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amara5

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 27.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Kunst im Grauen
Der deutsch-österreichische Bestseller- Autor Daniel Kehlmann legt mit „Lichtspiel“ einen grandiosen Roman vor, in dem er biografische Eckdaten des großen Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) mit einer fiktiven Geschichte über das Überleben im Nationalsozialismus verbindet. Brillant komponiert, düster-lakonisch getroffen und absolut packend zeigt er, wie angepasste Kunst durch Unterwerfung unter der NS-Diktatur weiterlaufen kann und wie Menschen schleichend zu Mitläufern wurden.

Aus auktorialer und wechselnder Erzählperspektive schildert Daniel Lehmann, wie der gefeierte und links angehauchte Stummfilm-Regisseur („Die freudlose Gasse“, „Die Dreigroschenoper“ oder „Die weiße Hölle vom Piz Palü“) G.W. Pabst zuerst in Sicherheit „draußen“ im Exil in den USA war, dort aber keinen adäquaten Einstieg in die Filmbranche erhält. Zusammen mit seiner Frau Trude und seinem Sohn Jakob tut er das Unglaubliche und geht zurück ins angeschlossene Österreich – auch weil seine geliebte Mutter krank ist. Wieder „drinnen“ im Nationalsozialismus, werden bald die Grenzen geschlossen, der Zweite Weltkrieg beginnt und die Familie kann nicht wieder zurück – sie muss innerhalb des NS-Systems überleben und Pabst wird bald von Nazi-Propagandaminister Goebbels unter übler Androhung als Filmemacher rekrutiert. Schon bald fügt sich der Meister des Filmschnitts und G.W. Pabst will erneut große Kunst erschaffen.

„Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“

Finster, eindringlich und mit subtiler Lakonie zeigt sich, wie die Familie sich anpasst: Jakob wird selbst Jung-Nazi, Trude erliegt dem Alkohol, denn nur so erträgt sie die bitteren Begegnungen in ihrem Karrasch-Lesezirkel und Pabst arrangiert sich. Der Roman lebt von der faszinierenden, einzigartigen Sprache, den scharfsinnigen Beobachtungen und den filmischen Beschreibungen – jedes Kapitel ist perfekt aufgebaut und leuchtet zudem mit zahlreichen kinematografischen Details Pabst' Karriere auf. Als kleiner roter Faden dient sein Film „Der Fall Molander“, an dem Pabst besessen mitten im Krieg arbeitet und dessen Material zu Kriegsende verschwunden ist.

Es ist ein grauenhaftes, brutales Setting, in dem die Shoah beginnt und die Deutschen versuchen, durch Angepasstheit zu überleben. Und trotzdem gelingt Kehlmann das Unfassbare, auch ironischen Humor, böse Situationskomik, bizarr-groteske Szenen und große Spannung einzubinden – fast erscheint „Lichtspiel“ selbst als ein intensiv inszenierter Stummfilm, in dem die Protagonisten mit dem Böse ringen und ihre moralische Unschuld verlieren. Ein Highlight, in dem viele schaurige Szenen ergreifend nachhallen.

Bewertung vom 11.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


sehr gut

Der Erinnerungstourist
Mit seinem Debüt „Kajzer“ geht der kanadische Journalist und Autor Menachem Kaiser auf komplexe, persönliche und tiefgreifende Suche nach seiner Familiengeschichte und einem von den Nationalsozialisten enteigneten Haus in Sosnowiec im heutigen Polen. Dabei öffnet Kaiser Stück für Stück das packende Abenteuer der Erinnerung und des Erzählens, denn seine mit vielen Überraschungen gespickte Suche verläuft verschlungen und es ergeben sich immer weitere Geschichten hinter der eigentlichen Erzählung, die zu einem facettenreichen und packenden Gesamtnarrativ werden.

Menachem hat seinen Großvater, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat, durch dessen frühen Tod nie kennengelernt und auch mit seinem Vater wurde nie über die Geschichte gesprochen. Nur ein enteignetes Haus in Schlesien bleibt noch als symbolische Tür zur Erinnerung – jahrelang hat der Großvater darum gekämpft, das Eigentum zurückzubekommen, ist aber gescheitert. Nun macht sich Enkel Menachem mit Hilfe einer Anwältin als sogenannter Erinnerungstourist auf die abenteuerreiche Spurensuche des jüdischen Erbes seiner Ahnen in Polen und entdeckt dabei im Dickicht von unerwarteten Begegnungen, Bürokratie, Unausgesprochenem und weiteren historischen Plündereien sowie Mysterien viele weitere Geschichten und sogar einen unbekannten Verwandten, über die der Autor brillant reflektiert. Der Cousin seines Großvaters, Abraham Kajzer, war Holocaust-Überlebender und ein so faszinierender Vorfahre mit hinterlassenen Memoir-Aufzeichnungen, dass er Menachem zu einer eigenen Geschichte verknüpft, mit den Gemeinsamkeiten der Schatzsucher inspiriert. Dabei trifft er auch auf ominöse Verschwörungstheorien, die an Aktualität in der heutigen Zeit nicht an Brisanz verlieren und mündet schließlich in einer Erzählung des Verlustes, hinterfragt stets sein eigenes Handeln.

In vier Teilen erstreckt sich Menachems bewegende Suche über mehrere Jahre – trotz sehr ernstem Hintergrund erzählt der Autor mit satirisch-lakonischem Humor und spricht seine Leser*innen zwischendurch persönlich an, was seine klugen Gedanken zu Erbe, Erinnerungskultur, Familie und Verstrickungen sowie das Geschichtenerzählen an sich noch eindringlicher machen. Dabei webt er historische Eckpunkte, aber auch zahlreiche weitere Gedankengänge wie über Schatzsucher untertage in einem immensen Tunnelsystem ein.

Manchmal ergeben sich dadurch leichte Längen, aber insgesamt sind Kaisers Erkenntnisse ergreifend, philosophisch und scharfsinnig – kreisen sie über die menschliche Existenz und die Fähigkeit, sich durch Erinnerung und Familienerbe seine eigene, verschlungene Erzählung über das Leben zu erschaffen. Und hinter allem schwingt subtil das kollektive Traumata der Shoah mit. Ein nicht ganz einfaches, aber sehr kluges Sachbuch mit vielen Querverweisen und vielschichtigen Denkanstößen.

Bewertung vom 16.09.2023
Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?
Nex, Sally

Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?


ausgezeichnet

Ökologisch Gärtnern leichtgemacht

In dem inhaltlich und haptisch sehr hochwertigen Selbstanbau-Ratgeber „Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?“ bündelt die Journalistin und preisgekrönte Gartenbuchautorin Sally Nex ihr über Jahre angesammeltes versiertes Wissen rund um ökologisches Gärtnern und glückliches Obst sowie Gemüse. Und so außergewöhnlich-humorvoll der Titel und die Fragen in den fünf verschiedenen, gut gegliederten und übersichtlichen Kapiteln klingen, so präzise hilfreich-informativ sowie praxisnah sind die Antworten für alle Profi- und Hobbygärtner im Eigenanbau.

Verziert mit zahlreichen wunderschönen Grafiken und Bildern auf jeder Seite bereitet das Durchlesen der verschiedenen pfiffig und zugleich sehr gut zusammengefassten Antworten aus einem breiten Themenspektrum große Freude – dabei kann der Leser selbst entscheiden, ob er eine Langfassung oder eine komprimierte Antwort im kleinen Kasten erhalten möchte. Sally Nex legt seit Langem großen Wert auf nachhaltiges, autarkes Gärtnern/Selbstversorgung ohne Plastik sowie Chemikalien und gibt unterteilt in den fünf großen Kapiteln „Was baue ich an?, „Wo baue ich an?“, „Erlebnis Eigenanbau“, „Wer knabbert an meinen Pflanzen“ sowie „Ernten und Verarbeiten“ auf unterhaltsame und zugleich professionell-verständliche Weise Schritt-fürSchritt-Hilfestellung zu anfallenden Gartenfragen. Dabei schlägt Nex einen brillanten Bogen vom einleitenden Anfang über das Gärtnern am Puls der Zeit mit verschiedenen Gemüseanbautechniken des 21. Jahrhunderts, über außergewöhnliche Anbaumöglichkeiten und selbstgemachten Dünger sowie Schädlingsbekämpfung bis hin zur Magie der Wiederverwertung und faszinierenden Symbiosemöglichkeiten im natürlichen Einklang.

Auch gibt Sally Nex neben der Beschreibung zahlreicher Gemüsesorten sogar einige kleine Rezepte (selbst zur eigenen Drinkherstellung) preis – und auch der Anbau auf dem eigenen Balkon kommt glücklicherweise nicht zu kurz. Hervorzuheben ist dabei der faszinierende Augenmerk auf die Artenvielfalt und ein grünes, entschleunigtes Gärtnern mit der Kraft der Natur, bei dem nichts perfekt sein muss, sondern glückliches Gemüse und somit ein glückliches, unabhängiges sowie klimafreundliches Gärtnern entsteht. Versehen mit unheimlich vielen nützlichen Extra- sowie DIY-Tipps lässt dieser kompakt-originelle Ratgeber mit einzigartigem Layout, altem und neuen Wissen keine Fragen offen und inspiriert zum glücklichen Losgärtnern und dem Verzehr von selbst angebautem Gemüse.

Bewertung vom 08.09.2023
Prophet
Blaché, Sin;Macdonald, Helen

Prophet


sehr gut

Formen der Nostalgie
Gleich zwei Autorinnen haben in dem außergewöhnlichen, über 500 Seiten starken Mystery-Thriller-Roman „Prophet“ ihrer fantasievollen Erzählkunst freien Lauf gelassen und ein Gesamtwerk geschaffen, das Genres sprengt und eine queere Romanze zwischen zwei Ermittlern mit actiongeladenem Science-Fiction-Horror vereint. Sin Blaché und Helen Macdonald erzählen dabei mit viel subtilem Humor, starken Dialogen und in einem dichten, surrealen Setting, in dem Nostalgie zur Todesfalle wird.

In Suffolk an der englischen Ostküste geschehen ominöse Dinge – mitten aus dem Nichts taucht in der Nähe einer Air Base-Station ein beleuchtetes American Diner auf und das ist erst der Anfang einer Kette voller mysteriöser Todesfälle, in denen sich Menschen mit nostalgischen Dingen aus ihrer Vergangenheit gefährlich vereinen. Die zwei sehr gegensätzlichen Agenten Adam Rubenstein und Sunil Rao werden vom Geheimdienst darauf angesetzt, die gruseligen Vorfälle schnell aufzuklären und geraten dabei in verschiedenen Ländern selbst in Gefahr – denn Ursprung des Horrors ist eine drogenähnliche, menschengeschaffene Chemiewaffe namens „Prophet“, die außer Kontrolle geraten ist und im rasanten Verlauf des Thrillers bald virushaft die ganze Menschheit bedroht. Verschiedene Sphären und korrupte Machenschaften prallen temporeich aufeinander und „Prophet“ hat unerwartete Twists, die die düster-packende Horror-Grundstimmung aufrecht erhalten, während sich Rubenstein und Rao romantisch annähern und sich philosophische Diskurse über die Macht von Nostalgie, Erinnerung und Vergangenheit geben.

Blaché und Macdonald verweben in ihrem spannenden, faszinierenden Roman nicht nur ihre breitgestreute, kreative Affinität zu übersinnlicher Science-Fiction mit brisanten Anleihen zu Gegenwartsfragen, sondern beweisen mit ihrer berührenden Liebesgeschichte auch ihr Feingefühl für scharf beobachtete zwischenmenschliche Gesten und Emotionen. Auch wenn „Prophet“ hier und da zu einigen Längen, Pathos und hoher Drehzahl tendiert, sticht das Werk mit seiner Andersartigkeit heraus und zeugt von einfallsreicher Kunst des unterhaltsamen Geschichtenerzählens.

Bewertung vom 01.09.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Brunnen der Erinnerung
Mit „Das Pferd im Brunnen“ veröffentlicht die bekannte Schauspielerin Valery Tscheplanowa ein bemerkenswertes literarisches Debüt, das mit Sinnlichkeit, Lakonie und sprachlicher Raffinesse kaleidoskopartig den familiären Wurzeln und facettenreichen Erinnerungen in der ehemaligen Sowjetunion nachspürt.

Anhand von vier Frauengenerationen (Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und der klug-reflektiert erzählenden Tochter) webt Tscheplanowa voller poetischer und berührender Sprachbilder ein dichtes Geflecht von starken Frauen, die das Familienleben abseits der Männer am Laufen halten, und flechtet gekonnt historische Zeitgeschichte ab Mitte des 20. Jahrhunderts mitein. Einst wie Protagonistin Walja in einem Kurort bei Kasan geboren und nach Deutschland ausgewandert, erzählt die Autorin hier zwar autofiktional, aber stark autobiografisch geprägt von der Annäherung an die russische Heimat. Ihre Themen sind neben dem schwierigen Weiterleben nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion das Sterben, die Liebe und die Suche nach Verbundenheit sowie verlorener Zeit. Dabei beobachtet sie die liebenswerten, verschrobenen Eigenarten ihrer Protagonist*innen ungemein subtil, detailliert sowie schwarzhumorig und setzt sie präzise mit umwerfenden Metaphern in ihre Umgebung und landespezifischen Prägungen.

Das titelgebende Pferd liegt einer weitergetragenen Erzählung von Onkel Mischa nach als Gerippe auf dem Grund eines stillgelegten Brunnens – Ich-Erzählerin Walja blickt bei ihrer Rückkehr ins Haus ihrer Kindheit nach Kasan auch eindringlich-faszinierend in den Brunnen ihrer lebendigen Erinnerung der familiären Herkunft. Dabei geht Tscheplanowa erzählerisch in den Zeiten sprunghaft und episodisch vor – kleine, voneinander autonom wirkende Kapitel schildern mit sprachlicher Wucht und Nuanciertheit das Alltagsleben der Frauen in Kasan, aber auch das der Protagonistin in Deutschland an einer Bundesstraße. Und doch ergeben die gewürfelten Erinnerungsfragmente am Ende ein stimmiges Gesamtbild über den stetigen Rhythmus des harten Lebens in der alten Heimat und Walja resümiert ergreifend, was sie alles von den disziplinierten Frauen in sich trägt trotz dem unaufhaltsamen, schnellen Lauf der jahrzehntelangen Zeit.

„Wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne unter meiner Haut ihre Haut. Sie hat sich in mich verwandelt, ich erzähle sie weiter, bin ihr Echo. Unsere Haut ist eine Geschichte, die wir fortschreiben. Wir beschreiben sie mit den Kümmernissen und Freuden, die sich in sie eingraben.“ (S. 187)

Ein bewegendes, kraftvolles und zugleich feinfühliges Debüt voller schillernder Sätze, empathischer Beobachtungen und poetischen Reflektionen über die menschliche Existenz!

Bewertung vom 22.08.2023
Der Trost der Schönheit
Arnim, Gabriele von

Der Trost der Schönheit


sehr gut

Reisende im Leben
Die Bestseller-Autorin und Journalistin Gabriele von Arnim begibt sich in ihrem neuen essayistischen Roman „Der Trost der Schönheit“ auf eine poetisch-sinnliche, gedanklich verästelte Suche nach der Sicht auf Schönheit und Kunst im Leben. Dabei wandern ihre Assoziationen sprunghaft und auf facettenreichen Erzählsträngen – so wie die rote Koralle mit ihren vielen Zweigen auf dem Cover.

Aufgewachsen in einem unterkühlt-emotionslosen und privilegierten Elternhaus, musste sich Von Arnim ihren Zugang zu Gefühlen erst 'erarbeiten' – das Sehen, Sammeln und Erspüren von Schönem im Leben, während die Zeit davonfliegt und erschütternde Ereignisse wie der Ukraine-Krieg sowie Corona die äußere Weltwirklichkeit in Angst und Schrecken versetzen. Die feinfühlige Autorin erzählt philosophisch-persönlich Fragmente aus ihrem Leben und spickt sie mit weiterführenden Reflexionen sowie zahlreichen literarischen Zitaten. Dabei ist ihr die Liebe zur Sprache und Worten anzumerken – erschafft sie hier und da neue Wortschöpfungen und kreative Verbindungen.

Berührend, fragil und treffsicher schildert sie mit wenigen Worten ihre Erinnerungen aus der Kindheit, der ersten Ehe sowie innere Zweifel, die sie besonders in der Nacht heimsuchen. Aber sie zeigt auch tröstlich auf, wie wir Menschen trotz Krisen unsere eigene, schöne Wirklichkeit errichten können, um Trost zu spüren und uns verbunden zu fühlen.

Auch wenn die ein oder andere sprachliche Formulierung zu blumig geraten ist, nimmt das tiefgründige Sachbuch den Leser mit auf eine klug verzweigte, berührende und reflektierte Reise durch Von Arnims Leben und Gedanken, in der Spielraum für eigene Interpretation bleibt und die zudem aktuelles Zeitgeschehen aufgreift. Ein tröstliches, inspirierendes und bewegendes Essay, das immer wieder zum wiederholten Lesen und Nachdenken animiert.

Bewertung vom 08.08.2023
Zwischen den Sommern / Heimkehr-Trilogie Bd.2
Hennig von Lange, Alexa

Zwischen den Sommern / Heimkehr-Trilogie Bd.2


sehr gut

Zwischen den Zeiten

In ihrem zweiten Band der Heimkehr-Trilogie „Zwischen den Sommern“ erzählt Bestsellerautorin Alexa Henning von Lange empathisch und packend die generationsübergreifende Familiengeschichte um Klara Möbius/Erfurt weiter. Autobiografisch inspiriert von den über 130 vererbten Tonbandkassetten voller persönlich eingesprochener Zeitgeschichte der eigenen Großmutter, ist der Roman trotzdem fiktiv und führt diesmal dramatisch-bewegend in das Grauen des Nationalsozialismus und die Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Klara leitet als junge Frau eine Frauenbildungsanstalt in Sandersleben – nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben, hat nun auch sie die neuen Leitlinien des Regimes zu beachten, die mit strengen Besuchen kontrolliert werden, und ist hin- und hergerissen zwischen Anpassung, Verantwortung für die Mädchen und der Anstalt sowie innerer Abwehr. Frisch mit ihrer großen Liebe Gustav verheiratet, wird er bald an die Front versetzt und Klara bleibt wie viele andere Frauen alleine im Schrecken und der verzweifelten Hilflosigkeit während des Krieges zurück. Zudem belastet sie, dass sie das jüdische Mädchen Tolla, das sie zehn Jahre lang wie ihre eigene Tochter erzogen hat, aus Angst vor der drohenden Gefahr ins Ausland weiterbringen ließ und nun im Unklaren über ihren Verbleib ist. Die Zeitspanne von Klaras Erzählungen reichen von 1939 bis circa 1944 – daneben verwebt Von Lange eine aktuellere Perspektive, 60 Jahre später von Enkelin Isabell im Jahre 2000. Diese findet nach dem Tod von Klara die besprochenen Kassetten und entdeckt zusammen mit ihrer Mutter eine ganz andere Seite der strengen, verschlossenen Großmutter. Zusammen stellen sie sich Fragen über Klaras bewegte Vergangenheit, über die nie gesprochen wurde.

In einer flüssig-leichten Sprache und mit vielen gut recherchierten Details taucht Alexa Henning von Lange szenisch dicht und zugleich dynamisch in ein Stück tragische historische Zeitgeschichte. Sie erzählt berührend von zerrissenen Biografien und dem Weiterleben unter dem Hakenkreuz für die deutsche Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges und bietet viel Stoff zum Diskutieren: Wie haben sich die eigenen Vorfahren während dieser Zeit verhalten und über was wurde generationsübergreifend jahrzehntelang geschwiegen?

Die zwei Zeitebenen fließen abwechselnd-ruhig ineinander und bieten mit Isabell nochmal einen anderen spannenden Blickwinkel in der Gegenwart. Im Nachwort schreibt Von Lange, dass ihre wahre Großmutter, die ebenso als Lehrerin ein Frauenbildungsheim unter den Nationalsozialisten geleitet hat, in ihren Aufzeichnungen nie über Verantwortung und Schuld geredet hat. Von Lange habe deswegen das weggegebene jüdische Waisenmädchen Tolla als Stellvertreter für dieses eiserne Schweigen und den Verlust der Unschuld fiktiv an Klaras Seite gestellt – diese Verknüpfung ist weniger überzeugend gelungen und hinterlässt eher weitere offene Fragen im Kontext dieser Zeit.

So ist der zweite Teil der Trilogie, der sich unabhängig von Teil Eins lesen lässt, vor allem eine unterhaltsam-fesselnde Geschichte aus der persönlichen Perspektive einer privilegierten, innerlich zerrissenen deutschen Frau im Zweiten Weltkrieg zwischen Angst, Zweifel, Pflichtausübung und Weiterleben in grausamen Zeiten – und weniger ein tiefgründiger Roman, der die moralische Schuld des Einzelnen im Nationalsozialismus aufwirft. Aber Klaras (Arbeits-)Alltag ohne Ehemann sowie ihre zwiegespaltenen Emotionen unter dem NS-Regime hat Alexa Henning von Lange feinfühlig-detailliert aufgefangen.

Bewertung vom 03.08.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


sehr gut

Gespiegelte Versionen

In ihrem neuen packenden Roman „Die Einladung“ entführt die vielgefeierte, amerikanische Autorin Emma Cline anhand einer jungen, widersprüchlichen Escort-Frau auf eine vielschichtig-düstere Weise in die exklusive Welt der Reichen in den Hamptons.

Die 22-jährige Alex hat schon viele Scherben und unbeglichene Schulden in ihrer dunklen Vergangenheit zurückgelassen – weg von New York, versucht sie sich in den Hamptons über Wasser zu halten, nachdem sie aus ihrer WG geflogen ist. Alex ist es gewöhnt, ihren Körper an Männer zu verkaufen und eine Weile bei ihnen wohnen zu dürfen – so wie bei dem älteren Kunsthändler Simon, in dessen Haus in den Hamptons sie exquisiten Zugang zu Essen, Kleidung und anderen Reichen hatte. Der Preis dafür ist hoch für die junge Frau, die sich präzise darin versteht, das Gegenüber zu erkennen und sich in diejenige zu verwandeln, die der andere haben will, um eine bessere Version von sich selbst zu sein. All ihre Abläufe und das tägliche Zurechtmachen sind gut einstudiert, aber auf einer Party verliert Alex die Contenance und verärgert Simon. Er schickt sie per Zug zurück in die Stadt, doch am Bahnhof überlegt es sich Alex anders: Sie möchte die wenigen Tage bis Simons Labor-Day-Party in den Hamptons verbringen, um ihn dann wieder umzustimmen. Doch wo soll sie wohnen, essen und überleben ohne Geld – dicht gefolgt von täglichen SMS-Drohungen ihres um Geld betrogenen Ex-Freiers Dom?

Mit einer angespannten Atmosphäre und einer stechend scharf-kühlen Prosa, die mit wenigen treffenden Sätzen die Stimmung in Alex und im Außenherum beschwört, zieht Emma Cline ihre Leserschaft gleich zu Beginn sogartig in die bestechende Odyssee ihrer Hochstaplerin. Alex probiert im wahrsten Sinne des Wortes, „den Kopf über Wasser zu halten“ und dringt mit ausgeklügelten, spontanen Plänen für kurze Zeit in die Welt verschiedenster, reicher Menschen ein, die ihr eigentlich verschlossen ist. Und überall hinterlässt sie latente Spuren von Verwüstung und Verwirrung – ein Abbild, wie es um sie steht und doch bleibt die Protagonistin dabei gespenstisch leer und ungreifbar.

Wiederkehrende Motive des Schwimmens, des Meeres und der Poolanlagen spielen dabei eine tragende Rolle, die Cline in wunderschönen sowie melancholischen Stimmungen auffängt – und doch schwingt über allem die allgegenwärtige Bedrohung mit, wie es mit der verlorenen Außenseiterin Alex weitergeht.

Gesellschaftskritische Themen wie die Riesenkluft zwischen Arm und Reich, die scheinheilige Welt der Superreichen, aber auch die schwierige Rolle einer jungen Frau zwischen Anpassung, Austauschbarkeit und Selbstbestimmtheit sind tiefgründige Themen dieses mitreißenden Romanes. Aber an erster Stelle steht das brillant konstruierte Psychogramm einer Frau, die in verschiedene Rollen und Versionen schlüpft, um in einem kapitalistischen, von ungleichen Machtstrukturen geprägten System zu überleben – dabei gibt sie nie ihr Innerstes preis und spiegelt präzise, bewegend sowie aufrüttelnd die emotional unterkühlte, oberflächliche Gesellschaft ihr gegenüber.

Und auch wenn das zweideutige Ende vage im Nebel des Meeres verschwimmt – es wird nur konsequent weitergeführt, was die beklemmend-spannende Stimmung vorher vorgegeben hat. Ein beunruhigender, faszinierender und nuanciert-scharfsinnig komponierter Roman.

Bewertung vom 27.07.2023
Hotel Silence
Ólafsdóttir, Auður Ava

Hotel Silence


ausgezeichnet

Narben und Hoffnung

In ihrem neu ins Deutsche übersetzten Roman „Hotel Silence“ erzählt die renommierte isländische Autorin und Kunstwissenschaftlerin Auður Ava Ólafsdóttir ein feinfühlig-skurriles sowie modern-poetisches Märchen über einen suizidalen Mann, der in einem traumatisierten, ehemaligen Kriegsland neuen Lebensmut schöpft. Dabei spielen seelische und äußere, sichtbare und unsichtbare Narben eine bedeutende Rolle – so wie der Originaltitel „Ör“ (Narben) andeutet.

Jónas Ebeneser ist fast 50 und steckt in einer tiefen Lebenskrise – seine Mutter ist dement und lebt im Pflegeheim, seine Frau Gudrun hat ihn verlassen und dabei noch schnell verkündet, dass die gemeinsame Tochter gar nicht seine leibliche ist. Der sensible und auch praktisch veranlagte Protagonist beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, ohne seine Leiche den Hinterbliebenen zuzumuten. Kurzerhand pickt er sich ein vom Krieg völlig zerstörtes Land heraus und bucht sich dort in einer Stadt am Meer im Hotel Silence ein. Vorher lässt er sich noch quer über seinem gebrochenen Herzen eine große Wasserlilie tätowieren und als spartanisches Gepäck nimmt er nur seinen Werkzeugkoffer samt Bohrmaschine mit. Während dieses erste Kapitel mit dem archaischen Titel „Fleisch“ trotz melancholisch-depressiver Grundstimmung sehr makaber-humorvoll geschrieben ist und bildhaft an Filmen von Aki Kaurismäki denken lässt, geht es im zweiten Hauptkapitel „Narben“ überwiegend ernsthafter zu.

Schon während der Fahrt ins Hotel Silence wird klar: das von der Autorin anonym gelassene Land ist vom Krieg nicht nur äußerlich schwer gezeichnet und zerstört. Schnell gewinnt Jónas das Vertrauen der zwei Geschwister Mai und Fifi, die das Hotel momentan betreiben, indem er handwerklich sehr geschickt repariert, was ihm aufgetragen wird. Dabei erzählen ihm die Menschen in der Stadt von den grausamen Gräueltaten und persönlichen Schicksalen – die meisten Männer sind ermordet worden und die verbliebenen Frauen seelisch verwundet. Die Wiederaufbauarbeiten im Außen heilen allmählich auch Jónas im Inneren und die Verbundenheit mit den Menschen wirkt wie ein Pflaster auf seinen Narben. Nach und nach erweckt auch Mais kleiner Sohn Adam wieder zum Leben, nachdem er aufgehört hat zu sprechen und in schwarz-roten Zeichnungen seinem Bild der Zerstörung freien Lauf lässt. Jónas erkennt: „In einem Land des Todes ist es weniger dringend, zu sterben.“ (S. 125)

Auður Ava Ólafsdóttir ist eine brillante Komponistin ihrer Erzählungen – mit knapp-pointierten Sätzen und vielen treffenden Zitaten aus der Literatur und Lyrik zeichnet sie ein dichtes, bewegendes und sehr menschliches Bild von Trauer, Schmerz sowie Zerstörung, das viel Platz für eigene Gedanken und die aufkeimende Hoffnung lässt. Dabei changiert sie in einer stilistisch faszinierenden Sprache gekonnt zwischen Ironie, schwarzem Humor und viel Tiefgründigkeit. Dass sie den Ort der Handlung nie namentlich benennt und metaphorisch einige Kriegsschauplätze in diesen verwebt, könnte in Zeiten des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nicht aktueller sein. Auch ihre erzählerischen Bilder sind sehr eindringlich: das Wandmosaik, ein Postkarten-Ständer oder Plattenspieler, die den Krieg überlebt haben sowie Jónas' Selbsterforschung anhand alter Tagebücher und der neuen Sprache: „Wie viele Wörter braucht man, um zu überleben?“ (S. 183)

Ein wundervoller, tiefsinniger Roman zwischen Humor und Ernst, ausgezeichnet mit dem Preis des Nordischen Rates, der trotz fließend-leichter Unterhaltung existenzielle Fragen behandelt – und stark nach einer adäquaten Verfilmung ruft.

Bewertung vom 09.07.2023
Flüchtige Freunde
Caritj, Anna

Flüchtige Freunde


gut

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Die amerikanische Autorin Anna Caritj verwebt in ihrem atmosphärischen Debütroman „Flüchtige Freunde“ die mentale Entwicklung einer jungen, instabilen Frau mit einem mysteriösen Vermisstenfall an einem Campus.

Leda ist an ihrer Universität in einer Schwesternschaft – nach dem Tod ihrer Mutter, den sie noch nicht verarbeitet hat und als Trauma in sich verkapselt trägt, verspricht sie sich dort Halt und Zugehörigkeit. Nach einer exzessiven Partynacht an Halloween, bei denen viele junge Männer und Frauen jegliche Hemmungen verlieren, wacht Leda ohne Erinnerung und einer blutigen Lippe auf. Sie fragt sich, ob sie in dieser Nacht Sexualverkehr mit ihrem Schwarm Ian hatte und ob dieser einvernehmlich war. Und gleichzeitig verschwindet nach dieser Party ihre flüchtige Bekannte im Schwanenkostüm Charlotte und ist nicht auffindbar. Wurde sie vergewaltigt und umgebracht?

Während am College-Campus großflächige Suchaktionen, Diskussionen und gesellschaftspolitische Events zu Charlotte stattfinden, verstrickt sich Leda in ihren Projektionen auf Charlotte immer mehr in ein verwirrendes Gedankenkarussell und in ein fast schon wahnhaftes Verhalten. Sie sucht Charlottes Haus auf, nimmt sich dort eine Reihe privater Postkarten mit und macht sich obsessiv auf die Suche nach Charlottes letzten Tagen und Verbleib. Dabei sucht Ian immer wieder Kontakt zu ihr – kann sie ihm vertrauen und was genau ist in der Halloween-Nacht passiert?

Packend und bewegend dringt Anna Caritj dabei in einer Art des ewigen Monologs tief in die Gedanken und Seele der Protagonistin ein – auch wenn sich vieles dabei wiederholt, sind die Erinnerungsfetzen an ihre Mutter gemischt mit ihrer Unsicherheit in Sachen Sex, Verbundenheit und Liebe sehr greifbar. Dabei nutzt die Autorin treffsicher-schöne Metaphern aus der Astronomie oder Tierwelt und nimmt erzählerisch jedes Detail in der Umwelt wahr. Filmisch und dicht schildert sie zudem das Campusleben und die anderen Handlungsorte wie Charlottes Haus oder Farm, in der sie das rabiate Herdenverhalten der Ziegen ausführlich beobachtet. Darüber hinaus spricht Caritj durch Ledas verworrene Wahrnehmung einige gesellschaftspolitische Themen an, allen voran selbstbestimmte Sexualität und Vergewaltigung. Aber auch Familie, Freundschaft, Trauer, Unsicherheit in Bindungen und die Suche nach Zugehörigkeit spiegeln sich vage im Roman, während so manche Hauptfigur wie Ian sehr blass in der Charakterzeichnung bleibt.

Doch leider stolpert das vielversprechende Debüt am Ende über das eigene Konstrukt – Leda versucht ihr verdrängtes Trauma und den After-Party-Blackout mit Charlottes Verschwinden zu verknüpfen und aufzulösen. Das schafft sie auch, aber nachdem in unzähligen, treibenden Kapiteln voller Zerrissenheit, Bedrohungen und drehender Bewegung mit repetitiven Fragen ein großer Spannungsanstieg konstruiert wurde, fällt die Auflösung und Heilung des Traumas psychologisch sehr knapp und unglaubwürdig aus. Auch die anfänglichen Bezüge zur Leda-und-Zeus-Mythologie (Originaltitel) verlaufen sich gnadenlos im Sande.

Trotzdem bleibt Anna Caritj eine sprachlich talentierte Autorin, von der gespannt erwartet werden darf, was noch von ihr erscheinen wird!