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wasserklaenge

Bewertungen

Insgesamt 24 Bewertungen
Bewertung vom 22.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


sehr gut

Als Pia und Jakob von der Lehrerin ihres siebenjährigen Sohnes Luca zum Gespräch einbestellt werden, können sie es kaum glauben: Es soll einen Vorfall mit einer Klassenkameradin gegeben haben. Natürlich wollen sie Lucas Seite der Geschichte hören. Aber statt sich zu verteidigen macht Luca dicht und lässt niemanden an sich ran.

Jakob geht relativ entspannt mit der Situation um, aber Pia kann gedanklich nicht davon lassen. Sie beobachtet ihren kleinen Sohn mit Argusaugen und fühlt sich dabei immer wieder an ihre freche und rebellische Schwester Romy erinnert. Doch warum haben die beiden keinen Kontakt mehr, wenn Pia so viele wunderbare Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit hat? Und was ist mit Linda, der dritten Schwester, geschehen?

Trotz der eigentliche recht einfachen Geschichte entwickelt sich dieser Roman sehr schnell zum Pageturner. Die Story ist klasse aufgebaut. Aktuelle Ereignisse wechseln mit Erinnerungen Pias an ihre Kindheit. Ich kann aber kaum mehr verraten, weil die Geschichte gerade von den Details lebt, die nach und nach ans Licht kommen.

Jessica Lind schafft es fast, einen davon zu überzeugen, dass Kinder tatsächlich "kleine Monster" sind. Aber ist das so? Oder verrennt sich Pia in etwas?

Mit einem großartigem Gespür für ihre Figuren führt Lind uns schmerzhaft vor Augen, welchen Einfluss die Kindheit auf unsere spätere Entwickling hat. Mein Einziger Kritikpunkt ist, dass es mir irgendwie zu diplomatisch war. Das fand ich gegen Ende schwer erträglich und ein wenig unbefriedigend.

"Kleine Monster" ist definitiv ein Roman, der mit meinen Emotionen gespielt hat! Spannend, stimmungsvoll, authentisch, tieftraurig und manchmal fast gruselig. Lind führt den Leser absolut gekonnt in eine bestimmte Richtung, nur um ihn später wieder alles in Frage zu stellen zu lassen. Klasse!

Bewertung vom 21.06.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


sehr gut

Der Transsibirien-Express ist weltberühmt: Er ist die einzige Verbindung, die den wagemutigen Reisenden von China nach Russland bringt. Mitten durch das gleichwohl faszinierende wie beängstigende Ödland – ein abgesperrter Bereich, in dem die Naturgesetze keine Bedeutung mehr zu haben scheinen. Nach einem Vorfall bei der letzten Durchquerung, die drei Menschen das Leben kostete, stand der Express erst einmal still. Doch nun fährt er wieder.

Mit an Bord sind das „Zugkind“ Weiwei, die an Bord geboren wurde und den Express kennt wie ihre Westentasche. Maria Petrowna tritt die Reise zum ersten Mal an – unter falschem Namen, denn sie will etwas herausfinden. Und auch für den Wissenschaftler Henry Grey ist es die erste Reise mit dem Zug. Er hegt zweifelhafte Pläne, die seine ruinierte Reputation wiederherstellen sollen.

Was für ein Ritt! Ich hätte das Buch am liebsten in einem Rutsch durchgehört. Das „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ verbindet den Charme des 19. Jahrhunderts mit dem abenteuerlichen Charakter einer langen Zugreise. Ein bisschen Fantasy, tolle Figuren und eine ordentliche Portion Geheimnis runden die Geschichte ab.

Hier und da rauschte mir die Geschichte ein bisschen zu schnell über bestimmte Dinge hinweg. Die Abwesenheit der Kapitänin beispielsweise, oder den ominösen Gedächtnisschwund, der Personal und Passagiere der letzten Reise ereilte und für den es keine ausführliche Auflösung gibt. Und auch das Ödland selbst mit seinen Bewohnern und Absurditäten hätte für mich gerne noch ausführlicher beschrieben werden dürfen. Das alles stört aber eigentlich nicht sehr, denn das Buch lebt ja zum Teil auch von seiner Vagheit und dem Mysterium rund um das Ödland.

Der Roman macht richtig viel Spaß und wurde von Nora Schulte toll und stimmungsvoll eingelesen. Für mich war es eine klasse Mischung aus Mord im Orientexpress und Alice im Wunderland, die ich bestimmt noch ein zweites Mal hören werde.

Bewertung vom 12.06.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


weniger gut

Sam und Elena leben mit ihrer schwer kranken Mutter auf den San Juan Islands an der Grenze zu Kanada. Das Geld ist knapp und der Wegfall von Sams Job während der Pandemie hat die Situation nicht gerade leichter gemacht. Sam will am liebsten weit weg, doch ihre Mutter liebt die Insel und möchte an dem Ort sterben, an dem sie schon ihre Kinder geboren hat. Als dann ein Bär auftaucht und eine Schwester in Entzücken und die andere in Panik versetzt brechen Konflikte auf, die vorher im Verborgenen lagen.

Gleich vorweg: Ich bin ziemlich enttäuscht von diesem Buch. In ihrem ersten Roman „Das Verschwinden der Erde“ hat Julia Phillips gekonnt Einblicke in verschiedenste Lebenswelten auf Kamtschatka mit einer spannenden Krimihandlung vermischt. Ich habe Neues gelernt und wurde gut unterhalten. Bei „Cascadia“ war weder das eine noch das andere der Fall. Stattdessen zieht es sich, es passiert nicht viel, es ist stellenweise vorhersehbar. Auch die Beschreibungen der Insel und der Natur blieb hinter meinen Erwartungen zurück.

Inhaltlich geht es um zwei Schwestern, die auf den ersten Blick unzertrennlich scheinen, aber offenbar nie über wirklich wichtige Dinge miteinander reden. Es wird der geringe Altersunterschied der beiden betont, aber in der Realität könnte Sam auch 10 Jahre jünger sein als ihre Schwester Elena. Letztere organisiert und plant alles, hat den Überblick und versucht das Beste aus ihrem Leben zu machen. Vernünftig mit ihrer Schwester zu kommunizieren gehört allerdings nicht dazu. Sam hingegen hängt sich an Versprechen aus Teenagerzeiten auf und misstraut nebenher der ganzen Welt. Ich hätte gedacht, dass ihr sperriger Charakter im Laufe der Geschichte noch eine Entwicklung durchmacht, aber nein. Auch gegen Ende sind alle doof, alle wollen ihr Böses und allen geht es besser als ihr.

Mit ihrer ignoranten und selbstmitleidigen Art hat Sam mich verrückt gemacht. Ja, die Geschichte der Familie ist traurig. Aber mit jemanden Mitleid zu haben, der hinter jedem netten Wort Verrat wittert, fällt mir recht schwer. Elena wirkt auf den ersten Blick zugänglicher, aber ihre plötzliche Wildtierobsession entbehrt jeder Logik.

Trotz der märchenhaften Anklänge und dem (ungenutzten) Entwicklungspotential der Hauptfigur bin ich am Ende ziemlich enttäuscht. Für mich hatte die Lektüre kaum Mehrwert und sorgte mehr für Kopfschütteln als für Begeisterung. Wirklich schade!

Bewertung vom 27.03.2024
That Girl
Santos de Lima, Gabriella

That Girl


sehr gut

Auf Social Media ist Tess Raabe durch einen Rant über frustrierende Dates viral gegangen. Ihrem Kanal, auf dem sie ihre gesunde Ernährung und ihr Sportprogramm teilt, ihr Dankabrkeitstagebuch befüllt und für Meditatiosapps wirbt, folgen seitdem viele begeisterte Fans. Auch ihr Buch über ihr Datingleben hat sie maximal ästhetisch im Café nebenan bei einem Matcha Latte geschrieben. Tess ist durch und durch ein That Girl! Aber im echten Leben läuft es nicht so rund, wie es online aussieht. Sie zweifelt, sie ist traurig, ihr zweites Buchprojekt kommt nicht voran und auch datingtechnisch läuft es nicht rund. Doch dann trifft sie Leo und fasst leise Hoffnung.

Was mir gefallen hat, waren die vielen feministischen Ansätze, die Gabriella Santos de Lima in ihren Roman eingebaut hat. Tess spricht über die Probleme, die sie mit ihrem Körper hat. Aber auch darüber, dass sie weiß, dass das „Problem“ eigentlich nur in ihren Augen besteht und dass sie sich trotz besseren Wissens schämt. Sie spricht über die Unsitte, als Frau in jeder noch so bescheidenen Situation cool zu sein und sich die Wut zu verbieten, weil man nicht als Zicke, als hysterisch oder als verrückt abgestempelt möchte. Es geht um male gaze, Diäten und Konsens.

Ich mochten ebenfalls die Beschreibung der Freundschaften die Tess pflegt und die ehrlichen Auszüge voller Selbstzweifel aus ihrem Buch, die immer wieder von der nervtötenden Lektorin Gesa entschärft wurden. Denn ein That Girl kann sich keine Negativität leisten!

Vielleicht merkt man schon, dass die Liebesbeziehung hier nicht komplett im Vordergrund steht, auch wenn sie natürlich einen großen Teil der Handlung einnimmt. Der Fokus liegt aber auf Tess‘ Entwicklung und die fand ich wirklich gelungen.

Ein wenig mehr Social Media hätte es für mich allerdings sein dürfen. Dafür, dass Tess neben dem Bücherschreiben ihr Geld mit ihrem Social Media-Profil verdient, fiel dieser Teil relativ kurz aus. Hier und da ist mal ein Post von ihr beschrieben, aber es wirkt fast so, als kommen die Likes bei ihr von alleine. Dann fand ich Tess‘ Freundin Cora ein wenig überzeichnet, aber nichtsdestotrotz liebenswert.

Mich hat der Roman positiv überrascht: Kein Kitsch aber viel Kritik an Social Media und Selbstoptimierung. Keine Happy-ever-after-Lovestory, dafür ein realistischer Blick in die Datingwelt der Gen Z. Wenig Klischees, dafür Figuren, die im Laufe der Geschichte wachsen und sich entwickeln. Dazu ein leichter, unterhaltsamer Ton und eine Story ohne Längen. Hübsch!

Bewertung vom 05.03.2024
Der Stich der Biene
Murray, Paul

Der Stich der Biene


ausgezeichnet

Um die Familie Barnes steht es nicht zum besten. Seit der Wirtschaftskriese sitzt den Iren das Geld nicht mehr so locker. Besonders an den teuren Autos, die Dickie Barnes in zweiter Generation verkauft besteht kein Interesse mehr. Er versucht das Problem offenbar weg zu ignorieren, während seine Frau ihre gesammelten Luxusgüter verkauft. Keine tolle Situation!

Besonders Teenager Cass will da gerade mit dem Rest ihrer Familie am liebsten gar nichts zu tun haben. Wie peinlich, dass das Geld knapp ist! Wie peinlich die ewigen Streiterein der Eltern! Cass Leben dreht sich eigentlich nur darum, ihrer besten Freundin Elaine zu gefallen und mit ihr raus aus dem Kaff und endlich nach Dublin aufs College zu kommen. Und das obwohl Cass manchmal selbst merkt, dass Elaine ihr gar nicht guttut und es auch nicht immer gut meint. Ich fand sie wunderbar getroffen: Anstrengend und selbstgerech, wie Teenies nunmal sind, aber auch verletzlich und immer nah am Rande der Erkenntnis was gut für sie wäre, aber nich nicht in der Lange es umzusetzen. Ich wollte sie mal anfeuern und mal schütteln.

Ihr kleiner Bruder PJ ist da ganz anders. Auf Zehenspitzen schleicht er durchs Leben. Bloß den Eltern nicht noch mehr Sorgen machen! Bloß alle Probleme selbst klären. Irgendwie! Auch wenn er sich dadurch in die schlimmsten Situationen bringt. Er ist ein wirklich empathischer und unheimlich intelligenter Junge nur merkt das niemand so richtig, weil er seine Gedanken meist für sich behält. Sein Teil der Geschichte hat mir oft das Herz schwer werden lassen.

Und natürlich sind da noch die Eltern: Dickie - ein viel zu gutmütiger Autohändler aus gutem Hause der ein Geheimnis hütet - und Imelda - eine Schönheit mit Wut im Bauch und einer fast schon absurd bewegten Vergangenheit von der kaum jemand weiß.

Man denkt, aus den vorangegangenen Perspektiven hat man schon einiges über die jeweilige Person erfahren, aber Pustekuchen! Jede Figur hat mich aufs neue überrascht, jede ist mir auf eigene Art ans Herz gewachsen, jede hat mich mitfiebern lassen und jede hat mich zweifeln lassen, ob wir auf ein Happy End oder eine Katastrophe zusteuern.

Wer es auschweifend mag, wer gerne ganz tief in Figuren eintaucht und nebenbei noch ein bisschen über gälischen Fußball, die Wirtschaftskriese oder Dublin in den 70ern erfahren möchte, der ist hier genau richtig. Meinen Geschmack hat der Roman voll getroffen. Ich habe mich keine Sekunde gelangweilt uns hätte noch ewig weiterlesen mögen.

Bewertung vom 16.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


sehr gut

Schon in der Grundschule ist Philipp ein Außenseiter. Liegt es an seinen roten Haaren? An seiner Wut? An seiner unsteten Mutter, die ihn aufgrund ihrer Alkoholsucht bei ihrer katholischen Schwester unterbringen muss? An seiner generellen Abneigung den meisten Menschen gegenüber? Fakt ist allerdings, dass Philipp nicht gerne der Außenseiter ist. Er wünscht sich einen Freund. Und dieser Wunsch geht in Erfüllung, als die aus der Ukraine geflüchtete Faina neu in seine Klasse kommt. Eifersüchtig wacht er über die Freundschaft dieses für ihn so besonderen Mädchens. Auch als beide Jahre später nach einem Streit getrennte Wege gehen bleibt sie sein Maß aller Dinge. Umso größer ist seine Freude, als sie wieder vor seiner Tür steht: Mittellos und schwanger. Natürlich hilft er ihr. Natürlich ist sie dankbar. Aber nach und nach rutschen die beiden in eine Dynamik hinein, die immer toxischer wird.

Durch diesen Roman kann man einfach so durchrauschen. Er liest sich weg wie nichts, unterhält wunderbar ohne jede Länge. Größtenteils ist das Lana Lux‘ speziellen Hauptfiguren geschuldet. Philipp ist ein extrem ambivalenter Charakter: Sehr eigen, eigentlich nicht wirklich sympathisch aber auch kein Unmensch. Sogar witzig manchmal. Faina fördert die besten Seiten in ihm zutage, für sie kann er großzügig, freundlich und bemüht sein. Und bei einer Kindheit wie seiner ist es kaum ein Wunder, dass er nicht ohne Macken davongekommen ist. Man möchte Mitleid haben, aber leicht macht er es einem nicht.

Faina wirkt ruhig und bedacht, ist fleißig und offen gegenüber neuen Menschen. Eine fatale Phase in ihren 20ern, in der sie sich komplett gehen lässt, wirft sie allerdings aus er Bahn. Sie wirkt erst relativ unbeschadet aber nach und nach deckt Lux auf, dass sie es nicht minder schwer hatte. Bei manchen Szenen mit ihren Eltern möchte man das Buch gegen die Wand pfeffern aus lauter Frust und Unbehagen! Traurigerweise fand ich sie und ihre Kindheit extrem realistisch.

Die Figuren sind also absolut gelungen. Die Dynamik zwischen Philipp und Faina ist on Point und es liest sich großartig. Der Knall am Ende der Geschichte ist logisch, trifft aber trotzdem hart. Warum also keine 5 Sterne?

Weil es eine Sache gibt, die mir einfach nicht passen mag, egal wie lange ich daran herumdenke. Das Ende hat die Geschichte für mich etwas kaputt gemacht. Was möchte Lana Lux damit sagen? Brauche ich eine scheiß Kindheit um toxisch zu werden? Muss ich von klein auf seltsam sein um eine bestimmte Tat zu begehen? Definitiv Nein! Philipps Absonderlichkeit in dieser Geschichte schmälert aber die traurige Normalität des Inhalts auf ein „Kein Wunder, der Typ war ja schon immer bekloppt.“. Eine Figur wie Philipp vereinfacht das Problem. Er ist „drüber“, also sind es auch seine Reaktionen und Aktionen. Und das zusammen mit dem Ende des Romans sitzt mir das einfach quer.

Trotzdem finde ich den Roman absolut lesenswert, besonders wenn man spezielle Figuren mag und gerne diskutiert und sich austauscht. Dafür eignet der Roman sich wunderbar! Ich werde mich gleich an das nächste Buch von Lana Lux wagen und bin gespannt, was das mit mir anstellt.

Bewertung vom 28.01.2024
Notizen zu einer Hinrichtung
Kukafka, Danya

Notizen zu einer Hinrichtung


sehr gut

Ansel Packer sitzt im Gefängnis. In wenigen Stunden soll er hingerichtet werden. Doch daran will er nicht glauben. Er hat einen Plan, er glaubt daran, dass er der Justiz mit Charme und Intelligenz irgendwie doch noch ein Schnippchen schlagen kann. Doch was hat er überhaupt getan, dass er mit dem Tode bestraft werden soll?

Danya Kukafka erzählt Packers Geschichte zu großen Teilen anhand bestimmter Frauen. Allen voran die seiner Mutter, die ein plastisches wie erschreckendes Bild von Ansels Geburt und seinen ersten Jahren zeichnet. Ansel selbst spielt dabei nie die Hauptrolle. Dafür sind die verschiedenen Frauenfiguren umso gelungener. Kukafka haucht ihnen gekonnt Leben und Persönlichkeit ein.

Auch ergeht sich Kukafka nicht im Warum und Wie der blutigen Taten Packers, sondern beschreibt vielmehr deren Auswirkungen auf andere Menschen. Sei es die Schwester eines Opfers, Verwandte des Täters oder die ermittelnde Beamtin. Auch die Zukunft, die die toten Frauen nie hatten, wird auf zarte und berührende Weise wiedergegeben. Und nebenbei wird noch ganz ohne Moralkeule die Sinnhaftigkeit der Todesstrafe in Frage gestellt. Kukafka hat sich viel vorgenommen, aber sie hat auch geliefert!

Der Roman liest sich locker weg, ist mal etwas derb, mal bedächtig und mal berührend. Gegen Ende war es mir stellenweise ein klein wenig zu sehr in die Länge gezogen aber über die größten Teile der Geschichte entwickelt sich ein regelrechter Lesesog. Wer einen Mix aus Roman und Krimi sucht der Substanz hat, tolle Figuren und Spannung ganz ohne blutige Mordszenen bietet, der sollte hier definitiv zugreifen!

Bewertung vom 04.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


ausgezeichnet

Bei Jack und Elisabeth scheint es Liebe auf den ersten Blick zu sein. Obwohl sie aus komplett unterschiedlichen Verhältnissen kommen – sie aus reichem Hause mit eingetrichtertem Perfektionismus und cholerischem Vater, er aus der bäuerlichen Abgeschiedenheit der Prärie, ohne Geld, dafür mit stets unzufriedener Mutter - scheinen sie ineinander die große Liebe gefunden zu haben. Beide sind zum studieren nach Chicago gekommen, beide vor ihrem erdrückenden Elternhaus geflohen und beide entdecken nun die aufblühende Kunstszene und Subkultur Chicagos.

Doch nun sind bald 20 Jahre vergangen, das Chicago ihrer Jugend gibt es nicht mehr und auch die Liebe scheint sich irgendwie verflüchtigt zu haben. Zwischen Kindererziehung, Herausforderungen im Job, falschen Freunden, Geldsorgen und Alltag kann man sich schon mal verlieren. Neben der mal witzigen, mal frustrierenden Analyse des Innenlebens der beiden Hauptfiguren schlägt Hill den Bogen zu psychologischen Themen von Kindererziehung bis Placebos, zum Facebook-Algorithmus und Verschwörungstheorien, zu Kunst, offenen Beziehungen und einem Loblied auf die unterschätzte amerikanische Prärie. Ich mochte diese Ausflüge gerne und fand Hills Herangehensweise sehr unterhaltsam, – zumal die Themen immer direkt mit Jacks oder Elisabeths Leben verbunden waren – wer aber wer kein Freund von dieser Art Abschweifungen ist, könnte hier mitunter etwas ungeduldig werden.

Über Jack und Elisabeth könnte man sich manchmal die Haare raufen, dann erfüllen sie einen wieder mit Mitleid und Sympathie. Besonders die Geschichten aus ihrer jeweiligen Kindheit sind bedrückend, dafür lässt sich über manche Eskapade ihres Erwachsenenlebens gut schmunzeln. Hill zeigt auf subtile Art, dass alles zwei Seiten hat und dass man sogar mit sich selbst nicht immer ganz ehrlich ist.

Mich hat „Wellness“ insgesamt sehr gut unterhalten! Es war treffend und mitreißend, mal wunderbar absurd, mal lebensnah, einfühlsam und bedrückend. Eine lebendige Geschichte, ausschweifend aber nicht geschwätzig, bei der mir besonders die Entwicklung Jacks und Elisabeths sehr gefallen hat. Ein toller Start ins Lesejahr 2024!

Bewertung vom 22.09.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


ausgezeichnet

Die meisten Menschen u40 werden das kennen: Man verbringt teilweise Stunden mit sinnlosem Scrollen durch den Instagram Feed. Ein Katzenvideo folgt aufs nächste und plötzlich hat man viel mehr Zeit am Bildschirm verdaddelt, als man eigentlich vorhatte. Oder es gehen Stunden und Tage dafür drauf, dass man auf diversen Streaming-Plattformen Staffelweise Serien binged. Wer hat da nicht auch schonmal darüber nachgedacht, sich von sämtlichen Social-Media-Plattformen abzumelden und seine Zeit endlich wieder mit etwas Sinnvollem zu füllen?!

Der Hauptfigur und Ich-Erzählerin Mila geht das ähnlich. Allerdings geht es ihr weniger um Sinnhaftigkeit, als um die diffuse Angst davor, wegen irgendetwas gecancelt zu werden, was sie irgendwann mal online veröffentlicht hat. Was genau das sein soll kann sie auch nicht sagen aber man weiß ja nie. Mila fängt klein an und löscht Facebook und Instagram. Aber dort hört sie nicht auf. Immer weiter geht sie mit ihrer Sucht danach aus der Onlinewelt zu verschwinden und wird immer manischer – und immer einsamer. Und auch ein wirklicher Mehrwert in Milas Leben will sich durch den Verzicht einfach nicht einstellen.

Mir hat der Roman von Anfang bis Ende richtig gut gefallen! Jenifer Becker beschreibt exakt, was Social Media für meine (Millenial) und die folgende Generation bedeutet, wie ihr Konsum aussieht und was für Sorgen damit einhergehen. Dazu beschreibt sie die Zeit nach 2020 so realistisch und lakonisch nebenbei, wie ich es noch in keinem anderen Roman gelesen habe: Die Sorgen, die von einem großen Thema aufs nächste sprangen - Impfungen, Krieg, Inflation – das Leben aber eigentlich nur peripher berührten.

Ebenso gelungen fand ich Milas langsame aber stetige Steigerung in ihrer Online-Paranoia. Mila ist keine Sympathieträgerin. Mila kann einen verrückt machen beim lesen. Ich war oft nicht ihrer Meinung und habe mich stetig gefragt, was sie eigentlich will. Aber trotzdem fand ich die Entwicklung, wie Becker sie beschreibt absolut realistisch und ihre Gedanken durchaus valide.

Becker gibt einem in diesem Roman viel zum Nachdenken mit. Sei es über Privatsphäre, Konsumverhalten, Sinnhaftigkeit, Freundschaft und einiges mehr. Lösungen und Antworten muss man selbst finden. Ich bin jedenfalls durch diesen Roman geflogen und finde ihn besser, je länger ich darüber nachdenke. Langweilig fand ich ihn überhaupt nicht! Es hilft aber definitiv, wenn man sich auskennt in der Onlinewelt, mit ihrer Sprache und ihren Themen.

Für mich war es ein düsteres, trotz seiner Langsamkeit mitreißendes, wirklich kluges und rundum gelungenes Leseerlebnis! Große Empfehlung!

Bewertung vom 19.07.2023
Seemann vom Siebener [Ungekürzt] (MP3-Download)
Frank, Arno

Seemann vom Siebener [Ungekürzt] (MP3-Download)


ausgezeichnet

Es wird wohl der letzte heiße Tag in diesem Sommer und dementsprechend schnell füllt sich das Freibad in Ottersweier, einem kleinen Ort in der Pfalz. Unter dem Badegästen sind zum Beispiel Josefine und Lennart, die schon als Schüler von genau diesen Türmen ins Wasser gesprungen sind, die das Leben aber in die weite Welt hinausgeführt hat – und in Josefienes Fall auch wieder zurück von der Wiener Uni auf den elterlichen Pferdehof. Nun führt eine Beerdigung die alten Freunde wieder zusammen, auf die sie beide eigentlich gar nicht gehen wollen.

Auch die alte Trautheimer zieht gemächlich ihre Bahnen. Ihr Mann hat damals das Freibad gebaut und sie hat im Ort als Lehrerin gearbeitet. Auch Josefine und Lennart hat sie unterrichtet. Damit ist aber schon seit einigen Jahren Schluss und nun ziehen immer wieder lebendige Erinnerungen an Vergangenes an ihr vorbei und holen sie aus der Realität, in der sie nicht mehr all zu viel zu halten scheint.

Herz und Seele des Freibads ist der Bademeister Kiontke, der sich mit Ruhe und Beständigkeit um alles kümmert, was halt so anfällt. Doch seit einiger Zeit machen sich die Leute Sorgen um ihn. Denn da gab es diesen Vorfall, den man eigentlich nicht einfach so wegstecken sollte, wie es Kiontke offenbar tut. Jedenfalls ist seitdem der Siebener gesperrt. Und genau auf diesen Siebener hat es heute ein Mädchen abgesehen, die unbedingt mit etwas abschließen muss.

Ich bin ganz begeistert von dieser Geschichte, die nicht nur mit einer absolut gelungenen Freibad- und Sommerstimmung überzeugt, sondern auch noch mit ihren authentischen Figuren und den leise miteinander verflochtenen Storys der Badbesucher.

Die typischen Freibaddetails, die Arno Frank immer wieder einfließen lässt, - der heiße Beton, die Sitz-Tribühne vor den Sprungtürmen, der Bannkreis um dem Spielplatz, der „Feldherrenblick“ vom Eingang aus nach dem besten Platz, die Bienengefahr und vieles mehr - haben mich krass an die vielen Freibadbesuche meiner Kindheit erinnert. Und mir Details ins Gedächtnis gerufen, an die ich wohl jahrelang nicht mehr gedacht habe.

Die absolut stimmige Atmosphäre in Verbindung mit den Nachwirkungen zweiter tragischer Ereignisse, deren Fäden an diesem einen Tag zusammenlaufen, war absolut perfekt. Genauso, wie die Figuren, die mir in der kurzen Zeit gleich ans Herz gewachsen sind. Ein bisschen schrullig, ein bisschen eigen, ein bisschen kaputt: Wunderbar!