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Booklove15_11

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Insgesamt 56 Bewertungen
Bewertung vom 29.10.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


ausgezeichnet

Traurig aber Wahr

Rumänien, Iași
In dem ländlichen, kleinen Dorf Rădeni lebt eine vierköpfige Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen. Der Vater Filip ist seit Jahren arbeitslos, die Mutter Daniela, gelernte Bürokauffrau, ist es ebenfalls und wenn sie überhaupt Arbeitslosengeld kriegen, versuchen die mit diesem wenigen Einkommen die Familie über dem Wasser zuhalten. Als die Kinder klein waren, ging es noch einigermaßen, doch mittlerweile ist die Tochter Angelica fertig mit dem Gymnasium und möchte studieren und der Sohn Manuel soll zum Gymnasium gehen. Um ihre Kinder bessere Zukunft und Existenz zu ermöglichen, verlässt die Mitte vierzig-jährige Daniela ohne Abschied, mitten in der Nacht ihre Familie und fährt nach Italien, um in Mailand als Pflegekraft zu arbeiten. Doch manchmal kommt alles anders als geplant...

Nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland kennt jeder die Situation: Pflegekräfte, Saisonarbeiter, Billiglöhner aus Armenländern, die meistens Schwarz und unter Mindestlohn sehr hart arbeiten. Väter, Mütter... die keine andere Möglichkeiten haben um ihre Kinder zu ernähren. Menschen, die ihre Familien verlassen, bis zur Erschöpfung Jobs erledigen und nicht mal angemessen bezahlt werden, während die Kinder und die älteren Familienmitglieder in der Heimat alleine zurechtkommen müssen. Eine von den hunderten Müttern ist auch Daniela.

Mit leisen Tönen, klar, nüchtern, dennoch sehr eindringlich und sympathisch erzählt der italienische Autor über den heutigen Gesellschaftsspalt innerhalb von der EU. Ein Yin und Yang Kreis, eine Win-win-Situation von total gegensätzlichen Schichten, die ohne den anderen nicht Funktionen schienen. Denn wo Daniela Zeit hat und dringend Geld braucht, haben die Reichen zwar Geld, aber keine Zeit für Pflege oder Betreuung für die Älteren und Kindern. Doch diese Art von „Arrangement“ hat auch Schattenseiten. Zwar kommen hier hauptsächlich Daniela und ihre Kinder ans Wort, doch wer zwischen den Zeilen liest, merkt es schnell, auch für die anderen Beteiligten alles nicht so einfach ist.

Marco Balzano hat diese Thematik grandios umgesetzt und er hat diese Frauen und die Betroffenen ehrlichen Stimmen gegeben, die mich zutiefst berührt und nachdenklich zugelassen haben.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.10.2021
Blaue Frau
Strubel, Antje Rávik

Blaue Frau


ausgezeichnet

Mehr als eine #MeToo Geschichte

Adina wächst in einem abgelegenen tschechischen Dorf in der Region Riesengebirge auf. Ein Örtchen, die mit Armut gekennzeichnet ist und überwiegend vom deutschen Skitourismus lebt. Ohne Altersgenossen, vaterlos, nur mit ihrer Mutter und mit den seelischen, gleichsam materielle Überbleibsel von ihren Großeltern lebt Adina zwischen einer Schule und einem Glühweinstand, wo sie Teilzeit arbeitet und Deutsch lernt, chattet in ihrer Freizeit mit Leuten aus Rio über Gott und die Welt. In dem Chatraum heißt sie „Der letzte Mohikaner“.

Wo am 18. September 2006 zum ersten Mal eine Frau für die Deutsche-Bundesregierung gewählt wurde, reist die 21-jährige Adina mit schwer erspartes Geld in der Gürteltasche, eine Tüte Apfelspalten und mit seit Kindheit geliebtes grünen Pullover nach Deutschland ein. Mit den Ohren Frau Merkels Rede: „Niemand kann uns daran hindern, neue Wege zu gehen.“ Im Gedanken: Deutschland ist meine Zukunft. Denn Adina möchte hier Naturwissensschafen studieren.

In Berlin angekommen, lernt sie nicht nur Deutsche-Grammatik, sondern auch eine Fotografin kennen und Dank ihr bekommt sie ein bezahltes Praktikum in Uckermark. Weil sie jeden Cent für ihr zukünftiges Studium braucht, ertrugt sie den Namen, die ihr Chef aus Vergessenheit ihr gegeben hat. In Brandenburg heißt sie „Nina“. Doch es ist nicht der letzte Name, den sie bekommen hat.

Die Geschichte fängt in Helsinki an. Eine junge Frau sitzt in einem Plattenbau, in von einem fremden möblierten Wohnung, und beobachtet die Bäume vor dem Fenster. Dabei versucht sie eine Anzeige gegen Sexualgewalt zu formulieren und erinnert sie sich an den letzten zwei Jahren.

Mittlerweile hat Adina drei Grenzen und drei Sprachen hinter sich, schwer traumatisiert aber ein bisschen verliebt ist sie auch. Denn als sie nach Finnland flüchtete, lernt sie Leonides, einer estnischer Professor und EU-Abgeordneten, kennen, der sie liebevoll „Sala“ nennt. Und es ist der vierte Name, den sie bekommen hat...

Adina, kleine Mohikaner, Nina, Sala... Eine junge Frau mit vier Namen, die in 21. Jahrhundert innerhalb EU flüchten und in der europäischen Gesellschaft um eigener Identität kämpfen musste.

Schnörkellos und rätselhaft nimmt Strubel ihre LeserIn auf eine Zugreise. Langsam aber sicher gleiten wir zwischen drei Staaten, halten wir an um die neuen Gäste einsteigen zu lassen, fahren wir eine weile mit denen, machen wir neue, teilweise unangenehme Erfahrungen und in der nächsten Haltestelle lernen wir neue Fahrgäste kennen. Allerdings wer hier eine schnelle Fahrt wünscht, ist in dem falschen Zug einstiegen. Denn unsere Zugführerin Adina fährt gemächlich und nimmt ihre Umgebung sehr detailgetreu wahr. Doch wer sich auf diese Reise einlässt, wird mit unaufgeregte aber künstlerisch fein gemalte #MeToo Bilder belohnt.

Eine Geschichte wie ein Moor. Steckt man erst mal drin, kann man sich nicht mehr befreien! Wohl verdiente Deutschen Buchpreis 2021!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.10.2021
Sodom und Berlin
Goll, Yvan

Sodom und Berlin


ausgezeichnet

Ein Klassiker, der Spaß macht.

„Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“ hat Yvan Goll (1891 - 1950) sich selbst beschrieben. Ein deutsch-französischer Schriftsteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinem surrealistischen, kritischen und skurrilen Dramen und Romane bekannt war. Sein Berlin-Roman "Sodome et Berlin“ hat er 1929 in Frankreich veröffentlicht, erst wurde das Buch 1980 auf Deutsch bei Fischer-Verlag erschienen. Dies ist Neuübersetzung von Gerhard Meier, der literarische Werke aus dem Türkischen und Französischen übersetzt, unter anderem Nobelpreisträger Orhan Pamuk.

Odemar Müller heißt Golls Protagonist. Groß, dünn, blond, blauäugig. Sohn eines thüringischen Oberförsters, gewachsen in Vaters privater Klassiker-Bibliothek. Corpsstudent aus Bonn, Reaktionär, Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume. Überzeugte deutscher Soldat, begeisterte Spielhöhlen Gast, Freigeist, Frauenheld, Betrüger...

Zynisch, grotesk, stellenweise skurril aber sehr bildhaft und fein gewürzt mit bitterbösen Wahrheiten nimmt Yvan Goll seine Leser*in nach ersten Weltkriegszeiten Berlin mit und durchführt mit Odemar eine satirische Stadtrundfahrt. Mit dabei sind vielschichtige, kuriose Figuren, die mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht gezauberten. Ich hatte nicht ein einziges Mal Gefühl gehabt, als ob lese ich einen Klassiker, denn der Text wirkte mir sehr modern. Es ist wirklich eine ausgezeichnete Wiederentdeckung von Manesse Verlag, welche ich mit viel Vergnügen gelesen hab und für historische Romanliebhaber wärmsten empfehlen kann.

Bewertung vom 17.10.2021
DAFUQ
Jarmysch, Kira

DAFUQ


sehr gut

Tragikomisch, vielstimmig, bitterböse

Die 28-jährige Anja wurde wegen unangemeldeten Demonstration gegen Regierungskorruption festgenommen und zu zehn Tage Arrest verurteilt. Sie landet in eine Moskauer Gefängniszelle, in dem sie mit weiteren fünf Frauen -die ebenfalls wegen geringfügigen Ordnungswidrigkeiten sitzen müssen- nicht nur die Toilette, sondern auch eine Tasse lauwarmen Tee teilt. Die jungen Frauen stammen aus völlig anderen Gesellschaftssichten ab, dennoch reden die gerne miteinander, spielen erfundene Spiele und erzählen aus dem eigenen Leben. Anja nimmt alles erstmals wie eine Anekdote auf, die sie hinterher ihren Freunden erzählen möchte, denn das Essen schmeckt gut, die Insassen sind in Ordnung und es herrscht keine Gewalt, doch die Tage vergehen. Anjas Mitinsassen verlassen eine nach dem anderen die Zelle und sie bleibt mit ihren Gedanken und ihre Wahnvorstellungen alleine...

Hinter diesem „Gangsterhaften“ Titel, und ein Cover welches mich an einen modernen „Drogenroman“ erinnert, verbirgt sich eine aktuelle Geschichte über heutigen Russland. Sehr mutig, zugleich zornig ergreift die Autorin einige Themen wie russische Gesellschaftsspalt zwischen Armut und Reichtum, traditionelle Rollenverteilung, Regime-Gläubigkeit, Unabhängigkeitsdrang und Sexualität. Klingt zu Politisch? Ist es aber nicht. Denn Jarmysch hat ihre Figuren sehr kreativ und vielfältig kreiert und ihnen lustigen Stimmen gegeben, sodass ich immer wieder bei Dialogen lauthals lachen musste.

Kira Jarmysch ist als Alexej Nawalnys Pressesprecherin bekannt und es ist ihrer erster Roman, in dem sie einige biografische Eckdaten mitverarbeitet hat. Ein gut gelungenes, interessantes, außergewöhnliches und lesenswertes Debüt.

Bewertung vom 04.10.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


sehr gut

Eine ruhige, atmosphärische Geschichte

Ende der 80er Jahre in Südengland. Aus heiteren Himmel tauchen Woche zu Woche seltsame Muster auf den Kornfeldern. Die Bevölkerung ist ratlos bis ängstlich und die Presse freut sich über das neu gefundene Futter. Sind das Streiche von Jugendlichen oder haben sie Besuche von Aliens? Ungerührt von ganzen Wirbeln gehen zwei Männer Nacht zu Nacht auf den Feldern. Schweigsam, schwer bepackt mit Seilen und Pfosten und Veganer-Essen, achtsam, ohne ein einziges Korn zu schaden, drehen sie sich im Kreis. Redbone, ehemaliger Rocker, Calvert, Ex-Soldat. Zwei völlig verschiedene Männer, deren eigene Art und Weise Narben der Vergangenheit tragen. Eine ungewöhnliche Freundschaft geprägt von gleichem Freiheitsdrang, Einsamkeit, Liebe zur Natur und ein gemeinsames Ziel: Den perfekten Kornkreis zeichnen.

Mit leisen Tönen, ohne Hast, aber sehr bildhaft hat mich Benjamin Myers auf den Kornfeldern mitgenommen. Obwohl die Felder und Vergangenheit der Männer im Dunkeln liegen, hat er mir Stück für Stück den Weg beleuchtet. Am Ende bin ich nicht nur mit wunderschönen Kunstwerken belohnt, sondern konnte mich mit den beiden Männern anfreunden.

Es ist eine sehr ruhige, atmosphärische Geschichte, geschmückt mit poetischer Sprache und mit weniger aber interessanten Charakteren. Perfekter Roman um vom stressigen Alltag zu entfliehen, zum Abschalten und genießen.

Bewertung vom 27.09.2021
Der Kolibri - Premio Strega 2020
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


ausgezeichnet

Etwas spezial

Sandro Veronesis erzählt in seinem mit „Premio Strega 2020“ (wichtigsten Literaturpreis des Italiens) ausgezeichneten neuen Roman die Lebensgeschichte eines Augenarztes. Er erzählt über ein Mann, der eine Tragödie die nächsten erleben musste, und zwar fast 70 Jahrelang, aber trotzdem versuchte seine Familie zusammenzuhalten.

Der Kolibri heißt Marco Carrera. Nicht dass er sehr flink wie ein Kolibri ist, sondern als Kind kleiner war als seine Altersgenossen. Er wächst in einer gutbürgerlichen Familie als mittleres Kind auf, spielt gern Tennis, noch gern Glücksspiele. Er studiert Medizin, verliebt sich in das sieben Jahre jüngere Nachbarmädchen, heiratet aber eine Flugbegleiterin und bekommt eine Tochter. Soweit so gut? Ja natürlich, denn was ich hier niedergeschrieben hab, ist chronologisch! Doch wie Herr Veronesis Marcos Lebensgeschichte erzählt, ist alles andere als zeitlich geordnet. Beim Lesen war ich selbst wie ein Kolibri. Mal bin ich vorwärts geflattert, mal rückwärts. Manchmal waren die Zeitspannen so auseinander entfernt, sodass ich immer wieder zurückblättern musste. Bin ehrlich: bis ich alles gemerkt habe, habe ich das halbe Buch gelesen! Obwohl Veronesis Sprache sperrig und der Aufbau sehr chaotisch ist, die Geschichte entwickelt eine Sogwirkung und ich wollte unbedingt weiterlesen, um die Gründe zu verstehen.

Dieser Roman ist wie ein kubistisches Bild, erst nach genauerer Betrachtung erkennt man Einzelheiten. Nicht schlecht, sondern etwas spezial.

Bewertung vom 21.09.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Sucht, Armut und eine verlorene Kindheit

„Flammen sind nicht nur das Ende, sie sind auch der Anfang. Denn alles, was zerstört wird, kann wieder entstehen. Du kannst aus deiner eigenen Asche wieder wachsen.“ (S.271)

Kennt ihr diese Bücher, die man nicht lesen mag, aber trotzdem nicht aus der Hand legen kann? Die so Wort- und bildgewaltig geschrieben sind, einen unter die Haut geht, dabei auch extrem wütend macht? Obwohl man der Hauptfigur schon ersten Seiten ans Herz schließt, aber sein Leben zu folgen fast eine Qual wird? Shuggie Bain gehört für mich aus diese Kategorie der Bücher.

Hugh Bain, genannt auch Shuggie, wächst mit seinen beiden älteren Halbschwestern bei seiner alkoholkranken Mutter in Glasgow der 80er Jahre auf. Sein Umfeld ist geprägt von Arbeits und Perspektivlosigkeit, Armut und von soziale Disparität. Doch wie dreckig die Siedlung ist, deren Wohnung und seine Klamotten sind immer blitzblank sauber. Denn egal wie tief seine Mutter Agnes ins Glas guckt, eins ist für sie immer wichtig: für außen muss alles glänzen. Shuggie ist anders als seine Altersgenossen. Er redet ordentlich, ist zart und feminin, hasst Fußball, liebt Tanzen aber vor allem liebt er seine Mutter von ganzem Herzen. Er erlebt wegen seinem „Anderssein“ Tag täglich Hänseleien und Gewalt. Bevor er selbst wusste, dass er schwul ist, wurde er als Schwuchtel beleidigt und beschimpft, doch Shuggie macht mehr Sorgen um seine Mutter als um sich selbst. Er weiß haargenau wann und wie viel Agnes trinkt. Allein wie die Gardinen an den Fenstern hängen, erkennt er aus der Ferne, in welcher Stimmung seine Mutter ist. Wo Agnes Tag zu Tag tiefer stürzt und ihren Trost bei mehr Alkohol sucht, macht Shuggie seine Aufgabe ihr zu helfen. Er will sie retten. Er will mit seiner Mutter neu anfangen, doch Agnes Alkoholsucht und ihre psychischen Probleme sind größer als Shuggies Liebe...

Douglas Stuart erzählt die Geschichte, angesichts der erbarmungslosen Geschehnissen, sehr locker, verfeinert mit glitzernden Details und mit feinem Humor. Die Handlug umfasst die Jahre 1981 bis 1992. 10 Jahre, in dem vieles passiert, aber kaum was verändert hat. Dabei beschreibt er diese Jahre sehr atmosphärisch und gibt tiefe Einblicke frei. Auf ein mal taucht das Grau in Grau von der Sozialsiedlung vor den Augen und man atmet Kohlenstaub ein. Die Darstellungen zwischenmenschlichen Beziehungen wie Neid, Missgunst oder die selbstlose Liebe eines Kindes zur Mutter sind nicht nur glaubwürdig, sondern stellenweise sehr ergreifend.

Bemerkenswert ist, dass das Stuarts Debüt ist, in dem er eigene Kindheit verarbeitet. Es ist nüchtern, zart, feinfühlig, zerstörend, aufwühlend, hoffnungs- und liebevoll. Ein Roman, der nicht einfach zum Lesen ist, dafür aber sehr empfehlenswert ist.

Bewertung vom 11.09.2021
Kleine Paläste
Moster, Andreas

Kleine Paläste


ausgezeichnet

Schein oder Sein

Ein beschauliche Kleinstadt und zwei völlig verschiedene Familien im direkten Nachbarschaft, deren Leben durch ein Ereignis vor 30 Jahren für immer miteinander geflochten sind.

Familie Holtz mit Sohn Hanno und Familie Dreyer mit Tochter Susanne leben zwar nebeneinander, aber für eine enge Freundschaft waren Frau Dreyers Brüste zu perfekt und Herr Holtzs Geldbörse zu dick. Trotzdem wachsen Hanno und Susanne zusammen auf, gehen gleiche Schule, streifen stundenlang durch den Wald. Bis Sommer 1986 auf einem Geburtstagsfest alles auseinanderbrach. Die Familien nehmen sich ab da an voneinander noch mehr Abstand, Hanno zieht weg, Susanne bleibt. Nach 32 Jahre später kehrt Hanno zurück. Nicht dass er seine Eltern vermisst oder jahrelang wöchentlich gewechselte Bettwäsche auf seinem Jugendbett nach ihm gerufen hat, sondern seine Mutter Sylvia plötzlich und unerwartet stirbt, wobei sein Vater seit Jahren pflegebedürftig auf dem Rollstuhl sitzt. Hanno beerdigt seine Mutter, übernimmt die Pflege von seinem Vater und Susanne, die mittlerweile Vollwaise ist, beobachtet alles erstmals distanziert aus dem Fenster. Nach paar Tagen dennoch erkennt Susanne, dass Hanno mit der Versorgung seines Vaters völlig überfordert ist und bietet ihm ihre Hilfe an. Doch die Wiederbegegnung die übriggebliebenen Familienmitgliedern reißt die alten Wunden wieder auf. Was ist damals passiert?

Mit seinen klugen, poetischen und lakonischen Sprache hat mich der Hamburger Autor in einer Kleinstadt mitgenommen, um mich schon ab ersten Seiten auf seinen Bann zuziehen. Die geheimnisvolle Handlung entwickelt einen Sog, aus dem ich mich nicht entziehen konnte! Was mir aber an der Lektüre ganz besonders gefallen hat, ist: nicht nur Mosters meisterhafter Schreibstil, sondern seine haargenauer Beobachtungsgabe und präzise Erzählkunst. Eigentlich passiert hier nicht viel. Man reist zwischen 1986 und 2018 hin und her, beobachtet die Mauern wie die erst hoch wachsen, dann Stück für Stück bröseln begannen und um Ende auseinanderzufallen. Mal erzählt Hanno von damals und heute, mal berichtet Susanne und zwischen durch geistert Hannos Mutter. Ja, sie geistert und das ist die Besonderheit von diesem Buch. Genialer Aufbau, sehr gut gelungener Perspektivenwechsel, vielschichtige Charaktere, was will man mehr.

Neid, Trauma, Schuldgefühle, Sprachlosigkeit spielt in Andreas Mosters neuer Roman zwar große Rolle, doch zwischendurch hat er mir immer wieder ein Lächeln im Gesicht gezaubert. Ohne viel Tamtam, kaum Dialoge aber mit messerscharfen Beobachtungen hat er mich fast atemlos die ganze Story folgen lassen. Großartige Schreibkunst, außergewöhnliche Erzählstimmen, grandiose Geschichte, welche ich nur weiterempfehlen kann.

Bewertung vom 03.09.2021
Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


ausgezeichnet

Großartig!
100 Vulkanen Insel Lanzarote...140 Kilometer westlich der marokkanischen Küste und 1000 Kilometer vom spanischen Festland entfernt, lebt Pedro mit seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn in dem Haus, wo er selbst auf die Welt gekommen ist. Er hat nicht nur das Haus und dazu gehörende Möbeln von seinen Vorfahren geerbt, sondern auch den Postfiliale der Ortschaft Yaiza, der seiner Großvater gegründet hat. Pedro liebt sein Job und sein Dienst-Honda, doch als dritte Generation Postbote leidet er unter Digitalisierung. Die Postkarten verschwinden aus dem Hotellobbys, keine Handgeschriebene Briefe mehr, die er sie so schätzt. Außer ab und zu treffende Mahnungen und nervende Postwurfsendungen gibt es nicht viel, was Pedro zustellen muss. Er fährt zweimal die Woche andere Seite der Insel, trinkt gemütlich sein Café con leche, lagert literweise Benzin im Garten, denn er muss seine Fahrten nachweisen und dafür auch genügend tanken. Wo er viel Zeit hat, kümmert sich Pedro um seinem Sohn. Er bringt ihn zu Schule, holt wieder ab, macht Hausaufgaben und spielt mit ihm. Pedros Leben fließt ganz gemütlich, zufrieden dahin. Bis seine Freundin ihn verlässt, sein alten Kumpel mit seinem absurden Ideen ihn als Geschäftspartner gewinnen versucht, der uralte Tisch als Nazi-Schatz entpuppt und ein Geflüchtete aus Equatorial Guinea an seinem Tisch sitzt und Kaffee trinkt...

Hut ab Herr Rinke! Das nenne ich mal ein Filmreife Story. Hier haben nicht nur die Seiten vor meinen Augen geflogen, sondern all die Figuren und Ortschaften. Ich habe hinter Pedro auf sein Honda gesessen und durch die Lanzarote gefahren. Sei es Nudistenroute oder Nobelpreisroute, ist egal, immer war der Sonnenschein auf meinem Rücken, Meeresduft in meiner Nase und schwarze Strände vor meinen Augen. Café con leche ist sowieso mein Lieblingsgetränk, aber Amados Toubakaffee und paar Dosenbier, die ich mit Tenaro gestoßen hab, haben mir auch geschmeckt. Fußball war bis jetzt nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber wenn es um ein blauen Ball geht, hab ich gern gespielt. Ein meisterhafter Erzählstil der mir wunderbare Lesestunden geschenkt hat.
"Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García" Hinter diesem langen Titel verbirgt sich eine kurzweilige Geschichte mit äußerst sympathische, lebensnahe Charaktere, sehr atmosphärisches Setting und lebendige Sprache. Es geht um Digitalisierung, Rassismus, Flüchtlingspolitik, spanische Geschichte, Fußball, Globalisierung, Liebe, Vatergefühle... Es geht um Menschen, Mensch sein und Menschlichkeit! Großartige Geschichte die ich nur empfehlen kann.

Bewertung vom 22.08.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


sehr gut

Märchenhaftes Debüt
Der 11-jährige Martin ist der einzige überlebende seine Familie, die einem Gewalttat von seinem Vater ermordet wurde. Er besitzt nichts, außer die übergroße Kleidung, die er am Leibe trägt und einen schwarzen Hahn, der ihm überall begleitet, beriet, wärmt und liebt. Der Junge ist freundlich, sehr klug, hat einen scharfen Beobachtersinn und einen großen Herz. Er ist sehr hilfsbereit und stets zufrieden, auch wenn er für seine Hilfe, für seine harte Arbeit, eine einzige Zwiebel zum Essen bekommt. Die Dorfbewohner verstehen die Gutmütigkeit vom Martin nicht, die benutzen ihn nur für ihre eigene Interessen, misshandeln und verwahrlosen ihn. Dazu fürchten sie sich vor dem Hahn, dem sie als Inkarnation von Teufel halten. Bis eines Tages ein Maler ins Dorf kommt und Martin seit langem einen Menschen trifft, der nicht selbstsüchtig ist und beschließt mit ihm wegzugehen...

Mit Martin hat mich die Autorin auf in eine dunkle, düstere, triste Welt mitgenommen. Eine Welt, auf die ich nicht gelebt hab, aber trotzdem mir nicht fremd war. Denn wer ein Märchen gelesen/vorgelesen/geschaut/gehört hat, bekommt hier ein Déjà-vu. Schwarzen Rittern, böse Königin, Aberglauben, sprechende Tiere, verschwundene Kinder, Armut sind Grundthemen von diesem Buches. Das Setting ist historisch, dennoch kann ich nicht genau sagen, wann das Ganze gespielt hat. Was ich zwischen den Zeilen gelesen hab, vermute ich, dass es in Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa spielt.

Die Sprache von Stefanie vor Schulte ist poetisch, leicht aber nicht einfach. Hinter fast jeden Satz versteckt was Unausgesprochenes. Einerseits fand ich diese Märchensätze grandios, anderseits haben die mich beim Lesen ermüdet.

Es ist eine märchenhafte, düstere, kunstvolle Geschichte mit mitreißende Figuren, welche ich sehr gerne gelesen hab.