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si_liest
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Lörrach

Bewertungen

Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 06.09.2023
Gewässer im Ziplock
Vowinckel, Dana

Gewässer im Ziplock


ausgezeichnet

Ich muss zugeben, dass ich das Buch, hätte ich es in der Buchhandlung gesehen, wahrscheinlich übersehen hätte, da das Cover trotz des schönen Designs doch recht unscheinbar ist und der Titel mich auf den ersten Blick auch nicht unbedingt angesprochen hätte. Leider wäre dann aber ein absolutes Highlight dieses Lesejahres an mir vorbei gegangen!
In ihrem Debütroman erzählt die Autorin Dana Vowinckel sehr gekonnt und überraschend ausgereift eine Familiengeschichte zwischen Kontinenten und Kulturen, die sich auf moderne Art und Weise mit Tradition und Glaube auseinandersetzt und die mir eine Fülle an neuen Perspektiven und Denkweisen aufgezeigt hat. Zu Beginn hatte ich etwas Bedenken, ob mir der Roman nicht zu „jugendlich“ ist, da vieles aus der Perspektive der 15-jährigen Margarita erzählt wird, aber dem war zum Glück nicht so. Beim Lesen war ich in einem richtigen Flow, was wahrscheinlich auch daran lag, dass verschiedene Orte und Perspektiven in die Handlung einfließen; das hat den Text für mich sehr abwechslungsreich und interessant gemacht.
Wie die Autorin die Zerrissenheit Margaritas zwischen den Kulturen darstellt, hat mich sehr beeindruckt. Ich habe mir oft die Frage gestellt, wer oder was eigentlich unsere Herkunft und unsere Heimat definiert. Toll und spannend fand ich auch, welch große Rolle die Sprache(n) spielt. Wie drückt man sich aus, wenn man zwischen verschiedenen Sprachen steht? Was bleibt dabei auf der Strecke?
Der Roman bietet auf jeden Fall viel Stoff zum Nachdenken und Diskutieren und ich wünsche mir, dass noch viele Leser*innen dieses wunderbare Buch entdecken.

Bewertung vom 31.08.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


gut

Ganz ehrlich: wer hat noch nie daran gedacht, sich aus Social Media zurückzuziehen, ein Digital Detox einzulegen oder einige Apps dauerhaft zu löschen? Ich spiele auf jeden Fall ab und zu mit dem Gedanken und habe einiges auch schon umgesetzt, deshalb hat mich der Klappentext des Romans sofort angesprochen und ich war sehr gespannt auf die Umsetzung des Themas.
Mila, Mitte 30, beschließt, ihre Online-Existenz Stück für Stück zu löschen und sich komplett aus dem digitalen Leben zu verabschieden. Sie möchte so dem analogen Leben, der Leere, der Langeweile, der Langsamkeit Raum geben und erhofft sich mehr Klarheit und Ruhe, ein Reset ihres Innenlebens. Je mehr sie jedoch versucht, auch die kleinsten Spuren online zu löschen, desto obsessiver wird sie und desto einsamer fühlt sie sich. Da sie zudem noch selbst gewählt arbeitslos wird und ihre Kontakte auf ein Minimum reduziert, driftet sie immer weiter weg von der Realität und droht, sich in einer Welt voller eingebildeter Gefahren zu verlieren.
An sich fand ich das Thema des Romans wirklich spannend und die Autorin hat für mich sehr eindrucksvoll aufgezeigt, wie abhängig wir und unsere Umwelt vom Internet sind, gerade auch, was das Alltagsleben angeht. Und ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass man irgendwann den Bezug zur Realität verliert, dass man sich nicht mehr zugehörig fühlt und nichts mehr mitbekommt, in seiner eigenen Blase lebt.
Was mir jedoch bei der Lektüre gefehlt hat, war die innere Entwicklung oder, besser gesagt, überhaupt eine Entwicklung der Protagonistin. Statt wie zu Beginn ihre Tage mit scrollen zu verbringen, schaut sie nun Filme an, kocht oder liest. Sie reflektiert ihr Verhalten kaum und gerade das hat die Lektüre für mich mit der Zeit langatmig gemacht. Im Grunde hatte Mila, ohne ihre Internet-Existenz, so gar nichts Interessantes an sich und das fand ich als Gesamtaussage etwas schade. Und den Schluss, als Mila sich in Norwegen in ihrem Wahn verliert, fand ich doch etwas überzeichnet.
Obwohl ich das Buch zeitweise spannend fand, blieb für mich am Ende ein schaler Nachgeschmack zurück und letztlich hat bei mir die Langeweile beim Lesen überwogen.

Bewertung vom 23.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


ausgezeichnet

Es sind die großen und kleinen, privaten und globalen Themen unserer Zeit, mit denen sich Paolo Giordano in seinem neuesten Buch TASMANIEN beschäftigt: Klimawandel, Terrorismus, das Verlorensein in der Lebensmitte, Zukunftsängste, persönliche Krisen und Bedrohungen, die scheinbar immer größere Ausmaße annehmen. Dabei ist nicht ganz klar, um welches Genre es sich hier handelt, sind doch die Grenzen verwischt und unscharf. Ist es nun Fiktion, Autofiktion, eine Biographie, ein Wissenschaftsroman, Gesellschaftskritik oder eine philosophische Betrachtung? Die Tatsache, dass all diese Elemente vorkommen, hat das Lesen für mich sehr interessant und abwechslungsreich gemacht.
Die Handlung des Romans beginnt rückblickend im Jahr 2015, als sich Paolo auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Paris befindet - mitten in einer persönlichen Krise, als ihm klar geworden ist, dass er mit seiner Partnerin nie Kinder haben wird. Nach und nach schlittert er immer tiefer in eine bedrohliche und alles umfassende Orientierungslosigkeit; seine Welt, wie er sie bis jetzt erlebt hat, stellt sich auf den Kopf, sei es nun im Bereich der Arbeit, der Beziehungen, der Freundschaften, seiner Sexualität, seinem Glauben und seiner Werte. Wo sich festhalten, wenn die Orientierung verloren geht? Die unterschwellige Bedrohung, die während der Lektüre herrscht, wird immer wieder von den globalen Krisen befeuert. Sei es nun der Klimawandel, die immer wieder auftretenden terroristischen Anschläge oder – sehr wissenschaftlich eingewebt – die Atombombe. Und immer wieder ist da eine leise Sehnsucht spürbar, nach dem sicheren Ort, an dem es möglich ist, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.
Mir hat TASMANIEN außerordentlich gut gefallen. Wie in seinen anderen Romanen schreibt Paolo Giordano auch hier mit großer Sensibilität, Offenheit und wirft existentielle Fragen auf, die zum Nachdenken anregen. Auch die eher wissenschaftlichen Exkurse fand ich interessant und verständlich; hier merkt man, dass der Autor einen wissenschaftlichen Hintergrund hat. Ich konnte die Beweggründe des Protagonisten sehr gut nachvollziehen, was jedoch vielleicht daran liegt, dass ich im selben Alter bin. Und sehr gelungen fand ich die Metapher von Tasmanien als einem sicheren Ort, den es zu suchen lohnt.
Für mich war das Buch eine bereichernde Lektüre, die noch lange nachhallt und die in mir eine leise Sehnsucht nach meinem eigenen Tasmanien geweckt hat.

Bewertung vom 29.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


sehr gut

Wer gerne berührende und intensive Geschichten liest, die einen wahren Bezug zur jüngeren Vergangenheit haben, dem kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen.
Immer im Wechsel zwischen der heutigen Zeit und den 50er-/60er-Jahren wird die Lebensgeschichte von Frieda erzählt. Alles beginnt damit, dass sie sich nach dem Tod ihres Mannes Louis in einem Altersheim wiederfindet. Obwohl ihr Sohn Tobias und ihre Schwiegertochter vieles dafür tun, dass sie sich wohlfühlt, will ihr dies nicht so ganz gelingen. Als sie dann auch noch hilflos mit ansehen muss, wie sich ein Falter in einem Spinnennetz verfängt (auch wenn sich das komisch anhört, aber es hat einen starken Bezug zur Vergangenheit) und sie nichts dagegen tun kann, beginnt sie, sich zu erinnern und nach und nach entfaltet sich die stille Tragödie ihres Lebens.
Beim Lesen musste ich ein paar Mal die Tränen wegblinzeln, denn der Autor schafft es wirklich gut, Atmosphäre zu erzeugen und die Gefühle und Leiden von Frieda erfahrbar zu machen. Dabei ist dies kein wuchtiger Roman; vielmehr wird auf eine stille und bedächtige Art und Weise erzählt, und genau das mag ich an dem Roman.
Die einzige Kritik, die ich anbringen kann, ist, dass mir der Schluss etwas zu schnell abgehandelt wurde. Irgendwie hat mir etwas gefehlt, um das Ende als stimmig anzusehen. Gerne hätte ich noch erfahren, wie Frieda das Ganze verarbeitet und ob sie sich mit der Vergangenheit aussöhnen kann.
Trotzdem hat mir der Roman sehr gut gefallen - und das tolle Cover darf jetzt mein Regal schmücken.

Bewertung vom 29.03.2023
Morgen und für immer
Meta, Ermal

Morgen und für immer


gut

Mit seinem Roman „Morgen und für immer“ spannt der albanisch-italienische Songwriter Ermal Meta einen Bogen vom Albanien während des Zweiten Weltkrieges über die Zeit der Diktatur unter Enver Hoxha bis in die 90er Jahre. Ich habe beim Lesen sehr viel über die Geschichte Albaniens erfahren, einem Land, welches in der zeitgenössischen Literatur leider noch ein Nischendasein fristet.
Die Geschichte beginnt 1943 in einem kleinen Bergdorf im Norden Albaniens. Kajan lebt bei seinem Großvater – seine Eltern engagieren sich im Widerstand gegen die deutschen Besatzer – als der deutsche Deserteur Cornelius bei ihnen auftaucht. Kajans Großvater gewährt ihm Unterschlupf und im Gegenzug bringt Cornelius dem Jungen Klavierspielen bei. Die Liebe zum Klavier lässt Kajan nicht mehr los, nach dem Krieg wird er ein gefeierter Pianist. Als er Elizabeta kennenlernt, scheint sein Glück perfekt. Doch Kajans Mutter, eine überzeugte Kommunistin, ist von dieser Liebe gar nicht begeistert, da Elizabetas Vater sich einst gegen das Regime ausgesprochen hat. Und so verschwindet Elizabeta plötzlich, ohne ein Wort. Für Kajan beginnt nach dem Verlust dieser großen Liebe eine abenteuerliche Zeit. Er flieht über die DDR nach Westberlin und in die USA. Aber auch dort ist sein Glück nur von kurzer Dauer und er kehrt nach vielen Jahren nach Albanien zurück. Ob er dort seine Erfüllung findet, lasse ich an dieser Stelle noch offen, um nicht zu spoilern.
Die Themen und die Darstellung der geschichtlichen Hintergründe, welche im Roman zur Sprache kommen, haben mir sehr gut gefallen. Man bekommt einen guten Eindruck von der Stimmung und den politischen Gegebenheiten in Albanien. Wie schon erwähnt, habe ich mich nie so richtig mit diesem Land beschäftigt, deshalb habe ich viel Neues gelernt. Die Schreibweise ist eher ruhig und melancholisch, was ich auch sehr angenehm fand.
Was mir allerdings die Freude am Lesen etwas getrübt hat, ist, dass ich praktisch keinen emotionalen Zugang zu den Figuren fand. Für mich blieben alle beschriebenen Personen – inklusive Kajan – seltsam blass. Wahrscheinlich lag es daran, dass auf diesen 500 Seiten wahnsinnig viel passiert, so dass meiner Meinung nach die Entwicklung und Beschreibung der einzelnen Charaktere auf der Strecke bleibt. Gegen Ende war mir die Fülle an sich überschlagenden Ereignissen fast schon zu viel, so dass die ganze Geschichte unglaubwürdig wurde. Für mich hat sich eine eher negative, triste Stimmung durch das ganze Buch gezogen und letztendlich finde ich diese Sichtweise zu einseitig und auch zu eintönig und klischeehaft.
Ich habe beim Lesen definitiv meinen Horizont erweitert, hätte mir jedoch eine ausgereiftere Charakterzeichnung gewünscht, um das Leseerlebnis perfekt zu machen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Mit der irisch-gälischen Sprache bin ich das erste Mal während eines Irland-Aufenthaltes 2003 in Kontakt gekommen. Bis dahin war mir nicht bekannt, dass diese Sprache immer noch sehr lebendig ist und durchaus von einigen (wenigen) Menschen gesprochen wird. Umso schöner fand ich es, diesen Text einer irischen Dichterin zu lesen und einige gälische Wörter zu sehen – auch wenn ich sie nicht verstehe.
Doireann Ní Ghríofa ist mit diesem Buch ein außergewöhnliches Stück Literatur gelungen, welches sich wohltuend vom Mainstream abhebt. Kategorisieren kann man den Text nicht wirklich – er ist eine Mischung zwischen biographischem Schreiben, Übersetzung und Autofiktion. Zentrales Thema ist dabei die irische Adlige und Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die im 18. Jahrhundert gelebt hat und die ein in der irischen Literaturgeschichte sehr bekanntes Klagelied auf den Tod ihres Ehemannes und Geliebten Art Ó Laoghaire geschrieben hat. Die Autorin beginnt in einer sehr intensiven Zeit, nämlich in der Zeit, in der sie mit ihren Kindern zu Hause ist und sich ihr Alltag zwischen Haushalt, Stillen und Erziehung bewegt, die Geschichte hinter diesem Klagelied zu erforschen und steigert sich mehr und mehr in eine Besessenheit hinein, welche sie kaum mehr loslässt. Sie verwebt dabei die moderne und die damalige Zeit sehr geschickt; Stück für Stück setzt sie die historischen Hintergründe zusammen, immer wieder unterbrochen von Schilderungen aus ihrem eigenen Alltag und Gedanken über ihre Verwundbarkeit und Verletzlichkeit. Es geht hauptsächlich um die Themen Mutterschaft, Partnerschaft, Elternschaft – immer wiederkehrendes Motiv ist die Milch - aber auch um die Sinnsuche im Alltag und letztendlich um Besessenheit. Die Autorin erwähnt dabei wiederholt „Dies ist ein weiblicher Text“ um zu zeigen, dass dies nur eine weibliche Art zu leben unter vielen ist, was ich sehr interessant und wichtig finde.
Mir persönlich hat das Buch wahnsinnig gut gefallen. Es ist ein lyrischer und poetischer Prosatext, ruhig und melancholisch; man merkt, dass die Autorin schon einige Lyrik-Bände veröffentlicht hat. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass das Buch polarisiert, denn einfach so weg lesen kann man es nicht, man muss sich wirklich darauf einlassen. Dann wird man meiner Meinung nach jedoch belohnt mit einem wertvollen Leseerlebnis, bei dem sich die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit auflösen.

Bewertung vom 16.03.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


gut

Ein Segeltörn in die schwedischen Schären – was auf den ersten Blick sehr idyllisch scheint, entwickelt sich nach und nach für die Beteiligten zu einem Albtraum.
Der erfolgreiche Anwalt Andreas bricht mit seiner Frau Caroline und seinem Anwaltskollegen Daniel, dessen Frau Tanja sowie dem Skipper Eric zu einer Segel-Reise auf. Zu Beginn herrscht bei gutem Wetter und gutem Essen noch Hochstimmung an Bord, die beiden Paare scheinen die Reise zu genießen. Doch je weiter der Segeltörn voranschreitet, desto schlechter wird das Wetter und desto mehr Konflikte und Unstimmigkeiten treten zu Tage. Bis sich letztendlich eine Katastrophe abzuzeichnen beginnt…
Im Großen und Ganzen hat mir der Roman gut gefallen. Die Autorin schreibt sehr atmosphärisch, man hat die schwedische Natur und das Meer praktisch vor Augen. In den ersten zwei Dritteln der Handlung wird Stück für Stück Spannung aufgebaut, es werden geheimnisvolle Andeutungen gemacht und die Machtverhältnisse der Figuren untereinander werden sehr klar gezeichnet. Mit der Zeit verschwimmen die Machtverhältnisse oder lösen sich auf, was ich sehr interessant gefunden habe. Der langsame Spannungsaufbau animiert auch zum Weiterlesen, so dass ich das Buch recht flott gelesen habe.
Was mich persönlich jedoch enttäuscht hat, war der Schluss. Gegen Ende wird die Geschichte meiner Meinung nach ziemlich unglaubwürdig und die Geheimnisse, von denen ich mir eine überraschende Auflösung erhofft habe, haben sich als regelrecht banal herausgestellt. Zudem kamen mir die Ereignisse am Schluss überstürzt vor; hier hätte ich mir ein paar Seiten mehr gewünscht, um zu einem runden Abschluss zu kommen.
Trotzdem habe ich das Buch gerne gelesen – alleine schon wegen der Atmosphäre an Bord eines Segelschiffes – und kann es als spannende Lektüre, die sich schnell und flüssig liest, weiterempfehlen.

Bewertung vom 27.02.2023
Aus ihrer Sicht
Céspedes, Alba de

Aus ihrer Sicht


gut

Alessandra wächst in den 30er Jahren in Rom auf. Die Mutter, eine feinsinnige, sensible Frau, leidet unter dem patriarchalen Machtgefüge der Ehe und der Lieblosigkeit ihres Ehemannes. Frauen, so scheint es, sind einzig dazu da, dem Ehemann den Rücken frei zu halten, den Haushalt zu organisieren und die Kinder zu erziehen. Als Alessandras Mutter aus diesem Gefüge ausbrechen will, kommt es zu einem tragischen Ereignis und Alessandra wird zur Großmutter in die Abruzzen geschickt. Dort gelingt es ihr, ihre eigenen Interessen durchzusetzen: Sie darf lernen und das Examen machen. Zurück in Rom fällt muss sie jedoch die Rolle der Mutter einnehmen, da der Vater mittlerweile erblindet ist. Sie reibt sich auf zwischen Haushalt, Universität und Arbeit in einem Büro. Als sie den Philosophie-Dozenten Francesco, der im Widerstand aktiv ist, kennenlernt, scheinen sich alle ihre Träume und Hoffnungen zu erfüllen – doch schafft sie es, die alten Rollenvorstellungen hinter sich zu lassen?
Die Geschichte wird in der Rückschau aus Alessandras – „aus ihrer“ – Sicht erzählt. Die ganze Handlung und die Darlegung der Strukturen und Gefühle laufen darauf hinaus, zu ergründen, wie es zum zentralen Ereignis, welches am Ende des Romans stattfindet, kommen konnte. Die Missstände des patriarchalen Ehegefüges und die Stellung der Frau in der damaligen Zeit werden dabei sehr genau analysiert, fast schon seziert. Was mir gut gefallen hat, ist, dass im Roman unterschiedliche Frauen- und Männer-Persönlichkeiten dargestellt werden, was nochmal die typischen Gender-Klischees hervorhebt. So gibt es die männlich erscheinende Denise, die im Widerstand aktiv ist, Konkubinen wie Alessandras Freundin Fulvia, die matriarchalische Großmutter, die Mutter als feinsinnige Künstlerin, der Vater als Patriarch, Hervey als Liebhaber, dem quasi alle Männlichkeit abgeschrieben wird. Interessant fand ich auch, wie sich das patriarchale Gefüge letztendlich nicht auflöst, sondern trotz scheinbarer Gleichberechtigung beider Ehepartner bezüglich Arbeit und Bildung bestehen bleibt. Francescos Rücken wird hierbei sinnbildlich als Mauer bezeichnet, gegen die sich nicht ankommen lässt.
Was mich jedoch beim Lesen gestört hat, sind die zum Teil beträchtlichen Längen und die Redundanzen. Alessandras absolute Hingabe und ihre Fokussierung auf die Liebe, ihr schmachtendes Sehnen und ihre fehlgeleitete Leidenschaft wurden für meinen Geschmack zu oft erwähnt und zu sehr ausgeführt. Hier hätten dem Roman ein paar Seiten weniger sicher gutgetan. Auch verkümmert der zentrale feministische Gedanke, der am Anfang noch vorhanden ist, im Laufe der Handlung. Zeigt Alessandra zu Beginn noch einen großen Kampfgeist, wehrt sie sich im Verlauf gegen das Konstrukt der Ehe nur noch in Gedanken und passt sich mehr und mehr an. Sie führt ihre Suche nach Selbstbestimmung nicht weiter, sie fügt sich in ihre Rolle. Selbst ihre Handlungen im Widerstand vollführt sie nicht aus politischer Motivation, sondern um Francesco zu gefallen, um ihm zu zeigen, dass sie ihm ebenbürtig ist.
Sicher ist dies ein feministischer Roman und ein wertvolles Zeitzeugnis (die Erstausgabe erschien 1949), der jedoch das „Genderkorsett“ (siehe das lesenswerte Nachwort von Barbara Vinken) nur andeutungsweise ankratzt.

Bewertung vom 17.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


sehr gut

Liv lebt mir ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in einem Haus in Oslo und arbeitet in einem Alterspflegeheim. Von außen betrachtet scheint sie ein Bilderbuchleben zu führen; niemand sieht, mit welchen inneren Dämonen sie tagtäglich zu kämpfen hat. Als Studentin wurde Liv vergewaltigt und diese Tat hat bis heute immensen Einfluss auf ihr Leben. Sie versucht verzweifelt, ihren inneren Kampf mit der Wahrung eines geordneten Äußeren zu überdecken und verliert sich zuweilen im Konsum: sie kauft teure Kleider, Shopping scheint zu ihren bevorzugten Kompensationsmechanismen zu gehören, sie lässt sich Botox spritzen. Da ihr Alltagsleben von Angst und Panik geprägt ist, sind Schmerz- und Beruhigungsmittel ihre täglichen Begleiter. Hier kommt ihr auch ihr Job als Pflegerin sehr gelegen, denn in diesem Umfeld hat sie uneingeschränkt Zugriff auf jegliche Medikamente, was ihr Sicherheit gibt. Eine Wendung nimmt Livs Leben, als sie sich mit der Künstlerin Niki de Saint Phalle zu beschäftigen beginnt. Die Tatsache, dass diese dreiundfünfzig Jahre über eine Vergewaltigung geschwiegen und erst nach dieser langen Zeit davon erzählt hat, lässt sie nach und nach selbst in einen Prozess der Verarbeitung eintreten und zu einem Befreiungsschlag ausholen.
Dieser schmale Roman hat mich wirklich gepackt und mitgerissen, ich habe ihn praktisch in einem Rutsch gelesen. Die Autorin versteht es sehr gut, die Zerrissenheit und die innere Not der Protagonistin darzustellen. Auch die verschiedenen Ausdrucksarten von Macht werden sehr gut eingearbeitet: die Macht der Frau über den Mann, die Macht des Mannes über die Frau, die Macht der Eltern über die Kinder, die Macht der Dinge, des Konsums. Erschütternd fand ich Livs eigene Machtlosigkeit, denn sie hat die Vergewaltigung letztendlich nie angezeigt, da sie meinte, dass sie letztendlich nicht genügend Beweise habe.
Bei diesem Roman ist die Covergestaltung außergewöhnlich gut gelungen. Aus der Entfernung gesehen denkt man auf Grund der Farbe an einen Feel-Good-Roman, aber bei genauerem Hinsehen erkennt man die Scherben, was nochmal schön die Thematik des Romans aufgreift. Auch die Abbildungen von Niki de Saint Phalle im Vor- und Nachsatz finde ich sehr passend.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die Nebenfiguren im Roman sehr blass bleiben. Dies ist vielleicht auch etwas der neutralen Sprache geschuldet, aber letztendlich blieben mir Livs Ehemann, ihre Kinder und ihre Freundin Frances seltsam fremd. Zudem fand ich die Form manchmal irritierend, denn es hat doch ab und zu verhältnismäßig große Absätze im Text.
Ein sehr lesenswerter, packender Roman, der unter die Haut geht.

Bewertung vom 09.11.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


sehr gut

2017 habe ich im Kino den Film „Sami – A tale from the North“ von Amanda Kernell angeschaut, ursprünglich, um meine Schwedisch-Kenntnisse ein wenig zu trainieren. Ich hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass mich der Film noch tagelang beschäftigen würde – ich war erschrocken und beeindruckt – da ich mich davor eigentlich nicht mit der Thematik beschäftigt habe. Deshalb ist mir die Problematik, mit der sich die Sámi konfrontiert sehen, nicht gänzlich neu. Trotzdem konnte ich beim Lesen noch so einiges dazu lernen, gerade was die Rechte und Strukturen innerhalb der Bevölkerung betrifft.
Die 9-jährige Elsa wohnt mit ihrer Familie, die von der Rentierzucht lebt, in einem Sameby im Norden Schwedens. Als sie mit ansehen muss, wie ihr geliebtes Rentierkalb Nástegallu von einem Schweden -der ihr zudem noch damit droht, sie umzubringen, sollte sie ihn verraten- getötet wird, verändert sich ihr Leben für immer. Fortan lebt sie in Angst, die mit den Jahren in Wut und Verzweiflung umschlägt, welche ihr jedoch auch die Kraft geben, für ihren Platz in dieser bedrohten Welt zu kämpfen.
Ohne Zweifel ist der Roman „Das Leuchten der Rentiere“ (Orig.: Stöld) von Ann-Helén Laestadius, welche selbst gebürtige Sámi ist, sehr atmosphärisch und dicht. Beim Lesen fühlt man sich sogleich mitten in die verschneite Landschaft Nordschwedens versetzt und man sieht praktisch die Mückenschwärme, die im Sommer in Massen unterwegs sind. Die Autorin bringt den Lesenden den unermüdlichen Kampf gegen den Untergang der samischen Kultur und Sprache, die Machtlosigkeit der Sámi, die Konflikte mit der schwedischen Bevölkerung und den Rassismus und die Vorurteile, denen sie ausgesetzt sind, näher. Elsa ist dabei eine sehr starke Protagonistin, deren innere Spannungen sehr bildlich und versinnbildlichend dargestellt werden. Die Erzählung ist schonungslos, gerade was Tierquälerei und Gewalt betrifft; ich musste ab und zu eine Lesepause machen. Gut finde ich auch, dass die Autorin vor Kritik an ihrer eigenen Kultur nicht haltmacht und zum Beispiel die sehr patriarchalisch geprägten Machtgefüge thematisiert.
Ab der Hälfte des Buches hatte ich das Gefühl, dass sich die Handlung etwas in die Länge zieht. Auch die Sprache kam mir zäher vor, so dass der Lesefluss bei mir ins Stocken kam. Dafür fand ich dann den Schluss wieder sehr gelungen und versöhnlich.
Der Originaltitel (übersetzt: Gestohlen) drückt für mich die ganze Machtlosigkeit der Sámi aus: Die misshandelten und getöteten Rentiere der Sami werden nur als gestohlen gemeldet; so wird nach damaliger (und aktueller?) Rechtslage diese Straftat nicht weiterverfolgt und die Anzeigen verjähren. Deshalb hätte ich es gut gefunden, wenn der deutsche Titel näher am Original wäre.
Fazit: Wer auch einmal eine andere Seite von Schweden abseits der Bullerbü-Romantik kennenlernen will, sollte unbedingt dieses Buch lesen