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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 524 Bewertungen
Bewertung vom 26.06.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


weniger gut

Da ich privat immer wieder mit Menschen mit Fluchterfahrung zu tun habe, hat mich dieses Buch sehr interessiert. Javier Zamora schreibt hier über seine eigene Flucht von El Salvador in die Vereinigten Staaten von Amerika. Er soll seinen Eltern folgen, die die illegale und gefährliche Landroute durch mehrere mittelamerikanische Länder bereits erfolgreich bewältigt haben. Der neunjährige Javier ist dabei praktisch unvorbereitet, er ist komplett auf den guten Willen der Schlepper und die Hilfe völlig fremder, anderer Flüchtenden angewiesen.

So spannend das Thema, so misslungen ist leider die Umsetzung. Ich musste mich weitgehend durch den Text kämpfen, der - von wenigen spannenden Stellen abgesehen - nur so von endlos scheinenden Wiederholungen und überflüssigen, langweiligen Details wimmelt. Wann er welche Tortillas zu essen bekam, wie genau sie zubereitet wurden und inwiefern sie sich von denen in seiner Heimat unterschieden, mag für den neunjährigen Jungen wichtig gewesen sein, mich als Leserin hat es eher ermüdet. Extrem störend fand ich die Flut an spanischen Ausdrücken, oftmals noch dazu im Slang. Zwar gibt es ein nach Kapiteln angeordnetes Glossar mit den deutschen Übersetzungen, aber aufgrund der Vielzahl an fremdsprachigen Wörtern war ich praktisch während der gesamten Lektüre nur am Hin- und Herblättern. Mag sein, dass man hier die Authentizität beibehalten wollte, das englische Original lässt die spanischen Ausdrücke komplett unübersetzt. Dennoch darf dies meines Erachtens nicht völlig zu Ungunsten der Lesbarkeit gehen. Und auch vom Übersetzerteam Wasel/Timmermann bin ich nicht gerade begeistert: "Coyote" ist im englischsprachigen Raum eine geläufige Bezeichnung für Schlepper, dies mit dem deutschen "Kojote" zu Übersetzen macht wenig Sinn.

Ich habe großen Respekt vor allen Menschen, die Leib und Leben riskieren, um sich ein besseres Leben aufzubauen als dies in ihren Herkunftsländern möglich ist. Und ich denke, dass es viel zum gegenseitigen Verständnis beiträgt, wenn wir über Biografien von Geflüchteten erfahren. Leider ist "Solito" so schlecht geschrieben, dass ich die Lektüre nicht empfehlen kann, es gibt weitaus bessere Bücher zu dieser Thematik.

Bewertung vom 12.06.2024
Passion Risotto
Gasteiger, Heinrich;Wieser, Gerhard;Bachmann, Helmut

Passion Risotto


sehr gut

Wer sich - wie ich - bislang nicht getraut hat, selbst Risotto zuzubereiten, dem kann ich dieses hervorragende Kochbuch wirklich ans Herz legen. Ebenso wie all denjenigen, die schon für den leckeren Brei aus Rundkornreis brennen, aber noch auf der Suche nach neuen, raffinierten Rezepten sind.

Los geht es mit interessanten Fakten rund um das weiße Grundnahrungsmittel, es gibt eine kurze Warenkunde und Tipps zur optimalen Zubereitung. Dabei werden Basics anschaulich anhand von Schritt-für-Schritt-Fotostrecken erläutert. Im Rezeptteil sind die knapp 80 Risotti nach Hauptzutaten gruppiert: Gemüse und Getreide - Kräuter und Pilze - Käse und Fleisch - Fisch und Meeresfrüchte - Süßes. Auf je einer Doppelseite findet sich neben einem ansprechenden ganzseitigen Farbfoto das übersichtliche Rezept. Zubereitungsdauer, Schwierigkeitsgrad, Mengenanzahl, gegebenenfalls vegetarische Gerichte und der Schärfegrad sind auf einen Blick erkennbar.

Dass das Autorentrio aus Sterneköchen besteht, merkt man auch an einigen verwendeten Zutaten, die nicht überall leicht erhältlich sein dürften (Karde, Knurrhahn, Taubenbrust) oder/und die nicht gerade günstig sind (Chamnpagner, Trüffel). Doch da meist Alternativen aufgeführt werden, fäll dies nicht negativ ins Gewicht. Nicht akzeptabel ist für mich jedoch die Verwendung von Blattgold in der Küche: Es bringt keinerlei geschmacklichen Mehrwert, ist dekadent und nicht zeitgemäß. Schade auch, dass zwar sieben Rundkornreis-Sorten abgebildet sind, im Text aber nur sechs davon beschrieben werden.

Dafür punktet das stabile Hardcover mit einem ausführlichen Register, einem Glossar spezieller Zutaten und einem liebevollen Detail auf dem Cover: Die Reiskörner auf dem Foto bilden ein kleines Relief auf der ansonsten glatten Oberfläche. Meine Empfehlung für Risotto-Fans und alle, die es werden wollen!

Bewertung vom 12.06.2024
Wie Inseln im Licht
Gänsler, Franziska

Wie Inseln im Licht


ausgezeichnet

Dieser Roman ist bemerkenswert, eindringlich, traurig, beeindruckend gut konstruiert und wird noch lange in mir nachhallen.

Ich-Erzählerin Zoey reist nach dem Tod ihrer Mutter an die französische Atlantikküste und begibt sich zugleich auf Spurensuche in die Vergangenheit. Denn sie ist dort mit ihrer Halbschwester Oda und der gemeinsamen Mutter auf einem Dauercampingplatz aufgewachsen. Bis Oda spurlos verschwindet und die Mutter Hals über Kopf mit Zoey in eine kleine Wohnung nach Berlin zieht. Die Mutter rutscht in eine tiefe Depression; Zoey gerät in eine Co-Abhängigkeit, in der sie kaum Raum für sich findet und ihre Versuche übermächtig werden, das Leid der Mutter zu lindern. Was ist in Frankreich passiert? Die Mutter verstummt zusehends, Zoey erhält keine Antworten.

Franziska Gänsler erzählt eine fesselnde Familiengeschichte in all ihrer Vielschichtigkeit. Wie geht unsere Gesellschaft mit Außenseitern um, wie kann eine Familie Fürsorge tragen, wann soll, wann darf man eingreifen, wenn jemand nicht der Norm entspricht? Wie erleben es Kinder, wenn ihre Eltern "anders" sind und auch sie selbst dadurch von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt werden?

Zwischen den Buchdeckeln liegt viel Stoff für Diskussionen und Reflexion, es ist ein guter und wichtiger Roman.

Letzte Anmerkung: Die Autorin hat Kunst studiert und zitiert einige Male Werke von Gegenwartskünstlerinnen, vor allem von Tracey Emin. Sich mit deren Leben und Schaffen ein wenig vertraut zu machen hilft für das Verständnis.

Bewertung vom 31.05.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Erfolgsautorin Rebecca F. Kuang knöpft sich mit "Yellowface" den Literaturbetrieb vor und spart dabei nicht gerade mit Kritik: "Sind erfolgreiche Bücher nur so erfolgreich, weil irgendwann alle ohne ersichtlichen Grund beschlossen haben, sie zum Titel der Stunde zu küren?" lässt sie sich ihre Protagonistin fragen. An anderer Stelle heißt es noch provokanter: "Bestseller werden ausgewählt. Nichts, was du tust, zählt."

So weit, so interessant, könnte man meinen. Allerdings bekommt dies (und einiges mehr) einen seltsamen Beigeschmack, wenn man sich vergegenwärtigt, welch gigantische Marketingmaschinerie Borough Press (zum HarperCollings Verlag gehörend) zur Veröffentlichung von "Yellowface" aufgefahren hat. Die stereotypen asiatischen Augen auf gelbem Hintergrund, die das englische wie auch das deutsche Cover zieren, verfolgten potenzielle Leser*innen in den U.S.A. und in Europa auf riesigen Plakaten, prominenten Aufstellern in Buchhandlungen ebenso wie auf unzähligen online-Bannern. Gerne würde ich Kuang dazu befragen, wie sie diese offensichtliche Diskrepanz erklärt - einerseits zu kritisieren, dass Bestseller "gemacht" würden, und sich andererseits eben dieser Mechanismen selbst zu bedienen. Vielleicht ist dies ja eine Sonderform der Ironie, die ich nur nicht verstanden habe ...?!

Aber nun zur eigentlichen Geschichte. Der Plot ist erfrischend originell: Die beiden Jungautorinnen June und Athena verbindet eine lockere Bekanntschaft, Athena schwimmt von einer Erfolgswelle zur nächsten, wohingegen Junes Manuskripte nur schwer verlegt und die erschienenen Bücher kaum verkauft werden. Als Athena im Beisein von June stirbt und diese einen unveröffentlchten Romanentwurf Athenas findet, sieht sie ihre Chance gekommen: Sie schreibt die Geschichte um und gibt sie als die ihre aus. Kuang packt eine Vielzahl an aktuellen Themen in ihre Story, es geht um kulturelle Aneignung, Hate Speech auf Social Media, Cancel Culture, Rassismus und vieles mehr, immer im Mikrokosmos der Literaturszene und des Verlagswesens.

Das Tempo ist rasant, die Erzählung ist kurzweilig und, zumindest zum Ende hin, spannend. Vieles ist satirisch überspitzt, aber dies geht leider auf Kosten der Figurenentwicklung. June und Athena bleiben oberflächlich dargestellt, ihre jeweiligen Beweggründe sind, wenn überhaupt, nur angedeutet, schemenhaft. Auch über Freunde und Familien der Protagonistinnen erfährt man herzlich wenig. Obwohl Athenas Familie für den Fortgang der Geschichte eine große Rolle spielt (ihre Mutter plant, Athenas Tagebücher nach dem Tod der Tochter öffentlich zugänglich zu machen), bleibt Wesentliches im Dunkeln. Ich-Erzählerin June klingt oft sehr unreif und wesentlich jünger als sie ist. Auch hat sie als unzuverlässige Erzählerin für mich nicht funktioniert, dies ist einfach zu plakativ, sie präsentiert ihre moralischen Verfehlungen platt und liefert fadenscheinige Rechtfertigungen, hier fehlte mir die Raffinesse.

Auch die Übersetzung durch Jasmin Humburg könnte besser sein: Manche Ausdrücke ("blurb" für Klappentext) bleiben im Original stehen, Redewendungen wurden hölzern und verfälschend wörtlich statt sinngemäß übertragen. Auch inhaltlich hat das Lektorat einiges übersehen, so tropft einer Figur Eigelb von den Lippen, nachdem sie 13 Minuten (!) lang gekochte Eier gegessen hat.

Ein witziges Detail hat mir jedoch gut gefallen: Entfernt man den Schutzumschlag, so erscheint auf dem Cover "Die letzte Front" von Athena Liu (durchgestrichen) bzw. Juniper Song (Junes Pseudonym), ein kreativer gestalterischer Einfall, wie ich finde. Insgesamt reicht es für mich aber nur für ein "geht so".

Bewertung vom 31.05.2024
Ein Hof und elf Geschwister
Frie, Ewald

Ein Hof und elf Geschwister


weniger gut

Ewald Frie, seines Zeichens Geschichtsprofessor, wuchs in den 1960er Jahren als neuntes von insgesamt elf Geschwistern auf einem Hof im Münsterland auf.

Grundlage für dieses Sachbuch sind standardisierte Befragungen Fries seiner Brüder und Schwestern sowie zeitgenössische Dokumente aus Privatbesitz und Archiven. Es mag sein, dass meine Schwierigkeiten mit der Methodik - als studierte Naturwissenschaftlerin - persönlicher Natur sind, aber für einen wissenschaftlichen Ansatz finden sich im vorliegenden Text meiner Meinung nach zu viele Vermutungen und Interpretationen, die nicht faktenbasiert sind. Außerdem fand ich es schade, dass es zwar ein umfangreiches Quellenverzeichnis gibt, über Art und Umfang des Fragenkatalogs an die Geschwister aber kein Wort verloren wird.

Auch die Art der Darstellung lässt an vielen Stellen zu wünschen übrig. Statt hilfreicher Bildunterschriften erläutert Frie auf umständliche Art, wer auf den Familienfotos zu sehen ist - ich habe oft hin- und hergeblättert und war mir doch nicht sicher, welche Geschwister wo zu sehen sind. Der Autor ergeht sich in detaillierten Aufzählungen über die einzelnen Bauerschaften samt deren Entfernung untereinander; eine geografische Übersichtskarte mit den erwähnten Höfen und Dörfern wäre deutlich hilfreicher gewesen. Seltsam mutet für mich die lakonische Behandlung der NS-Diktatur an: Über die politische Einstellung der Eltern erfährt man wenig, an einer Stelle heißt es "Von Mutters Erinnerung an den Krieg redet niemand. Ich habe meine Geschwister auch nicht danach gefragt." Wieso lässt ein Historiker diese so prägenden Erlebnisse links liegen statt hier nachzuforschen?

Über weite Teile ist der Stil sehr trocken, erst im letzten Drittel wird die - an sich sehr spannende - Familiengeschichte etwas lebhafter dargestellt. Fries analysiert den gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit und dessen Auswirkungen speziell auf den landwirtschaftlich geprägten Landstrich seiner Heimatregion anhand der Lebensläufe seiner Eltern und Geschwister. Diese soziologische Analyse ist interessant, jedoch hat mich das Buch an sich nicht überzeugt. Es ist ein unausgegorener Genremix, für ein Memoir zu nüchtern, als Sachbuch zu spekulativ.

Dennoch (bedingt) empfehlenswert für alle, die sich für die Entwicklung der deutschen Landwirtschaft, speziell die Rinderzucht in Ostwestfalen, interessieren.

Bewertung vom 15.05.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


gut

Zunächst fand ich Julja Linhofs Romandebüt durchaus beeindruckend. Das Setting ist ein Bauernhof in Westfalen, auf den der 19jährige Protagonist Jirka nach langen Jahren auf dem Internat zurückkehrt. Seine Schwester müht sich verzweifelt ab, mit dem Hof den Lebensunterhalt zu bestreiten, nachdem die Mutter verstorben ist, der Vater verschwunden und die demente Oma auch noch versorgt werden muss.

Linhof gelingt es schnell, diese mir völlig fremde Lebenswelt greifbar zu machen. In wechselnden Tempi, durchzogen von zahlreichen Rückblenden, wird die beklemmende Atmosphäre geradezu spürbar. Abgesehen von einigen kleinen Stilblüten hat mich die Erzählung sprachlich wirklich überzeugt. Sprache und Kommunikation ist auch inhaltlich für den Roman von Bedeutung. Denn Jirka und seine Schwester hatten (und haben) es nicht leicht in dieser Familie - genau genommen hat jedes Familienmitglied großes Leid zu tragen. Doch darüber wurde geschwiegen, wirkliche Gespräche fanden kaum statt, echter Austausch - Fehlanzeige.

So weit, so interessant. Doch nachdem die grobe familiäre Struktur klar war, hat mich der Roman etwas verloren. Für meinen Geschmack gab es einfach zu wenig Handlung, zu viel Gedankenkreisen, zu viel Unausgesprochenes, Wiederholtes. Und leider bleiben auch nach Vollendung der Lektüre die meisten der Figuren unscharf, mir fehlen Beweggründe für Entscheidungen, Motivationen für Handlungen.

Insgesamt ist mir der Roman leider noch zu fragmentarisch, zu wenig ausgearbeitet.

Bewertung vom 14.05.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Es gehört schon eine überaus große Portion an Selbstvertrauen dazu, um sich an eine aktuelle Neuerzählung des Klassikers "David Copperfield" von Charles Dickens zu wagen. Aber Barbara Kingsolver hatte den Mut dazu, oder wie ihr Protagonist Demon Copperhead sagen würde, "sie hat die Eier in der Hose".

Kingsolver verlegt die Handlung nach Virginia, wo Demon in ärmlichen Verhältnissen in einem Trailer geboren wird. Der Vater stirbt vor seiner Geburt, der Tod der drogenabhängigen sehr jungen Mutter macht Demon in jungen Jahren zur Vollwaise und er beginnt eine Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien, die ihre Zöglinge aufs Übelste ausnutzen und missbrauchen. Staatliche Stellen sind überfordert und sehen nur allzu gern weg, Hauptsache die Kinder kommen irgendwo unter.

Wer mit Dickens` Vorlage vertraut ist, wird zahlreiche formale Parallelen finden, beide Romane sind in je 64 Kapitel gegliedert, und auch die Handlung weist im Großen und Ganzen Ähnlichkeiten auf. Mir hat es großen Spaß gemacht, zu entdecken, wie viele der Dickenschen Figuren auch in Kingsolvers Version auftauchen, so wird etwa der widerliche Kanzleischreiber Uriah Heep aus dem Original nun zu U-Haul, seines Zeichens rechte Hand des Football-Trainers und ein Intrigant vor dem Herrn. Aber Copperhead kann auch völlig ohne Kenntnis von "David Copperfield" gelesen werden. Der Roman ist ein Meisterstück der Sozialkritik, witzig aber auch brutal, unterhaltsam und scharfsinnig, lehrreich und gefühlvoll. Und er ist definitiv mehr als eine literarische Coverversion, Kingsolver hat Copperfield zwar als Schablone verwendet, aber ein durch und durch eigenes Kunstwerk daraus erschaffen.

Die Figuren wirken extrem lebensecht und bekommen die Chance, sich zu entwickeln, und wie die Autorin die Sprache gekonnt je nach Alter und Milieu der Personen anpasst ohne dass es aufgesetzt oder lächerlich wirkt hat mich beeindruckt . Darüber hinaus zeigt sie anschaulich, wie Profitgier und geschicktes Marketing der Pharmaindustrie zur Opioidkrise in den Vereinigten Staaten führte, mit knapp einer Million Toter, die durch legal verschriebene Schmerzmittel drogenabhängig wurden.

Dabei ist Demon ist durch und durch sympathisch, und ich habe selten so sehr (und noch dazu 864 Seiten lang) mit einer Romanfigur mitgefiebert. Uneingeschränkt lesenswert!

Bewertung vom 22.04.2024
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


gut

Der Roman (oder ist es ein Memoir?) liest sich - bei aller Schwere des Themas - leicht und auch durchaus unterhaltsam dahin. Autorin Dröscher erzählt von ihrer Kindheit in einem Dorf im Hunsrück Ende der 1980er Jahre.

Die Ehe der Eltern ist alles andere als auf Augenhöhe; der Vater schikaniert seine Ehefrau auf schier unerträgliche Weise. Nicht nur dass sie sich wöchentlich unter seiner Aufsicht wiegen muss, nein, er macht ihre Leibesfülle sogar für seine widerholt ausbleibende Beförderung verantwortlich. Die kleine Daniela nimmt das Übergewicht der Mutter zunächst gar nicht wahr, je älter sie wird, desto mehr rückt deren Optik aber auch in ihren Fokus, bis sie sich letztlich auch für das Äußere der Mama schämt.

Ich bin ehrlich gesagt hin- und hergerissen, was die Bewertung dieser Geschichte angeht. Zwar wird nicht ganz klar, was hier fiktional und was autobiografisch ist, sagen wir einfach, Dröscher schwimmt auf der aktuellen Welle der Autofiktion mit, dagegen ist ja zunächst nichts einzuwenden. Aber die erklärenden Einschübe, in der die erwachsene Daniela die Erlebnisse der jungen Ela für die Leserschaft noch einmal moralisierend erläutert, haben mir das Buch reichlich verleidet. Einerseits kam ich mir durch diese überflüssigen Belehrungen seltsam vor, so als würde die Autorin mir ohne diese Fingerzeige nicht zutrauen, ihre Botschaft verstanden zu haben. Und andererseits lässt sie es eben an Erklärungen fehlen. Dafür, wieso die Mutter so in ihrer Opferrolle gefangen bleibt, auch als sie ein unerwartetes finanzielles Polster ererbt, das ihr den nötigen Freiraum für eine Zukunft ohne den unterdrückenden Gatten sichern könnte. Aber auch Vater Dröscher kommt über eine zweidimensionale Schablone nicht hinaus. Wie wurde er zu dem Monster als das er geschildert wurde? Hat die erwachsene Daniela das Gespräch mit ihm gesucht? Man erfährt es leider nicht.

Fazit: Ein interessantes Sittengemälde der BRD, der Versuch, schreckliche patriarchale Machtstrukturen innerhalb einer Familie aufzuzeigen, der aber über das Anprangern hinaus wenig anzubieten hat.

Bewertung vom 22.04.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Zunächst klingt der Plot wie eine klassische Dystopie: Die 16jährige Odile wächst in einer repressiven Gesellschaft mit wenig persönlicher Freiheit auf; besonders ist, dass man nicht nur geografisch, sondern auch durch die Zeit reisen kann: Das eingezäunte Tal liegt westlich scheinbar identisch vor, nur dass es um exakt 20 Jahre in die Vergangenheit versetzt ist, im Osten schließen sich weitere Täler an, die jeweils einen Zeitsprung von zwei Dekaden in die Zukunft ermöglichen.

Die Obrigkeit, das sogenannte "Conseil" entscheidet über die Anträge der Bewohner, Besuche in ihrer Vergangenheit oder Zukunft machen zu dürfen, das Ganze ist aufs strengste reglementiert, um den Verlauf des Schicksals nicht zu beeinflussen.

Howards Roman - ein in jeder Hinsicht beeindruckendes Debüt - kreist dabei um die Frage: "Was würdest du tun, wenn du die Vergangenheit ändern könntest?" Der Plot ist durchaus anspruchsvoll, um nicht zu sagen herausfordernd. Es ist sicher keine Geschichte, die man eben mal nebenbei liest, nein, hier ist volle Konzentration gefordert. Ansonsten kann man bei den Zeitreisen und den damit verbundenen Vorschriften und möglichen Konsequenzen schnell mal den Durchblick verlieren. Zumal der Autor nicht nur mit unseren vertrauten Vorstellungen von Linearität, Ort und Zeit spielt, sondern auch geschickt philosophische Fragestellungen in die Geschichte einflicht. Howard, seines Zeichens promovierter Philosoph, lässt dabei technologische Aspekte der Zeitreisen völlig außen vor, ihm geht es um die menschlichen Aspekte und gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Gedankenspiels, Facetten, die mich an Werke Kazuro Ishiguros erinnert haben. Wer sich fragt, wie soll das alles gehen, wird wenig Antworten finden; wer sich gerne damit beschäftigt, welche Folgen das Zeitreise-Konstrukt haben kann, bekommt reichlich Diskussionsstoff geliefert.

Dies kann etwas verunsichern, aber auch zu wirklich neuen, geradezu existenziellen Reflektionen anregen, wenn man sich darauf einlässt. "Das andere Tal" ist keine einfache, aber eine ungemein bereichernde Lektüre über Zeit und Liebe, Macht und Moral.

Bewertung vom 22.04.2024
Evas Rache / Paul Stainer Bd.4
Ziebula, Thomas

Evas Rache / Paul Stainer Bd.4


ausgezeichnet

Gut zwei Jahre habe ich dem neuesten Fall von Kriminalinspektor Paul Stainer entgegen gefiebert, und ich wurde erneut nicht enttäuscht - Thomas Ziebula liefert auch diesmal wieder ab.

Sein neuester Historienroman spielt 1922, Stainer ermittelt erneut in Leipzig, nun haben er und seine Kollegen es mit eine Serie von Sexualmorden zu tun. Der Spannungsbogen ist durchweg hoch, einige Szenen sind nichts für Zartbesaitete, aber es ist ja auch kein "Cosy Crime". Neben der eigentlichen Aufklärung des Verbrechens erwartet die Leser*innen die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung; sicherlich ungewöhnlich für die damalige Zeit, aber sehr überzeugend geschrieben. Außerdem machen Einzelheiten zur Geschichte der Leipziger Polizei, des Erstarken des Nationalsozialismus, die Nachwirkungen des ersten Weltkriegs und interessante Schauplätze wie die Leipziger Messe oder die Münchner Kammerspiele aus diesem Roman mehr als "nur" einen sehr guten Krimi.

Ziebulas Stärken sind glaubhafte, vielschichtige Charaktere, die Gelegenheit erhalten, sich im Verlauf der Geschichte zu entwickeln sowie seine fundierte, bisweilen geradezu akribische Recherche. Dadurch erhält das Setting des Romans ein ganz besonderes historisches Flair. Man kann einen gewissen Ehrgeiz entwickeln, die ein oder andere damalige zeitgenössische Person, auf die der Autor anspielt, zu enttarnen. In jedem Fall erweitern die zahlreichen historisch verbürgten Details aber das Allgemeinwissen und machen die Lektüre zu einem besonderen Genuss.

"Evas Rache" ist Kriminalliteratur auf hohem Niveau, spannend von der ersten bis zur letzten Seite, anspruchsvoll und dabei nicht weniger unterhaltsam, ganz nach meinem Geschmack. Der einzige Wermutstropfen besteht für mich darin, dass dieser Band laut Verlag "das fulminante Ende" der Reihe sein soll - ich hoffe sehr, dass sich der Autor umstimmen lässt und eine weitere Fortsetzung folgt!