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Insgesamt 778 Bewertungen
Bewertung vom 14.06.2025
Kracht, Christian

Air


weniger gut

Christian Kracht ist ein Autor, der mit jedem neuen Buch hohe Erwartungen weckt – nicht zuletzt, weil er selbst über Jahre hinweg Maßstäbe gesetzt hat: stilistisch, erzählerisch und intellektuell. Leider kann AIR diese Erwartungen für mich nicht erfüllen. Die Idee des Romans – eine Reise ins Innere, ins Ätherische, in eine andere Realität – klingt auf dem Papier faszinierend. In der Umsetzung bleibt sie jedoch blass, überambitioniert und stellenweise fast selbstverliebt aus meiner Sicht. Vielleicht hab ich es auch einfach nicht verstanden?
Der Protagonist Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt zurückgezogen auf den Orkney-Inseln und erhält einen dubiosen Auftrag aus Norwegen: Er soll eine gigantische Halle – ein Datenzentrum, das als „Gedächtnis der Menschheit“ dient – in das perfekte Weiß tauchen. Was folgt, ist eine Verschmelzung von hypermoderner Gegenwart, metaphysischer Designkritik und märchenhafter Fantasy. Diese Konstellation wäre spannend – wenn sie nicht so angestrengt bedeutungsschwanger inszeniert wäre. Daher war es eher nichts für mich.
Kracht hat in früheren Werken, wie Faserland, für mich bewiesen, dass er ironisch distanzierte, dabei hochreflektierte Gesellschaftsbeobachtung mit literarischer Eleganz verbinden kann. In AIR aber verliert sich dieser Ton in kunstvoller Selbstreferenzialität und einer überbordenden Metaebene. Der Stil ist wie das Interieur, das Paul inszeniert: glatt, komponiert, kalkuliert – aber letztlich leer. Die Sprache wirkt artifiziell, beinahe steril – was sicher Absicht ist, aber dadurch noch keine literarische Qualität erhält.
Selbst die Fantasy-Handlung um das Mädchen Ildr, das wie aus einem anderen Jahrhundert wirkt, bleibt seltsam distanziert. Die Parallelen zur märchenhaften Anderswelt, zur Yeats’schen Lyrik oder zu mythologischen Motiven wirken bemüht. Die Verbindung zwischen Ildr und Paul – der plötzlich als eine Art weißgewandeter Ritter durch eine archaische Landschaft irrt – gerät pathetisch und will mehr bedeuten, als sie tatsächlich erzählt.
Auch die philosophischen Bezüge – von Wittgenstein über John von Neumann bis zu Baudrillards Simulakren – fügen sich nicht organisch in die Handlung ein, sondern wirken wie Referenzballast. Als ob uns Christian Kracht zeigen will, was er alles weiß und intellektuell überflügelt in den Text eingebaut. Es entsteht der Eindruck, als wolle der Roman unbedingt tiefgründig und bedeutungssatt erscheinen – doch was bleibt, ist oft nur Oberfläche.
Vielleicht liegt das Problem tatsächlich in der Erwartungshaltung. Nach Eurotrash, nach Krachts poetologischer Selbstauskunft, schien ein großer Wurf möglich. Stattdessen verliert sich AIR im Konzeptuellen aus meiner Sicht.
Fazit: AIR möchte vieles sein: literarischer Kommentar zur Gegenwart, Reflexion über Künstliche Intelligenz, romantische Allegorie und Märchen zugleich. Nicht meines.

Bewertung vom 10.06.2025
Clavadetscher, Martina

Die Schrecken der anderen


gut

Martina Clavadetschers „Die Schrecken der anderen“ ist ein kluger, tiefgründiger Roman über Verdrängung, Verantwortung und das, was unter der Oberfläche lauert – im Eis, in der Erinnerung, in der Gesellschaft. In ruhiger, aber eindringlicher Sprache entfaltet sich ein Netz aus Geschichten, die zunächst lose wirken, sich aber langsam und konsequent miteinander verweben.
Der Roman beginnt mit einem bildstarken Auftakt: Ein Junge entdeckt beim Schlittschuhlaufen einen Toten im Eis – eine Szene, die sich sinnbildlich durch das ganze Buch zieht. Clavadetscher erzählt abwechselnd aus der Perspektive zweier Figuren: Schibig, ein ängstlicher Archivar, der sich von einer alten Frau in einen Strudel aus Beobachtung und Deutung ziehen lässt, und Kern, ein reicher Erbe, dessen körperliche und moralische Blindheit eng mit der verdrängten Vergangenheit verwoben ist. Wie diese und andere Figuren zusammenhängen, erschließt sich Stück für Stück – und gerade das macht einen großen Reiz des Buches aus.
Stilistisch bewegt sich der Roman zwischen poetischer Sprachkraft und bewusster Sperrigkeit. Manche Passagen verlangen Geduld, wirken fast distanziert, doch dann folgen wieder Momente voller Klarheit und emotionaler Wucht. Besonders stark sind jene Stellen, in denen die Autorin die historischen Schatten der NS-Zeit mit heutigen gesellschaftlichen Fragen verschränkt – nie platt, sondern subtil und wirkungsvoll.
Nicht alle Erzählstränge sind gleich überzeugend, und gelegentlich hätte ich mir mehr Nähe zu den Figuren gewünscht. Trotzdem: „Die Schrecken der anderen“ ist ein Roman, der zum Nachdenken anregt, lange nachwirkt und der zeigt, was Literatur im besten Fall kann – sichtbar machen, was viele nicht sehen wollen.
Fazit: Anspruchsvoll, literarisch, relevant – ein Buch, das fordert und belohnt.

Bewertung vom 10.06.2025
Hagena, Katharina

Flusslinien


sehr gut

Katharina Hagena hat mit Flusslinien einen stillen, eindringlichen Generationenroman geschrieben, der Erinnerungen, Verluste und Neuanfänge auf poetische Weise miteinander verwebt. Im Zentrum stehen drei Figuren, deren Leben auf unterschiedliche Weise von Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist: die 102-jährige Margrit, ihre Enkelin Luzie und der junge Fahrer Arthur. Ihre Geschichten entfalten sich entlang der Elbe – einem Fluss, der nicht nur landschaftlicher Fixpunkt, sondern auch symbolischer Resonanzraum für das Vergehen der Zeit ist.

Margrit, ehemalige Stimmbildnerin, blickt auf ein langes, verwickeltes Leben zurück – auf Krieg, Liebe, Verlust und die Geschichte ihrer Mutter, deren Beziehung zur realhistorischen Gärtnerin Hoffa das Buch mit einer interessanten feministisch-historischen Perspektive anreichert. Ihre Schilderungen sind geprägt von einer fast körperlichen Erinnerung, die durch das Motiv des Atems eine besondere Präsenz bekommt.
Luzie, die junge Tätowiererin, ringt nach einem traumatischen Erlebnis mit sich und der Welt. Ihre Wut, ihr Trotz, aber auch ihre zarte Verbundenheit mit der Großmutter verleihen dem Roman eine berührende Authentizität. Arthur schließlich, der Fahrer mit dem Herzen eines Sprachforschers und Umweltschützers, bringt eine stille Melancholie und versponnene Sprachphilosophie ein, die das Buch immer wieder mit klugen Gedanken zur Ausdruckskraft von Worten bereichert.

Flusslinien scheut keine großen Themen: Nationalsozialismus, sexuelle Gewalt, Klimawandel, Sprachphilosophie, familiäre Traumata, Verlust, Schuld und Selbstermächtigung – vieles wird angerissen, manches durchleuchtet, anderes bleibt skizzenhaft. Diese thematische Vielfalt ist einerseits beeindruckend und zeugt von literarischem Anspruch. Andererseits wirkt sie stellenweise überbordend; nicht alle Motive fügen sich nahtlos in den Erzählfluss ein. Gerade bei Nebenepisoden wie einem Besuch in Belarus oder metaphorisch aufgeladenen Tierkämpfen fragt man sich nach deren narrative Notwendigkeit.
Erzählstil: poetisch, ruhig, atmosphärisch
Wer auf rasante Handlung aus ist, wird sich mitunter an der ruhigen, episodenhaften Erzählweise stören. Flusslinien lebt weniger von Plot als von Atmosphäre. Der Stil ist leise, präzise und poetisch – eine Sprache, die ohne Pathos existenzielle Fragen berührt. Besonders gelungen ist die Darstellung der Natur an der Elbe, die nicht nur als Kulisse, sondern als Resonanzraum menschlicher Emotionen dient.

Flusslinien ist ein literarisch anspruchsvoller Roman, der mit ungewöhnlichen Figuren, vielschichtigen Themen und poetischer Sprache überzeugt. Zwar bleiben manche Aspekte etwas unfokussiert und einige Motive wirken zu bemüht, doch überwiegt der Eindruck eines klugen, berührenden Textes über Erinnerung, Sprache, Familie und das Ringen um Sinn. Für Leser*innen, die sich gerne auf eine erzählerische Strömung einlassen, die mal ruhig, mal tiefgründig ist – ein empfehlenswerter literarischer Flusslauf.

4 von 5 Punkten.

Bewertung vom 09.06.2025
Colette, Sidonie-Gabrielle

Chéri


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die sich lesen, als würde man sie träumen. Sidonie-Gabrielle Colettes Roman Chéri, erstmals 1920 in Frankreich erschienen, ist ein solches Werk – ein Meisterstück subtiler Erotik, gesellschaftlicher Provokation und literarischer Eleganz. In der neuen, glänzenden Ausgabe des Manesse Verlags (übersetzt von Renate Haen und Patricia Klobusiczky, ergänzt um ein erhellendes Nachwort von Dana Grigorcea) wird dieser Klassiker nun einer neuen Lesergeneration zugänglich gemacht – und das mit bemerkenswerter Sorgfalt.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Die fast fünfzigjährige Léa de Lonval, eine ehemalige Kurtisane, lebt in einer dekadenten Welt der Pariser Belle Époque. Seit Jahren verbindet sie eine leidenschaftliche Beziehung mit dem 24-jährigen Fred Peloux, genannt Chéri. Chéri, ein ästhetischer Müßiggänger und Sohn aus gutem Hause, lässt sich durchs Leben treiben – charmant, verwöhnt, launisch. Als er die junge Edmée heiratet, glauben beide, die Trennung würde sie befreien. Doch genau das Gegenteil tritt ein: Die Zäsur wirft sie aus der Bahn und legt frei, wie tief diese „Liaison sans avenir“ tatsächlich war.
Was Chéri so besonders macht, ist nicht nur das Thema – eine Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem wesentlich jüngeren Mann, die zur damaligen Zeit als Skandal galt –, sondern die Art, wie Colette diese Geschichte erzählt. Mit einer Sprache, die zugleich sinnlich und messerscharf ist, entwirft sie ein Kammerspiel der Gefühle, das weit über das Erotische hinausgeht. Ihre Figuren sind keine bloßen Typen, sondern komplexe Seelen – widersprüchlich, verletzlich, stolz. Léa ist keine femme fatale, sondern eine Frau, die die Liebe ebenso genießt wie fürchtet, weil sie weiß, dass ihr Verfallsdatum gesellschaftlich längst überschritten ist.
In der exzellenten Übersetzung von Haen und Klobusiczky bleibt Colettes Stil lebendig und nuancenreich. Es gelingt ihnen, den feinen Humor, die melancholische Grundstimmung und das bittersüße Flirren dieser Amour fou zu bewahren, ohne den Text ins Gestelzte kippen zu lassen. Ein Balanceakt, der bewundernswert gelingt.
Das Nachwort von Dana Grigorcea liefert den notwendigen historischen Kontext – nicht nur zur Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch zur Stellung der Autorin in der französischen Literatur und zur Rezeption weiblicher Sexualität im frühen 20. Jahrhundert. Grigorcea öffnet den Blick für die literarische Radikalität Colettes, die mit Chéri nicht nur ein Tabu brach, sondern eine ganze moralische Ordnung infrage stellte.
Colettes Roman steht in einer langen Tradition französischer Literatur, die sich mit Ehebruch, Verlangen und Rollentausch beschäftigt – von Madame de Lafayette über Laclos bis zu Flaubert. Doch Chéri hebt sich durch seinen Ton, seine weibliche Perspektive und seine melancholische Schönheit ab. Léa liebt – und sie überlebt. Sie verzweifelt nicht, sie stilisiert nicht. Sie erkennt, dass Liebe nicht ewig dauert, aber ewig nachhallt. Dass Begehren nicht immer zur Erfüllung führt, aber zur Selbsterkenntnis. Dass Abschiede mehr sagen als Worte.
Ein großartiger Roman, schmal im Umfang, aber tief in der Wirkung. Ein Plädoyer für weibliches Begehren, für das Recht auf sinnliche Erfahrung jenseits der Konvention. Und ein literarisches Fest der Sprache, das in dieser Neuübersetzung neu leuchtet.

Bewertung vom 09.06.2025
Menschik, Kat;Andersen, Hans Christian

Lieblingsmärchen / Kat Menschiks Lieblingsbücher Bd.19


ausgezeichnet

Es beginnt wie ein leises Flüstern aus Kindertagen: Das Knistern einer alten Märchenseite, das Funkeln vergilbter Sterne über einem Hof aus Tinte, das leise Trappeln eines Hundes mit tellergroßen Augen durch die Gedankenwelt. Und dann schlägt man das Buch auf – Kat Menschik illustriert die schönsten Märchen von Hans Christian Andersen – und wird augenblicklich in ein Farbenreich katapultiert, das zugleich nostalgisch wie visionär wirkt.
Menschik macht hier mehr als bloß Märchen bebildern – sie inszeniert sie. Wie ein Bühnenlicht fällt ihr Zeichenstift auf Details, die in unserer Erinnerung verblasst waren. Aus einem einfachen Entlein wird eine Figur mit echtem Herzklopfen, aus einer Prinzessin auf einer Erbse eine Studie weiblicher Stärke und Sensibilität. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ brennt sich förmlich in die Seele – ohne jede Sentimentalität, sondern mit der zarten Wucht ehrlicher Anteilnahme.
Besonders bezaubernd ist, dass sich in diesem Band Vergangenheit und Gegenwart die Hand reichen: Menschiks erstes Buchprojekt, ein Unikat für ihre Mutter gezeichnet, wird hier als Faksimile abgedruckt – eine Zeitreise in die Anfänge einer mittlerweile ikonischen Illustratorin. Wer genau hinsieht, erkennt schon dort den Kern ihres späteren Stils: verspielt, pointiert, manchmal leicht grotesk, immer aber voller Liebe zum Detail und zur erzählten Welt.
Auch das Puppenspiel am Ende – „Die Nachtigall“ – ist mehr als ein nettes Extra: Es lädt ein zum Nachspielen, zum Weiterträumen, zum Märchenerleben mit Händen und Stimmen. Und wer sich traut, die Figuren auszuschneiden (oder sie lieber kopiert), erhält eine Bühne für das eigene Wohnzimmer – ein Fest für Fantasie und Kindheitsträume.
Der Band ist ein Gesamtkunstwerk. Vom geprägten Leineneinband über den pastellblauen Buchschnitt bis zu den ausdrucksstarken Illustrationen ist alles ein Erlebnis für Auge und Herz. Und ja, auch für die Seele. Denn was Andersen einst über das Leben sagte – dass es selbst das wunderbarste Märchen sei – trifft hier auf Menschiks Kunst in vollendeter Form.
Fazit:
Ein Buch wie ein Kaleidoskop der Gefühle. Nostalgie trifft auf moderne Grafik, alte Märchen flackern in neuem Licht. Wer Andersen liebt – oder Kat Menschik –, wird sich diesem Band nicht entziehen können. Ein Lieblingsbuch. Und eines, das selbst ein Märchen geworden ist.

Bewertung vom 09.06.2025
Pourchet, Maria

Alle außer dir


sehr gut

Maria Pourchets Roman Alle außer dir ist ein literarisch kraftvoller, emotional tief erschütternder Monolog einer Frau, die am Wendepunkt ihres Lebens steht: Marie, 35 Jahre alt, frischgebackene Mutter, blickt im Halbdunkel eines Pariser Krankenhauszimmers auf die Wiege ihrer Tochter – und in die Tiefen ihrer eigenen Kindheit.
Was folgt, ist keine linear erzählte Lebensgeschichte, sondern ein fragmentarischer, aufwühlender innerer Strom von Erinnerungen, Reflexionen und Fragen. Marie rechnet ab – mit ihrer Mutter, mit einem erstickenden Frauenbild, mit sich selbst. Der Ton ist unverblümt, radikal ehrlich, gelegentlich sarkastisch, oft schmerzhaft – aber nie larmoyant. „Ich bin auch nur eine blöde Kuh, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Mutter in einem Buch zur Strecke zu bringen, statt zu stillen“, schreibt sie (S. 135) – Sätze wie dieser zeigen Pourchets Gespür für Ambivalenz, für die Widersprüche des Mutterseins und Frauwerdens.
Zentrale Fragen, die Marie umtreiben: Was geben Frauen – ungewollt, unreflektiert – an ihre Töchter weiter? Wo endet Fürsorge, wo beginnt emotionale Kälte? Wie tief sitzen Sprachmuster, Demütigungen und unausgesprochene Erwartungen, wenn sie von Generation zu Generation weitergetragen werden? Alle außer dir ist ein Buch über das unsichtbare Erbe weiblicher Unterdrückung, die nicht nur von außen, sondern auch im Inneren einer Familie entsteht – subtil, still und doch prägend.
Formal ist Pourchets Roman eher ein langes Poem als eine klassische Erzählung. Der Text folgt keiner chronologischen Ordnung, sondern ist assoziativ und impulsgetrieben. Es ist ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann – auch dank der hervorragenden Übersetzung, die den dichten, poetischen und zugleich brutalen Ton des Originals treffsicher ins Deutsche überträgt. Der Originaltitel Toutes les femmes sauf une – „Alle Frauen außer einer“ – trifft die Ambivalenz des Stoffes eigentlich noch besser, doch Alle außer dir funktioniert im Deutschen immerhin als offenes Echo auf die Tochter.
Was bleibt, ist ein schmerzlicher Eindruck: von der Last weiblicher Sozialisation, von der Ohnmacht, Dinge anders machen zu wollen – und doch von der Angst getrieben zu sein, dieselben Fehler zu wiederholen. „Ich wünsche mir, dass du so gut wie nichts davon behältst“, sagt Marie zu ihrer Tochter (S. 13) – ein Wunsch, der Hoffnung und Hilflosigkeit zugleich ausdrückt.
Fazit:
Maria Pourchet gelingt mit Alle außer dir ein intensiver, sprachlich außergewöhnlicher und psychologisch tiefgründiger Roman über Mutter-Tochter-Beziehungen, weibliche Prägung und den Willen, schmerzhafte Kreisläufe zu durchbrechen. Kein einfacher Text – aber ein unbedingt lesenswerter. Ein literarisches Glanzstück im schmalen Format.

Bewertung vom 05.06.2025
Dunlay, Emily

Teddy


sehr gut

Emily Dunlays Debütroman Teddy entführt uns ins Rom des Jahres 1969 – eine glühend heiße Stadt voller Diplomaten, Dekadenz und Desillusion. Im Zentrum: Teddy Carlyle, frisch verheiratet, elegant und bemüht, endlich das zu sein, was man von ihr erwartet – eine perfekte Ehefrau im diplomatischen Glanzlicht.
Teddy will neu anfangen. Nach Jahren des Scheiterns glaubt sie, endlich ihren Platz gefunden zu haben. Doch die römische Fassade beginnt schnell zu bröckeln: Ein kompromittierendes Foto, ein Schatten aus der Vergangenheit und die undurchsichtige Familiengeschichte reißen sie aus dem selbstgebauten Kokon aus Pillen, Etikette und Etuikleidern.
Dunlay schreibt atmosphärisch dicht und stilistisch versiert. Der Roman wechselt elegant zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Verhörzimmer und Cocktailparty. Teddys Stimme wirkt oft schwankend – zwischen Naivität und Kalkül, zwischen Glamour und Angst. Das macht sie nicht immer sympathisch, aber durchweg interessant.
Die Stärke des Romans liegt nicht in klassischen Spannungsbögen, sondern in seiner psychologischen Tiefenschärfe. Wer auf große Enthüllungen hofft, wartet lange – doch gerade das allmähliche Entblättern von Teddys Innenleben hält die Geschichte lebendig.
Ein stimmiges, feinfühliges Porträt einer Frau im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Korsett und individueller Selbstfindung. Stilistisch überzeugend, inhaltlich manchmal etwas zurückhaltend – aber genau das passt zur Protagonistin.
⭐️ 4 von 5 Sternen
Fazit: Ein bittersüßer Cocktail aus 60er-Jahre-Glamour, persönlichem Trauma und der Frage: Wer darf man sein, wenn man allen gefallen will?

Bewertung vom 05.06.2025
Deya, Claire

Eine Welt nur für uns


gut

Claire Deyas Roman Eine Welt nur für uns entführt die Leser:innen ins Jahr 1945 nach Hyères an die Côte d’Azur – in eine Welt zwischen Zerstörung und Neuanfang. Im Mittelpunkt steht Vincent, der nach Jahren deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, entschlossen, seine große Liebe Ariane wiederzufinden. Diese ist seit zwei Jahren verschwunden, zuletzt in Verbindung mit den deutschen Besatzern gesehen. Um ihrer Spur zu folgen, schließt sich Vincent einer Gruppe Minenräumer an – eine lebensgefährliche Aufgabe, die symbolisch für die Zerbrechlichkeit des Friedens steht.

Deya zeichnet eindrucksvoll das Bild einer vom Krieg gezeichneten Gesellschaft. Die Entscheidung, Minensucher in den Fokus zu stellen – darunter deutsche Kriegsgefangene und französische Freiwillige – eröffnet ein wenig beachtetes, aber historisch relevantes Kapitel der Nachkriegszeit. Die ständige Bedrohung durch tödliche Minen spiegelt treffend die seelische Unsicherheit der Figuren wider. Besonders gelungen ist dabei die Konstellation der Minenräumer: Die fragile Zusammenarbeit zwischen ehemaligen Feinden macht die Spannung greifbar.

Inhaltlich überzeugt der Roman durch seinen thematischen Tiefgang. Er erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern verhandelt große Fragen: Schuld und Vergebung, Identität, Traumata und der schwierige Weg zurück in ein ziviles Leben. Auch wenn Vincents Suche nach Ariane nicht durchweg fesselnd ist, bleibt sie doch emotional nachvollziehbar – gerade weil sie mit der Suche nach innerem Frieden verknüpft ist.

Der literarische Stil ist allerdings ein zweischneidiges Schwert. Deya beschreibt bildreich und atmosphärisch dicht – gerade die Landschaften, das Licht der Côte d’Azur und die dörfliche Nachkriegsstimmung sind sehr gelungen eingefangen. Gleichzeitig wirken manche Passagen sprachlich sperrig oder redundant, was den Lesefluss bremst. Ob dies am Originaltext oder an einer etwas holprigen Übersetzung liegt, lässt sich schwer sagen – stellenweise wirkt es jedenfalls so, als wäre der Text nicht ganz stilsicher übertragen worden. Längere Sätze verlieren gelegentlich an Klarheit, und einige Dialoge klingen hölzern. Vielleicht auch nur mein Eindruck...

Eine Welt nur für uns ist ein bewegender Roman über eine Zeit des Umbruchs. Die Kombination aus historischer Genauigkeit, psychologischem Feingefühl und einer stillen, aber kraftvollen Liebesgeschichte macht ihn absolut lesenswert. Trotz stilistischer Schwächen und kleiner Längen überzeugt Claire Deya mit einer eindringlichen Geschichte, die lange nachhallt. Für Leser*innen, die sich für die Nachkriegszeit interessieren und Literatur schätzen, die sich auch schwierigen Themen stellt, ist dieser Roman eine klare Empfehlung.

Bewertung vom 03.06.2025
Martin, Nicola

The Island - Auf der Flucht


sehr gut

Weiße Sandstrände, türkisblaues Meer und tropische Cocktails – The Island entführt seine Leser:innen auf den ersten Blick in ein karibisches Urlaubsparadies. Doch schon nach wenigen Seiten wird klar: Keeper Island ist kein Ort zur Erholung, sondern ein Albtraum in Designeroptik. Nicola Martin inszeniert mit sicherem Gespür für Spannung und Atmosphäre einen packenden Inselthriller, der nicht nur durch seinen exotischen Schauplatz besticht, sondern vor allem durch ein raffiniert konstruiertes Netz aus Intrigen, Geheimnissen und menschlichen Abgründen.
Im Zentrum steht die Hotelmanagerin Lola, die nach einem blutigen Zwischenfall in Hongkong auf Keeper Island ein neues Leben beginnen will. Doch kaum angekommen, wird ihr Mentor Moxham tot aus dem Meer gezogen – angeblich ein Unfall. Für Lola beginnt eine gefährliche Gratwanderung: Zwischen schillernden Gästen, zwielichtigen Angestellten und dem Druck, ihre eigene Vergangenheit zu verbergen, versucht sie herauszufinden, was wirklich hinter der Fassade des Luxusresorts steckt. Ihre zwei goldenen Regeln – „Sei auf alles vorbereitet“ und „Traue niemandem“ – werden auf eine harte Probe gestellt.
Nicola Martin gelingt es mit einem temporeichen Schreibstil, kurzen Kapiteln und ständig neuen Wendungen, einen echten Pageturner zu erschaffen. Die Handlung wird aus Lolas Perspektive erzählt, was die Leser:innen unmittelbar in das Geschehen hineinzieht. Gleichzeitig bleibt die Protagonistin bis zum Schluss ambivalent – ist sie Opfer, Täterin oder beides? Diese moralische Grauzone verleiht der Figur Tiefe und dem Plot zusätzliche Spannung.
Besonders gelungen ist auch die Darstellung der sozialen Kontraste: Während die privilegierten Gäste auf Champagner und Sonnenuntergänge blicken, kämpft das Personal ums Überleben – ein Mikrokosmos der Ungleichheit, in dem Gier und Macht alle Regeln außer Kraft setzen. Das Setting, so verführerisch es auf den ersten Blick scheint, entwickelt sich zur perfekten Bühne für einen modernen Thriller, der mehr zu sagen hat, als bloß zu unterhalten.
Fazit:
The Island – Auf der Flucht ist ein atmosphärisch dichter Thriller mit exotischem Setting, vielschichtigen Figuren und einem Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Nicola Martin beweist ein feines Gespür für Spannung, Psychologie und das Spiel mit Schein und Sein. Ein perfekter Sommerkrimi – aber definitiv nichts für schwache Nerven oder allzu verträumte Reisesehnsüchte.

Bewertung vom 03.06.2025
Mullender, Rosie

Ghosted


sehr gut

Schon auf den ersten Seiten überrascht Ghosted mit einer ungewöhnlichen Mischung: RomCom trifft auf Mystery – und das funktioniert erstaunlich gut. Was zunächst wie eine charmante, leicht abgedrehte Geistergeschichte wirkt, entwickelt schnell emotionale Tiefe und berührt Themen wie Verlust, Selbstwert und familiäre Prägung.
Im Mittelpunkt steht Emily, die mit ihrem Projekt „Emily 2.0“ verzweifelt versucht, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ihr Drang zur Selbstoptimierung wirkt zunächst überzeichnet, ist aber erschreckend nachvollziehbar in einer Gesellschaft, die ständige Verbesserung zur Norm erklärt. Besonders stark sind die Szenen, in denen Emily beginnt, hinter ihre eigene Fassade zu blicken – und sich mit den Schatten ihrer Vergangenheit auseinandersetzen muss.
Der titelgebende „Ghost“ Andy bringt nicht nur Humor und Wortwitz in die Geschichte, sondern auch eine bittersüße Note. Seine Präsenz wirft Fragen auf, die dem Roman zusätzliche Spannung verleihen – ohne ihn je ins rein Übersinnliche kippen zu lassen.
Auch das Freund:innen-Netzwerk um Emily herum ist vielschichtig und angenehm klischeefrei gezeichnet. Die Nebenfiguren bereichern die Handlung mit verschiedenen Perspektiven auf Themen wie Zugehörigkeit, queere Identität und echte Freundschaft – ohne belehrend zu wirken.
Rosie Mullender gelingt es, ernste Themen wie Trauer, Selbstzweifel oder Kindheitstraumata mit Leichtigkeit zu erzählen – mal witzig, mal schmerzhaft ehrlich, immer menschlich. Ghosted ist kein oberflächlicher Wohlfühlroman, sondern ein feinfühliger, unterhaltsamer Blick auf die Frage: Wer bin ich eigentlich, wenn ich aufhöre, jemand anderes sein zu wollen?
Fazit:
Witzig, warmherzig und überraschend tiefgründig – Ghosted erzählt auf originelle Weise vom Loslassen, von Freundschaft und dem Mut zur Selbstakzeptanz. Ein Wohlfühlroman mit Nachhall – charmant erzählt und doch nachdenklich stimmend.