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amara5

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Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 13.03.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Grandiose Hommage
Der preisgekrönte Autor Percival Everett erzählt die „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ raffiniert neu und erschafft damit ein kluges, präzise durchdachtes Meisterwerk, das bewegend die Stimme des Sklavenjungen Jim (James) in den Vordergrund rückt – dabei verwebt Everett brutale Szenen mit ausgeklügelter Lakonie.

Die Eckpfeiler des Romans von Mark Twain aus dem Jahr 1884 stimmen auch in „James“ überein – voller Abenteuer ziehen Jim und Huck kurz vor dem Bürgerkrieg auf dem wilden Mississippi ihre verschlungenen Bahnen, aber eindringlich erzählt wird die Geschichte von Jim, der der barbarischen Sklaverei zwar entflohen ist, aber seine Frau und Tochter zurücklassen musste und ständig in Lebensgefahr schwebt. Huck wird von seinem Vater misshandelt und ist vor dieser häuslichen Gewalt ausgerissen. Jim ist ein sehr schlauer, belesener Kopf, der die Welt philosophisch betrachtet und seine Gedanken schriftlich festhält. Vor Weißen stellt er sich mit einem Dialekt absichtlich dumm, um nicht aufzufallen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn es drauf ankommt, kann er Gewalt anwenden, auch wenn er sonst eher mit Empathie ausgestattet ist. Er wechselt permanent zwischen seinen zwei Seiten, die auch an den zwei Namen konkretisiert wird.

„Ich werde selbstverständlich empört sein. Aber mich interessiert, wie diese Zeichen, die ich auf dieses Blatt kratze, überhaupt etwas bedeuten können. Wenn sie eine Bedeutung haben können, dann kann auch das Leben eine Bedeutung haben, und dann kann auch ich eine Bedeutung haben.“ S. 62

Percival Everett hat mit „James“ nicht nur eine grandiose Hommage an Mark Twain sowie weiteren literarischen Klassikern, sondern auch eine schlaue und erschütternde Betrachtung auf Sklaverei, Rassismus und Ungerechtigkeit entworfen – Jims ergreifend-fesselnde und zugleich schwarzhumorige Reflexionen, Beobachtungen und Schilderungen werden zwar im Roman zeitlich um Jahre zurückversetzt, sind aber zeitgenössischer denn je. Mit Chuzpe und Mut reagiert Jim auf die gefährlichen Hindernisse der Reise wie Schlangenbisse, Betrüger oder Sklavenjäger und mit viel Cleverness meistert er eine packende Episode bei den Blackface-Sängern.

Der intelligente Roman mit viel Gesellschaftskritik endet mit einem fulminanten, überraschenden Finale und steckt auch zwischen den Zeilen voller Anspielungen auf literarische Figuren sowie unseren Interpretationen als Leser. Ein scharfsinniges, intensives Meisterwerk auf mehreren Ebenen!

Bewertung vom 08.02.2024
Die Hoffnung der Chani Kaufman
Harris, Eve

Die Hoffnung der Chani Kaufman


sehr gut

Regeln der Kehilla
Mit dem packenden Roman „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ setzt Autorin Eve Harris die Geschichte von Chani in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde fort – bewegend, authentisch und teils trotz ernsten Themen mit einer Brise Humor zeigt sie einen tiefen Einblick in die sehr strengen Regeln einer orthodoxen Kehilla und zeichnet ein authentisches Bild voller starker Frauen.

Chani und ihr Ehemann Baruch sind glücklich verheiratet, leben nach den Vorgaben und Traditionen ihrer jüdischen Gemeinde und Baruch möchte Rabbiner werden. Zu den von den Männern vorgegebenen Regeln gehört, dass die Frau dem Mann Kinder schenken muss und die Empfängnis muss in der „reinen Zeit“ passieren. Doch Chani hat von Spezialisten erfahren, dass ihr Eisprung noch in der unreinen Phase entsteht und das gläubige Paar steht vor einer großen Gewissensfrage. Chanis schwierige Schwiegermutter wittert schon die Chance, die Zwei auseinanderzubringen und schmiedet Intrigen.

In weiteren Erzählsträngen schildert Harris ergreifend das turbulente Leben von Rivka, ihrem Mann Chaim und den Söhnen: Rivka hat die orthodoxe Gemeinde ohne ihre Kinder verlassen, was zu großen Auswirkungen geführt hat – Chaim muss sich scheiden lassen und eine neue Frau finden, während Rivka und ihr kleinster Sohn beschimpft und bedroht werden. Der älteste Sohn Avromi schlittert währenddessen in eine tiefe Glaubenskrise, möchte das moderne Leben mit Frauen in Einklang mit den rigiden Regeln bringen und nimmt sich eine Auszeit in Tel Aviv.

Der gelungene, feinfühlige Roman glänzt durch seine emotionale Bandbreite an menschlichen Gefühlen – die Protagonisten hoffen, zweifeln, beten und manche Frauen brechen selbstbestimmt aus den starren Zwängen aus. Mit vielen jiddischen Begriffen, die im hinteren Glossarteil erläutert werden, zeichnet Harris ein tiefgreifendes, dichtes Bild vom traditionellen Leben in einer orthodoxen Glaubensgemeinschaft mit allen Höhen und Tiefen. Eine lesenswerte, flüssig geschriebene Fortsetzung, die auch ohne den ersten Teil zu kennen verständlich ist und tief in den Lesesog zieht.

Bewertung vom 26.01.2024
OUTLIVE
Attia , Peter

OUTLIVE


sehr gut

Vitales Älterwerden
Der durch seine Gesundheit-Podcasts bekannte onkologische Arzt Peter Attia hat sein gesamtes Fachwissen zur Langlebigkeit nun auf über 600 Seiten in dem spannenden Sachbuch „Outlive“ zusammengetragen. Dabei geht es ihm nicht nur um das rigide Altwerden, sondern um eine vitale Lebensqualität mit einer langen Gesundheitsspanne im Alter.

In einer ausgewogenen Mischung aus fundiertem wissenschaftlichen Fachwissen und einer authentisch-persönlichen Ich-Perspektive mit zahlreichen Anekdoten aus dem Privat- und Arbeitsleben hat Peter Attia ein faszinierendes Nachschlagewerk geschaffen, das aufgrund seiner Fülle an wichtigen Informationen immer wieder zum Reinlesen inspiriert. In drei großen Teilen schildert er zuerst die Präventivmaßnahmen, die das Konzept der Medizin 3.0 bieten kann – leider als Laie teils kompliziert nachzuvollziehen und höchstwahrscheinlich schwierig, solche innovativen Untersuchungen beim ansässigen Hausarzt zu erhalten.

Danach stellt er die „großen apokalyptischen Reiter des Alterns“, sprich die tödlichen Zivilisationskrankheiten unserer modernen Gesellschaft vor (Krebs , Typ-2-Diabetes , Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer) – seine Schilderungen lesen sich soghaft und packend wie ein Kriminalroman und so dauert es auch nicht lange, bis Attia im letzten Hauptteil auf praxisnahe Lösungen für ein gesundes, langes Leben eingeht. Hier treffen sich alte Bekannte des gesunden Lebens wie adäquate Bewegung, Ernährung samt Diäten und Nahrungsergänzungsmittel, erholsamer Schlaf sowie die Bedeutung der psychisch-emotionalen Heilung und Gesundheit.

Obwohl hier einige Themenbereiche kein Neuland sind, besticht Attia auch hier mit seinen persönlichen Erfahrungen und einem feinfühligen Humor zwischen den Zeilen. Das macht diesen präzise recherchierten Leitfaden (mit langem Anhang) zu einem gesunden Älterwerden zugänglich sowie flüssig lesbar ohne erhobenen Zeigefinger und inspiriert nach der Lektüre, selbst die Fäden der Selbstfürsorge in die Hand zu nehmen und einige von Attias erläuterten Strategien motiviert anzugehen.

Bewertung vom 06.12.2023
Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?
Dinsing, Casy M.;Seul, Shirley Michaela

Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?


sehr gut

Wege zu Zweit
Die psychologische Beraterin Casy M. Dinsing erläutert in ihrem fundierten Ratgeber „Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?“ auf unterhaltsame Weise auf knapp über 200 Seiten typische Stolperfallen, in die eine Beziehung im Alltag schlittert, und wie man diese gemeinsam überwinden kann, bevor es zu einer endgültigen Trennung kommt.

In zahlreichen kompakten Kapiteln bündelt Dinsing eine ganze Bandbreite an Themen (überwiegend aus der weiblichen Perspektive) wie Arbeitsteilung, Ordnung, Eifersucht, Ängste, Selbstwert, Einkommen, Herkunftsfamilie und einiges mehr – dabei flechtet sie kurze, spannende Fallbeispiele aus ihrer Praxis und am Ende jedes Themenbereiches hilfreiche „Drei Fragen, die dich weiterbringen“ in einen Kasten mit ein. Stets liegt der interessante Augenmerk auf einer direkten Kommunikation, ehrlichen Selbstreflexion und auf einer Spiegelung der verschiedenen Sicht-/Denkweisen, was zu einleuchtenden Erkenntnissen führt, auch wenn die ein oder andere Stilisierung zu klischeehaft erscheinen mag. Sehr faszinierend sind Dinsings Schilderungen zu Mustern, Rollen und Glaubenssätzen in einer Beziehung gelungen – was bringen wir aus unserer Ursprungsfamilie mit und in welche wechselnden Rollen hüpfen wir in einer Beziehung?

Die Autorin hat einen sehr präzisen, humorvollen Schreibstil und ein großes psychologisches Fachwissen in Sachen Beziehungen, was die angesprochenen, teils sehr ernsten Themen sehr anschaulich, verständlich und locker lesen lässt. Casy M. Dinsing, die nebenbei noch einen empfehlenswerten Youtube-Kanal names „Better Call Casy“ betreibt, ist eine kluge Analystin von zwischenmenschlichen Verhaltensweisen in einer Paarbeziehung und sorgt in ihrem lesenswerten Ratgeber für einige Aha-Momente, die sie kurz und prägnant auf den Punkt bringt. Am Ende des Buches befindet sich noch ein Online-Zugang zu weiterführenden Übungsmaterialien, wobei der Ratgeber alleine schon sehr viele hilfreiche Tipps und Lösungsansätze gegen den Beziehungskollaps im Alltag bereithält, in denen sich sicherlich einige Leser*innen wiederfinden werden und die den eigenen Blickwinkel um den des Partners erweitern – damit der Weg zu Zweit respektvoll und harmonisch weitergeht.

Bewertung vom 24.11.2023
MARCO POLO Trendguide Wohin geht die Reise?

MARCO POLO Trendguide Wohin geht die Reise?


ausgezeichnet

Qual der Wahl
Im neuen MARCO POLO Trendguide 2024 „Wohin geht die Reise?“ werden auf knapp 200 Seiten überraschende Reiseziele zum (Wieder-)Entdecken vorgestellt – wunderschön-modern bebildert und präzise strukturiert werden nach den vier Kriterien Noch unentdeckt, Neuer Glanz, 2024 Erleben und Nachhaltig 30 faszinierende Ziele in Deutschland/Europa sowie zehn exotische Ziele weltweit vorgestellt.

Im handlichen und haptisch hochwertigen Format lädt der Trendguide ein, bekannte Ziele neu zu entdecken oder zeigt noch eher unentdeckte Reiseziele wie die schöne Insel Poel, das schweizerische Biel, die malerische Basilikata in Italien oder die traumhaften britischen Scilly-Inseln auf. Dabei helfen vorangestellte Register und Landkarten zur genauen Orientierung und nach jeder Vorstellung gibt es hilfreiche weiterführende Informationen zur Anreise, Reisezeit und Budgetplanung in einem kleinen Kasten. Die Vorstellungstexte sind flüssig und leicht verständlich geschrieben sowie in To Do und To See mit überraschenden Tipps versehen.

Auch kommen kleine Anekdoten zu den Städten wie der Hollywooddreh von Tarantino in Görlitz oder Darmstadts Namensinspiration für einen Planeten sowie eines chemischen Elementes nicht zu kurz. Darüber hinaus finden auch Abenteuer-Outdoor-Fans ihre Traumziele – der vorgestellte Transcaucasian Trail zwischen Armenien und Georgien, das Sharri-Gebirge zwischen Kosovo und Mazedonien sowie der kroatische Camino Krk laden zu traumhaft-außergewöhnlichen Wanderungen ein, während verschiedene märchenhafte Seen und Meere zum Baden motivieren. Und wieder stechen die grandiosen Bilder und das tolle Layout des kompakten Reiseführers ins Auge.

Ein sehr gelungener, inspirierender und facettenreicher Trendguide, der Städte, Inseln, Länder und Natur harmonisch verbindet und der dazu einlädt, immer wieder durchgeblättert zu werden, um sich traumhaft-frische Ziele für das kommende Jahr auszusuchen – die Qual der Wahl bleibt bei diesen 40 angesagten Trendzielen beim Leser.

Bewertung vom 27.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Kunst im Grauen
Der deutsch-österreichische Bestseller- Autor Daniel Kehlmann legt mit „Lichtspiel“ einen grandiosen Roman vor, in dem er biografische Eckdaten des großen Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) mit einer fiktiven Geschichte über das Überleben im Nationalsozialismus verbindet. Brillant komponiert, düster-lakonisch getroffen und absolut packend zeigt er, wie angepasste Kunst durch Unterwerfung unter der NS-Diktatur weiterlaufen kann und wie Menschen schleichend zu Mitläufern wurden.

Aus auktorialer und wechselnder Erzählperspektive schildert Daniel Lehmann, wie der gefeierte und links angehauchte Stummfilm-Regisseur („Die freudlose Gasse“, „Die Dreigroschenoper“ oder „Die weiße Hölle vom Piz Palü“) G.W. Pabst zuerst in Sicherheit „draußen“ im Exil in den USA war, dort aber keinen adäquaten Einstieg in die Filmbranche erhält. Zusammen mit seiner Frau Trude und seinem Sohn Jakob tut er das Unglaubliche und geht zurück ins angeschlossene Österreich – auch weil seine geliebte Mutter krank ist. Wieder „drinnen“ im Nationalsozialismus, werden bald die Grenzen geschlossen, der Zweite Weltkrieg beginnt und die Familie kann nicht wieder zurück – sie muss innerhalb des NS-Systems überleben und Pabst wird bald von Nazi-Propagandaminister Goebbels unter übler Androhung als Filmemacher rekrutiert. Schon bald fügt sich der Meister des Filmschnitts und G.W. Pabst will erneut große Kunst erschaffen.

„Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“

Finster, eindringlich und mit subtiler Lakonie zeigt sich, wie die Familie sich anpasst: Jakob wird selbst Jung-Nazi, Trude erliegt dem Alkohol, denn nur so erträgt sie die bitteren Begegnungen in ihrem Karrasch-Lesezirkel und Pabst arrangiert sich. Der Roman lebt von der faszinierenden, einzigartigen Sprache, den scharfsinnigen Beobachtungen und den filmischen Beschreibungen – jedes Kapitel ist perfekt aufgebaut und leuchtet zudem mit zahlreichen kinematografischen Details Pabst' Karriere auf. Als kleiner roter Faden dient sein Film „Der Fall Molander“, an dem Pabst besessen mitten im Krieg arbeitet und dessen Material zu Kriegsende verschwunden ist.

Es ist ein grauenhaftes, brutales Setting, in dem die Shoah beginnt und die Deutschen versuchen, durch Angepasstheit zu überleben. Und trotzdem gelingt Kehlmann das Unfassbare, auch ironischen Humor, böse Situationskomik, bizarr-groteske Szenen und große Spannung einzubinden – fast erscheint „Lichtspiel“ selbst als ein intensiv inszenierter Stummfilm, in dem die Protagonisten mit dem Böse ringen und ihre moralische Unschuld verlieren. Ein Highlight, in dem viele schaurige Szenen ergreifend nachhallen.

Bewertung vom 11.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


sehr gut

Der Erinnerungstourist
Mit seinem Debüt „Kajzer“ geht der kanadische Journalist und Autor Menachem Kaiser auf komplexe, persönliche und tiefgreifende Suche nach seiner Familiengeschichte und einem von den Nationalsozialisten enteigneten Haus in Sosnowiec im heutigen Polen. Dabei öffnet Kaiser Stück für Stück das packende Abenteuer der Erinnerung und des Erzählens, denn seine mit vielen Überraschungen gespickte Suche verläuft verschlungen und es ergeben sich immer weitere Geschichten hinter der eigentlichen Erzählung, die zu einem facettenreichen und packenden Gesamtnarrativ werden.

Menachem hat seinen Großvater, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat, durch dessen frühen Tod nie kennengelernt und auch mit seinem Vater wurde nie über die Geschichte gesprochen. Nur ein enteignetes Haus in Schlesien bleibt noch als symbolische Tür zur Erinnerung – jahrelang hat der Großvater darum gekämpft, das Eigentum zurückzubekommen, ist aber gescheitert. Nun macht sich Enkel Menachem mit Hilfe einer Anwältin als sogenannter Erinnerungstourist auf die abenteuerreiche Spurensuche des jüdischen Erbes seiner Ahnen in Polen und entdeckt dabei im Dickicht von unerwarteten Begegnungen, Bürokratie, Unausgesprochenem und weiteren historischen Plündereien sowie Mysterien viele weitere Geschichten und sogar einen unbekannten Verwandten, über die der Autor brillant reflektiert. Der Cousin seines Großvaters, Abraham Kajzer, war Holocaust-Überlebender und ein so faszinierender Vorfahre mit hinterlassenen Memoir-Aufzeichnungen, dass er Menachem zu einer eigenen Geschichte verknüpft, mit den Gemeinsamkeiten der Schatzsucher inspiriert. Dabei trifft er auch auf ominöse Verschwörungstheorien, die an Aktualität in der heutigen Zeit nicht an Brisanz verlieren und mündet schließlich in einer Erzählung des Verlustes, hinterfragt stets sein eigenes Handeln.

In vier Teilen erstreckt sich Menachems bewegende Suche über mehrere Jahre – trotz sehr ernstem Hintergrund erzählt der Autor mit satirisch-lakonischem Humor und spricht seine Leser*innen zwischendurch persönlich an, was seine klugen Gedanken zu Erbe, Erinnerungskultur, Familie und Verstrickungen sowie das Geschichtenerzählen an sich noch eindringlicher machen. Dabei webt er historische Eckpunkte, aber auch zahlreiche weitere Gedankengänge wie über Schatzsucher untertage in einem immensen Tunnelsystem ein.

Manchmal ergeben sich dadurch leichte Längen, aber insgesamt sind Kaisers Erkenntnisse ergreifend, philosophisch und scharfsinnig – kreisen sie über die menschliche Existenz und die Fähigkeit, sich durch Erinnerung und Familienerbe seine eigene, verschlungene Erzählung über das Leben zu erschaffen. Und hinter allem schwingt subtil das kollektive Traumata der Shoah mit. Ein nicht ganz einfaches, aber sehr kluges Sachbuch mit vielen Querverweisen und vielschichtigen Denkanstößen.

Bewertung vom 16.09.2023
Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?
Nex, Sally

Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?


ausgezeichnet

Ökologisch Gärtnern leichtgemacht

In dem inhaltlich und haptisch sehr hochwertigen Selbstanbau-Ratgeber „Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?“ bündelt die Journalistin und preisgekrönte Gartenbuchautorin Sally Nex ihr über Jahre angesammeltes versiertes Wissen rund um ökologisches Gärtnern und glückliches Obst sowie Gemüse. Und so außergewöhnlich-humorvoll der Titel und die Fragen in den fünf verschiedenen, gut gegliederten und übersichtlichen Kapiteln klingen, so präzise hilfreich-informativ sowie praxisnah sind die Antworten für alle Profi- und Hobbygärtner im Eigenanbau.

Verziert mit zahlreichen wunderschönen Grafiken und Bildern auf jeder Seite bereitet das Durchlesen der verschiedenen pfiffig und zugleich sehr gut zusammengefassten Antworten aus einem breiten Themenspektrum große Freude – dabei kann der Leser selbst entscheiden, ob er eine Langfassung oder eine komprimierte Antwort im kleinen Kasten erhalten möchte. Sally Nex legt seit Langem großen Wert auf nachhaltiges, autarkes Gärtnern/Selbstversorgung ohne Plastik sowie Chemikalien und gibt unterteilt in den fünf großen Kapiteln „Was baue ich an?, „Wo baue ich an?“, „Erlebnis Eigenanbau“, „Wer knabbert an meinen Pflanzen“ sowie „Ernten und Verarbeiten“ auf unterhaltsame und zugleich professionell-verständliche Weise Schritt-fürSchritt-Hilfestellung zu anfallenden Gartenfragen. Dabei schlägt Nex einen brillanten Bogen vom einleitenden Anfang über das Gärtnern am Puls der Zeit mit verschiedenen Gemüseanbautechniken des 21. Jahrhunderts, über außergewöhnliche Anbaumöglichkeiten und selbstgemachten Dünger sowie Schädlingsbekämpfung bis hin zur Magie der Wiederverwertung und faszinierenden Symbiosemöglichkeiten im natürlichen Einklang.

Auch gibt Sally Nex neben der Beschreibung zahlreicher Gemüsesorten sogar einige kleine Rezepte (selbst zur eigenen Drinkherstellung) preis – und auch der Anbau auf dem eigenen Balkon kommt glücklicherweise nicht zu kurz. Hervorzuheben ist dabei der faszinierende Augenmerk auf die Artenvielfalt und ein grünes, entschleunigtes Gärtnern mit der Kraft der Natur, bei dem nichts perfekt sein muss, sondern glückliches Gemüse und somit ein glückliches, unabhängiges sowie klimafreundliches Gärtnern entsteht. Versehen mit unheimlich vielen nützlichen Extra- sowie DIY-Tipps lässt dieser kompakt-originelle Ratgeber mit einzigartigem Layout, altem und neuen Wissen keine Fragen offen und inspiriert zum glücklichen Losgärtnern und dem Verzehr von selbst angebautem Gemüse.

Bewertung vom 08.09.2023
Prophet
Blaché, Sin;Macdonald, Helen

Prophet


sehr gut

Formen der Nostalgie
Gleich zwei Autorinnen haben in dem außergewöhnlichen, über 500 Seiten starken Mystery-Thriller-Roman „Prophet“ ihrer fantasievollen Erzählkunst freien Lauf gelassen und ein Gesamtwerk geschaffen, das Genres sprengt und eine queere Romanze zwischen zwei Ermittlern mit actiongeladenem Science-Fiction-Horror vereint. Sin Blaché und Helen Macdonald erzählen dabei mit viel subtilem Humor, starken Dialogen und in einem dichten, surrealen Setting, in dem Nostalgie zur Todesfalle wird.

In Suffolk an der englischen Ostküste geschehen ominöse Dinge – mitten aus dem Nichts taucht in der Nähe einer Air Base-Station ein beleuchtetes American Diner auf und das ist erst der Anfang einer Kette voller mysteriöser Todesfälle, in denen sich Menschen mit nostalgischen Dingen aus ihrer Vergangenheit gefährlich vereinen. Die zwei sehr gegensätzlichen Agenten Adam Rubenstein und Sunil Rao werden vom Geheimdienst darauf angesetzt, die gruseligen Vorfälle schnell aufzuklären und geraten dabei in verschiedenen Ländern selbst in Gefahr – denn Ursprung des Horrors ist eine drogenähnliche, menschengeschaffene Chemiewaffe namens „Prophet“, die außer Kontrolle geraten ist und im rasanten Verlauf des Thrillers bald virushaft die ganze Menschheit bedroht. Verschiedene Sphären und korrupte Machenschaften prallen temporeich aufeinander und „Prophet“ hat unerwartete Twists, die die düster-packende Horror-Grundstimmung aufrecht erhalten, während sich Rubenstein und Rao romantisch annähern und sich philosophische Diskurse über die Macht von Nostalgie, Erinnerung und Vergangenheit geben.

Blaché und Macdonald verweben in ihrem spannenden, faszinierenden Roman nicht nur ihre breitgestreute, kreative Affinität zu übersinnlicher Science-Fiction mit brisanten Anleihen zu Gegenwartsfragen, sondern beweisen mit ihrer berührenden Liebesgeschichte auch ihr Feingefühl für scharf beobachtete zwischenmenschliche Gesten und Emotionen. Auch wenn „Prophet“ hier und da zu einigen Längen, Pathos und hoher Drehzahl tendiert, sticht das Werk mit seiner Andersartigkeit heraus und zeugt von einfallsreicher Kunst des unterhaltsamen Geschichtenerzählens.

Bewertung vom 01.09.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Brunnen der Erinnerung
Mit „Das Pferd im Brunnen“ veröffentlicht die bekannte Schauspielerin Valery Tscheplanowa ein bemerkenswertes literarisches Debüt, das mit Sinnlichkeit, Lakonie und sprachlicher Raffinesse kaleidoskopartig den familiären Wurzeln und facettenreichen Erinnerungen in der ehemaligen Sowjetunion nachspürt.

Anhand von vier Frauengenerationen (Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und der klug-reflektiert erzählenden Tochter) webt Tscheplanowa voller poetischer und berührender Sprachbilder ein dichtes Geflecht von starken Frauen, die das Familienleben abseits der Männer am Laufen halten, und flechtet gekonnt historische Zeitgeschichte ab Mitte des 20. Jahrhunderts mitein. Einst wie Protagonistin Walja in einem Kurort bei Kasan geboren und nach Deutschland ausgewandert, erzählt die Autorin hier zwar autofiktional, aber stark autobiografisch geprägt von der Annäherung an die russische Heimat. Ihre Themen sind neben dem schwierigen Weiterleben nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion das Sterben, die Liebe und die Suche nach Verbundenheit sowie verlorener Zeit. Dabei beobachtet sie die liebenswerten, verschrobenen Eigenarten ihrer Protagonist*innen ungemein subtil, detailliert sowie schwarzhumorig und setzt sie präzise mit umwerfenden Metaphern in ihre Umgebung und landespezifischen Prägungen.

Das titelgebende Pferd liegt einer weitergetragenen Erzählung von Onkel Mischa nach als Gerippe auf dem Grund eines stillgelegten Brunnens – Ich-Erzählerin Walja blickt bei ihrer Rückkehr ins Haus ihrer Kindheit nach Kasan auch eindringlich-faszinierend in den Brunnen ihrer lebendigen Erinnerung der familiären Herkunft. Dabei geht Tscheplanowa erzählerisch in den Zeiten sprunghaft und episodisch vor – kleine, voneinander autonom wirkende Kapitel schildern mit sprachlicher Wucht und Nuanciertheit das Alltagsleben der Frauen in Kasan, aber auch das der Protagonistin in Deutschland an einer Bundesstraße. Und doch ergeben die gewürfelten Erinnerungsfragmente am Ende ein stimmiges Gesamtbild über den stetigen Rhythmus des harten Lebens in der alten Heimat und Walja resümiert ergreifend, was sie alles von den disziplinierten Frauen in sich trägt trotz dem unaufhaltsamen, schnellen Lauf der jahrzehntelangen Zeit.

„Wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne unter meiner Haut ihre Haut. Sie hat sich in mich verwandelt, ich erzähle sie weiter, bin ihr Echo. Unsere Haut ist eine Geschichte, die wir fortschreiben. Wir beschreiben sie mit den Kümmernissen und Freuden, die sich in sie eingraben.“ (S. 187)

Ein bewegendes, kraftvolles und zugleich feinfühliges Debüt voller schillernder Sätze, empathischer Beobachtungen und poetischen Reflektionen über die menschliche Existenz!