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si_liest
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Lörrach

Bewertungen

Insgesamt 44 Bewertungen
Bewertung vom 29.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Mit der irisch-gälischen Sprache bin ich das erste Mal während eines Irland-Aufenthaltes 2003 in Kontakt gekommen. Bis dahin war mir nicht bekannt, dass diese Sprache immer noch sehr lebendig ist und durchaus von einigen (wenigen) Menschen gesprochen wird. Umso schöner fand ich es, diesen Text einer irischen Dichterin zu lesen und einige gälische Wörter zu sehen – auch wenn ich sie nicht verstehe.
Doireann Ní Ghríofa ist mit diesem Buch ein außergewöhnliches Stück Literatur gelungen, welches sich wohltuend vom Mainstream abhebt. Kategorisieren kann man den Text nicht wirklich – er ist eine Mischung zwischen biographischem Schreiben, Übersetzung und Autofiktion. Zentrales Thema ist dabei die irische Adlige und Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die im 18. Jahrhundert gelebt hat und die ein in der irischen Literaturgeschichte sehr bekanntes Klagelied auf den Tod ihres Ehemannes und Geliebten Art Ó Laoghaire geschrieben hat. Die Autorin beginnt in einer sehr intensiven Zeit, nämlich in der Zeit, in der sie mit ihren Kindern zu Hause ist und sich ihr Alltag zwischen Haushalt, Stillen und Erziehung bewegt, die Geschichte hinter diesem Klagelied zu erforschen und steigert sich mehr und mehr in eine Besessenheit hinein, welche sie kaum mehr loslässt. Sie verwebt dabei die moderne und die damalige Zeit sehr geschickt; Stück für Stück setzt sie die historischen Hintergründe zusammen, immer wieder unterbrochen von Schilderungen aus ihrem eigenen Alltag und Gedanken über ihre Verwundbarkeit und Verletzlichkeit. Es geht hauptsächlich um die Themen Mutterschaft, Partnerschaft, Elternschaft – immer wiederkehrendes Motiv ist die Milch - aber auch um die Sinnsuche im Alltag und letztendlich um Besessenheit. Die Autorin erwähnt dabei wiederholt „Dies ist ein weiblicher Text“ um zu zeigen, dass dies nur eine weibliche Art zu leben unter vielen ist, was ich sehr interessant und wichtig finde.
Mir persönlich hat das Buch wahnsinnig gut gefallen. Es ist ein lyrischer und poetischer Prosatext, ruhig und melancholisch; man merkt, dass die Autorin schon einige Lyrik-Bände veröffentlicht hat. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass das Buch polarisiert, denn einfach so weg lesen kann man es nicht, man muss sich wirklich darauf einlassen. Dann wird man meiner Meinung nach jedoch belohnt mit einem wertvollen Leseerlebnis, bei dem sich die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit auflösen.

Bewertung vom 16.03.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


gut

Ein Segeltörn in die schwedischen Schären – was auf den ersten Blick sehr idyllisch scheint, entwickelt sich nach und nach für die Beteiligten zu einem Albtraum.
Der erfolgreiche Anwalt Andreas bricht mit seiner Frau Caroline und seinem Anwaltskollegen Daniel, dessen Frau Tanja sowie dem Skipper Eric zu einer Segel-Reise auf. Zu Beginn herrscht bei gutem Wetter und gutem Essen noch Hochstimmung an Bord, die beiden Paare scheinen die Reise zu genießen. Doch je weiter der Segeltörn voranschreitet, desto schlechter wird das Wetter und desto mehr Konflikte und Unstimmigkeiten treten zu Tage. Bis sich letztendlich eine Katastrophe abzuzeichnen beginnt…
Im Großen und Ganzen hat mir der Roman gut gefallen. Die Autorin schreibt sehr atmosphärisch, man hat die schwedische Natur und das Meer praktisch vor Augen. In den ersten zwei Dritteln der Handlung wird Stück für Stück Spannung aufgebaut, es werden geheimnisvolle Andeutungen gemacht und die Machtverhältnisse der Figuren untereinander werden sehr klar gezeichnet. Mit der Zeit verschwimmen die Machtverhältnisse oder lösen sich auf, was ich sehr interessant gefunden habe. Der langsame Spannungsaufbau animiert auch zum Weiterlesen, so dass ich das Buch recht flott gelesen habe.
Was mich persönlich jedoch enttäuscht hat, war der Schluss. Gegen Ende wird die Geschichte meiner Meinung nach ziemlich unglaubwürdig und die Geheimnisse, von denen ich mir eine überraschende Auflösung erhofft habe, haben sich als regelrecht banal herausgestellt. Zudem kamen mir die Ereignisse am Schluss überstürzt vor; hier hätte ich mir ein paar Seiten mehr gewünscht, um zu einem runden Abschluss zu kommen.
Trotzdem habe ich das Buch gerne gelesen – alleine schon wegen der Atmosphäre an Bord eines Segelschiffes – und kann es als spannende Lektüre, die sich schnell und flüssig liest, weiterempfehlen.

Bewertung vom 27.02.2023
Aus ihrer Sicht
Céspedes, Alba de

Aus ihrer Sicht


gut

Alessandra wächst in den 30er Jahren in Rom auf. Die Mutter, eine feinsinnige, sensible Frau, leidet unter dem patriarchalen Machtgefüge der Ehe und der Lieblosigkeit ihres Ehemannes. Frauen, so scheint es, sind einzig dazu da, dem Ehemann den Rücken frei zu halten, den Haushalt zu organisieren und die Kinder zu erziehen. Als Alessandras Mutter aus diesem Gefüge ausbrechen will, kommt es zu einem tragischen Ereignis und Alessandra wird zur Großmutter in die Abruzzen geschickt. Dort gelingt es ihr, ihre eigenen Interessen durchzusetzen: Sie darf lernen und das Examen machen. Zurück in Rom fällt muss sie jedoch die Rolle der Mutter einnehmen, da der Vater mittlerweile erblindet ist. Sie reibt sich auf zwischen Haushalt, Universität und Arbeit in einem Büro. Als sie den Philosophie-Dozenten Francesco, der im Widerstand aktiv ist, kennenlernt, scheinen sich alle ihre Träume und Hoffnungen zu erfüllen – doch schafft sie es, die alten Rollenvorstellungen hinter sich zu lassen?
Die Geschichte wird in der Rückschau aus Alessandras – „aus ihrer“ – Sicht erzählt. Die ganze Handlung und die Darlegung der Strukturen und Gefühle laufen darauf hinaus, zu ergründen, wie es zum zentralen Ereignis, welches am Ende des Romans stattfindet, kommen konnte. Die Missstände des patriarchalen Ehegefüges und die Stellung der Frau in der damaligen Zeit werden dabei sehr genau analysiert, fast schon seziert. Was mir gut gefallen hat, ist, dass im Roman unterschiedliche Frauen- und Männer-Persönlichkeiten dargestellt werden, was nochmal die typischen Gender-Klischees hervorhebt. So gibt es die männlich erscheinende Denise, die im Widerstand aktiv ist, Konkubinen wie Alessandras Freundin Fulvia, die matriarchalische Großmutter, die Mutter als feinsinnige Künstlerin, der Vater als Patriarch, Hervey als Liebhaber, dem quasi alle Männlichkeit abgeschrieben wird. Interessant fand ich auch, wie sich das patriarchale Gefüge letztendlich nicht auflöst, sondern trotz scheinbarer Gleichberechtigung beider Ehepartner bezüglich Arbeit und Bildung bestehen bleibt. Francescos Rücken wird hierbei sinnbildlich als Mauer bezeichnet, gegen die sich nicht ankommen lässt.
Was mich jedoch beim Lesen gestört hat, sind die zum Teil beträchtlichen Längen und die Redundanzen. Alessandras absolute Hingabe und ihre Fokussierung auf die Liebe, ihr schmachtendes Sehnen und ihre fehlgeleitete Leidenschaft wurden für meinen Geschmack zu oft erwähnt und zu sehr ausgeführt. Hier hätten dem Roman ein paar Seiten weniger sicher gutgetan. Auch verkümmert der zentrale feministische Gedanke, der am Anfang noch vorhanden ist, im Laufe der Handlung. Zeigt Alessandra zu Beginn noch einen großen Kampfgeist, wehrt sie sich im Verlauf gegen das Konstrukt der Ehe nur noch in Gedanken und passt sich mehr und mehr an. Sie führt ihre Suche nach Selbstbestimmung nicht weiter, sie fügt sich in ihre Rolle. Selbst ihre Handlungen im Widerstand vollführt sie nicht aus politischer Motivation, sondern um Francesco zu gefallen, um ihm zu zeigen, dass sie ihm ebenbürtig ist.
Sicher ist dies ein feministischer Roman und ein wertvolles Zeitzeugnis (die Erstausgabe erschien 1949), der jedoch das „Genderkorsett“ (siehe das lesenswerte Nachwort von Barbara Vinken) nur andeutungsweise ankratzt.

Bewertung vom 17.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


sehr gut

Liv lebt mir ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in einem Haus in Oslo und arbeitet in einem Alterspflegeheim. Von außen betrachtet scheint sie ein Bilderbuchleben zu führen; niemand sieht, mit welchen inneren Dämonen sie tagtäglich zu kämpfen hat. Als Studentin wurde Liv vergewaltigt und diese Tat hat bis heute immensen Einfluss auf ihr Leben. Sie versucht verzweifelt, ihren inneren Kampf mit der Wahrung eines geordneten Äußeren zu überdecken und verliert sich zuweilen im Konsum: sie kauft teure Kleider, Shopping scheint zu ihren bevorzugten Kompensationsmechanismen zu gehören, sie lässt sich Botox spritzen. Da ihr Alltagsleben von Angst und Panik geprägt ist, sind Schmerz- und Beruhigungsmittel ihre täglichen Begleiter. Hier kommt ihr auch ihr Job als Pflegerin sehr gelegen, denn in diesem Umfeld hat sie uneingeschränkt Zugriff auf jegliche Medikamente, was ihr Sicherheit gibt. Eine Wendung nimmt Livs Leben, als sie sich mit der Künstlerin Niki de Saint Phalle zu beschäftigen beginnt. Die Tatsache, dass diese dreiundfünfzig Jahre über eine Vergewaltigung geschwiegen und erst nach dieser langen Zeit davon erzählt hat, lässt sie nach und nach selbst in einen Prozess der Verarbeitung eintreten und zu einem Befreiungsschlag ausholen.
Dieser schmale Roman hat mich wirklich gepackt und mitgerissen, ich habe ihn praktisch in einem Rutsch gelesen. Die Autorin versteht es sehr gut, die Zerrissenheit und die innere Not der Protagonistin darzustellen. Auch die verschiedenen Ausdrucksarten von Macht werden sehr gut eingearbeitet: die Macht der Frau über den Mann, die Macht des Mannes über die Frau, die Macht der Eltern über die Kinder, die Macht der Dinge, des Konsums. Erschütternd fand ich Livs eigene Machtlosigkeit, denn sie hat die Vergewaltigung letztendlich nie angezeigt, da sie meinte, dass sie letztendlich nicht genügend Beweise habe.
Bei diesem Roman ist die Covergestaltung außergewöhnlich gut gelungen. Aus der Entfernung gesehen denkt man auf Grund der Farbe an einen Feel-Good-Roman, aber bei genauerem Hinsehen erkennt man die Scherben, was nochmal schön die Thematik des Romans aufgreift. Auch die Abbildungen von Niki de Saint Phalle im Vor- und Nachsatz finde ich sehr passend.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die Nebenfiguren im Roman sehr blass bleiben. Dies ist vielleicht auch etwas der neutralen Sprache geschuldet, aber letztendlich blieben mir Livs Ehemann, ihre Kinder und ihre Freundin Frances seltsam fremd. Zudem fand ich die Form manchmal irritierend, denn es hat doch ab und zu verhältnismäßig große Absätze im Text.
Ein sehr lesenswerter, packender Roman, der unter die Haut geht.

Bewertung vom 09.11.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


sehr gut

2017 habe ich im Kino den Film „Sami – A tale from the North“ von Amanda Kernell angeschaut, ursprünglich, um meine Schwedisch-Kenntnisse ein wenig zu trainieren. Ich hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass mich der Film noch tagelang beschäftigen würde – ich war erschrocken und beeindruckt – da ich mich davor eigentlich nicht mit der Thematik beschäftigt habe. Deshalb ist mir die Problematik, mit der sich die Sámi konfrontiert sehen, nicht gänzlich neu. Trotzdem konnte ich beim Lesen noch so einiges dazu lernen, gerade was die Rechte und Strukturen innerhalb der Bevölkerung betrifft.
Die 9-jährige Elsa wohnt mit ihrer Familie, die von der Rentierzucht lebt, in einem Sameby im Norden Schwedens. Als sie mit ansehen muss, wie ihr geliebtes Rentierkalb Nástegallu von einem Schweden -der ihr zudem noch damit droht, sie umzubringen, sollte sie ihn verraten- getötet wird, verändert sich ihr Leben für immer. Fortan lebt sie in Angst, die mit den Jahren in Wut und Verzweiflung umschlägt, welche ihr jedoch auch die Kraft geben, für ihren Platz in dieser bedrohten Welt zu kämpfen.
Ohne Zweifel ist der Roman „Das Leuchten der Rentiere“ (Orig.: Stöld) von Ann-Helén Laestadius, welche selbst gebürtige Sámi ist, sehr atmosphärisch und dicht. Beim Lesen fühlt man sich sogleich mitten in die verschneite Landschaft Nordschwedens versetzt und man sieht praktisch die Mückenschwärme, die im Sommer in Massen unterwegs sind. Die Autorin bringt den Lesenden den unermüdlichen Kampf gegen den Untergang der samischen Kultur und Sprache, die Machtlosigkeit der Sámi, die Konflikte mit der schwedischen Bevölkerung und den Rassismus und die Vorurteile, denen sie ausgesetzt sind, näher. Elsa ist dabei eine sehr starke Protagonistin, deren innere Spannungen sehr bildlich und versinnbildlichend dargestellt werden. Die Erzählung ist schonungslos, gerade was Tierquälerei und Gewalt betrifft; ich musste ab und zu eine Lesepause machen. Gut finde ich auch, dass die Autorin vor Kritik an ihrer eigenen Kultur nicht haltmacht und zum Beispiel die sehr patriarchalisch geprägten Machtgefüge thematisiert.
Ab der Hälfte des Buches hatte ich das Gefühl, dass sich die Handlung etwas in die Länge zieht. Auch die Sprache kam mir zäher vor, so dass der Lesefluss bei mir ins Stocken kam. Dafür fand ich dann den Schluss wieder sehr gelungen und versöhnlich.
Der Originaltitel (übersetzt: Gestohlen) drückt für mich die ganze Machtlosigkeit der Sámi aus: Die misshandelten und getöteten Rentiere der Sami werden nur als gestohlen gemeldet; so wird nach damaliger (und aktueller?) Rechtslage diese Straftat nicht weiterverfolgt und die Anzeigen verjähren. Deshalb hätte ich es gut gefunden, wenn der deutsche Titel näher am Original wäre.
Fazit: Wer auch einmal eine andere Seite von Schweden abseits der Bullerbü-Romantik kennenlernen will, sollte unbedingt dieses Buch lesen

Bewertung vom 19.10.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Ian McEwan kann erzählen – und das tut er in seinem neuen Roman auch ausgiebig. Über 700 Seiten umfasst „Lektionen“ und keine Seite ist, entgegen meines anfänglichen Eindrucks, zu viel.
In der Beschreibung von Roland Baines‘ Leben greift McEwan eine Fülle an Themen und Ereignissen auf. Beginnend mit der Internatszeit des elfjährigen Roland, ersten sexuellen Erfahrungen, einhergehend mit sexuellem Missbrauch, der Suche nach einer Konstante im Leben, Heirat, Verlassenwerden, Vaterschaft, über Glück in der zweiten Lebenshälfte und das Alter werden so ziemlich alle Themen, die zu einer Lebensgeschichte gehören, gestreift. Die Erzählung hangelt sich an den großen Ereignissen der Weltgeschichte entlang – der Zweite Weltkrieg, die Nachkriegsjahre, die bedrohliche Atmosphäre des Kalten Krieges, Tschernobyl, der Fall der Berliner Mauer, der Beginn des Digitalen Zeitalters und nicht zuletzt der Klimawandel und die Corona-Pandemie werden mal mehr, mal weniger ausführlich in die Erzählung eingeflochten. Am Ende ergibt sich ein umfassendes Bild eines ganzen Lebens, mit allen Höhen und Tiefen und den Lektionen, die einen das Leben lehrt.
Am Anfang hatte ich etwas Mühe mit den Zeitsprüngen im Buch, es wird zum Teil ohne besondere Kennzeichnung zwischen den 80er Jahren, als Rolands Frau verschwindet, und seiner Kindheit und seiner Zeit im Internat, gewechselt. In der zweiten Hälfte wird dies jedoch besser und die Erzählung verläuft chronologischer. Dies schmälert meine Begeisterung für den Roman jedoch nicht. Ian McEwans ruhige und flüssige Erzählweise hat mich sehr gut durch das Buch getragen und ich konnte es teilweise nur schwer aus der Hand legen. Beeindruckt hat mich auch, wie gekonnt es der Autor schafft zu zeigen, dass einzelne Ereignisse sich wie ein roter Faden durchs Leben ziehen und prägend für spätere Entscheidungen und Verhaltensweisen sind, wenn auch unbewusst.
Ein trotz der beachtlichen Seitenzahl sehr kurzweiliger, lehrreicher Roman.

Bewertung vom 19.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Der schwedische Autor Alex Schulman möchte seiner unterschwellig vorhandenen, immer wieder aufwallenden Wut, für die er keine rationale Erklärung findet, auf die Spur kommen – und deckt Stück für Stück eine tragische Liebesgeschichte, die sich in seiner Familie abgespielt hat, auf.
Im Sommer 1932 lernt Karin Stolpe, Ehefrau des bekannten Autors Sven Stolpe, den jungen angehenden Schriftsteller Olof Lagercrantz kennen. Sie verlieben sich heftig ineinander und Karin ist kurz davor, Sven zu verlassen. Mittels psychischer und physischer Grausamkeiten kann dieser jedoch das für ihn Unaussprechliche, nämlich eine Trennung, verhindern und Karin bricht den Kontakt zu Olof ab.
1988: Der zwölfjährige Alex, Enkel von Sven und Karin, findet in Karins Schrank ein Bündel Briefe; es sind die Liebesbriefe von Olof, die Karin entgegen aller Behauptungen aufbewahrt hat. Als Sven dies mitbekommt, werden alte Wunden aufgerissen und ein blinder Hass, der für die Familie schon davor immer wieder sichtbar war, kommt zum Vorschein.
Gefühlvoll, differenziert und – vor allem seinem Großvater gegenüber – auch schonungslos zeichnet Alex Schulman ein Bild dieser toxischen Verhältnisse. Er begibt sich auf die Spuren einer dramatischen Liebesgeschichte, möchte genau verstehen, wie dies seine Familie nachhaltig beeinflusst hat. Immer wieder springt er zwischen den Zeiten und gerade das macht den Roman spannend bis zum Schluss. Er versucht sowohl für die Großmutter als auch für den Großvater Verständnis aufzubringen, wobei er am Schluss des Buches relativ hart mit Sven Stolpe ins Gericht geht. Er schreibt aber auch, dass er diese Beschäftigung mit der dunklen Seite seiner Familie als Chance sieht, es besser zu machen, und genau diese Aussage macht das Ende so stimmig und für mich das Buch zu einer wertvollen Lektüre.
Traurig, tragisch, toxisch – so negativ diese dramatische Liebesgeschichte auch sein mag, hat sie mir doch am Schluss gezeigt, dass es von großer menschlicher Kraft und einem gewissen Mut zeugt, diese Umstände auszuhalten. Was aber natürlich nicht die unglaublich toxische Beziehung und das Mittragen der Wut in die nachkommenden Generationen relativieren soll.
Ich habe das Buch wahnsinnig gerne gelesen, es gehört definitiv zu meinen Jahreshighlights. Eine kraftvolle Geschichte, die entgegen aller Grausamkeiten auch einen Funken Hoffnung in sich trägt.

Bewertung vom 03.09.2022
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


gut

Marie de France – vor der Lektüre von Lauren Groffs Roman „Matrix“ habe ich noch nie etwas von dieser historischen Frauenfigur gehört und musste mich zuerst schlau machen. Laut Wikipedia ist sie die erste bekannte französische Autorin, ihr Leben bleibt jedoch im Dunkeln. Bekannt ist nur, dass sie in Frankreich geboren wurde und am englischen Hof gelebt haben muss. Umso mehr war ich darauf gespannt, wie Lauren Groff dieses Unbekannte gestaltet und welche Charakterzüge und Eigenheiten sie ihr an“dichtet“.
Die Geschichte spielt im 12. Jahrhundert; Marie, groß, hager und nicht wirklich eine Schönheit, wächst nach dem Tod ihrer Mutter am Hof ihrer Halbschwester, Königin Eleonore, auf. Als Marie 17 ist, wird sie von Eleonore in ein abgelegenes Kloster geschickt, welches sie als Priorin leiten soll. Zunächst mag sie sich mit dieser ihr zugetragenen Rolle nicht so wirklich abfinden und hofft, bald wieder an den königlichen Hof zurückzukehren. Als sie jedoch merkt, dass dies nicht der Fall sein wird, nimmt sie die Geschicke des Klosters in die Hand und schafft es, aus diesem verwahrlosten und sehr armen Ort ein florierendes „Unternehmen“ zu machen, in dem die Nonnen selbstbestimmt und frei leben können.
Die Grundstimmung des Romans habe ich als eher düster, bedrückend, depressiv empfunden, was meiner Meinung nach sehr gut zum Mittelalter passt. Der monotone Schreibstil, ohne direkte Rede, trägt noch dazu bei. Leider hat mir dieser Schreibstil das Lesen erschwert, denn die Figuren, obwohl gut und teilweise relativ ausführlich beschrieben, sind mir fremd geblieben. Deshalb konnte mich der Roman bis zum Schluss nicht so recht begeistern. Ohne Frage sind die geschichtlichen Hintergründe gut recherchiert und die Geschichte baut im Verlauf eine starke feministische Aussage auf, aber die Figuren blieben blass.
Zuweilen war mir der Fokus auf die weibliche Kraft, die Liebe und die Selbstbestimmung etwas zu überzogen, zu pathetisch, zu idealisiert. Betrachtet man diesen Roman jedoch als das, was er ist, nämlich eine frei interpretierte, fiktive, fast schon märchenhaft anmutende Lebensgeschichte einer historischen Frauenfigur mit einem Augenmerk auf den Grundgedanken des Feminismus, so kann man durchaus Gefallen daran finden.

Bewertung vom 27.08.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


gut

Bei diesem Buch habe ich länger darüber nachgedacht, warum mich das Geschriebene nicht wirklich erreicht hat, obwohl ich das Thema an sich sehr spannend finde.
Marta und Daniel, beide um die Dreißig, sind dabei, langsam Fuß im Leben zu fassen, haben einigermaßen gut bezahlte Jobs und wohnen zusammen in einer Mietwohnung, als Marta zu ihrem Entsetzen bemerkt, dass sie schwanger ist. „Ich bin schwanger. Und ich will das Kind nicht bekommen.“ Dieser Satz und die möglichen Begründungen, Folgen und Emotionen sind das Hauptthema des Romans, wobei ich finde, dass die Emotionen nicht wirklich gut vermittelt werden und genau das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, wieso mich das Buch nicht vollkommen überzeugen konnte.
Man liest zu einem großen Teil das Erleben der Situation aus der Sicht von Daniel, wie er letztendlich vor allem den frühen Verlust seines Vaters zu verarbeiten versucht, indem er nun alle Hoffnungen in einen Sohn setzt (das Geschlecht des Kindes steht natürlich nicht fest) und seine Gefühle bezüglich des Abbruchs im Alkohol ertränkt. Von der weiblichen Seite erfährt man meiner Meinung nach zu wenig; Hauptthema ist hier die Karriere und die persönliche Freiheit. Ich hätte mir irgendwie eine differenziertere, weniger klischeehafte Betrachtung gewünscht. Die „Einführung ins Chaos“ ist mir hier zu sanft.
Insgesamt habe ich das Buch schnell gelesen, der Schreibstil ist flüssig, und auch wenn mir die Personen eher distanziert geblieben sind, konnte ich doch sehr gut verstehen, warum sie so handeln und was ihre Beweggründe sind. Die Charakterzüge von Marta haben mir gut gefallen, zeigt sie sich doch als starke Frau, die für ihre Entscheidungen einsteht und sie genau durchdenkt. Leider kam ihre Sicht etwas zu kurz, ich hätte gerne mehr über sie gelesen.
Eine kurze Lektüre, von der ich mir etwas mehr erhofft habe, die jedoch dem auf der Buchrückseite zitierten „realistischen Porträt einer ganzen Generation“ trotzdem gerecht wird.

Bewertung vom 27.08.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

Die namenlose Ich-Erzählerin zieht von New York nach Den Haag, um dort am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten. Langsam beginnt sie, die sich in New York nicht mehr heimisch gefühlt hat, sich in Den Haag einzuleben. Sie trifft sich mit Jana, mit der sie eine lose Freundschaft verbindet und in dem von seiner Familie getrenntlebenden Adriaan hat sie einen neuen Lebenspartner gefunden. Als sie jedoch anfängt, im Prozess gegen einen Ex-Präsidenten eines westafrikanischen Staates zu dolmetschen und Adriaan für unbestimmte Zeit nach Portugal zu seiner Familie reist, gerät ihr Leben, ihr Angekommen-Sein, Stück für Stück aus den Fugen.
Während des Lesens von ‚Intimitäten‘ hatte ich verschiedenste Gefühle, zwei sind jedoch ganz deutlich hervorgetreten. Zum einen war dies eine unterschwellige Bedrohung, die sich durch das ganze Buch gezogen hat. Die Ich-Erzählerin kommt immer wieder in Kontakt mit Gewalt; zwar indirekt und in Form diverser Personen, aber dieses unterschwellige Gefühl, dass bald etwas Schlimmes passieren wird, ist immer da. Deshalb hat es mich auch überrascht, dass das Ende – obwohl es relativ offen ist – verhältnismäßig positiv ausfällt.
Das zweite deutliche Gefühl war Distanz. Allein schon durch den Erzählstil (der mich übrigens sehr an Rachel Cusk erinnert) wird Distanz zu den Lesenden erzeugt, aber auch die Heimatlosigkeit, das Dolmetschen, bei dem man das Gesagte möglichst nicht zu nah an sich heranlassen und keine Emotionen erkennen lassen darf, die zunehmende Verlorenheit und der Schwebezustand, in dem sich die Erzählerin befindet, tragen zu diesem Gefühl bei.
Was mir an dem Roman besonders gut gefallen hat, sind die präzisen und treffenden Beobachtungen der Ich-Erzählerin, vor allem bezüglich Beziehungen und Lebenssituationen. Sehr interessant fand ich auch die Überlegungen zum Dolmetschen, denn letztendlich entscheiden Dolmetscher und Übersetzerinnen, wie das Gesagte ankommt und interpretiert wird.
„Der Gedanke war beunruhigend – dass unsere Identität so wandelbar war und damit auch der Verlauf unseres Lebens.“ (Seite 102)
Kein Feel-Good-Roman, aber dennoch sehr intensiv und lesenswert!