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Frankfurt

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Insgesamt 756 Bewertungen
Bewertung vom 20.05.2025
Die Summe unserer Teile
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


ausgezeichnet

Paola Lopez’ Debütroman Die Summe unserer Teile ist mehr als ein feinfühliges Familiendrama – er ist ein vielschichtiger, feministisch geprägter Roman über drei Generationen von Frauen, deren Leben durch familiäre Bande, kulturelle Brüche und eine gemeinsame Leidenschaft für Wissenschaft miteinander verknüpft sind. Die Geschichte spannt sich über acht Jahrzehnte und drei Kontinente – von Polen über den Libanon bis nach Deutschland – und behandelt zentrale Themen wie Selbstbestimmung, Rollenerwartungen, intergenerationale Traumata und das Ringen um Versöhnung.

Drei Frauen, drei Wissenschaften – ein Kampf um Selbstbestimmung
Im Mittelpunkt stehen die Chemikerin Lyudmila, ihre Tochter Daria – eine Medizinerin – und ihre Enkelin Lucy, die Informatik studiert. Alle drei sind in männerdominierten Wissenschaftsfeldern tätig, alle drei müssen sich dort behaupten. Lopez zeigt, wie diese Frauen über Jahrzehnte hinweg mit den Zwängen ihrer Zeit, tradierten Rollenbildern und familiären Altlasten kämpfen.

Lyudmila flieht im Zweiten Weltkrieg aus Polen in den Libanon und widmet sich dort kompromisslos ihrer Karriere als eine der ersten Chemikerinnen des Landes. Daria wächst in Beirut auf, verlässt den Libanon während des Bürgerkriegs, wird Ärztin in Deutschland – und erzieht ihre Tochter Lucy mit strenger Fürsorge und hohen Erwartungen. Lucy wiederum lebt 2014 in Berlin, hat den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen – und wird durch die Lieferung eines alten Klaviers, Symbol ihrer Kindheit, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.

Diese Generationenlinie verknüpft Lopez klug mit einer feministischen Perspektive: Die Wahl der Naturwissenschaften als verbindendes Element ist ein Statement. Die Frauen sind nicht Opfer, sondern Handelnde – wenn auch oft in stummen Kämpfen. Lopez zeigt, wie weibliche Selbstverwirklichung in männlich geprägten Kontexten oft nur unter hohen persönlichen Opfern möglich ist.

Mutterschaft als ambivalente Erfahrung
Ein zentrales Thema des Romans ist Mutterschaft – fern von Idealisierung. Lyudmila erscheint kühl und unnahbar; Daria als überfürsorglich und fordernd. Lucy fühlt sich eingeengt, nicht gesehen, überfordert von den Ansprüchen ihrer Mutter.

Lopez dekonstruiert gängige Mutterbilder und macht die Spannung sichtbar, die zwischen Fürsorge, Kontrolle und Selbstverwirklichung liegt. Keine der drei Frauen ist nur Täterin oder nur Opfer – sie sind geprägt von den Verletzungen ihrer Mütter, geben diese ungewollt weiter und versuchen gleichzeitig, ihren eigenen Weg zu gehen.

Besonders Lucy gelingt eine vorsichtige Annäherung an das, was vorher verdrängt und verschwiegen wurde. Ihre Reise nach Sopot wird zur symbolischen wie tatsächlichen Bewegung auf die eigene Familiengeschichte zu – ein tastender Versuch, den Zyklus der Sprachlosigkeit zu durchbrechen.

Das Schweigen zwischen den Generationen
Ein weiteres starkes Motiv ist das Schweigen – das Unausgesprochene, das zwischen den Generationen steht. Konflikte werden nicht benannt, sondern ausgesessen oder verdrängt. Die Figuren leiden nicht nur unter äußeren Umständen, sondern auch unter emotionaler Distanz, unausgesprochenen Erwartungen und familiären Missverständnissen.

Lopez zeigt eindrucksvoll, wie sich dieses Schweigen vererbt – und wie schwer es ist, es zu brechen. Dabei gelingt ihr eine feinfühlige Figurenzeichnung: Keine der drei Frauen wird idealisiert, doch jede erhält ihre eigene Stimme, ihre eigene Perspektive, ihre eigene innere Wahrheit. Die Wechsel der Zeitebenen sind fließend, die Übergänge zwischen den Lebensgeschichten der Frauen subtil und stimmig gestaltet.

Stil und Erzählweise
Lopez’ Sprache ist klar und atmosphärisch, mit einem Gespür für emotionale Zwischentöne. Besonders gelungen ist der Aufbau des Romans, der zwischen Zeitebenen und Perspektiven wechselt, dabei aber stets die emotionale Linie beibehält. Die narrative Struktur spiegelt das Fragmentarische der Familiengeschichte – manche Leerstellen bleiben bewusst offen und fordern die Leser*innen zur eigenen Reflexion auf.

Die wissenschaftliche Ebene – Chemie, Medizin, Informatik – dient nicht nur als Hintergrund, sondern als Ausdruck weiblicher Autonomie. Gleichzeitig thematisiert der Roman die strukturellen und persönlichen Hürden, denen Frauen in diesen Bereichen begegnen. Die Wissenschaft wird so zum Ort weiblicher Emanzipation, aber auch zur Projektionsfläche für familiäre Entfremdung.

Fazit
Die Summe unserer Teile ist ein bemerkenswerter Debütroman, der mit erzählerischer Kraft und psychologischer Tiefe drei Frauenschicksale über mehrere Generationen hinweg verknüpft. Paola Lopez erzählt von Selbstbehauptung, familiären Verletzungen und dem Versuch, eigene Wege zu gehen, ohne die Verbindung zu den Wurzeln zu verlieren.

Ein bewegender, feministisch fundierter Roman über Mütter, Töchter, Wissenschaft – und über die Frage, wie viel Vergangenheit in uns steckt. Für alle, die Familienromane mit Tiefgang, starken Frauenfiguren und gesellschaftlicher Relevanz schätzen.

Bewertung vom 13.05.2025
Die Inselschwimmerin
Kelly, Lorraine

Die Inselschwimmerin


ausgezeichnet

Mit Die Inselschwimmerin legt Lorraine Kelly – bislang vor allem als britische Fernsehjournalistin bekannt – ihr Romandebüt vor. Entstanden ist ein gefühlvoller, zeitweise sehr bewegender Roman über Familie, Schuld, Vergebung und das Finden von innerem Frieden – angesiedelt vor der rauen, atmosphärisch dichten Kulisse der schottischen Orkneyinseln.

Inhalt & Handlung
Im Mittelpunkt steht die 38-jährige Evie, die nach zwanzig Jahren in London auf die Orkneys zurückkehrt, um sich von ihrem sterbenden Vater zu verabschieden. Sie kommt zu spät – doch sie beschließt zu bleiben und sich ihrer belasteten Vergangenheit zu stellen. Das Verhältnis zu ihrer jüngeren Schwester Liv ist zerrüttet, ein traumatisches Ereignis liegt wie ein Schatten über der Familie. Während Evie das Elternhaus auflöst, findet sie Anschluss an eine Gruppe von Kaltwasserschwimmerinnen – starke Frauen, die ihr helfen, wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Die Handlung wird auf drei Zeitebenen erzählt:
– Evies Kindheit ab den 1960er-Jahren
– Die dramatischen Geschehnisse im Jahr 2004
– Ihre Rückkehr im Jahr 2024

Dieser Aufbau schafft Spannung, lässt Raum für emotionale Tiefe und verleiht der Geschichte Struktur. Die zentrale Frage – welches Geheimnis Evie in die Flucht trieb – wirkt als verbindendes Element zwischen den Zeitebenen und hält die Leserschaft über weite Strecken in Atem.

Sprache & Stil
Angela Koonens Übersetzung ist einfühlsam und klar. Lorraine Kelly schreibt in einem angenehm flüssigen, bildhaften Stil, der manchmal etwas altmodisch wirkt, aber gut zur Atmosphäre der Inselwelt passt. Die wechselnden Perspektiven und Zeitsprünge ermöglichen einen tiefen Einblick in die Seelen der Figuren – vor allem Evies innerer Konflikt, ihre Schuldgefühle und ihr Weg zur Selbstvergebung sind überzeugend und nahbar dargestellt.

Charaktere
Die Figurenzeichnung ist vielschichtig, wenn auch nicht durchweg subtil. Evie wirkt authentisch, ihre Entwicklung glaubwürdig. Besonders gelungen ist auch die Figur von Freya – eine warmherzige Freundin ihres Vaters und eine Art moralischer Kompass im Roman. Liv hingegen bleibt in ihrer Rolle als destruktive Schwester etwas überzeichnet. Auch die Eltern – besonders die Mutter Cara – bedienen eher stereotype Rollenmuster.
Trotzdem gelingt es der Autorin, das Spannungsverhältnis innerhalb dieser zerrütteten Familie nachvollziehbar zu machen – und letztlich eine Geschichte zu erzählen, in der es um das Ringen um Anerkennung, Liebe und Wahrheit geht.

Stärken & Schwächen
Besonders positiv hervorzuheben ist der emotionale Tiefgang des Romans sowie das feine Gespür für zwischenmenschliche Spannungen. Auch die landschaftliche Kulisse der Orkneys bietet ein reizvolles Setting – obwohl hier atmosphärisch noch mehr möglich gewesen wäre.
Weniger überzeugend ist die Vielzahl an gesellschaftlichen Themen (Trauer, psychische Erkrankungen, LGBTQ, Krebs, Gewalt, Alzheimer u.a.), die zum Teil recht konstruiert wirken und nicht immer ausreichend auserzählt werden. Gegen Ende verliert der Roman etwas an Tempo und Stringenz – einige Handlungsstränge werden rasch aufgelöst, manches wirkt überhastet oder zu plakativ. Auch der Titel und die Bewerbung als „Schwimmroman“ sind leicht irreführend – das Schwimmen spielt nur eine symbolische, eher randständige Rolle.

Fazit
Die Inselschwimmerin ist ein gefühlvoller Roman über den Mut zur Versöhnung, die Kraft weiblicher Solidarität und die Suche nach Zugehörigkeit. Lorraine Kelly gelingt ein stimmiges Debüt, das trotz kleiner Schwächen überzeugt. Wer Familiengeschichten mit Tiefe, emotionaler Entwicklung und einer Prise Inselatmosphäre mag, wird hier fündig.

Bewertung vom 08.05.2025
Die Kunst des klugen Streitgesprächs
Schneider, Reto U.

Die Kunst des klugen Streitgesprächs


sehr gut

In einer Welt, in der Diskussionen oft in hitzige Debatten ausarten, bietet Reto U. Schneider mit seinem Buch "Die Kunst des klugen Streitgesprächs" einen erfrischend humorvollen und zugleich tiefgründigen Leitfaden für konstruktive Gespräche. Der Autor, bekannt für seine präzisen Analysen und unterhaltsamen Schreibstil, beleuchtet, warum wir so selten unsere Meinung ändern und wie wir dennoch zu produktiven Dialogen gelangen können.
Schneider erklärt, dass viele Diskussionen scheitern, weil wir uns nicht bewusst sind, ob wir gerade eine Meinung, einen Glauben oder Wissen vertreten. Er führt den Leser durch verschiedene Denkfehler und zeigt auf, wie diese unser Gesprächsverhalten beeinflussen. Mit Beispielen aus der Wissenschaft, Geschichte und Popkultur macht er komplexe Themen zugänglich und regt zum Nachdenken an.
Besonders hervorzuheben ist Schneiders Fähigkeit, trockene Theorie mit lebendigen Beispielen zu verbinden. Er nutzt Anekdoten aus der Bibel, Facebook und der TV-Serie "Big Bang Theory", um seine Argumente zu untermauern und die Leser zu fesseln. Diese Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit macht das Buch sowohl lehrreich als auch unterhaltsam.
Abschließend lässt sich sagen, dass "Die Kunst des klugen Streitgesprächs" nicht nur ein Ratgeber für bessere Diskussionen ist, sondern auch ein Spiegel unserer eigenen Denkmuster. Schneider fordert uns heraus, unsere Überzeugungen zu hinterfragen und offen für andere Perspektiven zu sein. Ein Muss für alle, die in einer pluralistischen Gesellschaft respektvoll und effektiv kommunizieren möchten.

Bewertung vom 08.05.2025
Die Kraft der Wechseljahre
Kirschner-Brouns, Suzann

Die Kraft der Wechseljahre


sehr gut

Neustart statt Krise: Wie die Wechseljahre zur Superkraft werden
Suzann Kirschner-Brouns' Buch Die Kraft der Wechseljahre ist ein erfrischender und ermutigender Leitfaden für Frauen ab 40, die diese Lebensphase nicht als Ende, sondern als kraftvollen Neubeginn sehen möchten. Die Autorin, selbst Ärztin und erfahrene Begleiterin vieler Patientinnen durch die Wechseljahre, beleuchtet nicht nur die körperlichen Veränderungen, sondern legt einen besonderen Fokus auf die oft vernachlässigten psychischen und emotionalen Aspekte dieser Zeit.
Das Buch ist in zehn thematische Abschnitte gegliedert, die von den Chancen der Wechseljahre über Schönheit, Sexualität und Partnerschaft bis hin zu seelischer Gesundheit und Vorsorge reichen. Kirschner-Brouns verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz, der weit über medizinische Fakten hinausgeht. Sie ermutigt Frauen, sich selbst neu zu entdecken, alte Rollenbilder zu hinterfragen und die Wechseljahre als Gelegenheit für persönliches Wachstum und Selbstermächtigung zu nutzen.
Besonders hervorzuheben ist der positive Grundton des Buches. Statt die Menopause als Verlust zu betrachten, präsentiert die Autorin sie als Chance für mehr Klarheit, Selbstbewusstsein und Lebensfreude. Mit praktischen Tipps, persönlichen Geschichten und einem einfühlsamen Schreibstil bietet sie Leserinnen Werkzeuge an, um diese Lebensphase
Es gibt auch sehr spezifische Kapitel, wie etwa jene über langjährige Partnerschaften oder "graue Scheidungen", nicht direkt auf ihre Lebenssituation zutreffen. Dennoch bieten diese Abschnitte wertvolle Einblicke und können helfen, das Verständnis für unterschiedliche Lebensrealitäten zu vertiefen oder können überblättert werden.
Fazit: Die Kraft der Wechseljahre ist ein inspirierendes und informatives Buch, das Frauen ermutigt, die Wechseljahre als kraftvolle und transformative Lebensphase zu begreifen. Es ist eine wertvolle Lektüre für alle, die sich mit den Veränderungen dieser Zeit auseinandersetzen und sie als Chance für persönliches Wachstum nutzen möchten.

Bewertung vom 07.05.2025
Zocken, aber gesund!
Kanojia, Alok

Zocken, aber gesund!


sehr gut

In Zocken, aber gesund! liefert Dr. Alok Kanojia – besser bekannt als „Dr. K“ – einen praxisnahen Leitfaden für Eltern, die sich mit dem Thema Gaming bei ihren Kindern auseinandersetzen. Als Psychiater und ehemaliger Videospielsüchtiger bringt er eine einzigartige Perspektive mit, die sowohl wissenschaftlich fundiert als auch persönlich nachvollziehbar ist.
Das Buch beleuchtet, warum Computerspiele für Kinder und Jugendliche so faszinierend sind, und bietet gleichzeitig Strategien, um gesunde Spielgewohnheiten zu fördern. Dr. K geht dabei auf häufige Fragen ein, wie:
• Wie lange sollten Kinder spielen dürfen?
• Wie kann man sie für andere Aktivitäten begeistern?
• Wie erkennt man problematisches Spielverhalten?
Ein besonderer Mehrwert für Eltern liegt in den konkreten Ratschlägen und dem klaren Fahrplan, den Dr. K anbietet. Er ermutigt zu offenen Gesprächen, Verständnis und dem Aufbau einer starken Eltern-Kind-Beziehung, ohne dabei in Alarmismus zu verfallen.
Zocken, aber gesund! ist ein wertvolles Werkzeug für alle, die einen ausgewogenen Umgang mit digitalen Spielen in der Familie suchen. Es bietet nicht nur Einblicke in die Welt der Gamer, sondern auch praktische Lösungen für den Alltag.

Bewertung vom 04.05.2025
Der Tote in der Crown Row / Sir Gabriel Ward ermittelt Bd.1
Smith, Sally

Der Tote in der Crown Row / Sir Gabriel Ward ermittelt Bd.1


ausgezeichnet

Mit Der Tote in der Crown Row entführt uns Sally Smith ins London des Jahres 1901, genauer gesagt in den traditionsreichen Temple-Bezirk, der als Zentrum der englischen Rechtswelt ein Ort der Gesetze, aber nicht des Verbrechens sein sollte – bis ein Mord die Grundfesten erschüttert.
Wer klassische Detektivgeschichten liebt, wird sich hier sofort heimisch fühlen. Der Mord an Lordoberrichter Dunning sorgt für Aufruhr, und weil die Polizei im Temple-Bezirk keine Befugnisse hat, fällt die Aufklärung des Falls dem Anwalt Gabriel Ward zu. Als akribischer, analytischer Denker mit einer Prise Eigenbrötlertum erinnert Ward in seiner Herangehensweise an Sherlock Holmes – auch wenn er auf die legendäre Exzentrik verzichtet. Unterstützt wird er von einem Polizisten, mit dem er nicht immer einer Meinung ist, was für unterhaltsame Dynamik sorgt. Herrlich gut!
Die Ermittlungen sind klassisches Whodunit: Verdächtige gibt es reichlich, dunkle Geheimnisse schlummern hinter den ehrwürdigen Mauern, und die Leser;innen können wunderbar miträtseln. Sally Smith schafft es, Spannung aufzubauen, indem sie nach und nach Hinweise streut und dabei geschickt mit falschen Fährten arbeitet.
Ein Highlight ist das Setting. Smith gelingt es meisterhaft, das Flair des Temple-Bezirks einzufangen: altehrwürdige Bauten, verschlungene Gassen, eine von Regeln und Traditionen geprägte Gesellschaft. Ihre detailreiche Recherche zeigt sich nicht nur in der präzisen Beschreibung der Örtlichkeiten, sondern auch in der Darstellung der damaligen Zeit – von den sozialen Strukturen bis hin zu den Ermittlungspraktiken der Epoche, die noch weit entfernt von moderner Forensik sind.
Fazit: Der Tote in der Crown Row ist ein guter historischer Krimi mit klassischer Whodunit-Struktur, einem charismatischen Ermittler und einem wunderbar atmosphärischen Setting. Wer das Flair von Sherlock Holmes und das Miträtseln in einem gut konstruierten Fall liebt, wird hier bestens unterhalten. Hoffentlich bleibt es nicht der letzte Fall für Gabriel Ward!

Bewertung vom 04.05.2025
Schwebende Lasten
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


gut

Eine Hommage an Magdeburg und wie es hätte kommen können
Annett Gröschners Schwebende Lasten ist ein Roman, der auf weniger als 300 Seiten eine enorme Tiefe entfaltet. Im Mittelpunkt steht Hanna Krause, eine Frau, die das 20. Jahrhundert in all seinen Umwälzungen erlebt hat. Von der Floristin zur Kranführerin, vom Kaiserreich bis zur Nachwendezeit — Hannas Lebensweg ist geprägt von Brüchen, Verlusten und dem ständigen Versuch, in einer Welt voller Extreme anständig zu bleiben.
Gröschner gelingt es, historische Ereignisse und persönliche Schicksale auf eine Art zu verweben, die weder belehrend noch sentimental wirkt. Ihre Sprache ist klar und präzise, ohne dabei die Emotionalität der Figuren aus den Augen zu verlieren. Besonders beeindruckt hat mich, wie Gröschner die Perspektive einer ostdeutschen Arbeiterin authentisch einfängt und dadurch eine Geschichte erzählt, die oft im Schatten der großen Narrative bleibt.
Hannas Blick vom Kran auf die Fabrikhalle wird zu einem Sinnbild: eine Frau, die gezwungen ist, von oben auf die Welt zu schauen, distanziert und doch zutiefst verwoben mit den Schicksalen unter ihr. Diese Metapher verdeutlicht Hannas Lebenshaltung — pragmatisch, zäh, beobachtend, und dennoch voller Mitgefühl.
Die Stärke des Romans liegt für mich besonders in der stillen, unaufdringlichen Art, mit der Gröschner ihre Hauptfigur zeichnet. Hanna ist keine Heldin im klassischen Sinne, aber genau das macht sie so stark. Ihr Credo, "anständig bleiben", ist keine naive Floskel, sondern eine Haltung, die sie durch Diktaturen, Kriege und Enttäuschungen trägt.
Schwebende Lasten ist ein Buch für alle, die sich für die oft übersehenen Geschichten des 20. Jahrhunderts interessieren — für diejenigen, die mehr über das Leben derjenigen erfahren möchten, deren Stimmen im historischen Diskurs oft zu leise sind. Es ist ein Roman, der zum Nachdenken anregt, lange nach der letzten Seite nachhallt und zeigt, dass auch das vermeintlich Unspektakuläre voller Kraft sein kann.

Bewertung vom 21.04.2025
Time Travellers - Nächster Sprung - Australien!
Gessner, Stephanie

Time Travellers - Nächster Sprung - Australien!


ausgezeichnet

Wer glaubt, eine Klassenfahrt in den Odenwald klingt nach Langeweile und Leberwurstbroten, der hat die 6G noch nicht erlebt! In „Time Travellers – Nächster Sprung: Australien!“ wird aus dem vermeintlich öden Schulausflug ein magisches Abenteuer auf der anderen Seite der Welt – inklusive Outback, Kängurus und jeder Menge Chaos.
Ganz plötzlich – zack! – landet die ganze Klasse nicht im Wald, sondern mitten in Australien. Und Referendarin Mayumi? Die macht sich alleine auf einer Insel breit. Das kann doch unmöglich mit rechten Dingen zugehen … oder steckt da vielleicht ein bisschen Zauberei dahinter? Grace und Rio, zwei Kids mit Köpfchen, fangen an zu ermitteln – während der Rest der Klasse die unerwartete Reise so richtig auskostet. Wenn man schon mal versehentlich nach Australien gesprungen ist, kann man ja auch gleich das Beste draus machen, oder?
Der Schreibstil ist locker-leicht, charmant und witzig – man fliegt förmlich durch die Seiten. Die Kapitel sind kurz, oft mit kleinen Zeichnungen geschmückt und enden nicht selten mit einem Cliffhanger, der einen ruft: „Nur noch eins!“ Besonders schön: Die Klasse besteht aus richtig unterschiedlichen Charakteren, die sich wie im echten Leben auch mal anzicken, aber am Ende zusammenhalten – Teamgeist mit Kakadu und Känguru!
Ob Uluru, Kings Canyon oder Sydney – Australien wird so lebendig beschrieben, dass man beim Lesen fast die Sonne auf der Haut spürt (oder den Sand in den Schuhen). Und trotzdem bleibt’s ein Kinderbuch durch und durch: spannend, lustig und manchmal auch ein kleines bisschen magisch.
Eine gute Lektüre für alle ab 10 Jahren!
Fazit:
Ein turbulenter Start in eine neue Abenteuerreihe, die voller Herz, Humor und Fantasie steckt. „Time Travellers“ ist alles andere als langweilige Schullektüre – das ist Lesevergnügen mit Jetlag-Garantie! Wir sind sowas von bereit für den nächsten Sprung … wohin geht’s wohl als Nächstes? 🌍📚✨
Unbedingt lesen – aber Fernwehgefahr ist hoch!

Bewertung vom 31.03.2025
HEN NA E - Seltsame Bilder
Uketsu

HEN NA E - Seltsame Bilder


sehr gut

Selten so eine Kuriosität in Buchformat in den Händen gehalten. Geschrieben hat es ein Mensch, der sich Uketsu nennt, wer sich dahinter verbirgt, weiß niemand, da diese Person sich nicht zu erkennen gibt. Dann ist dieser Kriminalroman so aufgebaut, dass Bilder eine sehr zentrale Rolle spielen und die sind auch alle abgedruckt zwischen dem Text.
Ich kann schon mal verraten, dass es mir ganz gut gefallen hat, weil es einfach mal was andere ist mit diesen Bildern zu arbeiten beim Lesen. Sonst sehr japanisch zurückhaltend und leise im Ton. Obwohl es auch zu sehr blutigen und horrormäßigen Szenen kommt.
Dieses durchschimmernde Böse zwischen all den vermeintlich normalen Schichten macht den Roman aus.
Auch die Übersetzung aus dem Japanischen von Heike Patzschke ist sehr zu loben. Liest sich flüssig und gut. Toll fand ich, dass neben den Zeichnungen die Schriftzeichen vom Original erhalten geblieben ist und nur daneben die deutsche Übersetzung stand.
Schwer etwas über den Inhalt zu schreiben ohne zu spoilern. Es beginnt mit einer Vorlesung in der eine Psychologin auf die Kraft der Bilder eingeht und wie bei traumatisierten Menschen das Gezeichnete genau angeschaut werden sollte. Dann gibt es einen Cut und 3 verschiedene Kapitel folgen. Zunächst war ich verwundert, ob das alles einen Sinn erbeben wird und – einziger spoiler – ja, es ergibt einen Sinn. Aber lest selbst!
Fazit: Für alle Krimifans, die gerne mal was anderes lesen und sich mit Hilfe der Bilder auf die Färten begibt!

Bewertung vom 26.03.2025
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


sehr gut

Tore Renberg legt mit Die Lungenschwimmprobe einen historischen Roman vor, der nicht nur spannend erzählt, sondern auch tief in die Abgründe einer Zeit eintaucht, in der Wissenschaft gegen Aberglauben, Gerechtigkeit gegen Machtmissbrauch und Menschlichkeit gegen Fanatismus kämpft. Die Geschichte um die junge Anna Voigt, die im Leipzig des Jahres 1681 des Kindsmords beschuldigt wird, ist spannend erzählt und entfaltet sich zu einem vielschichtigen Gesellschaftsbild des 17. Jahrhunderts. Wer an historischen Stoffen interessiert ist, hat hier einen Volltreffer!
Was dieses Buch ausmacht, ist seine kluge Mischung aus historischer Genauigkeit und erzählerischer Kraft. Der Norweger Tore Renberg versteht es, authentische Figuren zum Leben zu erwecken – der fortschrittliche Arzt, der mit seiner bahnbrechenden Methode den Grundstein für die moderne Rechtsmedizin legt, der mutige Anwalt, der gegen alle Widerstände kämpft, und der unbarmherzige Ankläger, der mehr einem Inquisitor als einem Richter gleicht. Doch auch die Nebenfiguren haben Gewicht und machen die Erzählung noch glaubhafter. Besonders gelungen ist die Art, wie er die barocke Welt mit all ihren Widersprüchen und Grausamkeiten einfängt – vom Rechtssystem, das Frauen wie Anna schutzlos zurücklässt, bis hin zur Allgegenwärtigkeit der Kirche, die nicht nur Trost, sondern auch unbarmherzige Kontrolle ausübt.
Das Buch liest sich trotz seiner über 700 Seiten flüssig, denn Tore Renbergs Sprache ist direkt, klar und gleichzeitig voller Atmosphäre. Er vermeidet blumige Übertreibungen und setzt stattdessen auf eine Bildkraft, die das Geschehen fast greifbar macht. Man riecht förmlich den modrigen Kerker, spürt die Kälte der Folterkammer und das beklemmende Gefühl der Ohnmacht, das Anna und viele andere Frauen ihrer Zeit durchleben mussten.
Außerdem ist der Roman sehr gut übersetzt von Karoline Hippe und Ina Kronenberger, wie ich finde, auch wenn ich es mangels Norwegischkenntnissen nur aus Laienperspektive beurteilen kann.
Besonders gelungen ist die Verknüpfung von historischem Geschehen mit emotionaler Tiefe. Hier wird nicht nur ein Prozess erzählt, sondern das Schicksal eines Mädchens, das sich in einer Welt behaupten muss, die ihre Stimme nicht hören will. Und damit wird das Buch auch über seine Zeit hinaus relevant – es zeigt, wie schwer es ist, gegen festgefahrene Strukturen anzukämpfen und wie kostbar jedes bisschen Fortschritt ist.
Sehr gern gelesen.