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Benutzername: 
j.h.
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Berlin

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Insgesamt 13 Bewertungen
12
Bewertung vom 04.04.2014
Die Tyrannei der Freiheit
Salecl, Renata

Die Tyrannei der Freiheit


ausgezeichnet

Bereits das glänzend gewählte Titelbild lädt zu einem anhaltenden philosophischen Diskurs ein. Es zeigt zwei halb gefüllte Wassergläser. Sie diese nun halb voll oder halb leer? Ist in beiden tatsächlich nur Wasser und - falls ja - in gleicher Qualität? Und nun die alles dominierenden Fragen: Welches Glas wähle ich? Welche Konsequenzen könnte das haben? Und wäre das andere Glas vielleicht doch die bessere Wahl gewesen? Bei den qualvollen Entscheidungen des heutigen Alltags geht es meist um mehr - und vor allem auch noch mehr Alternativen ...

"Warum es eine Zumutung ist, sich anhaltend entscheiden zu müssen" ist der Untertitel des Essays, wofür die Autorin zahllose Begründungen aus allen Lebensbereichen findet: "In der heutigen Konsumgesellschaft sind wir nicht nur zur Wahl unter Produkten aufgefordert, wir sollen unser ganzes Leben als eine Aneinanderreihung von möglichen und getroffenen Wahlen betrachten." (S. 7)

Kapitel 1 geht der Frage nach, warum eine Auswahl beklommen macht. Und dieses Phänomen begegnet uns beim alltäglichen Shopping - und der stets in Folge aufkommenden Frage, ob eine andere Auswahl nicht doch optimaler gewesen wäre.
Die Wahl mit fremdem Blick (Kapitel 2) spürt den Auswirkungen des Starkults und anderer Vorbilder auf täglich anstehende Entscheidungen nach: Wie wäre es, wenn eine Autorität (beispielsweise ein Coach) die Wahl für uns übernehmen könnte, denn die mutmaßliche Entscheidung anderer (insbesondere aus dem gleichen sozialen Milieu) spielt häufig eine überragende Rolle. "Der Akt des Wählens ist traumatisch, eben weil es keinen großen Anderen gibt, der über uns wacht. Unter der Entscheidung gähnt immer der Abgrund der Ungewissheit." (S. 86)
Kapitel 3 beleuchtet die Qual der Wahl im wohl persönlichsten Bereich - der Liebe. Gerade hier führt das Streben nach einer idealen Wahl zu immer mehr Distanz auf Grund möglicher besserer Alternativen - und die Suche nach Liebe folgt ähnlichen Mustern wie nach dem optimalen Mobilfunkanbieter.
"Kinder: Haben oder nicht haben?" ist Gegenstand des 4. Kapitels. Während Kinder früher selbstverständlicher Teil des Lebens waren steht dem heute oft die sonstige Karriereplanung entgegen.
Die erzwungene Wahl (Kapitel 5) beschäftigt sich mit den Konsequenzen: "Und was uns verunsichert ist die Möglichkeit, dass eine Entscheidung zwischen offensichtlich geringfügigen Unterschieden so große Auswirkungen haben kann." (S. 161)
Im abschließenden Fazit bringt die Autorin ihre Skepsis gegenüber unserer Gesellschaft nochmals treffend auf den Punkt: "Man sollte grundsätzlich sehr zurückhaltend reagieren, wenn irgendeine bestimmte Idee zu einer bestimmten Zeit verherrlicht wird. Im Kommunismus waren das die Rechte der Arbeiter und die Ideale der klassenlosen Gesellschaft; im Spätkapitalismus ist es die Idee der Wahl." (S. 207)

Renata Salecl, 1962 in Jugoslawien geboren, studierte Philosophie an der Universität Ljubljana (heute Republik Slowenien) und ist seit 1986 am dortigen Institut für Kriminologie der juristischen Fakultät tätig. Außerdem lehrt sie an der juristischen Fakultät der Universität London. Diese biographischen Details sind für ihren kritischen Blick auf den real existierenden Kapitalismus marktwirtschaftlicher Prägung durchaus interessant. Salecls Sozialisierung im Sozialismus des Josip Broz Tito (Jugoslawien nahm unter den ehemaligen Ostblockländern stets eine Sonderstellung ein) ermöglicht ihr einen deutlich ungetrübteren Blick auf den alltäglichen Konsumterror - ohne dabei die Vergangenheit zu verklären oder dieser nachzutrauern.

Ein Dank gilt dem aufmerksamen Lektorat des Karl Blessing Verlags, dass dieser wichtige und diskussionsfördernde Essay von 2010 nunmehr in einer sehr guten deutschen Übersetzung von Yvonne Badal vorliegt.

DIE TYRANNEI DER FREIHEIT ist gewiss nicht einfach zu lesen. Es ist ein grelles Schlaglicht auf unsere heutige Konsumwelt, das zum längeren Nachdenken anregt. Und das ist heute sehr selten!

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