angefangen, aber auch die Vorstellungskraft fehlte mir und es waren mir viele Zusammenhänge rätselhaft. Das mag auch mit daran liegen, dass Dante bei seiner Erzählung nicht einem Stil treu geblieben ist, es scheint, als hätte sich seine Persönlichkeit während der Reise verändert, und so ist es auch für mich als Leserin ein Wechselbad der Gefühle, mal wird geflucht und geschimpft, dann säuseln die Dialoge dahin, zum Schluss verklärte Romantik und bildreiche Beschreibungen. Wenn man bedenkt, dass er über 10 Jahre an diesem Epos geschrieben hat, ist das eigentlich nicht verwunderlich.

Bewertung vom 14.02.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Böse Geister

Fatma Aydemir erzählt uns von der 6-köpfige Familie des türkischen Einwanderers Hüseyin Yilmaz, der, nachdem er sich kurz vor der Rente von seinem hart ersparten Geld eine Wohnung in Istanbul gekauft hat, dort an einem Herzinfarkt stirbt. Zurück bleiben seine Frau Emine und die Kinder Sevda, Hakan, Perihan und Ümit. Sie alle kommen in Istanbul zusammen, um das Familienoberhaupt zu beerdigen, was Ereignisse aus der Vergangenheit und der Gegenwart ans Licht bringt, denn zwischen diesen Menschen gibt es viel Ungesagtes. Nicht der Tod des Familienoberhauptes reisst eine Lücke in ihre Mitte, im Laufe der 6 Kapitel, in denen jedes Mitglied zu Wort kommt, wird deutlich, Lücken gab es vorher schon. Differenzen findet man mehr als Zusammenhalt und Verständnis.

Schon allein die erzählerische Begabung der Autorin und die Treffsicherheit ihrer Worte machen diesen Roman zu einem Highlight. Je nach Figur passt sie die Ausdrucksweise und das Tempo an. Auf einer überschaubaren Seitenzahl hat sie eine Mischung aus Gesellschaftsroman und Familienepos erschaffen.

Warum nun der Titel "Dschinns", was "böse Geister" bedeutet. Es ist der Konflikt zwischen Glauben und Handeln, zwischen Schuld suchen und Schuld annehmen,
Hilflosigkeit und Opferrolle. Als böser Geist wird hier der Generationenkonflikt auf den Punkt gebracht, das Unverständnis der Eltern für ihre Kinder und andersherum, die Sprachlosigkeit dieser entwurzelten Menschen, um das zu ändern.

Die ungeschönte und gleichzeitig poetische Wortwahl übte eine große Faszination auf mich aus, und ich musste trotz aller Tragik nicht selten über Formulierungen lächeln. In dieser Geschichte werden eine Menge Vorurteile bestätigt, Klischees werden bedient, gleichzeitig spiegelt sich im Leben und Erleben der Figuren alle Widersprüchlichkeit. Differenziert wird beleuchtet, warum sie zum Teil in diese Muster schlüpfen.

Als ich die ersten Seiten des Romans angelesen habe, war es, als hätte sich mein Herz verschluckt. Dieses Gefühl beruhigte sich im Laufe des Buches und kam am Ende zurück, das liegt daran, dass die Autorin für das erste und letzte Kapitel des Buches einen ganz eigenen Stil verwendet. So etwas ist mir bislang noch nicht begegnet. Die Präzision der Sprache und die Bildhaftigkeit der Gefühlswelt der Protagonisten ist zusammen mit dem außergewöhnlichen Leseerlebnis in meinen Augen ganz große Literatur.

Bewertung vom 31.01.2022
Tiere ordnen
Bainbridge, David

Tiere ordnen


ausgezeichnet

Tiere wie wir

An mir ist eine Biologin verloren gegangen. In Physik und Chemie hätte ich mir einen Strick nehmen können, Biologie hingegen fand ich faszinierend. Wie Leben zusammen hängt, sich Dinge gegenseitig beeinflussen, die Mentalität, dass es auf jede Frage eine Antwort gibt, hat mich schon immer begeistert. Womöglich kommt daher meine Vorliebe für Enzyklopädien, Lexika und Bildbände, die ich schon als Kind immer wieder durchgeblättert habe.

"Tiere ordnen" ist ein Sachbuch, und auf den ersten Blick meint man, sich einem Haufen Diagrammen und ominösen Zeichnungen mit viel Fachtext entgegen zu sehen. Zu meiner großen Freude lässt es sich durch seine übersichtliche Einteilung tadellos lesen. Aus den Texten sprüht die Begeisterung David Bainbridges für seinen Fachbereich nur so heraus, sie ist geradezu ansteckend.
Man findet allerhand Kurzbiografien zu Naturwissenschaftler/innen, beispielsweise Maria Merian, Charles Darwin und Alexander von Humboldt vor, und erhält einen guten Überblick über deren Steckenpferde. Nun war man als Wissenschaftler vor 200, 300 Jahren oder noch früher zwangsläufig auch Künstler, nicht jedes Tier konnte in der Heimat hergezeigt werden, nicht jede Pflanze getrocknet in ein Buch geklebt werden, man zeichnete alles auf. Audubons beispielsweise veröffentlichte 1838 einen Band mit über 400 Aquarellen der Vögel Amerikas in Lebensgröße. Es waren die "godfathers of illustration". Die Qualität der Kopien in diesem Buch ist unglaublich.

Das Buch bietet aber nicht bloß eine Übersicht über die naturwissenschaftlichen Errungenschaften in den vergangenen Epochen bis heute, sondern geht - und das ist total spannend - auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen ein. Man darf nicht vergessen, Tiere - das sind auch wir. Was bedeutete die Evolutionstheorie zum Beispiel in Hinblick auf Rassendenken und Sklavenhaltung? Die kritische Auseinandersetzung mit der Denkweise von Ernst Haeckel und anderen hat mir sehr gefallen.

In unserem Haushalt leben drei Frauen. Eine liebt Illustrationen und alles Schöne. Eine ist eine talentierte Künstlerin. Die dritte ist Forscherin. Das Buch brauche ich erstmal nicht ins Regal räumen, es wird von der Couch auf Schreibtische und in Betten geschleppt und daraus abgemalt und gelesen und gestaunt. "Wow, was ist denn das Tolles?" quietscht die 15-jährige, als ich "Tiere ordnen" enthülle. So was gäbe es kaum noch. "Na klar gibt es diese Art Bücher noch!" sage ich. Aber nicht in der Welt der Jugendlichen. Daher muss ich für diese Art von Buch noch ein flammendes Plädoyer sprechen. Wenn ein junger Mensch heute etwas wissen möchte, sucht er im Internet danach. Gelangt meist zu Wikipedia, es sei dahingestellt, wie umfassend oder korrekt die Ergebnisse sind. Aber: man muss wissen, wonach man sucht! Und das ist das Dilemma. Ich suche etwas, ich finde es. Doch nach meinem Verständnis funktioniert Lernen und Wissen ansammeln so nicht, sondern mit Büchern. Ich interessiere mich für etwas, ich nehme eine Enzyklopädie, ein Lehrbuch, ein Sachbuch zur Hand - und weiß hinterher Dinge, die wollte ich gar nicht wissen. Ist das nicht einfach wunderbar?