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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 537 Bewertungen
Bewertung vom 28.08.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


gut

Der zweite Roman von Julia Phillips spielt in einer wunderschön anmutenden, abgelegenen Umgebung, auf den San-Juan-Inseln vor der Küste des US-Bundesstaates Washington. Ein Bär taucht vor dem Haus der Familie auf und bringt das Leben der jungen Frauen gehörig durcheinander. Schnell wird klar, dass der Fokus der Geschichte auf der komplizierten, ungesunden Beziehung der beiden liegt, die seit Jahren ihre todkranke Mutter pflegen und dabei auch noch die finanzielle Belastung stemmen müssen.

Ich habe mich sehr schwer mit dem Buch getan, weit über die Hälfte zieht es sich sehr schleppend dahin und ich konnte über beide Protagonistinnen nur heftig den Kopf schütteln. Über die eine, weil sie letztlich nur auf den Tod der Mutter wartet und darauf hofft, im Anschluss daran mit dem Erlös durch den Verkauf des Hauses auf dem Festland ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Und über die andere, weil sie wider jede Vernunft immer wieder den Kontakt zum Bären sucht und sich so einem wildlebenden Raubtier schutzlos ausliefert. Was ich Phillips jedoch zugute halte ist, dass sie mich lange gekonnt hinters Licht geführt hat: (ACHTUNG, SPOILER!) Erst spät habe ich gemerkt, dass eine der Schwestern eine unzuverlässige Erzählerin war. Das rasante Ende ist nicht schlecht, doch kann es nicht darüber hinwegtrösten, dass das Gesamtkonstrukt des Romans nicht funktioniert. Der Geschichte ist ein Zitat aus dem Grimmschen Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot" vorangestellt, in dem ebenfalls ein Schwesternpaar Besuch von einem Bären bekommt. Nur hat der Bär im Märchen eine deutliche Symbolik, während mir diese hier im Roman verschlossen blieb. Wofür steht er, für animalische Sexualität, für eine Naturgewalt, für eine Herausforderung, die es zu meistern gilt? Letztlich passt alles nicht.

Und auch mit dem deutschen Titel bin ich nicht glücklich. "Cascadia" ist die englische Bezeichnung für die geografische Region Kaskadien im pazifischen Nordwesten Nordamerikas. Ein Ausdruck, der im Deutschen kaum geläufig ist. Um wie viel besser ist da der Originaltitel: Bear. Hier fällt mir die Doppeldeutigkeit auf, zum einen natürlich der Bär, zum anderen bedeutet das Verb "to bear" ertragen, und die Protagonistinnen müssen ja in der Tat einiges ertragen. Ich als Leserin auch, leider.

Bewertung vom 28.08.2024
Seit er sein Leben mit einem Tier teilt
Kirchhoff, Bodo

Seit er sein Leben mit einem Tier teilt


weniger gut

Kirchhoffs jüngster Roman lässt mich sehr ambivalent zurück. Einerseits ist da die fraglos beeindruckende sprachliche Brillanz des Romanciers. Seine atmosphärischen Beschreibungen der hochsommerlichen Hitze am See, die sich letztlich in einem Gewitter entlädt, das biblische Ausmaße annimmt, das ist durchaus großes Kino. Diese Naturbeschreibungen sind zweifelsohne stark und dicht, und man spürt förmlich die aufgeladene Luft, die über der Landschaft liegt. Doch hier beginnt auch das Problem: Kirchhoff zieht eine sehr plakative Verbindung zwischen den Naturereignissen und den inneren Zuständen seines Protagonisten Schongauer, einem alten, zurückgezogen lebenden Mann, der nach dem Tod seiner Frau mit seinem Hund in Isolation lebt.

Diese Parallelen wirken mitunter zu erzwungen, besonders deutlich in der Szene, in der während eines tobenden Gewitters plötzlich eine sexuelle Begegnung zwischen Schongauer und einer deutlich jüngeren Journalistin stattfindet. Diese Symbolik, die zu stark aufgeladen wirkt, könnte man als Holzhammer-Methode bezeichnen – es fehlt an subtilen Nuancen, und das überdeutliche Ineinandergreifen von äußeren und inneren Ereignissen wirkt manchmal schlicht übertrieben.

In Bezug auf die Handlung bleibt vieles unbefriedigend: Die Motivation der Journalistin, ausgerechnet Schongauer interviewen zu wollen, bleibt nebulös, ebenso wie ihr sexuelles Interesse an ihm. Immer wieder hatte ich den Eindruck, dass es sich weniger um eine nachvollziehbare Entwicklung der Figuren handelt, sondern eher um eine Projektion von Wünschen und Vorstellungen des Autors. Die biografischen Ähnlichkeiten zwischen Kirchhoff und seinem Protagonisten sind nicht zu übersehen, was den Verdacht aufkommen lässt, dass hier Altherrenfantasien eine literarische Bühne erhalten haben.

Die zweite weibliche Figur, eine junge und attraktive Reisebloggerin, die ebenfalls in Schongauers Leben tritt, trägt weiter zu dem Eindruck bei, dass die Darstellung der Frauenfiguren im Roman stereotyp und übermäßig idealisiert ist. Die Tatsache, dass sie sich auf Anhieb mit dem griesgrämigen Schongauer versteht, wirkt ebenso unglaubwürdig wie die plötzliche Ferndiagnose von Herzproblemen durch den Ehemann der Journalistin via Telefon.

Trotz der Vielzahl an literarischen und künstlerischen Anspielungen, die den Text durchziehen, vermag auch dieser intertextuelle Reichtum den Roman nicht zu retten. Kirchhoffs Interpretation der "Versuchung des Heiligen Antonius" als ewige Bedrohung des Mannes durch das Weibliche erscheint dabei einseitig und misogyn.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Kirchhoff sprachlich zwar brilliert und eine dichte Atmosphäre zu schaffen weiß, jedoch inhaltlich nicht überzeugt.Kirchhoff hat einmal erklärt, es gehe ihm beim Schreiben „stets um eine Versöhnung von Sexualität und Sprache“. Nun, für mich ist diese Versöhnung hier leider nicht gelungen, stattdessen bleibt der Eindruck eines larmoyanten alten Mannes, der im Grunde die weibliche Psyche nicht versteht und sie daher auf klischeehafte Muster reduziert.

Bewertung vom 26.08.2024
Arctic Mirage
Kokkonen, Terhi

Arctic Mirage


ausgezeichnet

Das Romandebüt der finnischen Musikerin Terhi Kokkonen beginnt mit einem Paukenschlag: Protagonistin Karo bringt ihren Ehemann Risto um. Dies wird im Prolog knapp und praktisch emotionslos erzählt, bevor die eigentliche Geschichte einige Tage zuvor einsetzt. Aber diese Vorwegnahme des Endes nimmt der Story keineswegs die Spannung, im Gegenteil

Das Paar wurde auf der Heimfahrt vom Erholungsurlaub in Lappland in einen Unfall verwickelt und ist dadurch gezwungen, noch einige Tage in dem abgeschiedenen Ressort zu verweilen. Zunächst scheint alles in Ordnung, die beiden sind wohlsituiert und könnten sich eine kurze Verlängerung der Auszeit in jeder Hinsicht leisten. Doch bald kippt die scheinbare Idylle, die Autorin webt geschickt ein Netz aus Verdachtsmomenten und Ungereimtheiten, das mich als Leserin zunehmend verunsichert hat. Mal war ich mir sicher, dass Karo psychische Probleme hat und sich Dinge nur einbildet, dann wieder verdächtigte ich ihren Mann, sie aufs Geschickteste zu manipulieren.

Kokkonen erzeugt eine äußerst beklemmende Grundstimmung, das Set ist voller eigenartiger Figuren, die gefangen in Abhängigkeiten sind oder zumindest scheinen: Der verwitwete und depressive ältere Hotelarzt hat sich der Geschäftsführerin (und somit seiner Vorgesetzten) regelmäßig zum Schäferstündchen zur Verfügung zu stellen und nimmt dies nur noch als lästige Pflicht wahr. Als er jedoch Karos gebrochene Nase richten darf, verspürt er ob dieser (fragwürdigen) Machtausübung sexuelle Erregung. Die junge Rezeptionistin wird gezwungen, sich während der Arbeit mit einer "original samischen" Tracht zu verkostümieren und rächt sich durch offenkundig zur Schau gestelltes Desinteresse an den Wünschen der Gäste.

Mich hat die Atmosphäre des Romans immer wieder an den Film "Anatomie eines Falls" von Justine Triet erinnert - und ich kann, trotz der eiskalten Winterlandschaften, in der sie spielen - beide nur wärmstens empfehlen.

Bewertung vom 23.08.2024
Die Löwin von Jerusalem
Laurin, Ruben

Die Löwin von Jerusalem


sehr gut

"Die Löwin von Jerusalem" von Ruben Laurin ist ein Roman, der sich geschickt jeder Genre-Zuordnung entzieht und dabei eine fesselnde Lektüre bietet. Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich die Geschichte um Bathseba und König David vollkommen in ihren Bann gezogen. Laurin versteht es geschickt, Elemente aus verschiedenen literarischen Welten zu vereinen: Eine Prise Fantasie, historische Anklänge an biblische Figuren, eine packende Erzählweise voller Spannung und eine berührende Liebesgeschichte. Dieser Roman ist ein wahres Feuerwerk an Erzählkunst.

Gleich der Prolog sticht heraus und baut auf eine höchst ungewöhnliche Weise Spannung auf. Die Erzählperspektive aus Sicht eines mythischen Wesens ist nicht nur originell, sondern auch unglaublich fesselnd. Obwohl ich normalerweise kein großer Fan von Fantasy-Elementen bin, passen sie hier perfekt und tragen maßgeblich zur dichten Atmosphäre des Romans bei.

Besonders bemerkenswert finde ich Laurins Umgang mit den biblischen Figuren. Während er sich einerseits an die dort geschilderten Charaktere und Ereignisse anlehnt, nimmt er sich andererseits die Freiheit, Unbekanntes hinzuzufügen und Bekanntes abzuändern. Dies verleiht dem Werk eine erfrischende Eigenständigkeit und macht weit mehr daraus als nur eine einfache Nacherzählung einer biblischen Geschichte. Stattdessen präsentiert Laurin eine eigenständige, fantasievolle Story mit abweichendem Plot und komplexen Charakteren, die dem Leser eine völlig neue Perspektive auf altbekannte Figuren eröffnet.

Die historische Karte Israels, das Personenverzeichnis, die Zeittafel und das Glossar werten das Buch angenehm auf. Laurins Sprache ist ebenfalls ein großes Plus. Sie wirkt authentisch und trägt entscheidend dazu bei, dass man sich als Leser*in in die antike Szenerie versetzt fühlt. Nur selten empfand ich die Sprache als etwas zu vulgär, was jedoch den Gesamteindruck kaum trübt.

Ein kleiner Wermutstropfen ist die Darstellung von Bathsebas Ehemann Uriel, der leider recht eindimensional und ausschließlich negativ gezeichnet wird. Hier hätte ich mir eine etwas vielschichtigere Charakterisierung gewünscht. Aber dieser Kritikpunkt verblasst angesichts der Fülle an spannenden, tragischen und auch humorvollen Momenten, die Laurin in seinem Roman entfaltet.

Insgesamt ist "Die Löwin von Jerusalem" ein herausragender Roman, der durch seine gelungene Mischung aus Spannung, Tragik und Witz beste Unterhaltung bietet. Ruben Laurin hat mit diesem Werk eine faszinierende und "ziemlich verrückte Liebesgeschichte aus uralten Zeiten" (Zitat des Autors) geschaffen, die man so schnell nicht vergisst und die ich gerne empfehle.

Bewertung vom 23.08.2024
Mit 50 Euro um die Welt
Schacht, Christopher

Mit 50 Euro um die Welt


weniger gut

"Mit 50 Euro um die Welt" von Christopher Schacht erzählt die faszinierende Geschichte eines jungen Mannes, der sich mit nur 50 Euro in der Tasche auf eine vierjährige Weltreise begibt. Auf den ersten Blick verspricht das Buch Abenteuer, kulturelle Entdeckungen und eine beeindruckende persönliche Entwicklung. Doch trotz des großen Potenzials bleibt die Erzählung in vielerlei Hinsicht enttäuschend.

Man muss anerkennen, dass Schacht bei Beginn seiner Reise erst 19 Jahre alt war, was den jugendlichen Enthusiasmus und die Naivität erklären mag, die in seinen Schilderungen oft durchscheinen. Dennoch erwartet man, dass eine so lange und intensive Reise, gespickt mit zahlreichen Begegnungen und Erlebnissen, zu einer gewissen Reife und einem tiefgründigeren Verständnis der Welt und ihrer Kulturen führt. Leider bleibt diese Entwicklung weitgehend aus. Schacht verfällt stattdessen in oberflächliche Betrachtungen und platte Küchenpsychologie, die schnell unangenehm auffallen. Besonders fragwürdig ist etwa sein Versuch, einen Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Penisgröße koreanischer Männer und der Architektur des Landes herzustellen. Solche Aussagen zeugen nicht nur von fehlender Sensibilität, sondern auch von einem beunruhigenden Mangel an Respekt gegenüber den Kulturen, die er angeblich zu entdecken sucht.

Dieser Mangel an Respekt zieht sich durch das gesamte Buch. Überheblich und herablassend beschreibt Schacht beispielsweise, wie Inder sich drängen und es nicht schaffen, in geordneten Schlangen zu stehen. Seine Bemerkung, sie könnten dies von deutschen Kindergartenkindern lernen, wirkt arrogant und zeugt von einem erschreckenden Mangel an interkulturellem Verständnis.

Auch bedient sich Schacht leider häufig stereotypischer und rassistischer Klischees. So beschreibt er beispielsweise, wie er einen Turban und eine Sonnenbrille trug, um weniger aufzufallen, und behauptet dabei, er habe ausgesehen "wie ein Taliban". An anderer Stelle nennt er indigene Völker abwertend "Wilde" – eine Ausdrucksweise, die in der heutigen Zeit völlig inakzeptabel ist.

Der missionarische Ton, der durch Schachts Bekehrung zum Christentum während seiner Reise in das Buch Einzug hält, mag für manche störend wirken, für mich ist dies jedoch weniger problematisch als die Oberflächlichkeit seiner Erzählung. Obwohl der Autor im Nachwort betont, dass ihn die Begegnungen mit Menschen besonders berührt hätten, spiegelt sich dies kaum in seinem Bericht wider. Statt tiefgründiger Einblicke in die besuchten Länder und deren Bewohner*innen erhält der Leser vor allem eine Fülle an Details über organisatorische und bürokratische Hürden.

Insgesamt war "Mit 50 Euro um die Welt" eine enttäuschende Lektüre für mich. Wer auf der Suche nach einem bereichernden und respektvollen Reisebericht ist, wird hier leider nicht fündig. Es gibt zahlreiche bessere Bücher, die dem Genre weitaus mehr gerecht werden.

Bewertung vom 19.08.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Wenn man überhaupt etwas Kritisches zu Khanis zweitem Roman anmerken möchte, dann die Tatsache, dass er damit die selben Themen verhandelt wie bereits in seinem großartigen Debüt "Hund Wolf Schakal". Aber dies ist mehr als legitim, denn sowohl was er zu Migration, Identitätssuche oder Alltagrassismus zu sagen hat, noch wie er es diesmal zu Papier bringt, sucht seinesgleichen.

Die autobiografisch angelegte Story erzählt Reza, der mit seinen aus dem Iran geflohenen Eltern in einem Bochumer Hochhaussiedlung lebt, die von Armut und Gewalt geprägt ist und wo "Eigentumsdelikte eine Lebenseinstellung sind". Die Eltern, beide Akademiker, erstarren im Kulturschock, der Sohn fühlt sich alleingelassen, zerbricht und findet seine Einzelteile nicht und sucht seinen Weg schließlich in der Kriminalität, weiß aber, dass er nicht wirklich vorwärts kommt. Denn er trug "Schuhe mit schrägen Sohlen, in denen es immer bergauf ging und nie aufwärts."

Der Autor findet messerscharfe Bilder, die klar machen, wie fremd sich ein Land anfühlen kann, in dem zuerst die Hunde und dann die Herrchen begrüßt werden. Er zeigt auf, wie machtlos Eltern zusehen müssen, wie die Kinder auf die schiefe Bahn geraten. Penibel seziert und interpretiert er das Gefühlschaos des Heranwachsenden, der vor allem eines will: Freundschaft und Anerkennung. Und dabei so oft Ablehnung und Feindschaft begegnet.

Khani hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor, völlig ohne anklagenden Unterton. Wir sollen uns nur erkennen, das genügt.

Ich bin von dieser kraftvollen literarischen Stimme begeistert und freue mich daher sehr, dass Khani sein Alter Ego gegen Ende des Romans erklären lässt: "Ich werde immer auf Deutsch schreiben."

Bewertung vom 09.08.2024
Anna O.
Blake, Matthew

Anna O.


weniger gut

Matthew Blake, Kommunikationsberater und ehemaliger Redenschreiber für das britische Parlament, hat sich mit seinem Thriller Anna O. erstmals ins literarische Genre gewagt. Leider erweist sich dieser Ausflug als wenig gelungen.

Obwohl das Buch viele Versatzstücke eines Thrillers enthält, schafft es Blake nur selten, echte Spannung aufzubauen. Stattdessen wirkt die Geschichte überladen mit einer Vielzahl an Themen und Referenzen, die kaum mehr als oberflächlich behandelt werden. Blake versucht, durch Anspielungen auf die antike Tragödie Medea, Truman Capotes Kaltblütig, verschiedene Filme von Alfred Hitchcock und Sigmund Freuds Fallstudie über seine erste "Anna O" genannte Patientin Tiefe zu suggerieren, doch all dies trägt wenig zur eigentlichen Handlung bei.

Auch die Charaktere des Romans hinterlassen einen enttäuschenden Eindruck bei mir. Viele Figuren wirken unglaubwürdig, ihre Handlungen sind oft konstruiert und von arg großen Zufällen geprägt, die eher irritieren als die Geschichte voranzutreiben. Blake greift auf billige Ablenkungsmanöver zurück, um Spannung zu erzeugen, was jedoch selten gelingt. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass er versucht, mangelnde narrative Substanz durch unnötige Komplexität zu kaschieren.

Das Ergebnis ist eine langatmige, verwirrende Geschichte, die kaum weiter entfernt von einem guten Thriller sein könnte. Blake mag als Redenschreiber überzeugt haben, aber als Romanautor hat er mit "Anna O." bisher nicht bewiesen, dass er in diesem Metier ebenso talentiert ist. Fazit: Ein überfrachteter, spannungsarmer Roman, der trotz aller Bemühungen Blakes kaum überzeugt.

Bewertung vom 31.07.2024
Sie kam aus Mariupol
Wodin, Natascha

Sie kam aus Mariupol


weniger gut

"Mein Leben lang hatte ich mich benachteiligt gefühlt, weil ich keine Familie hatte, aber das war nur deshalb so gewesen, weil ich nicht gewusst hatte, dass ich ein glücklicher Mensch war ohne diesen ganzen Ballast." So lautet eine Selbsterkenntnis der Autorin in ihrem neuesten Werk.

Natascha Wodin, 1945 in Fürth als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter geboren, erzählt in „Sie kam aus Mariupol“ die bewegende und tragische Geschichte ihrer Familie. Das Buch ist eine Mischung aus autobiografischem Roman und detaillierter genealogischer Recherche. Trotz des bedeutsamen Themas hinterlässt die Lektüre jedoch einen insgesamt enttäuschenden Eindruck, auch für die Leserschaft ist reichlich Ballast zwischen den beiden Buchdeckeln enthalten.

Der erste Teil des Buches widmet sich minutiös der Ahnenforschung der Autorin. Diese Abschnitte sind oft langweilig und verwirrend, insbesondere aufgrund der zahlreichen russischen Namen. Ein Stammbaum hätte hier wesentlich zur Orientierung beigetragen und geholfen, die komplexen familiären Verbindungen besser zu verstehen. Die detaillierte, immer wieder sprunghaft erzählte Familiengeschichte bremst den Lesefluss und erschwert das Eintauchen in die Erzählung.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion, einschließlich der Revolution, dem Ende des Zarenreichs, Enteignungen, Zwangsarbeit und Umsiedlungen. Auch hier bleibt die Erzählung oft schwer verständlich, insbesondere ohne umfangreiches historisches Hintergrundwissen. Die Vielzahl an Ereignissen und Personen tragen zur Komplexität bei und machen es schwierig, der Geschichte gut folgen zu können.

Im dritten Teil wird die Story persönlicher und fokussiert sich auf Wodins Kindheit und Jugend in Deutschland sowie auf den frühen Selbstmord ihrer Mutter, als die Autorin erst elf Jahre alt war. Diese Passagen sind emotionaler und bieten einen tieferen Einblick in die persönlichen Tragödien der Familie. Doch auch hier bleibt die Lektüre herausfordernd. Die Autorin beschreibt detailliert Familienfotos, die nur teilweise und oft an völlig anderer Stelle im Text abgebildet sind, was es schwer macht, sich zurecht zu finden. Zudem sind viele Passagen von Vermutungen geprägt und in einem langatmigen, anklagenden Ton gehalten, was das Lesen für mich zusätzlich erschwert hat.

Die Geschichte von Natascha Wodins Familie ist zweifellos erschütternd und bedauernswert. Sie wurde sowohl durch die Weltpolitik als auch durch persönliche Umstände schwer gezeichnet. Doch die literarische Umsetzung dieses harten Schicksals in eine gut lesbare und fesselnde Erzählung ist nur teilweise gelungen. Das Buch fordert von Leserinnen und Lesern viel Geduld und Ausdauer, und trotz der bedeutenden Thematik bleibt der Gesamteindruck zwiespältig.

Fazit: „Sie kam aus Mariupol“ bietet einen wichtigen und bewegenden Einblick in die Geschichte einer Familie, die durch die politischen und sozialen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts tief geprägt wurde. Leider leidet die Lektüre unter einer übermäßigen Detailverliebtheit und einer komplexen Erzählweise, die es schwierig machen, sich in die Geschichte hineinzufinden. Die literarische Umsetzung, dieses harte Los in gute Literatur zu fassen ist nur teils gelungen.

Bewertung vom 30.07.2024
Das Sterben in Wychwood
Christie, Agatha

Das Sterben in Wychwood


ausgezeichnet

"Das Sterben in Wychwood" ist mein erster Agatha-Christi-Krimi ohne Hercule Poirot als Ermittler. Doch auch ohne den listigen belgischen Privatdetektiv stellt die Krimi-Ikone ihre meisterhafte Erzählkunst unter Beweis. Die Story folgt Luke Fitzwilliam, einem ehemaligen Polizeibeamten in den britischen Kronkolonien Südostasiens, dessen Ermittlungsfähigkeiten vergleichsweise bescheiden sind. Doch gerade diese Eigenschaft verleiht dem Plot eine besondere Würze und macht umso neugieriger auf die Auflösung des mysteriösen Falls.

Die kleine englische Gemeinde Wychwood ist voller eigenwilliger und schrulliger Charaktere, die Christie mit ihrem unvergleichlichen Talent zum Leben erweckt. Jeder Bewohner und jede Bewohnerin hat seine eigene Geschichte und Geheimnisse, die geschickt in die Handlung eingeflochten werden und viele gleichermaßen verdächtig erscheinen lassen. Die Spannung steigt von Kapitel zu Kapitel, und Christie versteht es meisterhaft, ihre Leser*innen immer wieder auf falsche Fährten zu locken. Die unerwarteten Wendungen und die sorgfältig geplante Auflösung sorgen dafür, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann. Einzig ein beschriebenes Techtel-Mechtel bahnt sich für meine Begriffe doch etwas abrupt an - Christies Vorstellung von Romantik ist definitiv nicht meine.

Davon abgesehen ist die Geschichte höchst unterhaltsam und für alle zu empfehlen die einen gut durchdachten und unterhaltsamen klassischen Whodunnit schätzen.

Bewertung vom 24.07.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

Wie bereits Wahls Debütroman "22 Bahnen" habe ich auch dessen nun vorliegende Fortsetzung förmlich verschlungen. Diesmal steht nicht Tilda, sondern deren jüngere Schwester Ida im Mittelpunkt der Erzählung. Auch ihre Seele wurde durch die alkoholsüchtige Mutter tief verletzt, auch sie wird zwischen Wut und Schuldgefühlen schier zerrissen. Wahls große Stärke sind ihre Figuren. Ob vom Schicksal gebeutelt, in Extremsituationen gefordert oder - wenn es denn diesen überhaupt gibt - im banalen Alltag, jede Handlung, jedes geschilderte Gefühl und jeder Dialog wirkt authentisch und 100-prozentig glaubwürdig. Die Sprache ist präzise und messerscharf, sie geht direkt ins Herz, ohne sich in Gefühlsduselei zu verlieren. Schön, dass die Autorin bereits an ihrem dritten Roman arbeitet!