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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 533 Bewertungen
Bewertung vom 23.08.2024
Mit 50 Euro um die Welt
Schacht, Christopher

Mit 50 Euro um die Welt


weniger gut

"Mit 50 Euro um die Welt" von Christopher Schacht erzählt die faszinierende Geschichte eines jungen Mannes, der sich mit nur 50 Euro in der Tasche auf eine vierjährige Weltreise begibt. Auf den ersten Blick verspricht das Buch Abenteuer, kulturelle Entdeckungen und eine beeindruckende persönliche Entwicklung. Doch trotz des großen Potenzials bleibt die Erzählung in vielerlei Hinsicht enttäuschend.

Man muss anerkennen, dass Schacht bei Beginn seiner Reise erst 19 Jahre alt war, was den jugendlichen Enthusiasmus und die Naivität erklären mag, die in seinen Schilderungen oft durchscheinen. Dennoch erwartet man, dass eine so lange und intensive Reise, gespickt mit zahlreichen Begegnungen und Erlebnissen, zu einer gewissen Reife und einem tiefgründigeren Verständnis der Welt und ihrer Kulturen führt. Leider bleibt diese Entwicklung weitgehend aus. Schacht verfällt stattdessen in oberflächliche Betrachtungen und platte Küchenpsychologie, die schnell unangenehm auffallen. Besonders fragwürdig ist etwa sein Versuch, einen Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Penisgröße koreanischer Männer und der Architektur des Landes herzustellen. Solche Aussagen zeugen nicht nur von fehlender Sensibilität, sondern auch von einem beunruhigenden Mangel an Respekt gegenüber den Kulturen, die er angeblich zu entdecken sucht.

Dieser Mangel an Respekt zieht sich durch das gesamte Buch. Überheblich und herablassend beschreibt Schacht beispielsweise, wie Inder sich drängen und es nicht schaffen, in geordneten Schlangen zu stehen. Seine Bemerkung, sie könnten dies von deutschen Kindergartenkindern lernen, wirkt arrogant und zeugt von einem erschreckenden Mangel an interkulturellem Verständnis.

Auch bedient sich Schacht leider häufig stereotypischer und rassistischer Klischees. So beschreibt er beispielsweise, wie er einen Turban und eine Sonnenbrille trug, um weniger aufzufallen, und behauptet dabei, er habe ausgesehen "wie ein Taliban". An anderer Stelle nennt er indigene Völker abwertend "Wilde" – eine Ausdrucksweise, die in der heutigen Zeit völlig inakzeptabel ist.

Der missionarische Ton, der durch Schachts Bekehrung zum Christentum während seiner Reise in das Buch Einzug hält, mag für manche störend wirken, für mich ist dies jedoch weniger problematisch als die Oberflächlichkeit seiner Erzählung. Obwohl der Autor im Nachwort betont, dass ihn die Begegnungen mit Menschen besonders berührt hätten, spiegelt sich dies kaum in seinem Bericht wider. Statt tiefgründiger Einblicke in die besuchten Länder und deren Bewohner*innen erhält der Leser vor allem eine Fülle an Details über organisatorische und bürokratische Hürden.

Insgesamt war "Mit 50 Euro um die Welt" eine enttäuschende Lektüre für mich. Wer auf der Suche nach einem bereichernden und respektvollen Reisebericht ist, wird hier leider nicht fündig. Es gibt zahlreiche bessere Bücher, die dem Genre weitaus mehr gerecht werden.

Bewertung vom 19.08.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Wenn man überhaupt etwas Kritisches zu Khanis zweitem Roman anmerken möchte, dann die Tatsache, dass er damit die selben Themen verhandelt wie bereits in seinem großartigen Debüt "Hund Wolf Schakal". Aber dies ist mehr als legitim, denn sowohl was er zu Migration, Identitätssuche oder Alltagrassismus zu sagen hat, noch wie er es diesmal zu Papier bringt, sucht seinesgleichen.

Die autobiografisch angelegte Story erzählt Reza, der mit seinen aus dem Iran geflohenen Eltern in einem Bochumer Hochhaussiedlung lebt, die von Armut und Gewalt geprägt ist und wo "Eigentumsdelikte eine Lebenseinstellung sind". Die Eltern, beide Akademiker, erstarren im Kulturschock, der Sohn fühlt sich alleingelassen, zerbricht und findet seine Einzelteile nicht und sucht seinen Weg schließlich in der Kriminalität, weiß aber, dass er nicht wirklich vorwärts kommt. Denn er trug "Schuhe mit schrägen Sohlen, in denen es immer bergauf ging und nie aufwärts."

Der Autor findet messerscharfe Bilder, die klar machen, wie fremd sich ein Land anfühlen kann, in dem zuerst die Hunde und dann die Herrchen begrüßt werden. Er zeigt auf, wie machtlos Eltern zusehen müssen, wie die Kinder auf die schiefe Bahn geraten. Penibel seziert und interpretiert er das Gefühlschaos des Heranwachsenden, der vor allem eines will: Freundschaft und Anerkennung. Und dabei so oft Ablehnung und Feindschaft begegnet.

Khani hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor, völlig ohne anklagenden Unterton. Wir sollen uns nur erkennen, das genügt.

Ich bin von dieser kraftvollen literarischen Stimme begeistert und freue mich daher sehr, dass Khani sein Alter Ego gegen Ende des Romans erklären lässt: "Ich werde immer auf Deutsch schreiben."

Bewertung vom 09.08.2024
Anna O.
Blake, Matthew

Anna O.


weniger gut

Matthew Blake, Kommunikationsberater und ehemaliger Redenschreiber für das britische Parlament, hat sich mit seinem Thriller Anna O. erstmals ins literarische Genre gewagt. Leider erweist sich dieser Ausflug als wenig gelungen.

Obwohl das Buch viele Versatzstücke eines Thrillers enthält, schafft es Blake nur selten, echte Spannung aufzubauen. Stattdessen wirkt die Geschichte überladen mit einer Vielzahl an Themen und Referenzen, die kaum mehr als oberflächlich behandelt werden. Blake versucht, durch Anspielungen auf die antike Tragödie Medea, Truman Capotes Kaltblütig, verschiedene Filme von Alfred Hitchcock und Sigmund Freuds Fallstudie über seine erste "Anna O" genannte Patientin Tiefe zu suggerieren, doch all dies trägt wenig zur eigentlichen Handlung bei.

Auch die Charaktere des Romans hinterlassen einen enttäuschenden Eindruck bei mir. Viele Figuren wirken unglaubwürdig, ihre Handlungen sind oft konstruiert und von arg großen Zufällen geprägt, die eher irritieren als die Geschichte voranzutreiben. Blake greift auf billige Ablenkungsmanöver zurück, um Spannung zu erzeugen, was jedoch selten gelingt. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass er versucht, mangelnde narrative Substanz durch unnötige Komplexität zu kaschieren.

Das Ergebnis ist eine langatmige, verwirrende Geschichte, die kaum weiter entfernt von einem guten Thriller sein könnte. Blake mag als Redenschreiber überzeugt haben, aber als Romanautor hat er mit "Anna O." bisher nicht bewiesen, dass er in diesem Metier ebenso talentiert ist. Fazit: Ein überfrachteter, spannungsarmer Roman, der trotz aller Bemühungen Blakes kaum überzeugt.

Bewertung vom 31.07.2024
Sie kam aus Mariupol
Wodin, Natascha

Sie kam aus Mariupol


weniger gut

"Mein Leben lang hatte ich mich benachteiligt gefühlt, weil ich keine Familie hatte, aber das war nur deshalb so gewesen, weil ich nicht gewusst hatte, dass ich ein glücklicher Mensch war ohne diesen ganzen Ballast." So lautet eine Selbsterkenntnis der Autorin in ihrem neuesten Werk.

Natascha Wodin, 1945 in Fürth als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter geboren, erzählt in „Sie kam aus Mariupol“ die bewegende und tragische Geschichte ihrer Familie. Das Buch ist eine Mischung aus autobiografischem Roman und detaillierter genealogischer Recherche. Trotz des bedeutsamen Themas hinterlässt die Lektüre jedoch einen insgesamt enttäuschenden Eindruck, auch für die Leserschaft ist reichlich Ballast zwischen den beiden Buchdeckeln enthalten.

Der erste Teil des Buches widmet sich minutiös der Ahnenforschung der Autorin. Diese Abschnitte sind oft langweilig und verwirrend, insbesondere aufgrund der zahlreichen russischen Namen. Ein Stammbaum hätte hier wesentlich zur Orientierung beigetragen und geholfen, die komplexen familiären Verbindungen besser zu verstehen. Die detaillierte, immer wieder sprunghaft erzählte Familiengeschichte bremst den Lesefluss und erschwert das Eintauchen in die Erzählung.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion, einschließlich der Revolution, dem Ende des Zarenreichs, Enteignungen, Zwangsarbeit und Umsiedlungen. Auch hier bleibt die Erzählung oft schwer verständlich, insbesondere ohne umfangreiches historisches Hintergrundwissen. Die Vielzahl an Ereignissen und Personen tragen zur Komplexität bei und machen es schwierig, der Geschichte gut folgen zu können.

Im dritten Teil wird die Story persönlicher und fokussiert sich auf Wodins Kindheit und Jugend in Deutschland sowie auf den frühen Selbstmord ihrer Mutter, als die Autorin erst elf Jahre alt war. Diese Passagen sind emotionaler und bieten einen tieferen Einblick in die persönlichen Tragödien der Familie. Doch auch hier bleibt die Lektüre herausfordernd. Die Autorin beschreibt detailliert Familienfotos, die nur teilweise und oft an völlig anderer Stelle im Text abgebildet sind, was es schwer macht, sich zurecht zu finden. Zudem sind viele Passagen von Vermutungen geprägt und in einem langatmigen, anklagenden Ton gehalten, was das Lesen für mich zusätzlich erschwert hat.

Die Geschichte von Natascha Wodins Familie ist zweifellos erschütternd und bedauernswert. Sie wurde sowohl durch die Weltpolitik als auch durch persönliche Umstände schwer gezeichnet. Doch die literarische Umsetzung dieses harten Schicksals in eine gut lesbare und fesselnde Erzählung ist nur teilweise gelungen. Das Buch fordert von Leserinnen und Lesern viel Geduld und Ausdauer, und trotz der bedeutenden Thematik bleibt der Gesamteindruck zwiespältig.

Fazit: „Sie kam aus Mariupol“ bietet einen wichtigen und bewegenden Einblick in die Geschichte einer Familie, die durch die politischen und sozialen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts tief geprägt wurde. Leider leidet die Lektüre unter einer übermäßigen Detailverliebtheit und einer komplexen Erzählweise, die es schwierig machen, sich in die Geschichte hineinzufinden. Die literarische Umsetzung, dieses harte Los in gute Literatur zu fassen ist nur teils gelungen.

Bewertung vom 30.07.2024
Das Sterben in Wychwood
Christie, Agatha

Das Sterben in Wychwood


ausgezeichnet

"Das Sterben in Wychwood" ist mein erster Agatha-Christi-Krimi ohne Hercule Poirot als Ermittler. Doch auch ohne den listigen belgischen Privatdetektiv stellt die Krimi-Ikone ihre meisterhafte Erzählkunst unter Beweis. Die Story folgt Luke Fitzwilliam, einem ehemaligen Polizeibeamten in den britischen Kronkolonien Südostasiens, dessen Ermittlungsfähigkeiten vergleichsweise bescheiden sind. Doch gerade diese Eigenschaft verleiht dem Plot eine besondere Würze und macht umso neugieriger auf die Auflösung des mysteriösen Falls.

Die kleine englische Gemeinde Wychwood ist voller eigenwilliger und schrulliger Charaktere, die Christie mit ihrem unvergleichlichen Talent zum Leben erweckt. Jeder Bewohner und jede Bewohnerin hat seine eigene Geschichte und Geheimnisse, die geschickt in die Handlung eingeflochten werden und viele gleichermaßen verdächtig erscheinen lassen. Die Spannung steigt von Kapitel zu Kapitel, und Christie versteht es meisterhaft, ihre Leser*innen immer wieder auf falsche Fährten zu locken. Die unerwarteten Wendungen und die sorgfältig geplante Auflösung sorgen dafür, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann. Einzig ein beschriebenes Techtel-Mechtel bahnt sich für meine Begriffe doch etwas abrupt an - Christies Vorstellung von Romantik ist definitiv nicht meine.

Davon abgesehen ist die Geschichte höchst unterhaltsam und für alle zu empfehlen die einen gut durchdachten und unterhaltsamen klassischen Whodunnit schätzen.

Bewertung vom 24.07.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

Wie bereits Wahls Debütroman "22 Bahnen" habe ich auch dessen nun vorliegende Fortsetzung förmlich verschlungen. Diesmal steht nicht Tilda, sondern deren jüngere Schwester Ida im Mittelpunkt der Erzählung. Auch ihre Seele wurde durch die alkoholsüchtige Mutter tief verletzt, auch sie wird zwischen Wut und Schuldgefühlen schier zerrissen. Wahls große Stärke sind ihre Figuren. Ob vom Schicksal gebeutelt, in Extremsituationen gefordert oder - wenn es denn diesen überhaupt gibt - im banalen Alltag, jede Handlung, jedes geschilderte Gefühl und jeder Dialog wirkt authentisch und 100-prozentig glaubwürdig. Die Sprache ist präzise und messerscharf, sie geht direkt ins Herz, ohne sich in Gefühlsduselei zu verlieren. Schön, dass die Autorin bereits an ihrem dritten Roman arbeitet!

Bewertung vom 15.07.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


gut

Fallwickls neuester Roman liest sich zunächst ganz gut, vor allem als Milieustudie: Da ist die erfolgreiche junge Influencerin, die sich (scheinbar) emanzipiert in anonymen Sexualkontakten schnelle Befriedigung holt. Und auch der ungelernte junge Mann, der sich mit gleich drei prekären Jobs über Wasser halten muss und dabei stets befürchtet, dass seine gleichaltrigen Freunde davon erfahren und auf ihn heransehen könnten, ist als Figur gelungen. Die dritte Protagonistin schließlich arbeitet als Krankenschwester in einer Klinik und ist ebenfalls körperlich wie seelisch ausgebrannt. Die Gesellschaftskritik kommt bei mir als Leserin an, so weit, so gut.

Allerdings gerät die Geschichte bald zum feministischen Manifest, das vor stereotypen Geschlechterzuschreibungen nur so strotzt: Care-Arbeit wird fast ausschließlich von Frauen geleistet, Männer machen Karriere auf dem Rücken ihrer Frauen. Bis die Frauen es einfach nicht mehr ertragen und sie in eine Art Generalstreik treten. Allerdings ohne Forderungen zu äußern, sie finden sich einfach in Gruppen zusammen und legen sich stillschweigend auf den Boden. Frauen rebellieren also gewaltfrei, und klar, die Männer reagieren mit Gewalt darauf. Egal, die Frauen solidarisieren sich auf geradezu märchenhafte Weise, es gibt keine Spannungen unter ihnen, sie sind friedvoll und fürsorglich, böse sind einzig die Männer. Frauen opfern sich auf, Männer sind profitgierig und aggressiv.

Das wäre alles schon schlimm genug, aber die Autorin packt noch Dialoge oben drauf, die vor platten feministischen Parolen nur so strotzen. Das alles hat für mich nur in Teilen funktioniert, leider.

Bewertung vom 12.07.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


sehr gut

Vanessa Chan ist mit ihrem Debütroman ein beeindruckendes Stück Literatur gelungen. Die Geschichte lässt sich nicht in ein Genre einordnen, sie ist Familienroman, Spionagethriller und Kriegsroman, vor allem aber ist sie atemberaubend und herzzerreißend.

Die Story spielt im britisch bzw. japanisch besetzten Malaya während des zweiten Weltkriegs. Chan erzählt in zwei Zeitebenen und aus gleich vier Perspektiven und gibt mit den kurzen Kapiteln ein hohes Tempo vor. Dennoch konnte ich der Geschichte problemlos folgen und sie wird noch lange nachhallen. Im Mittelpunkt steht eine Familie in Kuala Lumpur, die am Krieg zerbricht. Der Sohn wird in ein Arbeitslager verschleppt, die Mutter verfällt dem Charme eines japanischen Offiziers, und spioniert für ihn ihren Ehemann aus, der für die britischen Besatzer arbeitet.

Die Figur der Mutter ist nicht immer ganz ausgefeilt, manche Beweggründe bleiben im Dunkel und ab und zu wurde es mir doch etwas zu melodramatisch. Dafür ist die Darstellung der Kinder sehr gelungen, wie sie Unvorstellbares erleben müssen, von Erwachsenen verraten werden und trotz Traumata Freundschaften knüpfen und weiter Hoffnung haben, hat mich sehr beeindruckt.

Chan hat eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der Kolonisierten und nicht der Kolonialmächte geschrieben, und schon deshalb ist das Buch lesenswert.

Bewertung vom 12.07.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


gut

Die Schweizerische Architektin, Journalistin und Schriftstellerin Zora del Buono blickt in ihrem neuen Roman tief zurück in die eigene Familiengeschichte. Steht in ihrem letzten Roman "Die Marschallin" ihre Großmutter im Mittelpunkt, so ist es diesmal del Buonos Vater. Seinetwegen schreibt sie diesen Tatsachenroman: Er wurde durch einen Verkehrsunfall getötet, als die Autorin erst wenige Monate alt war, sie hat keine Erinnerungen an ihn. Diese Lücke wurde auch später nicht geschlossen; weder Mutter noch Tochter ertrugen den Schmerz, und so wurde bald nicht mehr über den Ehemann bzw. Vater gesprochen. Erst als die Mutter dement ist, begibt sich die Autorin auf Spurensuche. Anhand von alten Fotos und Zeitungsartikeln versucht sie, den Unfallverursacher zu finden.

Aufgrund des Klappentextes hatte ich erwartet, dass es auch um folgende große moralische Fragen geht: Wie kann man mit der Schuld leben, einen Menschen getötet zu haben? Zerfressen einen Selbstvorwürfe oder kann man das Unfassbare verdrängen? Doch diese Überlegungen streift die Geschichte nur. Stattdessen bietet del Buono Unfallstatistiken, trockene Definitionen aus Lexika und Spotlights auf die schweizerische Gesellschaft der 1970er Jahre oder ihrem Leben als Studentin in Berlin vor der deutschen Wiedervereinigung. Mir kam es so vor, als ob dies immer dann eingeschoben wurde, wenn sie befürchtete, anderenfalls zu emotional zu werden, so als ob sie sich beim Schreiben selbst ablenken musste, um durch die späte Trauerarbeit nicht überwältigt zu werden. Dadurch geht einerseits der Rote Faden der Geschichte verloren, andererseits bleibt die Erzählung nahezu durchweg sehr trocken und sachlich.

Dennoch hat mich der Roman berührt, allein schon dadurch, dass er deutlich macht, wie sehr ein fehlendes Elternteil das Leben des Kindes bis weit ins Erwachsenenalter beeinflussen kann.

Bewertung vom 26.06.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


weniger gut

Da ich privat immer wieder mit Menschen mit Fluchterfahrung zu tun habe, hat mich dieses Buch sehr interessiert. Javier Zamora schreibt hier über seine eigene Flucht von El Salvador in die Vereinigten Staaten von Amerika. Er soll seinen Eltern folgen, die die illegale und gefährliche Landroute durch mehrere mittelamerikanische Länder bereits erfolgreich bewältigt haben. Der neunjährige Javier ist dabei praktisch unvorbereitet, er ist komplett auf den guten Willen der Schlepper und die Hilfe völlig fremder, anderer Flüchtenden angewiesen.

So spannend das Thema, so misslungen ist leider die Umsetzung. Ich musste mich weitgehend durch den Text kämpfen, der - von wenigen spannenden Stellen abgesehen - nur so von endlos scheinenden Wiederholungen und überflüssigen, langweiligen Details wimmelt. Wann er welche Tortillas zu essen bekam, wie genau sie zubereitet wurden und inwiefern sie sich von denen in seiner Heimat unterschieden, mag für den neunjährigen Jungen wichtig gewesen sein, mich als Leserin hat es eher ermüdet. Extrem störend fand ich die Flut an spanischen Ausdrücken, oftmals noch dazu im Slang. Zwar gibt es ein nach Kapiteln angeordnetes Glossar mit den deutschen Übersetzungen, aber aufgrund der Vielzahl an fremdsprachigen Wörtern war ich praktisch während der gesamten Lektüre nur am Hin- und Herblättern. Mag sein, dass man hier die Authentizität beibehalten wollte, das englische Original lässt die spanischen Ausdrücke komplett unübersetzt. Dennoch darf dies meines Erachtens nicht völlig zu Ungunsten der Lesbarkeit gehen. Und auch vom Übersetzerteam Wasel/Timmermann bin ich nicht gerade begeistert: "Coyote" ist im englischsprachigen Raum eine geläufige Bezeichnung für Schlepper, dies mit dem deutschen "Kojote" zu Übersetzen macht wenig Sinn.

Ich habe großen Respekt vor allen Menschen, die Leib und Leben riskieren, um sich ein besseres Leben aufzubauen als dies in ihren Herkunftsländern möglich ist. Und ich denke, dass es viel zum gegenseitigen Verständnis beiträgt, wenn wir über Biografien von Geflüchteten erfahren. Leider ist "Solito" so schlecht geschrieben, dass ich die Lektüre nicht empfehlen kann, es gibt weitaus bessere Bücher zu dieser Thematik.