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MrsCatastropy
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 46 Bewertungen
Bewertung vom 10.12.2022
Was nicht alles
Macaulay, Rose

Was nicht alles


ausgezeichnet

Wer kennt sie nicht, die prägenden Dystopie-Autor*innen des 20. Jahrhunderts – Aldous Huxley, George Orwell und... Rose Macaulay?

Ja, der Name war mir auch unbekannt. Und das, obwohl diese feministische Autorin (*1881-1958) zu Lebzeiten preisgekrönt und von Queen Elizabeth II geadelt wurde. Wie das im männlich geprägten Kanon so ist, wurde sie "vergessen" - obwohl Literaturwissenschaftler*innen ihr "What Not" von 1919 als Inspiration für Huxleys Brave New World betrachten. Der Aviva Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, aus dem Kanon herauskorrigierte AutorINNEN wieder ans Tageslicht zu holen. Und so erschien dort nun besagter Roman als "Was nicht alles", herausgegeben und großartig übersetzt von Josefine Haubold.

Wer Huxley und Orwell kennt, staunt ob der Ähnlichkeiten. So antizipiert Macaulay die huxleysche Einteilung der Gesellschaft – in Kategorien von A-C auf Basis der Intelligenz. Heiraten darf nur, wer dadurch intelligente Kinder zeugt. Denn nach Ende des Großen Krieges scheint klar: menschliche Dummheit war schuld. Drum sollen auch Schulungen die Intelligenz fördern. Außerdem werden friedensgefährdende Begriffe direkt mit verboten, nur zur Sicherheit (ja, das klingt auch für mich nach einem Vorläufer von Orwells Newspeak). Wir begleiten die A-klassifizierte Ministeriumsangestellte Kitty Grammond, die im Ministerium für Verstand arbeitet und von all dem recht überzeugt ist. Zumindest bis sie sich in ihren Minister verknallt. Die Einstufung einiger seiner Verwandten als geistig zurückgeblieben verbietet seinen eigenen Gesetzen nach die Heirat. Und so stellt sich auch Kitty die Frage, welche Rechtfertigung es für ein solches System gibt.

Mit vielen Spitzen, Witz und Klugkeit ist dieses Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich großartig zu lesen. Besonders gefiel mir die Schilderung subversiver Einstellungen der Bevölkerung - auch hier feministisch geprägt. Denn wo sollen Hausfrauen die Zeit hernehmen, auch noch ihren Verstand zu schulen, wenn sie Stunden am Tag auf Reproduktionsarbeit aufwenden?

"Was nicht alles" ist eine feministische Dystopie mit allem, was dazugehört. Sehr lesenswert ist auch Haubolds Nachwort, das den Roman nicht nur einordnet, sondern auch problematische Elemente - etwa den subtilen Antisemitismus - benennt und kommentiert. Denn wo es um Intelligenz geht, sollen Jüdinnen_Juden nach Ansicht des Ministeriums für Verstand besser nicht noch klüger werden, als sie es schon sind.
Diese seltsamen Kommentare sind zwar selten, eine kritische Kontextualisierung ist aber wichtig und gut. Deshalb möchte ich diese Übersetzung gerade auch wegen der sensiblen Herausgabe besonders empfehlen.

Ich habe dieses Buch sehr geliebt und durfte auf der Buchmesse sogar ein Autogramm der Übersetzerin abstauben. Die - hatte ich das schon erwähnt? - wirklich ganze Arbeit geleistet hat.

Bewertung vom 10.12.2022
Der Unnötige
Troller, Georg Stefan

Der Unnötige


sehr gut

Texte, denen man anmerkt, dass sie vor Jahrzehnten geschrieben wurden, finde ich neben dem Inhalt auch auf einer Metaebene spannend, denn sie konservieren immer auch die Zeit, in der sie geschrieben wurden. Noch spannender ist es, wenn diese Zeitkapseln nach den vielen Jahren erstmals erscheinen, während ihre Autor*innen noch leben.

Genau das ist mit Georg Stefan Trollers "Der Unnötige" passiert. Der Band aus dem Verbrecher Verlag versammelt frühe Texte, Kurzgeschichten wie Prosa, des mittlerweile 100-jährigen Regisseurs, Journalisten, Schriftstellers. Und gerade, dass von größeren Änderungen auch dort abgesehen wurde, wo die Texte wirklich nicht mehr zeitgemäß sind (etwa die lange Abhandlung über Frauen und ihre Kleidung) und wo man die "Unreife" und handwerkliche Austestungen des noch jungen Autors erkennt, macht sie zu einem spannenden Zeitzeugnis.

Ich habe bislang nichts von Troller gelesen und kann die Geschichten deshalb in kein Gesamtwerk des Autors einordnen. Was ich gelesen habe, gefiel mir aber sowohl, wo es ernster war als auch dort, wo es ironischer war. Die thematisch unterschiedlichen Texte sind dabei immer auch spannende Kommentare ihrer Zeit, d.h. vor allem der Nachkriegszeit. Mein persönlicher Favorit handelt -natürlich- von Katzen.

Insgesamt ist das Buch für mich kein absolutes Highlight, aber das liegt auch daran, dass ich mit den Gedichten nicht so warm geworden bin. Das passiert mir aber oft. Gelesen habe ich es trotzdem sehr gerne und interessiert. Ich kann mir den "Unnötigen" gut als Geschenk vorstellen oder als ein Buch, das man für Gäste im Wohnzimmer liegen hat und durch das sie blättern können, als Buch, in das man immer wieder reinschauen kann. Auch ich werde vermutlich die ein oder andere Geschichte nochmal lesen wollen.

Bewertung vom 18.10.2022
Sexuelle Revolution
Penny, Laurie

Sexuelle Revolution


gut

Feministische Einstiegslektüre

Laurie Penny ist eine der Autorinnen, die mich politisiert haben. "Unsagbare Dinge" und "Fleischmarkt" waren für mein gerade volljähriges Ich wahnsinnig wichtig, so wütend, trotzdem optimistisch.

Knapp 10 Jahre später interessierte mich, wie ich sie heute lese, was ich nun von ihr mitnehmen könnte und mit diesen Erwartungen begann ich "Sexuelle Revolution". Hinter diesen Erwartungen blieb das Buch für mich aber zurück und das vor allem, weil ich zunehmend merkte, dass ich Laurie Penny "entwachsen" bin.

Die Essays streifen viele Themen von Care Work über Objektifizierung, Misogynie und Terrorismus und die Verbindung von Sexismus und rechter Vorstellungswelt. Sie bieten damit einen breiten, lesenswerten Überblick.

Als Person, die sich mit diesem Thema aber bereits sehr intensiv befasst hat, bot mir das Buch wenig Neues, weil mir das meiste nicht mehr tief genug ging.

Penny schreibt aktivistisch, wütend, führt gekonnt beiläufig Grundlagentexte von Firestone über Marx bis Fraser und Pateman ein, und das ist stark von ihr, weil sie eine definitiv auch materialistisch geprägte Perspektive abbilden möchte. Damit wird sie aktivistische Personen abholen, die über die Essays hoffentlich Interesse an der älteren Theorie entwickeln. Ihre Wut spricht auch mir aus dem Herzen, viele Sätze habe ich mir angestrichen, weil sie einfach on point sind. Die Übersetzerin Anne Emmert hat erneut Pennys Kraft und Wortgewalt gekonnt mit ins Deutsche übertragen.

Aber trotzdem habe ich mich über Wochen immer wieder daran erinnern müssen, weiterzulesen. Es konnte mich einfach nicht mehr so mitreißen, weil ich einiges repetitiv und zu ausschweifend fand. Gerade die zweite Hälfte war aber deutlich stärker, etwa die Auseinandersetzung mit der Verbindung von Terrorismus und Misogynie oder der wiederholteFokus auf kapitalistische Logik und anerzogene männliche Unmündigkeit.

Eine abschließende Bewertung fällt mir deshalb nicht leicht - ich verstehe noch immer den Reiz, aber ich bin nicht mehr die Zielgruppe.

Bewertung vom 10.07.2022
Herumtreiberinnen
Wilpert, Bettina

Herumtreiberinnen


sehr gut

Drei Frauen, drei historische Momente und ein Gebäude in der Lerchenstraße in Leipzig. Die "Lerchenstraße" eint nicht nur diese Frauen, sondern bildet eine Konstante gesellschaftlicher Marginalisierung und Ausgrenzung im Deutschland der letzten 80 Jahre.

Da ist Lilo, die sich in den 1940ern ihrem Vater im kommunistischen Widerstand anschließt und dafür festgenommen wird. Zu diesem Zeitpunkt ist die "Lerchenstraße" ein Unterbringungsort vor allem für politische Gefangene der Nationalsozialisten.

Da ist Manja, die sich in der DDR der 1980er in den Vertragsarbeiter Manuel aus einem "Bruderstaat" verliebt, von der Volkspolizei erwischt und in der Lerchenstraße - nun Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten oder umgangssprachlich "Tripperburg" - weggesperrt wird.

Und zuletzt Robin, die als Sozialarbeiterin in der Gegenwart im Gebäude, das in der Gegenwart der Unterbringung Geflüchteter dient, arbeitet.

Der Fokus des Buchs liegt dabei deutlich auf Manja und der Art und Weise, wie die DDR mit unangepassten Frauen umging, sie kriminalisierte, wegsperrte und versuchte, umzuerziehen. Da ihr Freund Manuel Schwarz ist, richtet dieser Teil des Plots zugleich auch den Blick auf den Rassismus innerhalb der DDR- die natürlich offiziell niemals nicht rassistisch war, auch wenn die Forschung mittlerweile sehr deutlich macht, dass das nicht stimmt.

Mit "Herumtreiberinnen" gelingt es der Autorin Bettina Wilpert nicht nur, ein sehr wenig bekanntes Stück deutscher Geschichte, nämlich die Existenz dieser "Venerologischen Stationen" in der DDR, zu beleuchten. Die Erzählung von drei "Herumtreiberinnen", jede auf ihre Art unangepasst und mit einer spezifischen politischen Umgebung und gesellschaftlichen Normen konfrontiert und im Versuch, sich zu befreien, entwirft auch eine generationenübergreifende, abstrakte Solidarität, schreibt eine weibliche Sicht auf die Geschichte eines einengenden Ortes.

Dieser Ort, der unter anderem Namen real existiert, verweist zugleich auch auf die historische Bedeutung städtischer Gebäude, die sich wandelt, vergessen wird, je nach historischem Kontext aber zugleich symbolträchtig und politisch relevant ist. Und er zeigt auf, dass auch Gebäude, deren historische Bedeutung zeitweise in Vergessenheit gerät, mitunter gruselig konstant genutzt werden können.

Wilperts Sprache und Figurenentwurf mochte ich wie schon bei ihrem Debut sehr. Die Figuren sind ausgearbeitet, nahbar und ihre Träume berühren beim Lesen. Man merkt schnell, dass viel Herzblut im Buch steckt.

Etwas schade fand ich, dass durch die Fülle von Themen manche Inhalte sehr kurz kamen. Während Manjas Geschichte klar im Vordergrund steht und Lilos Geschichte sich ebenfalls entfalten kann, wirkt Robin mitunter mehr als Rahmung, wird ihre Geschichte nur angedeutet. Auch andere spannende Themenfelder - Punks in der DDR, der DDR-Umgang mit Prostitution - hätten gern auf einigen weiteren Seiten behandelt werden dürfen. Gerade im letzten Teil ging mir manches etwas schnell, fehlten mir manche Figuren vom Beginn der Handlung.

Trotzdem ist der Roman insgesamt sehr eindrücklich und in jedem Fall lesenswert. Das Buch wirft viele Fragen auf, verweist auf Leerstellen des historischen Wissens und der historischen Aufarbeitung und regt zur Diskussion an. Zugleich bietet es eine Interpretation der deutschen Geschichte aus weiblich-unangepasster Sicht und ist dabei so mitreißend wie traurig. Bettina Wilpert weckt gekonnt diverse Emotionen in ihren Leser*innen und legt zugleich den Finger in die Wunde, wenn es um historisches Wissen und insbesondere gesamtgesellschaftliche Wissenslücken geht.

Bewertung vom 10.07.2022
Laborschläfer
Schimmang, Jochen

Laborschläfer


sehr gut

Rainer Roloff, Jahrgang 1948, hat ein bewegtes Leben: Als promovierter Soziologe an einer Wissenschaftskarriere gescheitert, zeitlebens von Gelegenheitsjobs lebend, nächtigt er nun als Proband im Schlaflabor, um seine Rente aufzubessern. Dort ist er Teil einer Studie zu Traum und Erinnerungen.

Von diesen hat der spleenige Privatgelehrte genug, blickt er doch auf ein ereignisreiches Leben in der sich findenden Bundesrepublik zurück. Die Erinnerungen nehmen einen großen Teil des Romans ein und liefern einen spannenden Einblick in Roloffs Wahrnehmung der gesellschaftlichen Stimmung der 1960er und 1970er und seine teils wehmütigen Rückblicke auf eine Biografie, die wohl viele als gescheitert betrachten würden. Zugleich zeigt sich nach und nach, dass der wissenschaftliche Leiter der Schlafstudie nicht ganz mit offenen Karten spielt – zu Roloffs selbstkommentierter Erinnerung gesellt sich daher ein Plot, der zugleich absurd, melancholisch, traurig und amüsant ist.

Garniert wird alles mit einer im positiven Sinn eigenwilligen Sprache, wenn mal eben vergessene lokale Punkbands wie selbstverständlich erwähnt oder mir bisher gänzlich unbekannte bundesdeutsche Autor*innen der damaligen Zeit zitiert werden, wenn Beobachtungen der Gegenwart - der Plot spielt zu Beginn der Coronapandemie - von Roloff in ausschweifenden inneren Monologen kommentiert werden. Dass seine Erinnerungen eng mit Köln verbunden sind, machte den Roman für mich noch unmittelbarer - nicht nur einmal las ich im Buch etwas über einen Ort, an dem ich am gleichen Tag selbst noch war.

Jochen Schimmang bietet also mit "Laborschläfer" nicht nur zeitlich detaillierte Einblicke, sondern auch einiges an Lokalkolorit. "Laborschläfer" hat mich ob der Sprache und des großartig ausgearbeiteten Protagonisten sehr beeindruckt. Statt schnell und actionreich entfaltet es gemächlich seine Wirkung auf die Leser*innen und belohnt aufmerksame Geduld mit einem vielschichtigen Plot.

Bewertung vom 16.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


sehr gut

Als Kind hat Mélanie Reality TV geliebt - als Mutter zweier Kinder wird sie selbst zur Produzentin. Instagram, Youtube und Facebook machen es möglich, dass sie ihren Traum von Berühmtheit und Anerkennung lebt indem sie sich und ihre Familie als scheinbar glücklich neu erzählt. "Happy récré" heißt ihr Kanal, mit dem die Familie Millioneneinnahmen generiert, indem die beiden Kinder in niedlicher Kleidung und gesponserten Turnschuhen Coca Cola in die Kamera halten und Spielzeug unboxen - der kapitalistische Überflusstraum wird wahr. Und zunehmend zum Alptraum, denn die kleine Kimmy hat zunehmend keine Lust mehr, Teil dieser Selbstvermarktung zu sein. Nur leider interessiert das die Mutter wenig, der Vater sieht auch gekonnt darüber hinweg und die Wenigen, die öffentlich diese Momfluencer kritisieren, werden als Hater abgestempelt.

Als Kimmy verschwindet, beginnt die Polizei zu ermitteln - ist sie weggelaufen, wurde sie entführt, geht es um Lösegeld? Im Kern der Ermittlungen steht die Kommissarin Clara, die durch die Ermittlungen ihrem Revier erst so richtig bewusst macht, wie unreguliert und unkontrolliert, in vielen Fällen kindeswohlgefährdend, das Influencer-Familienbusiness häufig ist.

Dem Roman geht es nicht in erster Linie um Action und Spannung, stattdessen zeichnet Delphine de Vigan ein Sittenbild des heutigen Frankreich, in dem findige Momfluencer mögliche Schlupflöcher schon ausgemacht und genutzt haben, bevor ein Gesetz zum Schutz der Kinder überhaupt verabschiedet ist. So wird viel und deutlich Kritik geübt, wird die Absurdität und Inhaltsleere der Dauerwerbesendungen ebenso gezeigt wie die mögliche Motivation der Eltern, in diesem Fall der Mutter Mélanie, die ihre eigenen Unsicherheiten und den Drang nach Anerkennung über die Vermarktung ihrer Kinder auslebt. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Sozialen Medien diese Mechanismen nicht erfunden, wohl aber intensiviert haben.

Insgesamt gefiel mir das Buch gut, weil es ein Thema in den Fokus rückt, das noch viel zu wenig diskutiert wird, weil es aufzeigt, welche Folgen ein solcher Eingriff ins Privatleben für Heranwachsende haben kann und wie nötig gesetzliche Kontrollen sind. Schade fand ich, dass die im Buch angedeutete Alternative mehr oder weniger im kompletten Rückzug aus den Sozialen Medien zu liegen scheint - diese generelle Technikskepsis gehe ich nicht mit, weil die Kritik in meinen Augen sich nicht gegen die technischen Möglichkeiten, sondern die unkontrollierten neoliberalen Auswüchse richten sollte.
Das ändert freilich nichts an der absolut lesens- und betonenswerten Kritik des Buchs, weshalb ich es auf jeden Fall empfehlen kann.

Bewertung vom 02.02.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Als "Gastarbeiter" nach Deutschland gekommen, möchte Hüseyin nach dreißig Jahren harter Arbeit in Deutschland Ende der 1990er mit seiner Familie in die Türkei ziehen. Er hat in Istanbul eine Wohnung gekauft und bereitet diese gerade für das Eintreffen seiner Frau und Kinder vor, als er einen Herzinfarkt erleidet und stirbt. Nach und nach trifft die Familie ein, bestürzt, überfordert und jedes Familienmitglied mit eigenen Sorgen und Problemen, von denen der Rest der Familie zumeist nichts weiß.

Kapitel für Kapitel seziert Fatma Aydemir die individuellen Lebenssituationen im Spannungsfeld von Diaspora, Ausgrenzung, Selbstfindung, Individualität und Familie, erzählt von unterschiedlichen Wegen, sich zu lösen und doch verbunden zu bleiben, von nicht hinterfragten Vorurteilen nicht nur von "außen", sondern auch innerfamiliär. Die Spannbreite der Charaktere bietet einen Einblick in die Schwierigkeiten, denen Menschen begegnen, wenn sie ihre Identität mit Zwängen und Anforderungen nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der eigenen Familie übereinander bringen. Dabei verzichtet die Autorin auf eine eindimensionale Darstellung der Figuren als passive Opfer, sondern verleiht ihnen Handlungsmacht, lässt sie streiten, gegen Erwartungen verstoßen, lässt Raum für Fragen, auf die es keine Antwort gibt.

Die unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen einen vielschichtigen Zugang zum Roman und brechen mit Stereotypen über sogenannte "Gastarbeiter*innen". Aushandlungsprozesse auf gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Ebene führen zu völlig verschiedenen Lebensentwürfen und Einstellungen - seien es die Interaktion mit anderen Familien oder der Umgang mit Stereotypen, die von außen wirken, seien es die innerfamiliären Spannungen, Geheimnisse, Konflikte.

Obwohl ein solches Buch leicht im Klischee versinken könnte, ist das bei "Dschinns" nicht der Fall. Dass viele der lang unterdrückten Konflikte und Fragen, einige der Dschinns, auch in einer Familie ohne Migrationsgeschichte oder mit anderer Geschichte auftauchen können, verhindert, den Roman exotisierend als Auseinandersetzung mit "den anderen" zu lesen. Es ist gerade eine Stärke des Buchs, die Migrationsgeschichte stets mitlaufen zu lassen, ohne die Handlung und die Figuren darauf zu reduzieren. So werden oft übersehene marginalisierte Identitäten und Lebensrealitäten beleuchtet, ohne bloß Diskriminierungserfahrung auf Diskriminierungserfahrung zu türmen und die Figuren darüber zu definieren, wird mit jeder homogenisierenden Vorstellung über türkeistämmige Familien gebrochen. Gerade durch das Bewusstsein für Ambivalenzen, die Komplexität der Charaktere und ihre völlig unterschiedlichen Lebensentwürfe wird die Unmittelbarkeit der Handlung mit Sensibilität gegenüber den Figuren verbunden, berührt und fragt nach den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart einer Familie.

"Dschinns" ist durchweg spannend, schafft eine authentische Atmosphäre der späten 1990er und wirkt, wie schon "Ellbogen", einige Zeit nach.

Bewertung vom 12.12.2021
Krach
Sila, Tijan

Krach


ausgezeichnet

Erwachsenwerden zwischen Bierpogo und Abitur

Tijan Silas "Krach" hat mich ab der ersten Seite in Beschlag genommen und mir sehr gut gefallen.
Wir begleiten den 18-jährigen Protagonisten Gansi, heranwachsender Punk auf dem ereignisarmen pfälzischen Dorf Calvusberg, bei der Gründung seiner ersten Band, Auftritten in alternativen Zentren und besetzten Häusern, Gefühlschaos, Pubertätschaos und ziemlich vielen Schlägereien, nicht nur mit Nazis. Es ist das Jahr 1998, der Jugoslawienkrieg tobt und da Gansis Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen, spielt der Konflikt im Buch eine große Rolle, prägt auch Gansis Identität und bedingt wieder andere Abgrenzungprozesse und Gemeinsamkeiten zu und mit seinem Freundeskreis.

"Krach" ist ein Coming-of-age-Roman, bei dem ich nicht genau sagen kann, ob man genau so etwas in Gansis Situation gebraucht hätte oder es erst mit etwas Abstand wirklich wertschätzen kann, denn das Buch ist nicht wertend, aber auch nicht unkritisch bestimmten szeneinternen Herausforderungen und Konflikten gegenüber.

Sila schreibt mit einer ironischen, abgeranzten (im positivsten Sinn), absolut zur Subkultur passenden Sprache über Identitätssuche, Unsicherheit und das Überspielen von beidem, über das Aufwachsen in von der Gesellschaft ignorierten und bewusst als Opposition zu ihr gewählten Kreisen.

Gansi ist ein liebevoll gestalteter Charakter, der Fehler macht und Szeneprobleme reflektiert und es ist faszinierend, wie schwerfällig und konstant diese Subkultur irgendwo auch ist. Denn auch, wenn meine Punkzeit 10 Jahre später war, mein Calvusberg der Westerwald und der politische Kontext ein anderer, habe ich viele Dynamiken und Situationen wiedererkannt - auch deshalb habe ich das Buch so gern gelesen, denn es hat mich an viele Dinge aus meiner Zeit zwischen 15 und 20 erinnert.

Bewertung vom 09.12.2021
Rechtspopulismus und Dschihad
Thörner, Marc

Rechtspopulismus und Dschihad


ausgezeichnet

(Gar nicht allzu) überraschende Allianzen

Rechtsextreme Gruppen in Deutschland: Rassistisch, sexistisch, antisemitisch und reaktionär. Das sind vermutlich Attribute, die einem schnell einfallen. Und durch das von diesen Akteur*innen immer wieder bemühte Feindbild Islam und die Gleichsetzung von Islam und Islamismus läuft man schnell Gefahr, auch davon auszugehen, dass Rechtsradikalismus und Islamismus erbitterte Feinde sind. Genau das ist aber ein Fehlschluss. Das berühmte Beispiel des Großmuftis von Jerusalem zur Zeit des Dritten Reichs, der mit Hitler gute Kontakte pflegte, ist keinesfalls eine Ausnahme. Vor allem ideologisch gibt es viele Parallelen zwischen beiden Bewegungen, die leider auch in der Wissenschaft noch zu selten beleuchtet werden.

Spannend ist dabei aber gerade, dass die frühen Denker des islamischen Fundamentalismus sehr stark von europäischen rechten Denkern beeinflusst wurden - Ernst Jünger ist da nicht der einzige, wenngleich vielleicht der bekannteste.

Und so begibt sich der versierte, den Nahen Osten regelmäßig bereisende Journalist Marc Thörner in diesem Sachbuch auf den Weg, um Parallelen, Kontinuitäten und gegenseitige Bezüge herauszustellen, spürt dem Einfluss der europäischen Rechten auf sunnitische Jihadisten und die schiitische Iranische Revolution nach, trifft syrische Nationalisten und stößt im Gespräch mit Alexander Gauland auf dessen Bewunderung einer im Islam beibehaltenen Spiritualität, die Gauland hierzulande stark vermisst.

Angereichert mit vielen Zitaten aus Schlüsselwerken der sogenannten Konservativen Revolution und rechter Theoretiker des vorigen Jahrhunderts, Interviews und Fotos bietet Thörners Sachbuch einen sehr fundierten und spannenden Einstieg in ein wichtiges Thema. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass man, wenn man noch wenige Vorkenntnisse zu den Themen hat, an einigen Stellen zusätzlich recherchieren muss, um mitzukommen.

Meine "Kritik" ist deshalb eher Jammern auf sehr hohem Niveau: So hätte ich mir noch eine etwas genauere Begriffsklärung von "Rechtspopulismus" gewünscht, weil der Begriff in der Rechtsextremismusforschung relativ umstritten und eher weniger geeignet ist, bestimmte Gruppen zu charakterisieren.

Ich kann das Buch daher definitiv empfehlen, wenn man sich einen Überblick über das komplexe Thema verschaffen möchte - vor allem, da Thörner all das in gerade mal 180 Seiten verstaut.
Außerdem bin ich immer noch schwer begeistert von Thörners Wortschöpfung des "Phallosophen" für den rechtsextremen, maskulinistisch-primitivistischen Amerikaner Jack Donovan.