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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 02.05.2024
Als der Kaiser ein Gott war
Otsuka, Julie

Als der Kaiser ein Gott war


ausgezeichnet

Der Feind ist unter uns.
Der 2002 erschienene Debütroman von Julie Otsuka behandelt ein Thema, das in Europa eher unbekannt und in ihrer amerikanischen Heimat wenn bekannt, dann längst vergessen ist: die Internierung japanischstämmiger Menschen in den USA nach dem Angriff auf Pearl Harbour.
1942 Ende April, im fünften Kriegsmonat: Über Nacht erfuhren diese Menschen durch öffentliche Bekanntmachungen - an Bäumen, Bushaltestellen, in Schaufenstern von Läden und Warenhäusern, an Telefonmasten, am Postamt - dass sie sich an Sammelpunkten einzufinden hätten für ihre Evakuierung. Jeder Mensch mit japanischen Wurzeln war der Feind an sich: die 5. Kolonne, er wird in Sippenhaft genommen und in Lager deportiert
Die Frau, namenlos wie ihre 2 Kinder, ein 10 jähriges Mädchen und ein siebenjähriger Knabe, packte und räumte das Haus leer.
Ihr Mann war schon im Dezember verhaftet worden. Ab und zu erhielt sie Briefe.
Am nächsten Morgen an der Sammelstelle erhielten alle eine Erkennungsmarke und wurden in Züge verfrachtet. Vorsichtig tun sich da bei mir Reminiszenzen auf.....
Ein alter langsamer Zug brachte sie nach Utah, in die Wüste.
Am Zielort erwarteten sie Hunderte von Baracken aus Teerpappe, von Stacheldraht umhegt, von Wachttürmen mit Scheinwerfern aus beobachtet. Die brütende Sonne der Wüste. Aber keine Kinderbuchwüste mit Oasen, Palmen und Kamelen, es war eine staubige trostlose Wüste.
Die Rückkehr nach Ende des Krieges, nach 3 Jahren und 5 Monaten: Die Frau holte den Schlüssel, den sie an einer langen silbernen Kette um den Hals trug und den sie jeden Abend berührte, als sei er ein Stück von ihr geworden, hervor. Und auch hier Reminenszen an andere Schlüsselgeschichten, aus der Neuzeit auf einem anderen Kontinent.
„Wir waren jetzt wieder freie Menschen, konnten gehen, wohin wir wollten, keine Zäune, keine Wachen und keine Scheinwerfer mehr. Wir würden unser Leben dort leben, wo es aufgehört hatte. Keiner begrüßte uns herzlich, nicht einmal ein „Lange nicht gesehen, waren Sie verreist?“ 

Und eines Tages im Dezember kam der Mann zurück. Es war nicht der, den sie kannten. Es war ein alter Mann, in Gedanken weit weg, er misstraute allen und alltägliche Kleinigkeiten heizten ihn zur Weißglut an.
Das Ende ist ein überraschendes. Ein Clou, ein Gag wie in einem Hollywoodfilm oder eine Anklage? Eine Anklage an das amerikanische Volk und seine „Vollstrecker“?
Das ganze Geschehen wird in einem fast emotionslosen Ton geschildert, wie in Aufzählungen, kurz und prägnant und an einen Schulaufsatz erinnernd. Dadurch verliert der Roman nicht an Fassungslosigkeit und Tragik, sondern gewinnt vielmehr eine überzeitliche Gültigkeit.
Und vielleicht können sich manche Leserinnen und Leser mehr in das Geschehen einfühlen, als wenn es voller gefühlvoller Aufwallungen und entsprechender Dramatik beschrieben wird.
Ein kleiner lesenswerter Roman, eine Mahnung: es könnte uns alle hier und jetzt und überall treffen.
Der Krieg zwischen den USA und Japan endete übrigens mit dem ersten Atombombenabwurf der bisherigen Geschichte.

Bewertung vom 08.04.2024
Bittere Sonne
Hassaine, Lilia

Bittere Sonne


ausgezeichnet

Eine Familienaufstellung
Lilia Hassaine schaffte es mit diesem Roman in die Vorauswahl des renommierten Prix Goncourt. Sie gibt einen neuen Blick frei in die Parallelgesellschaft der eingewanderten Algerier und ihr Leben in den berüchtigten Banlieus, die man auch als Ghettos bezeichnen könnte.
Der Roman besteht aus mannigfaltigen Zutaten wie dem Generationenkonflikt in der ursprünglich patriarchalischen Gesellschaft, den der erhofften Aufstiegschancen und der Sehnsucht nach Anerkennung, der Ambivalenz nur „geduldet“ zu sein, der Einsicht des Scheiterns.
Er ist zudem ein gut ausgeleuchtetes Psychogramm einer typischen algerischen Familie, die jedoch eine Besonderheit aufweist: die Präsenz des zwei-eiigen Zwillingspaars Amir und Daniel, die durch die Entscheidung des Vaters getrennt und in unterschiedlichen Welten aufwachsen.
Der Vater Saíd lebt in einem typischen Banlieu-Milieu mit seiner Frau Nadscha und seinen drei Töchtern Maryama, Sonia und Nour. Seinen Bruder Kader hat es durch die Heirat mit der Französin Ève in eine ganz anderes Umfeld verschlagen: in ein eigenes Haus mit Garten, mit vielen Büchern und statt wie Saíd sich in einer Fabrik stumpf und kaputt zu arbeiten, ist er für seinen Schwiegervater in dessen Schokoladenfabrik tätig.
Auch wenn Amir und Daniel die Hauptdarsteller in diesem kleinen Familiendrama sind, werden auch die Schicksale der Töchter angerissen: Maryama, die nach Algerien verheiratet wird, Sonia, die von ihrem „importierten“ algerischen Mann nach seiner Ankunft im „Gelobten Land“ verlassen wird und Nour, die Rebellische, die sich gegen ihr Frausein mit Brustbandagen und Hunger wehrt. Die von ihrem Vater „Kleiner Mann“ genannt wird. Die mit 18 Jahren das Haus verlässt, um frei zu sein von der Verachtung dem Vater gegenüber, der sich immer duckt, um bloß nicht aufzufallen, frei von der Unterwürfigkeit der Mutter.
Da Ève und Kader keine Kinder bekommen können, sollen sie das Baby, das Nadscha erwartet, adoptieren. Doch aus einem Baby werden zwei, nämlich Amir und Daniel.
Amir bleibt bei den Eltern, während Daniel seine Lebensreise bei Ève und Kader antritt. Im Laufe des Romans zeigen sich nicht nur die unterschiedlichen Außenhüllen ihres Lebens, sondern auch die unterschiedlichen Charaktere der Zwillinge. Amir ist ein introvertiertes stilles Kind, das mit vier Jahren immer noch nicht spricht, Daniel ist ein forderndes Kind, aufrecht und stolz. Und doch sind sich die beiden Cousins, die nicht wissen, dass sie Brüder sind, tief und innig und unzertrennlich wie durch eine gemeinsame Nabelschnur verbunden.
Lilia Hassaine gelingt es meisterlich, die Schicksalsfäden zu verbinden, zu verknoten, so dass man sich bei der Lektüre eingebunden fühlt und die Empfindungswelten aller Personen nachvollziehen kann. Das Ende ist tragisch. Und doch fast erwartbar.
Mit dem Besuch Daniels und seiner kleinen Familie in Algerien (Orte sind Sprache der Erinnerung, auch wenn man nie dort war) schließt sich der Kreis und es gelingt ihm endlich, seinen Zorn und seine Schuldgefühle loszulassen.
So lösen sich die Knoten der Schicksalsfäden. Und so ist das Schicksal dieser zweiFamilien auch ein Pars pro toto: ein Gleichnis für die Zerrissenheit von Immigranten, nicht von hier und nicht von dort. Von Woanders. Aus einem Zwischenreich.

Bewertung vom 08.03.2024
Weiße Rentierflechte
Nerkagi, Anna

Weiße Rentierflechte


ausgezeichnet

Die Herrin des Feuers

Anna Nerkagi gehört dem sibirischen Volk der Nenzen an, das auch heute noch größtenteils in der arktischen Tundra nomadisch von Rentierzucht lebt.
Dieser kleine Roman ist ein Juwel unter den Schriften der Minderheiten-Autoren.
Er verbindet gekonnt Einsichten in das traditionelle Leben dieses kleinen Volkes mit den Einbrüchen der Moderne, Naturverbundenheit und schamanistisches Denken. Für mich ist neben den alten Männern Petko, Wanu und Chawassa und dem jungen Aljoschka das Feuer das zentrale Element. Die Frauen, bis auf Petkos verstorbene Ehefrau und seine Tochter Ilne, die irgendwo weit fort in einer Ortschaft lebt, bleiben namenlos. Wie Aljoschkas Mutter und seine ihm frisch angetraute Ehefrau, die Frauen der beiden anderen Alten und die stumme Tochter Chawassas.
Die Frau ist in der nenzischen Welt Dienerin des Mannes, aber auch die Hüterin des Feuers. Sie ist dem Manne untertan, sein Wort ist Gesetz, ihr Platz ist auf den Bodenbrettern, sie näht und flickt die Felle, sie bereitet den Tee und das Fleisch im Kessel zu, aber: sie ist die Hüterin und Bewahrerin der heiligen Flamme.
Die Geschichte beginnt mit Aljoschkas Hochzeit, die ganz ohne die üblichen Gäste (je mehr, desto besser) vollzogen wird. Seine Mutter hatte die Braut ausgesucht, sie wollte entlastet werden, Enkelkinder haben und den Sohn versorgt wissen. Der sich nur widerstrebend ihren Plänen ergeben hat. Sein Herz gehörte noch immer seiner Jugendliebe Ilne, auf deren Rückkehr er seit sieben Jahren wartete. Aber sie war nicht einmal zur Beerdigung der Mutter erschienen.
Aljoschkas romantischen Liebe: die es in der nenzischen Welt mit seinen harten Lebensbedingungen nicht gab. Erst die sehr späte Einsicht, dass sein Warten vergebens war, dass Ilne nicht zurückkommen würde, ihn vergessen hatte, ließ ihn sein Schicksal akzeptieren. Wie seine Mutter ihm gepredigt hatte: ja, Du kannst die Braut zu ihrer Familie unberührt zurückbringen, aber wer wird für Feuer, Wasser, Tee und Fleisch sorgen? Wer deine Kinder zur Welt bringen, wer wird dann im Alter einsam wie ein Hund sein? Für das Leben braucht man keine Liebe.
Aljoschka sah sich metaphorisch als Grashüpfer, die für die Nenzen das Symbol für ein para- sitäres Leben sind: leben auf Kosten anderer, sie aber lieben die Spinnen, die eifrig webenden, die von ihrer Arbeit leben.
Als Mann in der Blüte seiner Jahre betrat er, wie seinerzeit sein Vater dreimal hüstelnd, den Tschum. Fast demütig sein Schicksal annehmend. Man strauchelt oder kriecht, aber man muss vorwärts kommen, dem „Schlitten der Zeit“ folgen.
Das Alltagsleben, das schamanistische Denken aber auch die Brüche durch die neue Zeit, die moderne Welt werden in klaren Worten lebendig, ganz wunderbar und poetisch auch in den Naturbeschreibungen. Anna Nergaki tariert glasklar den Gegensatz von Gemeinschaft und individuellem Glück aus. Ein Leben, ein Überleben in einer so menschenfeindlichen Natur kann nur in der Gemeinschaft Erfüllung bringen.
In diesen Woken-Zeiten mag dieser Roman feministische Empörung hervorrufen. Denn die Nenzen-Frau ist nicht gleichberechtigt, sieht den Mann als Gebieter und ist doch mächtig, denn ohne sie wäre der Mann nichts. Sie sehen sich nicht als Opfer, sondern als die andere Hälfte, vielleicht die bessere? des Mannes. Denn sie huldigen durch das Feuer dem Altar des Lebens.
Egal, zu welcher Ideologie die Leserin oder der Leser tendieren: es ist ergreifend, in diese fremde Welt einzutauchen mit seiner zarten und doch realistischen Poetik. Ein Geschenk aus einer fremden, fernen, eiskalten und doch „feurigen“ Welt.
Hilf- und lehrreich der Anhang mit den spezifisch nenzischen Begriffen.

Bewertung vom 24.01.2024
Pol Pots Lächeln
Fröberg Idling, Peter

Pol Pots Lächeln


ausgezeichnet

Ich sehe was, was Du nicht siehst. 

Oder die Parabel von den Blinden Männern und dem Elefanten.
Das im Jahre 2006 veröffentlichte Buch ist eine hoch interessante Lektüre, wenn auch nicht einfach zu lesen, da sie zeitlich hin und her schwankt, sich auf vielen kleinen Impressionen aufbaut, die oft nicht leicht zuzuordnen sind. Gerade wenn man mit der Geschichte Kambodschas wenig vertraut ist.
Hoch interessant besonders auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene: die Entstehung einer sozialistischen Bauernrepublik, die sich auf den Umbau der Gesellschaft und Ausmerzung von „nicht passenden“ Menschen und Traditionen fokussiert. Ausgeübt durch einen kleinen Kreis von Mächtigen, während die Masse des Volkes ohne Stimme und Rechte bleibt.
Die Herrschaft der Roten Khmer im fernen Kambodscha verlief kaum wahrgenommen von der Welt, zu sehr war man noch mit den Relikten des Vietnamkrieges beschäftigt.
In den vier Jahren der Herrschaft eines steinzeitlichen Kommunismus werden fast 2 Millionen Menschen umgebracht, gefoltert, vernichtet. „Killing Fields“ der Grausamkeit einer Tabula rasa: Phnom Penh verschwindet vom Erdboden mit seinen Ärzten und Anwälten, Optikern und Künstlern, Lehrern und Studenten. Es gibt keine Gerichte mehr, keine Schulen, keine Kran- kenhäuser, Kinos, Cafés, keine Post und kein Telefon. Es gibt keine Gesetze mehr. Nichts Gedrucktes. Eine Revolution, die nicht zu einem bürokratischen Monster mit 1001 Formularen wird, sondern zu Überleben und Sterben. Menschen werden zu Dünger für die Reisfelder. Es gibt Zwangsarbeit, Krankheit, Folter, Hunger und Kannibalismus.
Vier Schweden aus dem Schwedisch-Kambodschanischen Freundschaftskreis bereisen 1978 das Land, berichten von fröhlichen zufriedenen Menschen, mit denen sie sprechen, sind begeistert von den Erfolgen und bemerken nicht, dass sie wie Journalisten heutzutage in vielen Krisengebieten „embedded“ sind. Sie sehen, was sie sehen sollen. Und was sie sehen wollen.
Peter Fröberg Idling ist ein Kenner Kambodschas, er hat selbst dort gelebt und versucht mit diesem Buch die Mixtur von ideologischer Blindheit, der Illusion Potemkin’scher Dörfer und gelungener Manipulation aufzuzeigen.
Er nimmt uns mit auf eine Tour d’horizon durch die Geschichte Kambodschas, vermischt seine eigenen intensiven Eindrücke mit denen seiner vier Landsleute: Reisende mit unterschiedlicher Optik - die berühmten Rosaroten Brillen.
Es gelingt dem Autor, seine Eindrücke, Jahre später nach der Reise der „Polit-Touristen“, auf den gleichen Pfaden, teilweise sogar mit den gleichen Menschen von damals Gespräche führend, vergleichend zu vermitteln.
Die Lektüre zeigt klar, wie schnell man leichtgläubig auf ideologische Irrwege geraten kann, aber auch, dass nicht alle von dem einmal eingeschlagenen linksintellektuellen Pfad abweichen wollen: die heutige (2006) Reaktion der vier schwedischen Reisenden zeigt eine gewisse Engstirnigkeit.
Um die eigenen blinden Flecken in Erfahrungen und Beurteilungen von Menschen und Gescheh- nissen zu hinterfragen und aufzuspüren, ist dieses Buch eine Art Lehrbuch. Heute im Zeichen von Fake News und manipulierten Videos mehr denn je.
Die Puzzleteile von überbordenden, oft subjektiven Informationen und Nachrichten mit Skepsis sortieren. Wachen Auges. Mit offenem Geist. Und geschärftem Gehör.

Bewertung vom 13.12.2023
Memoiren einer unrealistischen Frau (eBook, ePUB)
Khalifa, Sahar

Memoiren einer unrealistischen Frau (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Der Paradiesapfel.
Die Lektüre dieses kleinen Romans aus Palästina ist bedrückend, erdrückend und spiegelt sowohl die unterdrückende Gesellschaft als auch die Perspektive einer unterdrückten Frau wider.
Es zeigt eine zersetzende Gewalt, die sich von „draußen“ nach drinnen in die Psyche, in das Selbstbild einer Frau verlagert. Handlungsort ist hier der „Nahe Osten“, aber man möge nicht in die Falle tapsen, dass es nicht anderswo ähnliche Mechanismen gibt und diese auch bei uns im Westen sehr wirkungsmächtig waren und etwas anders gelagert auch noch sind. Vielleicht anders verpackt, subtiler, nicht so „ehrenvoll“.
Sahar Khalifa, selbst Palästinenserin mit Studienabschlüssen in den USA, ist der Schritt in die Freiheit gelungen, lässt die Protagonistin Afaf in der Ich- Form von ihrem Leben, ihren jugendlichen Träumen und der Realität erzählen. Es ist ein Psychogramm einer Frau, die sich aus einer Ehe mit einem ungeliebten Mann lösen will, ganz besonders, nachdem sie ihre Jugendliebe wieder getroffen hat. Der wie sie nicht glücklich verheiratet ist, aber die Situation anders, männlich eben, bewertet.
Der Wunsch nach einem eigenen Leben wird immer wieder selbstgrüblerisch gestört durch die Fragen: womit könnte ich mein Geld verdienen, ohne Beruf. Das Verbleiben in der Komfortzone lockt. Aber Afaf will nicht mehr nur Zaungast des Lebens sein, sondern leben, über den Tellerrand ihrer kleinen Welt schauen. Sich im Spiegel selbst erkennen.
Immer wieder wird ihr gepredigt: sei realistisch. Pass dich an, arrangiere dich, füge dich.
Aber Afaf ist eben eine unrealistische Frau, der die gesicherte Abhängigkeit, die weiblichen Kaffeeklatschrunden, in denen es nur die Themen gibt wie Ehe, Scheidung, Skandal, Geburt, Unfruchtbarkeit, Männer, nicht ausreichten.
In diesem Auf und Ab der Stimmungen und Hoffnungen spielen hintergründig gesellschaftliche und auch politische Elemente mit. Aber Afaf will sich nicht mehr vom Leid ihres Landes und seiner Menschen berühren lassen, ihr eigenes Leid ist ihr genug.
Sie will die Gitterstäbe ihres Gefängnisse aufbrechen, die äußeren und die inneren. Gelingt ihr der Ausbruch, der Aufbruch?
Immer wieder kurze Reminiszenzen an den Apfel - glänzend, rot, schön – Paradiesapfel – Fruchtbarkeits-, Liebes- und Glückssymbol. Honi soit qui mal y pense.

Bewertung vom 27.11.2023
Der verlorene Vater
Danticat, Edwidge

Der verlorene Vater


sehr gut

Du sollst nicht foltern.

Die Handlung spielt in New York und auf Haiti, einer krisengeschüttelten Insel in der Karibik. Armut und Naturkatastrophen und wechselnde autokratische, korrupte Regierungen bestimmen den Alltag der Menschen.
Dabei war die Insel, damals noch die französische Kolonie Saint-Domingue, durch den Sklaven-aufstand Ende des 18. Jahrhunderts, ein Hoffnungsschimmer: er führte zur Gründung des ersten freien Staates in Lateinamerika. Damals kämpfte man gegen die fremden Bleichgesichtigen, alle späteren Kämpfe waren gegen die eigenen Braungesichtigen.

Die diktatorischen Zeiten des Papa Doc genannten Francois Duvalier und seines Sohnes Jean Claude, genannt Baby Doc, waren ideale Voraussetzungen für die gefürchteten Milizen und Todesschwadronen der Tontons Macoutes, die den Vodoo-Glauben der Bevölkerung in ihr Machtgefüge einbauten. Schon ihr Aussehen und Auftreten war martialisch.

Die haitianische Autorin Edwige Danticat kombiniert geschickt das Schock-Erlebenis der Ich-Erzählerin Ka, dass ihr Vater ein Folterer war, mit den Erinnerungen anderer Menschen aus der haitianischen Diaspora in New York wie dem Nachtredner, der Brautkleidschneiderin und der Begräbnissängerin. Anfangs jedoch sind diese erzählerischen Stränge befremdend, weil sie sich erst später zu einem erzählerischen Muster zusammenfinden.
Die Geschichte von Kas Vater zeigt auf, dass ein Mensch aus vielen Facetten bestehen, viele Gesichter haben kann. Er war ein liebevoller Vater, der sie regelmäßig mit in die ägyptische Abteilung des Brooklyn Museums nahm. Er las ihr oft aus dem Totenbuch vor, nannte sie Ka, dem Begleiter des Körpers im Dies-und im Jenseits. Ka war Bildhauerin, ihr immer gleiches Modell: der Vater.
Sie hatte sich zwar immer gewundert, wieso ihre Eltern keine Freunde hatten, nie Besuch bekamen, nie von Haiti erzählten und die Mutter überfromm war. Sie lebten ein ruhiges Leben, er hatte einen Friseur-, sie einen Kosmetiksalon. Seine Narbe, die sich über die rechte Wange bis zum Mundwinkel zog, sei ein Relikt aus seiner Zeit als Gefangener. Aber er war kein Gefangener, sondern ein Gefängnisaufseher, ein Folterer. Doch niemand würde ihn mit seinem alten Ich in Verbindung bringen können: Er wog 40 kg weniger als der schwammig-fette Mann, der er einst gewesen, mit seinem jetzigen Namen, einem erdachten Geburtsort hätte ihn niemand mit seinem alten Ich in Verbindung gebracht.

Für die Tochter brach eine Welt zusammen. Wie geht man mit solchem Wissen um? Erlischt die Liebe zu den Eltern von heute auf morgen? Konnte sie jemals wieder Vertrauen fassen? Jemals wieder arbeiten? Denn nun hatte sie kein Motiv, kein Modell mehr. Aber auch die eingeweihte Mutter – wie hatte sie mit einem solchen Wissen leben können, eine gute Mutter sein können? Hoffnung auf Erlösung durch den Gott der Kirche?

Das Buch bietet neben Einblicken in die Gesellschaft und Landschaft der Insel vor allem auch Einblicke in das Menschsein. Ist ein Mensch gut oder nur etwas weniger schlecht oder schlummert in jedem die Möglichkeit des Bösen? Wie wird man zum Folterer? Sadistischer Genuss? Die eigenen Ohnmachtsgefühle gegen die Uniform des Mächtigseins tauschen?

Die kleinen biographischen Kapitel ergeben zum Schluss einen Zusammenhang. Der Kreis schließt sich. Vergebung? Reue? Sühne? Offene Fragen dieses einprägsamen, fast lakonisch geschriebenen kleinen Romans, der abermals aufzeigt, was Macht bewirken kann. Und Ohnmacht. Ein frommer Wunsch: Auf dass wir nie mächtig und auch nie ohnmächtig sein werden.
Denn wer wären wir, wenn…..

Kein Mensch besitzt so viel Festigkeit, dass man ihm die absolute Macht zubilligen könnte. 
Albert Camus

Bewertung vom 08.11.2023
Winter in Vorderasien
Schwarzenbach, Annemarie

Winter in Vorderasien


ausgezeichnet

Unwiederbringlich
Den Namen Annemarie Schwarzbach las ich zum ersten Mal vor Jahrzehnten, als Teenager, in dem Memoiren von Klaus Mann. Viele Jahre später dann über ihre Reise mit Ella Maillart nach Afghanistan. Und nochmals Jahre später „Das glückliche Tal“ und nun die glückliche Fügung des „Winters in Vorderasien“.
Das wunderbare kleine Buch des Lenos Verlages verführt mich schon durch das Coverfoto: nostalgisches „Damals“. Heute düst man nach Wilhelm Busch „1,2,3 - im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit“ durch die Weltgegenden, zur Selbstfindung, zum Abhaken von aufgelisteten Must-see-Gebäuden und Landschaften. Um so erfreulicher, dass es damals anders war (und es sicher auch heute noch einige Anders-Reisende gibt), offline zu reisen.
Reisende-Frauen-Pendants für Vorderasien oder wie wir die Gegend heute bezeichnen: Naher/ Mittlerer Osten waren Freya Starck und Gertrude Bell. Letztere entpuppte sich dann nicht nur als faszinierte Forscherin, sondern mischte auch im politischen Poker der Briten tatkräftig mit, prädestiniert durch ihre Kenntnisse von Land, Menschen, von Arabisch und Farsi (sie übersetzte Hafis ins Englische). Mutige, unkonventionelle Frauen wie Annemarie Schwarzenbach, aber auch alle monetär gut gepolstert, was dem Reisen natürlich größere Gestaltungsmöglichkeiten gibt.
Annemarie Schwarzenbach schreibt ihr Tagebuch in einem mitreißenden, „mitreisenden“ Stil, teilweise fast rhythmisch und es gelingt ihr, die sich ständig wandelnden Landschaften, die Natur, die mannigfaltigen Gerüche, Farben und Laute und natürlich die Menschen authentisch und „sehbar, riechbar, fühlbar“ zu machen.
Allein das Cover reizt zum Aufblättern, Lesen und Versinken in einer einer längst versunkenen Welt. Eine Pferdebahn, wobei die Autorin selbst zum Teil mit dem Zug – Orient- und Taurus- Express und im Auto mit Fahrer und meist in Gesellschaft reist.
Das Tagebuch beginnt im Oktober 1933, mit dem Erstziel Istanbul. Die Stadt an der Grenze zwischen Orient und Okzident, Europa und Asien, und diese Grenze spiegelt sich wider in der Architektur und in den Menschen, die diese Stadt bewohnen und bewohnten: eine Mixtur der ganz besonderen Art.
Wir sind mit ihr in Ankara, Kayseri und Konya, in Aleppo, in Beirut und in Jerusalem. In Bagdad, Babylon und den irakischen schiitischen Heiligen Städten wie Kerbela und Nadschaf, zu denen es Totenreisen gibt, früher wochenlang in Karawanen, um die Toten hier zu begraben, in Kufa und in Teheran, in Schiras bis hin zu den Ufern des Kaspischen Meeres, wo sie sich auf einem rotbeflaggten russischen Dampfer nach Baku einschifft.
Sie schreibt von uralten Orten, von noch ungezähmter Natur, von einem Leben ohne Kalender und Ehrgeiz.Von der großen Stille der anatolischen Weite. Von Städten wie Aleppo, eine Grenz- und Handelsstadt mit Türken, Arabern, Armeniern, Juden, Kaufleuten aus Japan und Russland, afrikanischen und französischen Soldaten. Von Beirut mit seinen milden Wintern und den Zedern- Bergen des Libanon im Rücken. Vom Irak mit mehr Schiiten als Sunniten, was sich Jahrzehnte später zur Formierung des IS auswirkt. Von Jerusalem und Palästina mit einer heute nich mehr passenden Aussage: „Kein Land ausser Palästina kann den Gedanken des jüdischen Volkes tragen: daneben scheint die arabische Problematik gering.“ Von den Mohnfeldern auf dem Reiseweg, schon Harun al Raschid soll Karl dem Großen ein Klümpchen Opium geschenkt haben. Über die Iraner, dem dichterischen Volk zwischen Genusssucht, Verfeinerung der Kunst und Realitätsflucht. Von den Märtyrern Ali und Hussein, deren Leid aber keine verklärende Erhöhung wie im Christentum bedurfte.
Sie schreibt von zwischenmenschliche Begegnungen: dem jungen spanischen Juden mit jugoslawischem Pass, von Jaques, einem Libanesen mit griechischen Wurzeln, von Hüseyin, ihrem türkische Lieder schmetternden Fahrer, von Fawas al Schaalan, Enkel eines Beduinenscheichs und von dem „verwahrlosten Kind“ mit dem Mongolengesicht und langen Affenarmen, das geschlagen schwarzäugige Tränen weinte

Winter in Vorderasien Annemarie Schwarzenbach
Immer wieder eingestreute Reflexionen: über die Kreuzzüge und Kreuzritter, die nomadische Welt, die sich in Auflösung befindet und über das Planen, das Unterwegssein, dem ständigen Aufbruch und den Wiederholungen eines normalen Lebens.
Annemarie Schwarzenbach hat eine unwiederbringliche Welt bereist und beschrieben, die durch geopolitische Eingriffe von außen diese Gegenden in Nationen umformte und gewaltige Umwäl- zungen mit sich brachte: die Auswirkungen sind bis heute spürbar und erlebbar.
„Winter in Vorderasien“ ist ein Kleinod der Reiseliteratur, wir reisen lesend in einer Zeitmaschine.
In der Mitte des Buches befinden sich 96 Schwarzweiß-Photos, die diese vergangene Zeit perfekt widerspiegeln und sehr an die Istanbul-Photos von Ara Güler erinnern.

Bewertung vom 20.10.2023
Feuerlilie
Cadonau, Gianna Olinda

Feuerlilie


ausgezeichnet

Die Macht der Türen.
Allein die lebensläufigen Verquickungen der Autorin, geboren in Goa, in rätoromanischer Sprache, einer Minderheitensprache der Schweiz, Prosa und Lyrik schreibend, geben ihrem Debütroman eine besondere Würze.
Beim Lesen begibt man sich in eine Art Niemandsland, das von Türen, offenen und geschlossenen, beherrscht wird. Man wird hineingezogen in dieses Niemandsland, in innere Landschaften.
Kàlmàn, Vera und ihre Schwester Sophia sind die Handelnden/Nicht-Handelnden dieses kleinen Romans, in dem Vergangenheit und Gegenwart sehr präsent sind und die Zukunft sich zaghaft bildet.
Vera ist aus der Stadt in das familiäre Haus in einem kleinen Bergdorf gekommen, um hier in der Abgeschiedenheit ihre Arbeit über romanische Literatur, zusammengefasst in einem Artikel ,zu vollenden. Am Bahnhof trifft sie auf Kàlmàn, der mit ihr aus dem Zug steigt und hier fremd ist. Auch er besitzt ein Haus, das er jedoch zuvor noch nie gesehen oder betreten hat. Es ist ihm von einem Offizier vererbt worden: einen namenlosen Mann, der Kàlmàn mit seinen Blicken verfolgte, ängstigte, der alles sah, die Ketten an den Zellenwänden, die Gerätschaften zum Aufbrechen der Körper. Der eine laute Drillstimme hatte und eine ganz leise, als er ihn, Kàlmàn , wegbrachte. Er selbst wurde nie von ihm berührt, aber seine Blicke waren wie Finger, „Augenfinger“.
Vera tastet sich langsam und behutsam an Kàlmàn heran, an sein Leben, seine Ängste. Sie kann nur ahnen, woher er kommt, aus einer Konflikt- und Kriegsregion, in der seit über 70 Jahren Gren- zen gezogen und verschoben werden, in der es Kindersoldaten, Vertriebene, Verschwundene gab, in der Alte, Frauen und Kinder erschossen und ganze Dörfer angezündet wurden, wo Menschen nur noch Statisten und Zahlen in der Statistik der zahlreichen NGOs waren. Kàlmàn war schon einige Jahre im Land, im Auffanglager, in Kliniken, in einer Wohngemeinschaft mit Betreuern und Therapeuten. Er lernte Deutsch und er lernte das Leben. Vera ist sich bewusst, dass sie nur ange- lesene Bruchstücke kennt, die sein Leben, seine innere Version der Gefängnisse und der Folter, prägten.
Fast beängstigend ist Cadonaus Schilderung der zwanghaften Beklemmungen und Phobien Kàlmàns. Draußen vor der Tür, drinnen hinter der Tür, da lauern sie, die Traumata durch Krieg, Gefangenschaft und Folter, die Geister und die Erinnerungen. Türen, durch sie hindurchzugehen, nicht wieder herauszukommen, die geschlossenen, die offenen, die angelehnten Türen. Das Erinnern, was sich hinter ihnen verbirgt. Die Türen aus den Angeln heben. Aber die Macht der Türen und dem Dahinter schwindet.
Ein Prozeß der Befreiung und eine behutsame Auflösung setzen ein durch die ruhige Gegenwart Veras, die einfach nur da ist, die nichts fordert, die nah ist, die ihm ein Stück Angekommensein gibt: ich kenne diesen Ort ein wenig, ich kenne Vera und ihr Haus, den Wirt des Gasthofes, die Verkäuferin. Dazu gehört auch der Besuch von Sophia, Veras Schwester, deren Krankheit mit der Suche nach DER Tür begann, für sie müssen die Türen auf und zu gehen, damit die Geister nach Hause finden können, sie träumt von einem weiten leeren Land ohne Türen. Und so bildet sich ein Dreieck der Zusammen-gehörigkeit.
Ich habe dieses Buch wie in einem Sog gelesen, berührt von der zarten Annäherung zweier Menschen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Vera, mitten im Leben stehend, Kàlmàn sich ins Lebens zurücktastend. Es ist eine verstörende Lektüre, die mich mitunter ratlos zurückließ, versuchend, die angedeuteten traumatischen Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufassen. Cadonaus Stil ist schnörkellos, ohne romantisches Klimbim und zugleich von menschlicher Tiefe.
Wir alle leben mit Türen - den inneren und den realen. Den offenen und den geschlossenen. Hinter manchen verbergen wir unsere Verletzungen und unsere Traurigkeit, manche öffnen wir weit für das Leben. Auf dass wir nicht „Draußen vor der Tür“ stehen und das Leben im Hier und Jetzt versäumen.
Wir müssen die Anderen unter uns erkennen und umarmen und auch uns selbst als Andere verstehen: wir sind für die Anderen in unserer Mitte verantwortlich. (Emmanuel Levinas).

Bewertung vom 24.09.2023
Amazonia
Deville, Patrick

Amazonia


ausgezeichnet

Ungeordnete Annalen eines Weltenwanderers.

Die Lektüre eines Deville’schen Buches ist immer wieder wie ein Tauchgang in die Tiefen von Geschichte und Kultur, von Geschichten und Anekdoten.
In seinem neuesten Buch öffnet er abermals seine Homme de lettres-Schatulle und reist mit uns durch Amazonien, ein Gebiet fast so groß wie Australien mit dem längsten Fluss der Erde mit über 1000 großen Nebenflüssen. Es ist die grüne Lunge unserer Erde, die bedroht ist von Hab- und Machtgierigen, denen weder Fauna und Flora noch die indigenen Menschen und Ihre Lebensweise etwas bedeuten.

Deville spannt Bögen durch Zeit und Raum wie ein Zen-Bogenschütze und verbindet die Schicksale von Abenteurern, Entdeckern, Eroberern, Königen, Politikern, Schriftstellern, Forschern und Dichtern: Menschen, die ihr Umfeld, ihre Umwelt, die Welt prägten und beeinflussten. Wir reisen mit ihm durch die Jahrhunderte – von den Inkas zu Pizarro und Cortes zu Aguirre und Fitzcarraldo, von Darwin zu Pasteur zu Alexander von Humboldt, von Bolivar zu den Sandinisten, von den Sklaven zu den Latifundisten. Von den indigenen Einwohnern zu der weißen Herrscherklasse. Gold, Kautschuk, Holz und Kaffee weisen uns den Weg der Ausbeuter durch das grüne Labyrinth der Wasserwege, des Regen-waldes. Seine literarischen Weggefährten: von Thoreau zu Rimbaud zu Cendrars zu Lévi-Strauss. All diese „Who is who“-Nebenflüsse verbinden sich zu einem großen Strom.

Kern dieses neuen Buches seines Abrakadabra-Projektes ist die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen. Er reist diesmal nicht allein durch Länder und Zeiten, sondern in Begleitung von Pierre, seinem Sohn. Pierre ist Fotograf, Musiker und ebenso wie der Vater ein besessener Notizbuchschreiber. Mal sind sie sich nah, mal gibt es Fremdheit und Distanz zwischen ihnen. Ein natürliches Phänomen der Vater- und Sohnesschaft, besonders auf beengtem Raum.
Vater- und Sohnesliebe sind archetypische Verknüpfungen: schon Montaigne stellte fest, „dass dem kleinen Samentropfen, aus dem wir hervorgehen, nicht alleine Gestalt, sondern auch die Denkweise und Neigungen unserer Väter eingeprägt sind“.
Allerdings – wo bleiben die Denkweisen und Neigungen der Mutter? Da war Montaigne wohl nicht ganz auf der feministischen Höhe….

Deville ist ein Kosmopolit, ein Welt-Erfahrener, ein Welt-Erfahrender, er ist kein Voyeur, sondern ein Lotse, der Verbindungen über Kontinente und Zeiten opulent zu schildern weiß.
Er ist eben kein „In 80 Tagen um die Welt“-Reisender wie die heutigen Instagrammer, die bei ihren Stippvisiten glauben, „Land und Leute“ kennengelernt zu haben.


Für mich ist jedes Buch von Patrick Deville wie ein Torso, den ich selbst lebendig werden lassen muss. Indem ich wie er tauche, eintauche in den globalen Kreislauf von Wissen und Bildung.
Für dieses enzyklopädische Wimmelbuch ein großes Dankeschön.

Bewertung vom 22.08.2023
Im Fallen lernt die Feder fliegen
Al Shahmani, Usama

Im Fallen lernt die Feder fliegen


ausgezeichnet

Federn und Wurzeln
Usama Al Shahmani ist Iraker und lebt nach seiner Flucht in der Schweiz.
Er kennt also die Szenerie seines Romans aus eigenem Erleben, auch wenn die zwei Schwestern, Aida und Nosche, natürlich ganz andere Lebensläufe und Charaktere haben.
Die jüngere der Schwestern, Aida, beschreibt in der Ich-Form ihr gemeinsames Leben und ihr alleiniges Leben nach dem Unfalltod ihrer Schwester – ein Leben, das von einem Flüchtlingslager in Ghom im Iran in die Schweiz, in den Irak und zurück in die Schweiz führt.
Es ist ein zerrissenes Leben, ein Leben der Entwurzelung und der Entfremdung, einer Entfremdung auch von den eigenen Eltern, die trotz mehrjährigen Aufenthaltes in der Schweiz dort nie Fuß gefasst haben, nicht Fuß fassen wollten und ihr Dorf im Irak glorifizierten. Für sie war eine Rückkehr mit den beiden Mädchen der einzige Weg ihre vermeintliche Identität zu erhalten. Doch für Aida und Nosche waren der Irak und besonders das Dorf keine Heimat, dort gab es keine Geborgenheit für sie, keine Zugehörigkeit, dort gab es Zwang und Anpassung an die traditionellen Verhaltensweisen eines orientalischen Dorfes.
Daran änderte auch die neue politische Lage im Land nichts: der Diktator war fort, die Amerikaner waren im Land und durch deren sog. „Nation Buildung“ wuchsen die Gräben im Land, wurde die Kluft zwischen den Schiiten und den Sunniten immer heftiger, so dass letztendlich daraus eine neue Unterdrückung entstand, die des IS.
Für beide Mädchen war die Situation im Dorf unerträglich, inakzeptabel, besonders wenn man zuvor viele Jahre eine andere Gesellschaftsform erlebt hatte, die natürlich auch Diskriminierungen kannte, aber doch Wege offen hielt zur Selbstbestimmung, zu persönlicher Freiheit, zur Schaffung eines eigenen Selbstbildes.
So planten sie mutig mit Hilfe eines väterlichen irakischen Freundes aus der Schweiz ihre Flucht über Istanbul, das übliche Procedere mit gefälschten Pässen und Identitäten, mit intensiven Befragungen im Sehnsuchtsland Schweiz, in dem sie ihre Zukunft sahen. Bedauerlicherweise hatte die Ältere, Nosche, einen tödlichen Fahrradunfall und wurde auf Wunsch der Eltern, die sich nach der Flucht der Mädchen getrennt hatten, in den Irak überführt und dort im Familiengrab bestattet.
Aida jedoch gelingt ihr Schweizer Leben, sie bekam gültige Aufenthaltspapiere, eine Lehrstelle und später einen Job in einer universitären Bibliothek. Sie hatte einen Schweizer Freund und man könnte also behaupten, sie sei voll integriert. Aber was ist Integration? Sie ist wie eine Waage und eine Wiege zugleich. Zuviel Faktoren der unterschiedlichen Kulturen müssen aufgesogen, abgestoßen, ausgeglichen werden, so dass eben diese Integration nicht allen gelingt. Viele fühlen sich entwurzelt und Entwurzelung ist lt. Simone Weil eine gefährliche Komponente der menschlichen Gesellschaft.
Aida ist und bleibt Irakerin und ist doch zugleich Schweizerin. Ist also nicht aus einem Guss wie die meisten ihrer neuen Landsleute, die behäbig vor sich hin leben, im immer gleichen Rhythmus. Vielleicht liegt es an der Zweisprachigkeit, der vertrauten arabische Muttersprache, die verknüpft ist mit dem so fremden Vaterland. Der Autor schreibt einen schönen Satz zur Sprache: Muttersprache – die Mutter, das erste Zuhause, in dem das Herz schlägt.
Al Shahmani gelingt es eindrucksvoll, uns ein anderes Leben zu präsentieren, eines, dass wir uns aus zweiter Hand erlesen, und dass uns die innere Zerrissenheit von geflüchteten Menschen sehr nahe bringt. Vielleicht sollten wir diese Nähe zulassen und in unseren immer noch sicheren Alltag integrieren.
„Jeder Mensch braucht vielfache Wurzeln. Fast sein gesamtes moralisches, intellektuelles und spirituelles Leben muss er durch jene Lebensräume vermittelt bekommen, zu denen er von Natur aus gehört“. (Simone Weil).