Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Anne Z.
Wohnort: 
Frankfurt

Bewertungen

Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 05.06.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


gut

Da mir Anfang des Jahres Karin Kalisas Roman „Sungs Laden“ in die Hände gefallen ist und mich rundum begeistert hat, habe ich mich sehr darüber gefreut ein neues Buch der Autorin in den Händen zu halten, noch dazu ein derart schön gestaltetes. Sowohl das Thema – die Geschichte zweier Frauen in verschiedenen Zeiten, die über einen an der Ostsee geknüpften Teppich miteinander verbunden sind – als auch die Covergestaltung und die Karte auf der Innenseite des Umschlags haben mich direkt angesprochen. In die Sprache mit ihren Einschüben und Gedankensprüngen musste ich mich erst hineinfinden, sie passt jedoch sehr gut zur Protagonistin. Mia Sund ist eine Faserarchäologin, die die meiste Zeit alleine verbringt und vor ihrer eigenen Vergangenheit in die Geschichte Jahrhunderte alter Stoffe flieht, bis ihre Vergangenheit sie in Form eines von einem Kollegen dahingesagten Satzes wieder einholt. Die Sprache hat mich direkt in Mias von Zweifeln und Unsicherheiten geprägte Gedankenwelt versetzt.

Von Anfang an kommt Spannung auf: Was hat Mia hinter sich gelassen? Und was hat es mit dem ungewöhnlichen grünen Fischerteppich auf sich, den der Kollege Mia ins Büro gebracht hat? Es macht Spaß, Mia bei ihrer Recherchereise auf den Spuren des Teppichs zu begleiten und dabei sowohl etwas über sie als auch über die pommerschen Fischerteppiche zu erfahren. Wie ausführlich Kalisa die historischen Aspekte des Romans recherchiert hat, zeigt sich nicht erst anhand der Liste der von ihr verwendeten Sekundärliteratur im Anhang, sondern ist durchweg spürbar. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass die Handlung durchgehend auf der Basis der historischen Fakten aufbaut und anhand von Mias Recherche nach und nach sowohl die Geheimnisse des Teppichs als auch ihre eigenen offenbart. Doch der Titel „Fischers Frau“ ist nun mal an ein Märchen angelehnt und so verwandelt sich der Roman etwa ab der Hälfte in eine Art Märchenerzählung, die für meinen Geschmack zu stark ins Kitschige abdriftet. Ab dem Moment, als die Protagonistin der Geschichte des Teppichs nicht mehr anhand von Fakten nachgeht, sondern sie in einer Art gedanklichem Zwiegespräch mit der Teppichknüpferin erfindet, war ich leider raus.

„Fischers Frau“ ist zweifelsohne eine großartige Rechercheleistung zu einem abseits der Ostsee vermutlich weitestgehend unbekannten Thema, die Karin Kalisa sprachlich gut umsetzt. Leider verwandelt die Autorin die überaus spannende Geschichte einer Forschungsreise in die Vergangenheit in eine unfassbar kitschige Märchenerzählung. Wer Lesestoff fürs Herz sucht, trifft mit diesem Roman dennoch eine gute Wahl.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.03.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


weniger gut

Sommerlektüre, die mich leider kaltgelassen hat

Das pastellig-romantische Cover, der Titel und die Inhaltsangabe versprechen Sommerfeeling, Ferienabenteuer und erste Liebe und darauf hatte ich so richtig Lust. Tatsächlich spürte ich schon auf den ersten Seiten die Sonnenstrahlen auf der Haut und hatte den Geruch von Frittierfett, Seewasser und Sonnencreme in der Nase. Rätselhaftigkeiten rund um die toughe Protagonistin Maserati, die in der Gaststätte ihrer Oma schuften muss, und ihre neuen steinreichen Nachbarn taten sich von Beginn an auf und ließen auf eine spannende Spurensuche hoffen. Und dann musste ich feststellen, dass die Teenager (ebenso wie die Erwachsenen) in diesem Roman einfach nur nervig sind. Zwar ließ sich Alina Bronskys „Schallplattensommer“ leicht lesen, aber leider hatte ich nicht den erhofften Spaß bei der Lektüre.

Dass mich dieses Buch so enttäuscht hat, lag in erster Linie an den Figuren, deren Handlungen ich häufig schwer bis gar nicht nachvollziehen konnte. Ständig sind sie unfreundlich zueinander oder aus nicht unbedingt ersichtlichen Gründen anderen gegenüber beleidigt. Bedingt lässt sich das zwar mit den Belastungen und traumatischen Erlebnissen erklären, die sämtliche Protagonisten mit sich herumschleppen, aber diese reichen mir als Begründung für ihr Verhalten nicht aus. Die großen Mysterien, die die beiden im Mittelpunkt stehenden Familien umgeben, müssen von den Handelnden nicht großartig erkundet werden, sondern werden stets dadurch offengelegt, dass irgendwer sie einfach ausplaudert, und dann sind sie größtenteils recht unspektakulär oder wirken zu weithergeholt und konstruiert.

Die Moral der Geschichte soll womöglich sein, dass sich die Beziehung zu anderen Menschen nicht unbedingt verbessert, wenn man deren intimste Geheimnisse kennt. Deshalb kommt Maserati irgendwann zu dem Entschluss, dass sie gar keine Geheimnisse anderer mehr kennen möchte, was mich beim Lesen ziemlich frustriert hat, da ich die Geheimnisse des Romans hingegen sehr gerne alle gelüftet hätte. So bleibt letztendlich das größte Mysterium des Sommers, für wen Maserati sich entscheiden wird: Den gehörlosen Georg, der ihr stets für Reparaturen zur Seite steht, den immer wieder wörtlich als „Sonnyboy“ beschriebenen Caspar, der sie immer mit dem Namen einer anderen Automarke anspricht (was mich mindestens ebenso genervt hat wie Maserati) oder den tiefgründigen Theo, der besessen von einer Schalplatte mit ihrem Gesicht auf dem Cover ist?

Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass der Roman stets zu sehr an der Oberfläche geblieben ist, die Charaktere wirkten überzeichnet und ihr Handeln sowie ihre Sprechweise erschienen mir oft realitätsfern. Mein Fall war „Schallplattensommer“ leider nicht, aber vielleicht werden andere Lesende auf der Suche nach leichter Sommerlektüre eher mit den beiden merkwürdigen Familien aus Alina Bronskys Roman warm.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.02.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


sehr gut

Dies ist ein Roman über eine Familie, in der jedes einzelne Familienmitglied einen großen Rucksack an Problemen und schmerzhaften Erinnerungen mit sich herumträgt, ohne mit den anderen darüber sprechen zu können. Der Tod von Vater Hüseyin in der neu gekauften Wohnung in Istanbul, für die er jahrzehntelang in Deutschland geschuftet hat, bringt die Familie in der Türkei zusammen und reißt alte Wunden wieder auf.

Fatma Aydemir hat "Dschinns" in sechs nach den einzelnen Familienmitgliedern benannte Abschnitte geteilt. Die Kapitel über die Eltern Hüseyin und Emine rahmen die Abschnitte über ihre vier Kinder: Nesthäkchen Ümit, der als einziger noch bei den Eltern lebt und versucht, sich über seine Gefühle klarzuwerden; die älteste Tochter Sevda, die erst im Teenageralter von den Eltern nach Deutschland nachgeholt wurde; Perihan, die seit Kurzem damit begonnen hat, sich mit den kurdischen Wurzeln ihrer Familie auseinanderzusetzen und Hakan, für den das Wichtigste ist, ein anderes Leben als sein Vater zu führen.

Man erfährt einerseits, wie sich die einzelnen Familienmitglieder auf den Weg nach Istanbul begeben und dort zusammenkommen, andererseits blicken die Protagonist*innen auf ihr bisheriges Leben zurück und reflektieren ihre privaten Probleme. Diese Erinnerungsabschnitte empfand ich meist als interessanter als die Ereignisse in der Gegenwart. Insbesondere, dass alle Familienmitglieder aus ihrer Perspektive auf verschiedene besonders prägende Momente in der Familiengeschichte zurückblicken und man sie so aus verschiedenen Blickwinkeln miterlebt, wodurch sich nach und nach ein Puzzle zusammensetzt, hat mir unglaublich gut gefallen. Aydemir hat für alle vier Geschwister einen jeweils eigenen Sprachstil geschaffen, der dazu beiträgt, dass alle vier beim Lesen lebendig werden und man sich in sie hineinversetzen kann. Es ist erschütternd, was sie erleben, zugleich aber auch beeindruckend, was sich die Geschwister teilweise erkämpft und erarbeitet haben. Sehr gelungen ist auch die Erzählperspektive der Elternkapitel. Sie sind in der zweiten Person an Hüseyin und Emine gerichtet geschrieben. Diese Erzählweise macht die beiden Kapitel besonders packend und zieht einen mitten in die Geschichte und in die Gedanken- und Gefühlswelt beiden Elternteile hinein, mit denen man mitleidet.

Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" gibt tiefe und ergreifende Einblicke in das Leben einer türkischen Arbeiterfamilie in Deutschland von den Siebzigern bis in die Nullerjahre und hat mich mit seiner multiperspektivischen Erzählweise sehr begeistert, auch wenn ich die Abschnitte über die Gegenwart nicht ganz so gelungen fand wie die Rückblicke in die Vergangenheit der Familie. Auf jeden Fall eine Empfehlung für alle, die gerne in Schicksale und Lebenswelten eintauchen, die sich deutlich von der eigenen Erfahrung unterscheiden.

Bewertung vom 05.09.2021
Fanzi
Schmidauer, Elisabeth

Fanzi


ausgezeichnet

„Wie sich hinter ihnen allen die Zeit auftürmte, dachte Astrid auf der Heimfahrt. Versteinerte Zeit. Granitene Härte.“

Genau darum geht es in Elisabeth Schmidauers Roman „Fanzi“, um die erdrückende Last der Vergangenheit. Erzählt wird abwechselnd aus Sicht der Biologin Astrid und ihres Großvaters Franz, der im Kindes- und Jugendalter den zweiten Weltkrieg in einem österreichischen Dorf in der Nähe von Linz miterlebt hat. Die traumatischen Erlebnisse sowie erdrückenden Schuldgefühle aus dieser Zeit lassen ihn auch als alten Mann nicht los. Durch die wechselnde Perspektive zwischen Großvater und Enkelin gelingt es der Autorin, auf eindrückliche Weise zu zeigen, wie sich die unvorstellbaren Schrecken des Krieges auch auf die nachfolgenden Generationen auswirken.

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman Schmidauers ebenso fesselnder wie poetischer Schreibstil. Ihre atmosphärischen Naturbeschreibungen sprechen alle Sinne an, ich konnte das Geschilderte beim Lesen förmlich sehen, fühlen, riechen und schmecken. Die Autorin beschwört durch ihre Schreibweise eindrückliche Bilder herauf: Bilder der Verwesung, des Verfalls und des Schreckens, aber auch Bilder der Fülle und Farbenpracht der Natur, vom Wunder der Entstehung der Erde. Vom ersten Satz an wurde ich in die dunklen Gedankenstrudel, Erinnerungen und Albträume der beiden Protagonisten hineingezogen. Dadurch konnte ich mich gut in Astrid und Franz hineinversetzen und habe mit ihnen mitgefühlt und gelitten.

Schmidauers Schilderungen wirken äußerst authentisch und ich konnte mir beim Lesen gut vorstellen, dass sich die Geschehnisse so oder so ähnlich in verschiedenen Landwirtsfamilien der Zeit ereignet haben. Sowohl die Fakten zur Geschichte als auch zur Biologie erscheinen gründlich recherchiert und der österreichische Dialekt, in dem einige der Figuren sprechen, trägt ebenfalls zu dem Gefühl bei, eine überaus realistische Erzählung vor sich zu haben. Dass man sich den Figuren, die eigentlich niemanden an sich heranlassen, beim Lesen so nahe fühlt, führt dazu, dass der ohnehin harte Stoff umso stärker betroffen macht.

„Fanzi“ ist nicht nur ein Roman über die verstörenden Ereignisse des zweiten Weltkriegs und den Umgang der Überlebenden und ihrer Nachkommen damit, sondern auch über das Verhältnis von Mensch und Natur und über die kleinen Dinge, die das Leben trotz aller Widerstände lebenswert machen. Die Geschehnisse sind schwer zu ertragen, aber umso wichtiger ist es, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, und ich kann allen nur empfehlen, sich die Gräueltaten der Vergangenheit von Elisabeth Schmidauers ergreifendem Roman und ihrer beeindruckenden Art und Weise, mit Sprache umzugehen, in Erinnerung rufen zu lassen.

Bewertung vom 11.07.2021
Wildtriebe
Mank, Ute

Wildtriebe


ausgezeichnet

Das Cover mag mit seinen rosafarbenen Blüten leicht kitschig wirken, doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen, denn in Ute Manks Roman „Wildtriebe“ herrscht alles andere als Bauernhofromantik. Das Leben auf dem Bethches-Hof folgt dem Rhythmus der Jahreszeiten und die Frauen im hessischen Hausen folgen dem seit Jahrzehnten für sie vorgegebenen Weg. Doch als Marlies den Hoferben Konrad heiratet, ist sie sich alles andere als sicher, ob dies auch ihr Weg ist. Als sie schließlich selbst eine Tochter bekommt, möchte sie, dass diese die Freiheit hat, ihren eigenen Weg zu wählen, auch wenn sie schmerzhaft erfahren muss, dass dieser Weg von ihr wegführt. Mit ihrer Unangepasstheit sorgen sowohl Mutter als auch Tochter im Dorf für so manches Getuschel über die Bethches-Frauen.

Als jemand, der selbst auf einem alten Bauernhof in einem hessischen Dorf großgeworden ist, haben mir bereits die ersten Sätze großes Wiedererkennungspotenzial geboten. „Wildtriebe“ hat bei mir unglaublich viele Erinnerungen an Traditionen und die Gegebenheiten in meinem Heimatort sowie an Erzählungen der Frauen aus den Generationen vor mir wachgerufen, was die Lektüre für mich umso packender gemacht hat. Ute Mank trifft mit ihren Beschreibungen des Lebens auf dem Dorf und insbesondere in alten Bauernfamilien den Nagel auf den Kopf.

Im Fokus des Buchs stehen die drei Frauen des Hofs sowie die weiteren weiblichen Figuren. Obwohl sie unter dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen stehen, hat man das Gefühl, dass sie es sind, die im Dorf und in den Familien den Ton angeben, während alle männlichen Figuren in diesem Roman die meiste Zeit stumm ihrer Arbeit nachgehen. Mank schafft es, dass man sowohl Lisbeth als auch Marlies verstehen kann und mit ihnen mitfühlt, obwohl sie solch widersprüchliche Ansichten haben und einander – meist nicht einmal mit Absicht – das Leben schwer machen. Man lernt die beiden beim Lesen mit all ihren Träumen, Lebensvorstellungen, Ängsten und Selbstzweifeln kennen. Schade ist allerdings, dass man Joanna nur mit den Augen der Mutter und der Großmutter betrachtet und die Autorin nicht auch aus Joannas Sicht schreibt. So kommen in diesem Roman, in dem es um drei so verschiedene Generationen geht, leider nur die zwei älteren Generationen wirklich zu Wort.

„Wildtriebe“ von Ute Mank ist ein wirklich schöner Roman, der sich gut lesen lässt und sowohl die Realität des Landlebens als auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft im Wandel der Zeit porträtiert und zeigt, dass Freiheit und Glück für jede der drei Protagonistinnen ein wenig anders aussehen.

Bewertung vom 10.05.2021
Dein ist das Reich
Döbler, Katharina

Dein ist das Reich


sehr gut

Gut 40 Jahre Weltgeschichte aus ungewohnter Perspektive

Bevor ich Katharina Döblers Roman „Dein ist das Reich“ in den Händen hielt, war mir nicht einmal bewusst, dass ein Teil Neuguineas einmal eine deutsche Kolonie war. Umso wichtiger finde ich es, dass die Autorin einen Ausschnitt aus der Geschichte aufgreift, über den zumindest ich so gut wie nichts in der Schule gelernt habe, und ihn zum Gegenstand einer ebenso spannenden wie ergreifenden Familiengeschichte macht.

Alle vier Großeltern der Ich-Erzählerin verbrachten einen Teil ihres Lebens als Missionare in Neuguinea. Als junge Frau rebelliert sie gegen alles, wofür ihre Vorfahren standen: Gegen die christliche Kaffeerunde am Sonntagnachmittag, die nostalgische Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit und die Verklärung des Kolonialismus. Erst später beginnt sie, die Familiengeschichten aus Erzählungen, Fundstücken, Tagebüchern, Zeitungsartikeln und Fotografien zusammenzusetzen und aufzuschreiben. Zwar bekommt man die Fotos nicht zu sehen, doch die detaillierten Bildbeschreibungen lassen sie beim Lesen im Kopf entstehen, als blättere man nicht durch einen Roman, sondern durch ein Familienalbum. Die Perspektive wechselt immer wieder zwischen den einzelnen Großelternteilen, die alle zu einem anderen Zeitpunkt ihre große Reise angetreten und doch zueinander gefunden haben, sowie den Erinnerungen der Erzählerin. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, den Überblick über die Verhältnisse der kinderreichen Familien zu behalten und war dankbar für den im Buch enthaltenen Stammbaum. Die vorne abgedruckte Karte von Neuguinea hat zusätzlich dabei geholfen, die örtlichen Gegebenheiten und Distanzen besser nachvollziehen zu können.

Was ich besonders interessant fand, war, dass Döbler die Menschen mit ihren Ansichten, Motivationen und Empfindungen in den Fokus rückt. Warum entschließt sich ein fränkischer Bauernsohn, seine Heimat hinter sich zu lassen und tausende Kilometer entfernt eine Plantage im Urwald zu bewirtschaften? Wie fühlt es sich an, sich auf den Weg in ein fremdes Land zu einem Ehemann zu machen, den man kaum kennt und vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen hat? Was macht es mit einem, nach Jahrzehnten in eine Heimat zurückzukehren, die man nicht mehr wiedererkennt? Mit den beiden Großmüttern Marie und Nette verfügt das Buch über zwei starke weibliche Hauptfiguren mit großen Plänen, deren Verwirklichung nicht selten an der Gesellschaft und den Wirren der Weltgeschichte scheitert. Alle vier Hauptfiguren sind unglaublich interessante Charaktere und auch wenn man viele ihrer Ansichten aus heutiger Perspektive beim besten Willen nicht gutheißen kann, gelingt es Döbler, sie nachvollziehbar zu machen. Ich hatte beim Lesen teilweise großen Respekt davor, was sie für ihre (wenn auch zweifelhaften) Überzeugungen auf sich genommen und durchgestanden haben. Dass man sich so gut in die handelnden Personen hineinversetzen kann, birgt jedoch auch die Gefahr, dass man die nötige Distanz zu ihren Sichtweisen und damit auch den unfassbar wichtigen kritischen Blick auf den Kolonialismus verliert. Beim Lesen betrachten wir die in Neuguinea lebenden Menschen mit den Augen der Missionare. Gleichzeitig dürfen wir aber nie außer Acht lassen, wie rassistisch deren Einstellung den Indigenen gegenüber und wie grausam ihr Umgang mit ihnen war. Hier habe ich mir stellenweise mehr in die Gegenwart einordnende Kommentare der Erzählerin gewünscht.

Katharina Döbler betrachtet in „Dein ist das Reich“ die Geschichte von 1913 bis 1948 aus einem ungewohnten Blickwinkel. Wer gerne historische Familiengeschichten liest oder sich für bewegende Lebensgeschichten interessiert, wird mit diesem spannenden Roman sicher viel Spaß haben. Wer auf 500 Seiten knallharte Kritik am Kolonialismus hofft, wird vermutlich enttäuscht sein.

Bewertung vom 25.04.2021
Laudatio auf eine kaukasische Kuh
Jodl, Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh


gut

Zwischen Begeisterung und Zähneknirschen

In den Augen der griechisch-georgischen Familie der angehenden Ärztin Olga ist das Wichtigste für eine junge Frau, dass sich ein geeigneter Ehemann für sie findet. Bereits als sie im Teenageralter ist, werden potenzielle Heiratskandidaten zum Tee eingeladen. So vehement sich die selbstbewusste Protagonistin in Angelika Jodls Roman “Laudatio auf eine kaukasische Kuh” gegen diese Verkupplungsversuche wehrt, so sehr sehnt sie sich aber auch nach Sicherheit, einem “normalen deutschen” Leben und vor allem einem Nachnamen mit möglichst wenig Silben. All das stellt ihr ihr Quasi-Verlobter Felix van Saan, ebenfalls Mediziner, in Aussicht. Doch dann taucht Abschlussarbeiten-Ghostwriter Jack auf und bringt alles durcheinander. Und um ehrlich zu sein: das nervt.

Jodl erzählt abwechselnd aus Olgas und aus Jacks Perspektive. Olga ist mit ihren griechisch-georgischen Wurzeln, die sie so gerne hinter sich lassen möchte, die ihr aber immer wieder Stolpersteine in den Alltag als Medizinstudentin legen, eine unglaublich interessante Protagonistin. Ihre zynischen Beobachtungen über ihre Mitstudierenden, die schlagfertige Art, mit der sie ihre Meinung äußert und mit der sie für andere einsteht, machen Spaß zu lesen. Man kann sich gut in sie hineinversetzen, fühlt mit, wenn sie Kämpfe mit ihrer Mutter austragen muss, und kann ihre Wut und Frustration mit den Erwartungen ihrer Familie gut nachvollziehen. Mit ihr gemeinsam Georgien kennenzulernen und mehr über eine Kultur zu erfahren, von der ich bisher so gut wie nichts wusste, wird dadurch noch interessanter, dass sie selbst von oben herab auf dieses Land blickt, aus dem ihre Eltern stammen und dessen Bräuche und Traditionen sie für rückständig hält, und nun mit ihren Vorurteilen konfrontiert wird. Die spontane Familienreise nach Tiflis hält so viele spannende Einblicke parat und Olgas Entwicklung, während sie ihre Verwandten kennenlernt und in deren Lebenswelt eintaucht, ist derart interessant, dass ich das große Liebesdrama drum herum nicht gebraucht hätte.

Wahrscheinlich auch vor allem deshalb, weil ich eine Abneigung gegen Liebe-auf-den-ersten-Blick-Geschichten voller unwahrscheinlicher Zufälle habe und den zweiten Protagonisten Jack nicht ausstehen kann. Auf der einen Seite soll er eine Art Außenseiter darstellen, ein Tagelöhner ohne Abschluss, der so vor sich hinlebt, auf der anderen Seite ist er ein absoluter Alleskönner, der in Windeseile Sprachen lernt, unglaublich gut zeichnet, in jedem Fach durch ein bisschen Recherche in der Bibliothek mal schnell eine Abschlussarbeit mit Einsergarantie verfassen kann, aller Welt aufgeschlossen begegnet, mit allen direkt klarkommt und sich mit ihnen auch ohne gemeinsame Sprache einwandfrei verständigen kann. Wie abwertend er über Germanistikabschlussarbeiten als lieblos hingeklatschte Aneinanderreihungen von Anfang, Hauptteil und Schluss zu den immergleichen Themen spricht, macht ihn mir als Germanistin, die viel Herzblut in ihre Abschlussarbeit gesteckt hat, natürlich nicht gerade sympathischer. Und ganz ehrlich, wer einer Frau, die er einmal gesehen hat, immer wieder am Bahnhof auflauert, sie bis nach Hause verfolgt und ihre Familienmitglieder ausfindig macht, um sich mit ihnen anzufreunden, ist kein romantischer Eroberer, sondern ein gestörter Stalker.

Angelika Jodl vermischt in “Laudatio auf eine kaukasische Kuh” die Geschichte einer unglaublich spannenden Protagonistin, die die kulturellen Wurzeln ihrer Familie kennenlernt, während sie nach ihrem eigenen Platz im Leben sucht, mit einer für meinen Geschmack zu konstruierten und übertriebenen Liebesgeschichte zwischen ihr und einem für mich unerträglichen zweiten Protagonisten. Ich habe Teile dieses Romans mit großem Interesse verschlungen und Teile zähneknirschend ertragen.

Bewertung vom 22.04.2021
Die Wahrheit der Dinge
Thiele, Markus

Die Wahrheit der Dinge


gut

Wenn ein Rechtsanwalt einen von zwei realen Rechtsfällen inspirierten Roman schreibt, in dem es um „Die Wahrheit der Dinge“ und die Grenzen von Schuld und Gerechtigkeit gehen soll, erwarte ich eine intensive Auseinandersetzung mit den Fällen und eine spannende moralische Diskussion, in der es keine einfachen Antworten gibt. Stattdessen steht in Markus Thieles Roman ein Strafrichter im Mittelpunkt, der von Frau und Sohn verlassen wurde und sich nun auf die Suche nach der Bestätigung begibt, dass er eigentlich doch immer recht hat. Der Grund für Frank Petersens Auseinandersetzung mit seiner Familie ist sein Urteil im Fall Korkmaz, das gerade beim Bundesgerichtshof liegt, was stark an Petersens Rechthaber-Ehre kratzt. Das Korkmaz-Urteil wird immer wieder erwähnt, aber man muss sich bis Seite 180 (von 240) gedulden, bis man erfährt, um welche Straftat es dabei eigentlich geht. Petersens Entscheidung wird dabei auch nicht ausführlich diskutiert, denn im Großen und Ganzen geht es ihm einfach nur darum, dass er richtig gehandelt hat und alle anderen dies einfach nicht einsehen wollen. Mir ist Petersen mit seiner unerschütterlichen Überzeugung von sich selbst ziemlich unsympathisch und es macht mir keinen Spaß, mich beim Lesen in seine Gedankenwelt zu vertiefen. Leider geht es viel mehr um ihn selbst, seine Befindlichkeiten und die Sehnsucht nach seiner Frau als um seine umstrittenen Rechtssprüche.

Was an „Die Wahrheit der Dinge“ jedoch lesenswert ist, ist die Geschichte von Corinna Maier, die sich während ihres Medizinstudiums in einen südafrikanischen Doktoranden verliebt (dem der Autor leider ein fürchterliches Denglisch verpasst hat) und daraufhin eine Reihe Schicksalsschläge erleidet, die schließlich dazu führen, dass sie in Petersens Gerichtssaal einen Mann erschießt. Während ich eher mit Petersens Frau Britta übereinstimme, dass seine Probleme mit seinem Egoismus, seiner Arroganz und seiner Unfähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, zusammenhängen, sieht der Strafrichter den Ursprung seiner Lebenskrise in diesem Vorfall und macht sich auf den Weg, Corinna am Tag ihrer Entlassung aus dem Gefängnis abzuholen, damit sie ihm die Frage nach dem Sinn seines Lebens beantworten und sein Weltbild geraderücken kann. Generell scheinen alle anderen Figuren nur dazu da zu sein, um Petersen bei seiner Selbstfindung zu helfen. Auch wenn ich Thieles Schreibstil ansonsten als angenehm und flüssig zu lesen empfunden habe und es ihm gelingt, die Atmosphäre gut einzufangen und fühlbar zu machen, haben mich die Dialoge häufig gestört. Selten gehen die Figuren auf die Fragen ein, die sie einander gestellt haben, sondern geben andauernd rätselhaft anmutende kalenderspruchartige Lebensweisheiten von sich.

Da ich ganz andere Erwartungen an „Die Wahrheit der Dinge“ hatte, hat mich Markus Thieles Roman leider etwas enttäuscht. Die Midlife-Crisis eines arroganten Strafrichters und dessen Suche nach Selbstbestätigung hat mich so gar nicht interessiert. Corinna Maier hingegen ist eine interessante Protagonistin mit einer bewegenden Lebensgeschichte. Die Abschnitte, in denen sie im Fokus steht, werten den Roman deutlich auf.

Bewertung vom 13.04.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


ausgezeichnet

„…dann tut mir zur Hölle den Gefallen, benutzt euer Internet und recherchiert noch mal ganz kurz, in welchem verdammten Land ihr lebt.“ Das verlangt Kasih, die Erzählerin aus Shida Bazyars Roman „Drei Kameradinnen“ von uns Lesenden, während sie in der Nacht an ihrem Schreibtisch sitzt und aufschreibt, wie es dazu gekommen ist, dass eine ihrer besten Freundinnen im Gefängnis gelandet ist. Kasih, Saya und Hani, das sind die titelgebenden drei Kameradinnen, drei nicht-weiße Frauen, die gemeinsam in einer Siedlung irgendwo in Deutschland großgeworden und nun nach längerer Zeit wieder einmal zu dritt zusammengekommen sind, um gemeinsam eine Hochzeit zu besuchen. Kasih erzählt davon, was sich in den vier Tagen, die sie und ihre Freundinnen zusammen verbringen, ereignet, erinnert sich an ihre gemeinsame Kindheit in der Siedlung und zeigt vor allem auf, wie ihnen im Alltag immer wieder Rassismus begegnet. Dies geschieht manchmal offensichtlich und unübersehbar und manchmal in kleinen Nadelstichen, deren Auswirkungen sich erst im Nachhinein und in der Summe offenbaren.

Dieser Roman ist unbequem. Er spricht uns, die wir ihn lesen, immer wieder direkt an und er unterstellt uns Dinge, ohne uns zu kennen. Aber vielleicht treffen auch wir ständig Annahmen über Menschen, die wir gar nicht kennen? Ich habe mich beim Lesen immer wieder ertappt gefühlt. Manchmal war es, als könnte Kasih in meinen Kopf schauen und meine Gedanken vorhersagen. Überhaupt schaut sie immer wieder in die Köpfe verschiedenster Figuren, geht auf deren Sorgen und Probleme ein und zeigt uns, wie Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln wirken. Dadurch sowie durch die vielen Diskussionen, die die Figuren miteinander führen, werden wichtige Themen aus unterschiedlichen Richtungen beleuchtet und Argumente einander gegenübergestellt. Kasih kommentiert diese Diskussionen im Nachhinein selbstkritisch und stellt dabei auch ihre eigenen Annahmen und die ihrer Freundinnen immer wieder infrage. Auf diese Weise gelingt es der Autorin, dass das Buch zwar unbequem ist und die Lesenden dazu bringt, sich mit dem Thema Rassismus in Deutschland und was das mit ihnen selbst zu tun hat zu beschäftigen und eigene Meinungen und das eigene Verhalten zu hinterfragen, ohne dass es sich dabei wie eine einzige Anklage mit erhobenem Zeigefinger liest.

Irgendwie hat es sich für mich ein bisschen wie eine besonders lange E-Mail einer Freundin gelesen, in der sie Erlebnisse, Erinnerungen und Gedanken mit mir teilt. Bazyars Sprache ist alltagsnah, ohne dabei in irgendeiner Weise trivial, plump oder zu bemüht modern zu wirken. Bei den Dialogen habe ich mir immer wieder gedacht: „Ja, so reden Leute wirklich!“ Für das Verhalten mancher Figuren musste ich mich beim Lesen mitschämen. Nicht nur die Sprache, auch die Geschehnisse wirken ungemein – und nicht selten erschreckend – realistisch. Kasih beobachtet ihre Umgebung genau und bringt das, was sie sieht, messerscharf und schonungslos, aber auch mit Humor und Ironie und auf den Punkt. Der Roman fühlt sich an wie eingefangene Realität und doch ist die Erzählerin alles andere als zuverlässig und gibt immer wieder zu, dass bestimmte Teile vorangegangener Schilderungen nicht der Wahrheit entsprechen, und am Ende weiß man überhaupt nicht mehr, was man glauben soll. Manchmal gibt es eben keine einfachen Antworten. Das gesamte Buch ist ein riesiges emotionales Gedankenexperiment, das zeigt, wie wenig man sich auf seine eigenen Annahmen und Überzeugungen verlassen kann.

Shida Bazyars Roman „Drei Kameradinnen“ ist ein verdammt wichtiges und wirklich geniales Buch über Erfahrungen nicht-weißer Frauen in Deutschland, das mir sicher noch lange durch den Kopf schwirren und einige Gedanken darin durcheinanderwirbeln wird.

Bewertung vom 27.03.2021
Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz
MacDonald, Andrew David

Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz


ausgezeichnet

Jeder Tag ist eine Schlacht. Jeden Tag kämpfen wir alle mit den kleinen und großen Herausforderungen, die das Leben für uns bereithält. Für die 21-jährige Zelda sind manche Dinge, die für viele von uns zu den alltäglichen Kleinigkeiten gehören, aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen besondere Herausforderungen. Doch sie stellt sich all dem immer wieder voller Mut entgegen, so wie es ihre großen Vorbilder, die Wikingerhelden, getan haben. Als ihr großer Bruder Gert sich mit den falschen Leuten einlässt, ist Zelda klar, dass es nun an der Zeit ist, ihre eigene Legende zu schreiben und ihre Sippe zu verteidigen.

Der etwas ungewöhnliche Titel „Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz“ hat mich neugierig gemacht und Andrew David MacDonalds Roman hat mich von vorne bis hinten begeistert. Das farbenfrohe Cover täuscht über die ernsten Themen hinweg, die das Buch behandelt. Es geht um prekäre Lebenssituationen, dysfunktionale Familienverhältnisse und das Abrutschen in die Kriminalität. Und vor allem geht es darum, wie Menschen, die von der Gesellschaft als „anders“ wahrgenommen werden, sich durchs Leben kämpfen. Erzählt wird dies aus Sicht von Zelda und diese beeindruckende Protagonistin und ihre unglaublich starke Erzählstimme machen den Roman einmalig. Die Art, wie sie erzählt, wirkt unfassbar ehrlich und echt. Der Autor hat eine ganz eigene Sprache für sie gefunden. Zelda beschreibt die Dinge so, wie sie sie sieht, und sie bringt sie auf den Punkt. Sie bringt unendlich viel Mut auf, um die Menschen zu schützen, die ihr wichtig sind, und schreckt für ihre Sippe nicht davor zurück, sich an unbekannte Orte zu begeben und die bedrohlichsten Unholde zu konfrontieren. Ihre Legende hält jedoch auch andere Aufgaben für Zelda bereit, die von außen vielleicht banal wirken, für sie jedoch große Schritte auf ihrem Weg als Wikingerheldin bedeuten: Der erste eigene Job, das erste eigene Bankkonto, das erste Mal Sex haben. MacDonald gelingt es, nicht nur die großen Schlachten, sondern auch Zeldas alltägliche Herausforderungen einfühlsam, offen und ehrlich zu beschreiben. Dabei lässt er auch die unangenehmen Erfahrungen nicht aus, die seine Heldin macht, beispielsweise als sie zum ersten Mal mit ihrem Freund Marxie schlafen möchte – die ehrlichste Sexszene, die ich je gelesen habe.

Neben Zelda hält der Roman zwei weitere starke weibliche Figuren bereit: Gerts (Ex-)Freundin Annie, von Zelda nur AK47 genannt, und Pearl, die Mutter von Zeldas Freund Marxie. Die beiden zeigen sich Zelda und Marxie gegenüber unglaublich geduldig und liebevoll und sind voller Bereitschaft, sich offen mit den Wünschen und Bedürfnissen des Paares auseinanderzusetzen und sie dabei zu unterstützen, ihre Träume zu verwirklichen. Genau wie Zelda stellt sich AK47 furchtlos allen Gefahren und Unholden entgegen, bietet Gert auch dann die Stirn, wenn er zum Berserker wird, und tut alles dafür, die Sippe zu beschützen. Für mich ist sie die zweite Heldin des Romans.

„Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz“ hat mir die Welt aus einer faszinierenden Perspektive gezeigt, mich zum Lachen und zum Weinen gebracht und mich tief bewegt. Andrew David MacDonalds absolut legendärer Roman hat definitiv einen Platz ganz oben auf meiner Lieblingsbücherliste erobert.