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Tokall

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Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 15.02.2024
Notizen zu einer Hinrichtung
Kukafka, Danya

Notizen zu einer Hinrichtung


ausgezeichnet

Literatur mit "thrillerhaften Zügen"
Kurz vor seiner Hinrichtung begleiten wir Ansel Packer im Todestrakt bei seinen letzten Gedanken. Er spricht sich dabei selbst mit „du“ an, was einen ungewöhnlichen Effekt erzeugt. Man fühlt sich als Leser:in direkt angesprochen. Ansel wartet auf die Vollstreckung der Todesstrafe. Ihm bleiben noch 12 Stunden. Und er kann sich bis zum Schluss mit dem Urteil nicht abfinden, glaubt bis zu einem gewissen Punkt noch daran, dass er der Strafe entfliehen kann. Doch je näher die Frist rückt, desto klarer wird ihm, es gibt kein Entrinnen. Das ist wirklich eine schwer auszuhaltende Lektüre, bei der man als Leser:in gezwungen ist, sich mit dem Thema „Todesstrafe“ auseinanderzusetzen. Das Buch hat mir viel abverlangt und ich vermute, anderen Leser:innen wird es nicht anders ergehen.

Eingestreut in die Kapitel zu Ansel Packer, die im stündlichen Countdown heruntergezählt werden, werden zudem Rückblicke von verschiedenen Frauenfiguren: Da ist die Mutter von Ansel , die ihren Sohn im Alter von vier Jahren mit ihrem kleinen Bruder allein zurückgelassen hat, weil sie die Gewalt ihres Ehemanns nicht mehr ertragen hat. Wir erfahren auf diese Weise mehr über die armselige und gewalthaltige Kindheit von Ansel, der dann schließlich in staatliche Obhut gelangt. Da ist Hazel, die Zwillingsschwester von Jenny, mit der Ansel lange Zeit nach außen eine „normale“ Beziehung geführt hat, ohne zu bemerken, was Ansel für ein Mensch ist. Und da ist die Polizistin Saffy, die Ansel verdächtigt, observiert und dann überführt. Wir haben es also mit einem „howcatchem“-Thriller zu tun, wenn man dieser Genrezuordnung folgen möchte. In den Rückblicken erfahren wir mehr zur kindlichen Prägung von Ansel, zu seinen Taten und seinem „Scheinleben“ von Normalität sowie zu den Ermittlungen. Es geht vor allem um die Frage: Wie wird er am Ende ergriffen? Und es geht auch um die Frage: Wie wird jemand zum Mörder?

Das Buch wird als Thriller vermarktet, doch ich finde das Etikett „Thriller“ wird diesem Buch nicht gerecht, weil es zu kurz greift. Aufgrund der Themenwahl und der ausführlichen Charakterisierung der Figuren würde ich das Buch eher dem Genre „Literatur“ zuordnen, Literatur mit „thrillerhaften Zügen“. Die Charakterzeichnung aller handlungstragenden Figuren ist sehr detailliert ausgefallen. Vor allem Ansel gerät furchteinflößend und mitleiderregend zugleich. Da ist seine wahnhafte Seite, die man sich aufgrund seines kindlichen Traumas erklären kann und die Mitgefühl erregt, aber da ist auch die emotionslose, kalte sowie berechnende Seite, die mich als Leser schaudern ließ. Ansel ist in der Lage, seine Mitmenschen mühelos zu durchschauen und zu manipulieren. Und was geschickt von der Autorin immer wieder eingestreut wird: Es gibt an vielen Stellen Vorzeichen, die auf die dunkle Seite von Ansel hindeuten. Und gleichzeitig wirkt er besonders auf Frauen charmant, anziehend und attraktiv.

Das Buch fordert die Leser:innen, wie schon beschrieben, dazu heraus, sich eingehender mit dem Thema „Todesstrafe“ zu beschäftigen. Ein Thema, das ja auch in den Medien immer einmal wieder auftaucht. Erst kürzlich hat die Hinrichtung mit einer neuen Methode in Alabama für Schlagzeilen gesorgt. Jeder muss für sich selbst klären, wie er dazu steht. In dem Buch wird jedenfalls gut deutlich, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern sehr viele Grautöne. Dafür sorgt allein schon die Charakterzeichnung der Figuren. Auch das erzähltechnische Arrangement überzeugt, es kommen viele Blickwinkel vor, die sich dem Thema und dem Täter annähern. Hätte die Autorin wirklich einen Thriller schreiben wollen, so hätte die Handlung viel stärker gestrafft werden müssen, die Charaktere wären weniger differenziert und facettenreich beschrieben worden und sie hätte auch an einigen anderen „Stellschrauben“ drehen müssen, um mehr Tempo zu erzeugen. Deshalb glaube ich, dass es der Autorin um etwas anderes ging, als „nur“ einen Thriller zu schreiben. Von mir gibt es 5 Sterne, (...)

Bewertung vom 14.02.2024
Der Ausflug - Nur einer kehrt zurück
Kvensler, Ulf

Der Ausflug - Nur einer kehrt zurück


ausgezeichnet

Spannend, spannend, spannend
Wow, ich habe im Moment richtig, richtig Glück mit meiner Thriller-Auswahl: Das Buch „Der Ausflug“ von Ulf Kvensler hat sich als Kracher erwiesen. Ich bin durch die Seiten geflogen und der Autor macht so viel richtig, um Spannung zu erzeugen: Angenehme Kapitellängen, Cliffhanger am Ende eines Kapitels, eine hohe Dialoghaftigkeit, eine authentische Schilderung psychischer Ausnahmezustände, die Darstellung permanenter äußerer Bedrohungen in Form von Naturgewalten, ständig neue spannungserregende Impulse in Form von Widrigkeiten, eine tiefgründige Charakterzeichnung, eine interessant gestaltete Gruppendynamik mit Rivalitäten, Missstimmungen, Unterstellungen und Eifersüchteleien, eine geschickt arrangierte Erzählstruktur mit gut getimten Perspektivwechseln, atmosphärische Naturbeschreibungen, sich abwechselnde Passagen von Anspannung und Entspannung. Die Stärke der Ich-Perspektive wurde hervorragend genutzt, um den Leser zu verunsichern. Die Handlung ist unvorhersehbar (im guten Sinne!) und wendungsreich. Immer wieder müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden. Kurzum: Lest dieses Buch und überzeugt euch selbst! Es wird euch mitreißen.

Doch worum geht es überhaupt? Die Ich-Erzählerin Anna berichtet ihrer Freundin Milena von einer neuen Männerbekanntschaft und bittet sie darum, dass Jacob bei ihrer schon länger geplanten Wanderung dabei sein darf. Milena reagiert zunächst überrumpelt, hält Rücksprache mit ihrem Partner Henrik und schließlich sind sie und Henrik einverstanden, dass Jacob die Gruppe begleitet. Auf den ersten Seiten geht es zunächst einmal um das gegenseitige Kennenlernen. Und auf der Zugfahrt zum Ort des Reisebeginns schlägt Jacob vor, die Reiseroute spontan zu ändern. Eine tragische Entscheidung, wie sich noch herausstellen wird. Doch mehr verrate ich hier nicht. Nur so viel: Es wird ein heftiger Trip!. Eingeflochten sind auch Zeugenbefragungen von Anna, die man allein aufgefunden hat und die im Rückblick von der Wanderung berichtet. Die Befragungen verrätseln das Geschehen und als Leser:in fragt man sich sofort: Was ist passiert?

Es ist wieder eines dieser Bücher, bei dem ich dachte: „Schade, dass es zu Ende ist“. Der Thriller hat auf mich eine unfassbare Sogwirkung entfaltet, auch weil er so abwechslungsreich gestaltet ist. Ein solches Gefühl hatte ich das letzte Mal bei „Wenn Sie wüsste“, mein Thriller-Kracher aus dem Jahr 2023. Und was noch besser ist: Ich habe dieses Mal im Vorfeld überhaupt nicht damit gerechnet. Ich habe angefangen zu lesen und dachte permanent: „Yes, wenn das so weitergeht, wird das ein echter Kracher“. Vom Setting hat es mich auch an „In blaukalter Tiefe“ von Kristina Hauff erinnert (vgl. dazu eine frühere Rezension). Allerdings geht es dieses Mal nicht um einen Segeltörn, sondern um eine gemeinsame Wanderung, bei der man aufeinander angewiesen ist und wenig Privatsphäre hat. Und im weiteren Handlungsverlauf wird das gegenseitige Misstrauen immer größer. Und noch etwas: Man fiebert mit den Protagonisten mit! Ein klares 5-Sterne-Buch.

Bewertung vom 05.02.2024
Die Insel des Zorns
Michaelides, Alex

Die Insel des Zorns


ausgezeichnet

Originell und enttäuschend
Nein, dieses Buch war leider überhaupt nicht mein Fall. Schade, schade. Und das, obwohl der Auftakt vielversprechend und ungewöhnlich war. Die Idee eines auktorialen Erzählers, der zugleich auch handelnde Figur ist, sich direkt an die Leser:innen wendet und das Geschehen kommentiert, fand ich zunächst interessant. Es stellte sich im weiteren Handlungsverlauf dann aber leider heraus, dass die Verwendung einer solchen Erzählerinstanz verhindert, dass überhaupt Spannung entsteht. Zu geschwätzig und omnipräsent kommt der Erzähler daher, er mischt sich in meinen Augen viel zu viel ein. Ich hätte ihm am liebsten zugerufen: „Komm doch endlich auf den Punkt!“ Irgendwann war ich tatsächlich nur noch davon genervt. Das einzige, was mir noch gefallen hat, war die Metaebene zum Schreiben, die der Erzähler eröffnet hat. Als Dramatiker kennt er sich in diesem Bereich nämlich aus, meint er zumindest…

Die Erzählweise ist also sicherlich mal etwas anderes, sicherlich wird sie ihre Fans finden. Für mich war es, wie gesagt, (leider) nicht das Richtige. Die Distanz zu den Figuren wurde mir dadurch auch viel zu groß, weil über sie nur berichtet wird, vermittelt durch eine andere Instanz. Gleichzeitig überschattet der charmante und selbstgefällige Erzähler mit seiner Präsenz alle anderen Figuren, drängt sie förmlich an den Rand. Dadurch verlieren sie an Reiz und an Zugkraft. Und es kommt hinzu, dass die Spannung gänzlich verloren geht. An keiner einzigen Stelle bin ich vom Geschehen gepackt worden. So etwas darf in einem „Thriller“ in meinen Augen einfach nicht passieren, sonst ist es für mich kein Thriller.

Leider kann „Die Insel des Zorns“ nicht mit dem Erfolg von „Die stumme Patientin“ mithalten, das ich auch vor kurzem gelesen habe und das mir gut gefallen hat (vgl. eine frühere Rezension). Ich rate von der Lektüre ab und komme auf 2 Sterne, weil die Idee mit dem auktorialen Erzähler zunächst originell auf mich wirkte. Vom Autor würde ich mir wünschen, dass er beim nächsten Thriller wieder zu seinen Wurzeln zurückkehrt und einen stärker psychologisch ausgerichteten Plot entwickelt. Er hat mit seinem Debut ja bewiesen, dass es ihm gelingt, ein solches Setting zu kreieren. Mein Wunsch: Zurück zum Psychologisch-Psychiatrisch-Therapeutischen!

Bewertung vom 29.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


sehr gut

„Cancel Culture“ im Jahr 1922 in Russland
Die 100-jährige Frau Professor Anouk Perleman-Jacob bittet einen Journalisten darum, Gespräche mit ihr zu führen, um einen biographischen Bericht zu ihrem Leben daraus zu verfassen. Sie blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück, wurde 1908 in St. Petersburg geboren und gilt im Roman als eine der bedeutendsten europäischen Architektinnen des Jahrhunderts (es handelt sich um eine fiktive Figur!). Ihr monologischer autobiographischer Bericht, der mitten im russischen Bürgerkrieg im Jahr 1922 beginnt und durch die sprachliche Gestaltung sehr authentisch und realistisch wirkt (obwohl er fiktiv ist), wird immer wieder auch durch dialogische Sequenzen unterbrochen, bei denen sie sich an den Journalisten wendet. Dieser nimmt die Gespräche mit einem Aufnahmegerät auf.

Zu Beginn beschreibt sie die elendigen Lebenszustände im russischen Bürgerkrieg (u.a. werden auch Verhöre der damaligen Geheimpolizei geschildert und wir lernen schlagwortartig einige historisch bedeutsame Figuren kennen, die in die fiktive Handlung eingeflochten werden). Die Eltern von Perleman-Jacob zählten zur unliebsamen Intelligenzija. Zahlreiche Intellektuelle wurden Ende 1922 des Landes verwiesen und mit Schiffen deportiert, darunter auch Anouk mit ihren Eltern. Das Ziel dieser Aktion: Kritiker loszuwerden. Diese Zeit nimmt den größten Raum der Schilderung ein und ich empfehle zur Nachbereitung des Romans das Thema nachzurecherchieren. Es lohnt sich!

Das Buch macht einen gut recherchierten Eindruck. Ich habe einiges über die russische Geschichte dazugelernt. Die sogenannten „Philosophenschiffe“ waren mir zuvor nicht als Begriff geläufig. Das paranoide Denken der Staatenlenker wird ebenso gut deutlich, wie das beengende und verunsicherte Gefühl der Passagiere an Bord der Schiffe. Den Ausgewiesenen ist nicht klar, was mit ihnen passiert. Es herrscht eine angespannte-angstvolle Atmosphäre an Bord. Das wird gut eingefangen. Niemand traut sich Fragen zu stellen, es herrscht großes Misstrauen. Und über allem schwebt auch immer die Frage nach dem „warum“. Warum wurden diese Personen ausgewiesen und wer hat das veranlasst?

Einzelne Passagiere werden näher porträtiert. Und den Höhepunkt bilden in meinen Augen die Streifzüge Anouks durch das Schiff. Dabei begegnet sie eines Abends einem Passagier, der sich als Lenin zu erkennen gibt. Er ist von Krankheit schwer gezeichnet. Man fragt sich natürlich, ob die Begegnung der kindlichen Fantasie entspringt, ob sich von den Passagieren jemand als Lenin ausgibt oder ob die Begegnung tatsächlich stattgefunden hat. Vielleicht will Anouk ihre Biographie mit dieser Anekdote zu Lenin auch einfach nur aufwerten? Kurzum: An dieser Stelle sind verschiedene Lesarten möglich, das ist gut arrangiert (letztlich ist die gesamte Begegnung aber natürlich eine Fiktion, Lenin war niemals auf einem Philosophenschiff). Die Unterredung von Anouk und Lenin war für mich die interessanteste Stelle im Buch.

Was mich beim Lesen wieder sehr beschäftigt hat, ist die Frage, was real und was fiktiv ist. Beide Ebenen vermischen sich. Man weiß nicht, welche Figur rein fiktiv ist und welche tatsächlich historisch verbürgt ist. An welchen Stellen macht der Autor von künstlerischer Freiheit Gebrauch? An einigen Stellen hätte ich ein gern ein passendes Geschichtsbuch begleitend zur Lektüre gelesen, doch leider gibt es weder ein Nachwort noch weiterführende Literaturhinweise. Teilweise habe ich versucht, Figuren im Internet zu recherchieren, habe aber nichts zu ihnen gefunden (dann werden sie wohl fiktiv sein?! Oder hat der Autor etwa die Passagierlisten zu Rate gezogen, z.B. bei Danil Danilowitsch Sidorow und seine Frau Monja Sidorowa?!).

Für wen ist das Buch geeignet: Sicherlich für Leute, die sich mit russischer Geschichte auskennen und für sie interessieren. Wer auch Parallelen zur heutigen Situation entdecken möchte, ist bei diesem Buch gut aufgehoben (der Vergleich drängt sich ja förmlich auf!). Punktuell geht es z.B. auch um die schwierige Situation der entwurzelten Exilanten im neuen Aufnahmeland. Man kann den inhaltlichen Bogen in meinen Augen sogar bis zur Diskussion um die sogenannten „Cancel Culture“ spannen. Das Buch bietet als viel Stoff zum Nachdenken. Von mir gibt es 4 Sterne! Warum nicht 5 Sterne? Weil ich mir ein Nachwort gewünscht hätte und weil ich den Erzählton stellenweise als etwas zu trocken empfunden habe

Bewertung vom 21.01.2024
Gestehe
Faber, Henri

Gestehe


ausgezeichnet

Packend, kreativ und innovativ
Hey Sebastian Fitzek, mach Platz da! Hier kommt Henri Faber. Der Meister der unvorhersehbaren Wendungen. Von „Kaltherz“ war ich damals begeistert (vgl. eine frühere Rezension). Das war kein 0815-Einheitsbrei, den Faber da vorgelegt hat. Und so viel darf ich schon vorweg nehmen: Das ist in seinem neuesten Thriller „Gestehe“ nicht anders. Ein Wort reicht, um Fabers neuestes Werk zu beschreiben: inhaliert (an einem Tag!).

Schon die Einführung des Ermittlers Jacket ist ungewöhnlich. Wir lernen den berühmten Polizisten bei Dreharbeiten eines Films zu dessen Leben kennen. Jacket ist ein nationaler Held. Im Alleingang hat er einen Organhändlerring gesprengt und dabei ein kleines Mädchen gerettet. Nun tingelt er als Werbefigur der Polizei durchs öffentliche Leben in Österreich. Von seinen Kollegen allerdings wird Jacket nicht ernst genommen, er gilt vielen als Witzfigur. Als Kontrast dazu lernen wir den Ermittler Mohammad (Kurzform „Mo“) kennen – Jahrgangsbester der Polizeischule, aber trotz seines Alters von 39 Jahren noch in keiner Führungsposition. Mo blickt anfangs mit Neid auf Jacket. Die Chemie zwischen beiden Figuren ist reizvoll angelegt.

Gegenüber von Jackets Wohnhaus findet man eines Tages in einem Gebäude eine Leiche. Bei der Tatortuntersuchung stoßen Jacket und Mo das erste Mal aufeinander. Ein feindseliges Knistern liegt zwischen beiden in der Luft. Doch Jacket wünscht sich Mo als Partner an seiner Seite und hofft darauf an erfolgreiche alte Ermittlungszeiten anzuknüpfen und mal wieder einen Erfolg einzufahren. Mo hingegen ist aber zunächst überhaupt nicht begeistert von dieser Idee. Es läuft auf ein interessantes Zusammenspiel der beiden Ermittler hinaus. Werden sie zueinander finden?

Jacket ist der Gegenentwurf zu Mo. Jacket agiert prahlerisch und unprofessionell, doch eigentlich ist er ein psychisches Wrack. Er hat ein Traum davongetragen, leidet immer noch unter Alpträumen und Schlaflosigkeit, nimmt Medikamente. Doch nach außen zeigt er dies nicht. In der Abteilung wird schlecht über Jacket geredet. Viele Gerüchte ranken sich um seinen einstigen Einsatz, bei dem er zum Helden wurde. Mo hingegen ist pflichtbewusst und gewissenhaft. Allerdings stößt er aufgrund seiner Hautfarbe auf Widerstände. Am seinem Beispiel wird also auch das momentan sehr angesagte Thema „Rassismus“ gestreift (was ich gut finde!). Was gut zum Ausdruck kommt, sind auch die vielen Frotzeleien und ironischen Schlagabtausche innerhalb des Ermittlungsteams. Überhaupt ist die sprachgestalterische Seite bei Faber wieder einmal lobenswert (nein, dieses Mal sind es nicht die asyndetischen Reihungen und Parataxen). An vielen Stellen beweist er kreative Sprachspielereien, baut flotte Sprüche ein und greift auf Elemente von Bildlichkeit zurück. Mir hat das sehr gut gefallen.

Als man eine zweite Leiche findet, wird klar, dass jemand die Morde Jacket in die Schuhe schieben möchte. Jacket erkennt Hinweise, die der Täter hinterlässt und die an ihn persönlich gerichtet sind. Der wahre Täter verweist auf ein Manuskript, das Jacket allerdings noch nicht veröffentlich hat. Doch wie ist das möglich? Woher weiß der wahre Täter von dem unveröffentlichten Manuskript und wie gelangte er an Inhalte daraus? Und Jacket verhält sich irrational. Er hat Angst davor, mit den Taten in Verbindung gebracht zu werden und schweigt gegenüber seinen Kollegen. Macht er dadurch nicht noch alles schlimmer? Es läuft darauf hinaus, dass er sich seinen inneren Dämonen von früher stellen muss.

Im Zusammenhang mit dem Manuskript werden viele schöne Irritationseffekte erzeugt, die mir sehr gut gefallen haben, weil sie für Verunsicherung beim Lesen sorgen (ein Fest für jeden Germanisten). Erzählte und reale Welt vermischen sich. Doch ich will hier nicht zu viel verraten. Ich fand es äußerst amüsant. Es hätte nur noch gefehlt, dass Jacket uns als Leser direkt anspricht und um Hilfe bittet. Und gleichzeitig wird mit dem Roman „Blutnacht“ noch ein Roman im Roman integriert. Auch hier vermischen sich verschiedene Erzählebenen. Toll arrangiert und sehr innovativ, wie ich finde! Für alle Freunde der Erzähltheorie eine wahre Freude.

Was mir ebenfalls gefallen hat: die eingeschobenen Täterkapitel in Form innerer Monologe, die mit „Er“ überschrieben sind und die den Fall weiter verrätseln. Und zum Ende zieht das Maß an Tempo, Spannung und Action noch einmal deutlich an. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Alles wirkt rund und in sich schlüssig. Das Ende ist überzeugend und überraschend. Faber nimmt sich auch genügend Zeit, den Inhalt auszuerzählen. Ich finde tatsächlich nichts, was ich an diesem Buch kritisieren kann. Von mir gibt es 5 Sterne!

Bewertung vom 22.09.2023
Mein Sprung ins kalte Wasser
Weßling, Bernhard

Mein Sprung ins kalte Wasser


ausgezeichnet

Ein autobiographischer Erlebnisbericht
Ein chinafreundliches Buch? In diesen Zeiten? Ist das überhaupt möglich? Der Autor Bernhard Weßling zeigt, dass es geht. Er richtet seinen Blick auf die Menschen in China. Menschen, die er dort während seines 13-jährigen beruflichen Aufenthalts als Unternehmer persönlich kennen gelernt hat: „Auf jeden Fall also beschreiben meine Geschichten reale Facetten des chinesischen Lebens, aber nicht DAS chinesische Leben. Ich beschreibe etwas vom Leben in China, wie es tagtäglich stattfindet, vielfältig und ganz anders, als man es so liest, ganz anders, als ich es erwartete, und ich werde auch nach Abschluss dieses Buches, überall und immer wieder Beobachtungen erleben, die anders sind, als wir sie erwarten (und anders, als ich sie erwarten würde und hier beschreibe). Ich beschreibe nur, was ich in den vielen Jahren mit den vielen Chinesen, die mich umgeben haben, erlebt habe; Erlebnisse mit den Chinesen, die ich auf den Straßen kennen lernte, Chinesen, mit denen ich einen Teil meiner Freizeit verbrachte, Chinesen, mit denen ich gearbeitet bzw. Geschäfte gemacht habe.“ (Vorwort, S. 11-12).

Bernhard Weßling ist aufmerksamer Beobachter, zumeist neutral und unvoreingenommen, er wertet nicht vorschnell, pauschalisiert und verallgemeinert nicht zu sehr. Eine Fähigkeit, die er sicherlich auch seiner großen Leidenschaft verdankt, der Vogelkunde (vgl. Weßling: Der Ruf der Kraniche. Goldmann 2023). Dem Autor geht es nicht darum, „heiße politische Eisen“ zu thematisieren. Es geht ihm viel mehr darum, den Blick des Lesers auf China und auf die Menschen dort zu erweitern, und auf diese Weise Verständnis für Angehörige einer für uns fremden Kultur zu fördern.

(…)

Wer gerne etwas über China erfahren möchte und dabei an einem differenzierten Bild interessiert ist, das an konkreten Beispielen und Erfahrungen verdeutlicht wird, der sollte dieses Buch lesen. Der Autor führt vor, wie man dem Fremden begegnen sollte: unvoreingenommen, aufgeschlossen und offen, mit Bereitschaft sich auf das Fremde einzulassen, es zu akzeptieren, nicht voreilig zu werten und mit den Menschen auf persönlicher Ebene wertschätzend umzugehen. Darüber hinaus sollte man für die Lektüre dieses Buchs an dem Menschen Bernhard Weßling interessiert sein, schließlich ist es ein sehr persönliches Buch. Es liest sich jedenfalls sehr eingängig. Der Erzählton ist schwungvoll-lebendig, oft humorvoll und selbstironisch.

Aus meinem persönlichen Kontakt mit dem Autor erfuhr ich, was er potentiellen Lesern gerne mit auf den Weg geben möchte, vor allem auch solchen Lesern, die beruflich in China tätig sind, waren oder sein werden: „wirklich erfolgreich kann man in China nur sein, wenn man sich den Menschen zuwendet, sie respektiert, ihre Sprache lernt, von ihnen lernen will, ihre Sorgen, Nöte, Ziele, Stärken und Schwächen kennen lernen und berücksichtigen will“ (Bernhard Weßling am 15.09.23 per Mail).

Bewertung vom 20.04.2023
Der Ruf der Kraniche
Weßling, Bernhard

Der Ruf der Kraniche


ausgezeichnet

Kenntnisreich, faszinierend und spannend
Über viele Jahre hinweg beobachtete der Autor Bernhard Weßling, zugleich promovierter Chemiker und erfolgreicher Unternehmer, in seiner Freizeit Kraniche und stellte sich dabei immer wieder die Frage, wie die Vögel mit ihnen unbekannten Situationen umgehen und wie sie sich verhalten, wenn andere Tiere oder auch Menschen ihr Brutgeschäft oder die Nahrungsaufnahme stören. Weßling hat sich in die Verhaltensforschung eingearbeitet und geht dabei auch der überaus interessanten Frage nach, wie Denken eigentlich funktioniert. All seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen legt er in seinem sehr lesenswerten Buch „Der Ruf der Kraniche. Expeditionen in eine geheimnisvolle Welt“ zugrunde, das seit März 2023 als Taschenbuchausgabe vorliegt. Und schon auf den ersten Seiten wird deutlich, mit welchem Respekt der Autor die Natur betrachtet. Auch merkt man dem Autor seine Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaft während der Lektüre an. Seine Liebe zu den Tieren ist
offenkundig. Das macht wirklich Spaß! Der Schreibstil ist sehr lebendig.

Fazit: Wer sich für Kraniche und allgemein für Vogelkunde interessiert, der kommt in meinen Augen nicht an diesem Buch vorbei. Aber auch denjenigen, die sich für empirische Forschung und die damit verbundenen Herausforderungen interessieren, sei dieses Buch ans Herz gelegt. Der Autor lässt die Leser:innen an vielen interessanten Projekten teilhaben und gewährt spannende Einblicke. Auf sehr anschauliche, lebendige und mitreißende Art und Weise berichtet Weßling von seiner jahrelangen Beschäftigung mit den Vögeln. Und es ist beachtlich, mit welcher Liebe, Akribie, Ausdauer und mit welchem Engagement er sich mit den Tieren beschäftigt. Was das Buch in meinen Augen vor allem auszeichnet: Weßling entwickelt eine neue Forschungsmethode, die er auch weiterentwickelt und modifiziert. Und seine Daten liefern zahlreiche neue Erkenntnisse, die ich mit Faszination gelesen habe. Ich habe von Kranichen nun ein ganz anderes Bild als noch vor der Lektüre. Großartig! Ich vergebe 5 Sterne!

Bewertung vom 16.12.2022
Alle für einen / Die Stoffis Bd.2
Städing, Sabine

Alle für einen / Die Stoffis Bd.2


ausgezeichnet

Schöne Fortsetzung
Bei dem Kinderbuch „Die Stoffis. Alle für einen“, geschrieben von Sabine Städing und illustriert von Nadine Reitz, handelt es sich um den zweiten Band einer Reihe. Nach meinem Dafürhalten ist es ein gelungenes Kinderbuch mit einem warmherzigen Erzählton und liebreizenden Figuren. Ich empfehle aber mit Band 1 einzusteigen, um sich mit der Vorgeschichte der ausgesetzten Plüschtiere vertraut zu machen. Was mir besonders gut gefällt, ist der Lebensweltbezug der Geschichte. Schließlich spielt jedes Kind gerne mit Stofftieren und auch das Gefühl, alte Stofftiere abzugeben und auszurangieren, ist wohl jedem Kind bekannt. Hier knüpft das Buch schön an das Vorstellungsvermögen der jungen Zuhörer:innen an.

Im Zentrum der Handlung stehen sechs Plüschtiere, die zu Beginn der Geschichte auch in pointierten Einführungstexten kurz eingeführt werden: Sunny bzw. Wunderfell (Einhorn), Minnie (der Kater), Helmut (der Hund), Melisande (Schildkröte), Sternchen (Seestern) und Rumpel (Bär). Das ist gut! Der rote Faden der Geschichte ist auch sehr klar erkennbar: Sternchen wird von Kindergartenkindern, die einen Ausflug unternehmen, einfach mitgenommen, und die anderen Stoffis versuchen nun, ihre Freundin wiederzufinden und zu retten. Dabei lernen sie auch weitere Plüschtiere kennen, die dann im weiteren Handlungsverlauf eine Rolle spielen.

Der Schreibstil ist, wie man es von Sabine Städing kennt, sehr flüssig und eingängig. Und die Autorin macht einfach Vieles richtig: Die Kapitel haben eine angenehme Länge zum Vorlesen, sie haben zudem einen ähnlichen Umfang. Die Bilder sind textunterstützend, farbenfroh und äußerst putzig. Der Wortschatz ist kindgerecht. Und anders als in ersten Band wird diese Mal auf die Verwendung anspruchsvollerer Lexik verzichtet. Der Wortschatz ist also etwas vereinfacht worden, was ich schon schade finde (vgl. dazu meine frühere Rezension zu Band 1). Und nicht zuletzt weist das Buch wieder folgende wichtige Themen auf, die man auch beim Gespräch über das Buch nach Bedarf weiter vertiefen kann: „Zusammenhalt“, „Freundschaft“ und „Hilfsbereitschaft“.

Noch einige wenige Sätze zu den bunten Zeichnungen, die wirklich liebevoll gestaltet worden sind: Insgesamt enthält das Buch 34 Bilder auf 111 Seiten. Das ist eine Bebilderungsquote von 30%. Im ersten Band lag die Bebilderungsquote bei 32%. Großflächige Bilder, die mehr als eine halbe Seite umfassen, gibt es relativ wenige: Insgesamt 11 (ca. 10%). In Band 1 lag diese Quote noch bei 15%. Was ich damit sagen will: In Band 2 hat sich die Bebilderungsquote etwas verringert und es gibt auch einmal längere Abschnitte ohne ein Bild.

Wie schon Band 1 punktet das Buch dafür aber wieder mit motivierenden Belohnungsstickern, die nach jedem gelesenen Kapitel von den Kindern eingeklebt werden können. Was die Nachbereitung der Lektüre betrifft, war der erste Band aber wiederum vielfältiger. Dieses Mal gibt es keine kreative Aufgabe und auch kein Rezept zum Ausprobieren (vgl. meine frühere Rezension). Aber mich hat das nicht gestört. Schließlich kann man ein solches Angebot nicht jedes Mal erwarten.

Fazit: Ein durchdacht konzipiertes Kinderbuch mit vielen lebensweltrelevanten Themen. Es ist eine gelungene Fortsetzung zu Band 1, aber man merkt auch, dass Band 1 noch ein Stück besser war. So war die Bebilderungsquote höher, die Lexik war stellenweise auch einmal etwas fordernder und es gab noch mehr Angebote für die Nachbereitung des Textes. Dennoch bleibt das Buch ein äußerst gelungenes Kinderbuch und erhält von mir knappe 5 Sterne.

Bewertung vom 01.12.2022
Was für ein Zufall! (eBook, PDF)
Weßling, Bernhard

Was für ein Zufall! (eBook, PDF)


sehr gut

Was hält die Welt im Innersten zusammen?
In seinem sehr lesenswerten Buch „Was für ein Zufall!“ widmet sich der Autor Bernhard Weßling den großen allgemein-menschlichen Fragen von Unvorhersehbarkeit, Komplexität und dem Wesen der Zeit. Er gibt sich dabei als „Sinn-Suchender“ zu erkennen und unterbreitet auf der Grundlage eigener Erfahrungen Vorschläge, wie man die Beschaffenheit der Welt mit Hilfe der folgenden Begriffe besser beschreiben könnte: Zufall, Nicht-Gleichgewichtssystem, Entropie und Zeit. Und was ich direkt zu Beginn dieser Rezension bereits lobend herausstellen kann: Der Autor schreibt weitestgehend anschaulich und ist sehr darum bemüht, den Leser bzw. die Leserin auf seiner gedanklichen Reise „mitzunehmen“. Sein Text zeichnet sich in großen Teilen durch Verständlichkeit aus, was einerseits an den nachvollziehbaren Erklärungen liegt, andererseits an den zahlreichen Beispielen, die er anführt. Da der Autor jedoch mit vielen Internetquellen arbeitet, empfehle ich, die digitale Version des Buchs zu lesen, um den Hyperlinks folgen zu können, und sie nicht mühsam in die Adresszeile einzutippen.

Schon das Vorwort ist ein gelungener Einstieg ins Buch und macht Lust auf mehr, flüssig und leserlich geschrieben. Vereinfachend, aber nicht zu simplifizierend! Es wird ein eingängiger, leserfreundlicher und leserzugewandter Sprachstil verwendet. Auch die vielen direkten Leseransprachen lockern den Text gut auf und lassen ihn äußerst lebendig wirken. Ebenso sorgen die stellenweise eingestreuten chinesischen Sprichwörter dafür, dass der Fließtext nicht zu trocken wird. Und der Autor macht gut deutlich, um welche zentralen Fragen es ihm geht: Woher kommt der Zufall? Wie kommt er in unsere Welt? Warum ist er normal? Wie entsteht Komplexität? Auch der interessante Begriff des „Nicht-Gleichgewichtssystems“ wird von ihm eingeführt. Das führt zu den nächsten zentralen Fragen: Warum befinden sich kompliziert strukturierte Systeme nicht im Gleichgewicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Zufall und „Nicht-Gleichgewicht“? Und was ist das Wesen der Zeit? Der Autor gibt in diesem Zusammenhang auch unumwunden zu, dass er sich an vielen Stellen nicht an der klassischen Lehrmeinung orientiert, sondern eigene Wege beschreitet, um die genannten Fragen zu beantworten. Deshalb möchte ich zu Beginn meiner Rezension auch direkt festhalten: Ich kann als Nicht-Chemiker und Laie nicht alle Inhalte auf Plausibilität hin überprüfen. Fachliche Inhalte kann ich aufgrund fehlender Expertise nicht einschätzen, die vielen Thesen kann ich nicht alle auf Stichhaltigkeit hin prüfen. Ich kann mich nur meines eigenen Verstandes bedienen und im Wesentlichen solche „Stolperstellen“ benennen, die mir unklar oder nicht nachvollziehbar in Erinnerung geblieben sind. (s. mein Blog unter Dr. Tobias Kallfell).

Fazit: Der Autor legt hier ein Sachbuch vor, in dem er sich den großen menschlichen Fragen widmet. Er argumentiert aus der Sicht eines Thermodynamikers und stützt sich dabei auf die Theorie von Ilya Prigogine, die 1977 den Nobelpreis für ihre Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik erhielt. Weßling liefert viele Denkanstöße. Der Schreibstil ist lebendig, zugewandt und weitestgehend anschaulich und verständlich. Dennoch ist Mitdenken bei der Lektüre gefragt und Wissen zum Fachgebiet der Chemie ist sicherlich verständnisförderlich. Mich persönlich hat die Lektüre bereichert, ich konnte einiges neu dazulernen. Für mich hätte der Autor nur noch etwas stärker herausstellen können, welche Vorteile seine Betrachtungsweise der Beschaffenheit der Welt hat. Nicht immer war mir der inhaltliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Kapiteln deutlich genug ausformuliert. Das Ziel der gedanklichen Reise war mir nicht immer klar. Ich vergebe 4 Sterne.