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Circlestonesbooks.blog
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Lesebegeisterte Literaturbloggerin, https://www.circlestonesbooks.blog/

Bewertungen

Insgesamt 411 Bewertungen
Bewertung vom 27.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


sehr gut

Eine moderne Sinnsuche

„In einem Augenblick kehrte ich allem den Rücken und machte mich mit leichtem Gepäck auf in eine unvorhersehbare Zukunft. Was würde ich dort draußen vorfinden?“ (Zitat Seite 183)

Inhalt
Paolo ist mit Giulio seit der gemeinsamen Zeit ihres Physikstudiums befreundet. Giulio arbeitet als Physiker an einem Forschungsauftrag in Paris, Paolo wurde Schriftsteller, Journalist, unterrichtet Wissenschaftsjournalismus und lebt in Rom. Im November 2015 ist er Anfang vierzig und nimmt an der Klimakonferenz in Paris teil, wohnt dort bei seinem Freund Giulio, lernt den Klima- und Wolkenforscher Dr. Novelli kennen. Für Paolo ist dies der Beginn einer Rastlosigkeit, eine Zeit vieler Reisen, er beobachtet die Beziehungen in seinem Umfeld, doch entzieht sich seiner eigenen seit jenem Tag im November 2015, wo ihm nach drei Jahren intensiver, aber erfolgloser Versuche klar wird, dass sein Wunsch nach einem gemeinsamen Kind mit seiner Frau Lorenza unerfüllt bleiben wird. Der Klimawandel, die Veränderung der Ökosysteme, der internationale Terrorismus, es sind die großen Zukunftsthemen, die Paolo beschäftigen, doch für ihn endet in dieser Zeit alles bei der Frage, wie seine persönliche Zukunft in dieser Welt aussehen soll.

Themen und Genre
In diesem Roman geht es um die in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft brisanten Themen unserer Tage, aber auch um Beziehungen und deren Scheitern, Elternschaft, Glaube, Liebe, Freundschaft.

Charaktere
Paolo ist mit seinen Konflikten und Problemen die Hauptfigur, durch seine Freundschaften, in deren Leben und Probleme er Einblick erhält, erweitert sich auch der Kreis der Kernfiguren.

Erzählform und Sprache
Paolo schildert als Ich-Erzähler sein Leben in den Jahren zwischen 2015 und 2022, seine Freundschaften, seine Reisen. Er ist ein genauer Beobachter der Paare in seinem Umfeld und ihrer Beziehungen und ihres Lebens, er verbindet diese Erfahrungen mit seinen weiter zurückliegenden Erinnerungen, seinen Gedanken über die aktuellen Tagesthemen, über die Wissenschaft, aber auch über philosophische Themen wie Glaube, Leben und Tod, Freundschaft. Seine persönliche Suche und Fragestellung nach seinen eigenem Platz im Leben, sein Tasmanien als metaphorisches Symbol für einen möglichst weit von allen Katastrophen entfernten Sehnsuchts- und Rückzugsort zieht sich durch den gesamten Roman. Die Handlung fügt sich aus vielen einzelnen Episoden zusammen.

Fazit
Dieser Roman über die unterschiedlichen Aspekte der Lebenssituation einer Erwachsenengeneration in der Mitte ihres Lebens ist eine komplexe, facettenreiche Suche mit vielen Fragen, eine Bestandsaufnahme mit einer Auswahl an möglichen Antworten, die jedoch vage bleiben.

Bewertung vom 18.08.2023
Der Hund, der nur Englisch sprach
Reichlin, Linus

Der Hund, der nur Englisch sprach


ausgezeichnet

Herrlich schräg und unterhaltsam

„Klar, der Hund war dabei, aber jetzt ist er erstens weg. Und selbst wenn er hier wäre, würde er eisern schweigen. Ja, wenn Hunde sich etwas in den Kopf setzen, die können stur sein, denkt Felix.“ (Zitat Pos. 74)

Inhalt
Es ist eine von diesen heißen Tropennächten in Deutschland, genau genommen die erste im Jahr 2022, als alles damit beginnt, dass der vierundsechzig Jahre alte Felix Sell aus Nostalgiegründen zwei vierundvierzig Jahre alte LSD-Pillen ausprobiert. Damit startet ein Abenteuer, das rasch zu einer Reihe von unvorhersehbaren Ereignissen führt, die Felix völlig überfordern und zu überrollen drohen, wäre da nicht der Hund, der ihm mit Rat und Tat, vor allem mit den Ideen dazu, zur Seite steht. Hobo, ein kleiner Jack-Russell Rüde, der nur eines will, dass Felix ihn vor seinen Entführern in Sicherheit und so rasch als möglich zurück in seine Heimat, nach Naples, Florida, bringt.

Thema und Genre
Dieser Roman ist eine moderne Abenteuergeschichte, philosophisch, menschlich, sehr komisch und manchmal sehr surreal, oder doch real?

Charaktere
Felix Sell ist ein geschiedener Landschaftsarchitekt in Pension, und lebt allein ein pragmatisches, ruhiges Leben. Anschaffungen berechnet er auf Grund seines Alters mit einem Preis-Leistung-Lebenserwartungsverhältnis. Er mag Katzen, doch diesen Hundeaugen kann er sich auf die Dauer nicht entziehen. Hobo liebt Leckerli und jagt begeistert Stöckchen nach, er ist ein ganz normaler Hund, mit einer Ausnahme: er spricht Englisch, genau genommen amerikanisches Englisch, und dies wesentlich besser als Felix.

Erzählform und Sprache
Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, an den ein Handlungsablauf anschließt, der innerhalb eines knappen Zeitrahmens von wenigen Wochen stattfindet und zu der Situation im Prolog führt. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte, deren Erzähler manchmal ins Auktoriale wechselt, steht Felix, da neben den Action-Elementen der Handlung auch seine Gedanken und inneren Monologe eine wichtige Rolle spielen. Denn natürlich beschäftigen Felix die Zweifel, ist der Hund nun real, ist eine andere logische Erklärung möglich, als die, dass es sich um eine Halluzination als Folge der beiden Pillen handelt, im letzteren Fall ein Zustand, der bald vorbeigehen sollte. Doch bis er Klarheit hat, versteckt er sich mit Hobo vor dessen Entführern, nur um sicherzugehen. Die Sprache erhöht das Lesevergnügen, unterhält zusätzlich mit den kleinen Missverständnissen durch den amerikanischen Slang des frechen, temperamentvollen Jack Russell Terriers, der wohl nicht nur für mich die eigentliche Hauptfigur in dieser Geschichte ist.

Fazit
Der knappe Zeitrahmen, Flucht vor Verfolgern, Konflikte mit der Polizei, sorgen für Spannung, die Geschichte selbst mit vielen skurrilen Szenen für lautes Lachen, der kleine, freche Hund für den Wohlfühlfaktor. Es ist ein schmaler Grad zwischen möglicher, logisch argumentierbarer Realität und phantasievoller Einbildung und dem Autor ist genau dieser geniale Mittelweg gelungen.

Bewertung vom 18.08.2023
Mama Odessa
Biller, Maxim

Mama Odessa


ausgezeichnet

Ein beeindruckendes Leseerlebnis

„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

Inhalt
1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Thema und Genre
Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

Charaktere
Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

Erzählform und Sprache
Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

Fazit
Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

Bewertung vom 18.08.2023
Jenny Erpenbeck über Christine Lavant / Bücher meines Lebens Bd.5
Erpenbeck, Jenny

Jenny Erpenbeck über Christine Lavant / Bücher meines Lebens Bd.5


ausgezeichnet

Interessant und beeindruckend

„Das eigene Leben bewahren, ohne den eigenen Willen aufzugeben, Kompromisse eingehen, die einen nicht die Seele kosten – wie das gelingen kann, und auch, wie manche ihrer Figuren tragisch daran scheitern, hat Christine Lavant in ihren Texten beschrieben.“ (Zitat Pos. 817)

Thema und Inhalt
Dieses Buch ist der fünfte Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Es geht um Bücher, welche die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck besonders beeindruckt und geprägt haben. Erpenbeck ist dreißig Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant liest. „Dreißig Jahre alt musste ich werden, bevor ich zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant gelesen habe. Bevor sich mir diese fremde Welt aufgetan hat, die ich nicht kannte und dich im ersten Moment wiedererkannt habe.“ (Zitat Pos. 284) Seither folgt sie den Spuren und dem Leben dieser ungewöhnlichen Frau, der einfachen Strickerin und Schriftstellerin und vertieft die biografischen Geschichten mit den Themen Bücher, Lyrik, das Leben als Schriftstellerin.

Umsetzung
Nach einem kurzen Vorwort von Volker Weidermann beginnt Jenny Erpenbeck ihr Essay mit der Frage, wann der richtige Moment sei, um ein Gedicht zu lesen, gibt sich selbst in Gedanken verschiedene Antworten, die ebenfalls Fragen bleiben. Im zweiten Kapitel schreibt sie, was Christine Lavant in ihren biografischen Notizen über das Lesen von Gedichten geschrieben hat und tritt so mit dieser österreichischen Lyrikerin aus Kärnten in einen inneren Dialog. Diesen führt sie in allen weiteren Kapiteln abwechselnd fort, Jenny Erpenbeck berichtet über ihre Erlebnisse während der fünf Jahre, die sie in Graz gelebt hat und beginnt danach mit der Kindheit von Christine Lavant, mit bürgerlichem Namen Christine Habernig, geb. Thonhauser. Erpenbeck folgt einerseits dem von Selbstzweifeln geprägten Leben von Christine Lavant, sucht in den vielen vorhandenen Aufzeichnungen, besonders Briefen, in den Archiven und Museen nach dem Menschen und der Künstlerin. Besondere Aussagen ergänzt Erpenbeck mit entsprechenden Gedichten von Christine Lavant.
Im Anhang finden sich die Lebensdaten von Christine Lavant und die Erklärungen zu den durchnummerierten Fußnoten.

Fazit
Dieses Buch berichtet über das Leben der österreichischen Schriftstellerin Christine Lavant, deren literarisches Werk in der breiten Öffentlichkeit nicht allzu bekannt ist, und in deren Würdigung seit 2016 ein eigener Literaturpreis, der Christine Lavant Preis, verliehen wird.

Bewertung vom 16.08.2023
Die Bücherjägerin
Beer, Elisabeth

Die Bücherjägerin


ausgezeichnet

Spannendes Lesevergnügen

„Die Sache mit alten Landkarten ist, dass sie einen in die Irre führen. Die Sache mit der Kartografie insgesamt ist, dass sie die Dinge in einem Maßstab darstellt, der natürlich nicht der Realität entspricht.“ (Zitat Pos. 29)

Inhalt
Sarah ist beinahe zehn Jahre alt, ihre Schwester Milena sieben, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen. Sie wachsen bei Amalia von Richtershofen, der Schwester ihrer Mutter, in einer Villa bei Köln auf, mit einem Garten, groß wie ein Park. Tante Amalia ist eine Bücherjägerin und Kartensammlerin und Sarah teilt ihre Liebe zu Büchern. Heute ist Sarah ebenfalls eine Bücherjägerin, Kartensammlerin und Restauratorin von alten Büchern und Dokumenten. Seit dem Tod von Tante Amalia vor sechs Monaten lebt sie zurückgezogen allein in der Villa, umgeben von Büchern. Bis eines Tages nicht der Postbote an der Tür klingelt, sondern Benjamin Ballantyne, Wissenschaftler und Bibliothekar der British Library in London. Kurz vor ihrem Tod hatte Amalia die Britische Bibliothek kontaktiert, es ging um das seit Jahrhunderten verlorene erste Segment der Tabula Peutingeriana. Ben kann Sarah überreden, ihm bei der Suche zu helfen. Der Weg führt sie zu einem Weingut in der Champagne, nach London, und zu einem Landsitz in Essex.

Thema und Genre
In diesem Roman geht es um alte Bücher und besonders um die Suche nach dem ersten Segment der insgesamt zwölf Segmente umfassenden mittelalterlichen Kopie einer ursprünglich spätrömischen Straßenkarte, um Verlust, Trauer, aber auch um die vielen Facetten und Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen.

Charaktere
In der Familie galt Amalia als schwierig und exzentrisch, doch nun ist sie Mutter und Familie für ihre beiden Nichten. Ihr Satz „Das kriegen wir schon hin“ bleibt in all den Jahren eine sichere Konstante zwischen Amalia, Sarah und Milena. Nicht erst seit dem Verlust ihrer Tante Amalia zieht sich Sarah in die magische Welt der Bücher zurück, das tat sie schon immer, wenn ihr das reale Leben, die Menschen und die Umgebung zu laut wurden. Als sie auf den Engländer Ben trifft, der Deutsch spricht, als hätte er die Sprache mit Goethe und Schiller gelernt, merkt sie rasch, dass er sie so respektiert, wie sie ist.

Erzählform und Sprache
Sarah erzählt die Geschichte dieser Schatzsuche und gleichzeitig auch die Geschichte ihres bisherigen Lebens, daher ist der Roman in der Ich-Form geschrieben. Die Recherchen und die Reise auf den Spuren von diesem besonderen historischen Artefakt werden chronologisch geschildert. „Eine Karte also voller Abenteuer und Geschichten, deren verlorener erster Teil definitiv einige Umstände und eine plötzliche Reise wert ist.“ (Zitat Pos. 710). Ergänzt werden die aktuellen Ereignisse durch viele Rückblicke in Form von Sarahs Erinnerungen an prägende Erlebnisse ihrer Jugend, und vor allem an ihre Tante Amalia. Als sie den wenigen, kryptischen Notizen von Amalia folgen, tauchen sie auch in deren Vergangenheit ein. Die Sprache ist einfühlsam, humorvoll und angenehm zu lesen.

Fazit
Eine interessante, spannende Suche nach einem wertvollen alten Dokument, dazu sympathische Charaktere, dies ergibt in Summe eine rundum gelungene Geschichte, Lesevergnügen garantiert.

Bewertung vom 15.08.2023
Bin das noch ich
Moster, Stefan

Bin das noch ich


ausgezeichnet

Ein leiser, intensiver Roman

„Wenn die Noten verstummen und nicht einmal mehr Bachs notierte Freiheit der Artikulation hilft, den Ton zu treffen, weil es keinen Ton mehr gibt. Was, wenn man keinen Bach mehr spielen kann? Und auch nichts sonst.“ (Zitat Seite 31)

Inhalt
Simon Abrameit ist Geiger, Musik ist sein Leben. Er vermutet schon länger, dass etwas mit zwei Fingern seiner linken Hand nicht stimmt. Im Rahmen eines Sommerfestivals spielt er ein Solokonzert, Bach und Bartók, und genau hier passiert es endgültig, er muss den Auftritt abbrechen. Er braucht Zeit zum Nachdenken, wie es weitergehen soll. Das einfache Ferienhaus seiner Musikerkollegin Mai auf einer kleinen, abgelegenen Insel wird sein Rückzugsort. Nur er, die Natur der endlos hellen Mittsommertage, die Seevögel und hier besonders ein brütendes Möwenpaar in Hausnähe, und dazu die notwendigen Tätigkeiten des Alltags. Zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruch schwebend, macht er sich Gedanken über die vielen Facetten der Musik, über sein Leben als Musiker, beobachtet täglich gespannt den Ablauf der Natur und versucht dabei, sich selbst nicht zu verlieren.

Thema und Genre
In diesem Roman geht es um die Musik und die damit eng verbundenen Themen, um die Vielseitigkeit der Natur auf einer einsamen Insel im finnischen Mittsommer und um die Suche nach einem Neubeginn, wenn plötzlich nichts mehr so ist, wie es war.

Charaktere
Simons Leben ist die Musik und seine Geige, die ihn viele Jahre lang durch sein Musikerleben geführt hat, obwohl er nie der herausragende, international berühmte Konzertsolist war. Er ignoriert die Probleme mit seinen Fingern, bis es nicht mehr möglich ist und er gezwungen ist, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.

Erzählstil und Sprache
Im Mittelpunkt dieses Romans steht Simon, der sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen kann und durch äußere Umstände gezwungen ist, genau darüber nachzudenken. Er steht im Mittelpunkt einer personalen Erzählform, die ihm in die Einsamkeit der kleinen Schäreninsel folgt, auf der es nur das Ferienhäuschen gibt und die Natur – das Meer, die Bäume, die vielen Vogelarten, das Rauschen der Wellen an sonnigen Tagen und bei stürmischem, wildem Seegang, die ungewohnte Helligkeit der Mittsommernächte. Es sind diese Schilderungen, poetisch, leise und doch bildintensiv, die zusammen mit der Hauptfigur und ihren Konflikten den beeindruckenden Sog dieses Romans ausmachen. Die Spannung der Sprache entsteht aus dem Wechsel in der Erzählformen, personal, doch unterbrochen durch Simon im gedanklichen Gespräch mit Darja, einer berühmten Geigerin, deren Karriere er von Jugend an mitverfolgen konnte, und Simon als Ich-Erzähler, der seine Sicht einer entscheidenden Situation der personalen Schilderung des Erzählers gegenüberstellt. Spannung erhält die Handlung selbst besonders durch die Frage, wie Simon mit seiner Situation umgeh en wird.

Fazit
Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an „zu Hause“ fühlt, so ging es mir mit diesem Roman. Mein Interesse an Simon mit seinen einfühlsam und präzise dargestellten Problemen und Fragen war sofort geweckt, die Naturschilderungen in ihrer Vielfalt sind beeindruckend und packend, dazu noch interessantes, für mich neues, Musikwissen, besonders über Bela Bartók, auch Bach hatte ich bisher nicht mit Violinkonzerten verbunden. Ein leiser und gleichzeitig starker Roman, ein in allen Bereichen positives, überzeugendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 24.07.2023
Maskerade
Flesch-Brunningen, Hans

Maskerade


ausgezeichnet

Authentisch und facettenreich

„Auf dem Heimweg war ich immer noch in nachdenklicher Stimmung. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich stand. Meine Zeit als aktiver Kämpfer war gewiss abgelaufen.“ (Zitat Seite 79)

Inhalt
Seit etwa zwei Jahren leben sie schon als Ausländer in Rom, der Wiener Schriftsteller und Journalist Martin Boldt und seine lebenslustige Frau Rosika aus Ungarn, die Archäologie studiert. Bei einem Vortrag am deutschen archäologischen Institut in Rom lernen sie den deutschen Archäologen Gerhard Hesmert kennen. Dieser plant eine Griechenlandreise, während das Ehepaar Boldt mit der Bahn durch Umbrien bis nach Siena zum Palio reisen möchte. Überraschend taucht auch Hesmert kurz vor Abfahrt des Zuges auf, er will Freunde in Siena besuchen. „Ich habe meine Meinung geändert. Ich fahre mit Ihnen. Ich habe eine Einladung von Gatti für uns alle.“ (Zitat Seite 102)

Thema und Genre
Dieser Exilroman ist ursprünglich in englischer Sprache erschienen, 1937 unter dem Titel „The Blond Spider“ und 1939 in den USA unter dem Titel „Masquerade“. Themen sind Politik, Widerstand, Spionage, Liebe und alle damit verbundenen Gefühle, sowie Die Vergnügungen des italienischen Sommers.

Charaktere
Martin ist Schriftsteller und schreibt an einem Buch, während Rosika vor allem das Leben genießen will, trotz der geringen finanziellen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen. Martin Boldt und Gerhard Hesmert trennen politisch Welten, denn Hesmert ist ein überzeugter Nationalsozialist, während der Kommunist Martin Boldt in Italien seine politisch aktive Zeit als „Kilian“ geheim halten will.

Erzählform und Sprache
Der Schriftsteller und Journalist Martin Boldt schildert die Ereignisse selbst. Wir erhalten Einblick in die Gedanken, Gefühle und Ängste des Ich-Erzählers, erfahren seine Geheimnisse, seine Eindrücke, die er während dieser Zeit in Italien sammelt und kennen seine Eifersucht, da er nicht weiß, wie weit der Flirt zwischen seiner Frau und Hesmert tatsächlich geht. Seine Sichtweise ist durch diese personale Erzählform subjektiv und eingeschränkt, doch durch die vielen Dialoge und Gespräche aller Figuren ergibt sich eine Fülle von zusätzlichen Informationen. Die Geschichte wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Boldts Eindrücke der italienischen Landschaft und Städte, der Menschen und der vielen vergnügten Stunden. Man geht aus und es fließen reichlich Wein und Wermut. Er scheint jedoch teilweise ein unzuverlässiger Erzähler zu sein, denn manche Begegnungen und Ereignisse gleiten ins Surreale ab, was ist real, was Einbildung?

Fazit
Dieser erstmals 1937 erschienene Roman mit autobiografischen Elementen ist ein interessantes, vielseitiges und authentisches Bild dieser politisch brisanten Zeit und gleichzeitig eine eindrückliche Studie menschlicher Verhaltensweisen.

Bewertung vom 17.07.2023
Der Anfang vom Ende
Aldanow, Mark

Der Anfang vom Ende


ausgezeichnet

Interessant, entdeckenswert, lesenswert

„Zu allen Zeiten haben die moralischen und politischen Bankrotteure verkündet, dass es nicht ihre Schuld war, wenn ihr Experiment schiefging, dass ihnen die Zukunft gehört, dass die Nachwelt ihnen recht geben, das die Geschichte ihr Urteil noch sprechen wird.“ (Zitat Seite 313)

Inhalt
Drei Herren im fortgeschrittenen Alter reisen gemeinsam in einem internationalen Botschaftswaggon mit der Bahn von Moskau nach Paris. Allerdings liegen unterschiedliche Aufgaben vor ihnen. Der Ökonom und Diplomat Kangarow-Moskowski blickt auf eine Parteikarriere in diversen politischen Konstellationen zurück. Nun wurde er endlich in den diplomatischen Dienst berufen und tritt in einer kleinen Monarchie den Posten als bevollmächtigter Gesandter an. Der ebenfalls mit einem Diplomatenpass mitreisende Agent, Spion, Revolutionär Wislicenus kann den Botschafter nicht ausstehen, doch in den kommenden Jahren treffen sie bei gesellschaftlichen Gelegenheiten immer wieder aufeinander. Was die beiden Herren mit dem dritten Mitreisenden gemeinsam haben, dem erfahrenen Militärexperten Konstantin Alexandrowitsch Tamarin, der dienstlich nach Paris reist, ist das Wissen, dass ein neuer Krieg knapp bevorsteht, dazu die innere Sorge, dass die stalinistischen Säuberungen in der Heimat auch sie treffen könnten und eine heimliche oder weniger heimliche Schwärmerei für die junge Botschaftssekretärin Nadeschda Iwanowna. Der bekannte, früher sehr erfolgreiche französische Schriftsteller Louis Etienne Vermandois steht ideologisch dem Kommunismus nahe, brilliert bei den Abendgesellschaften als literarisch gebildeter, sprachgewandter Redner und hält seine Zuhörer generell für dumm und ungebildet. Er schreibt gerade an einem geplanten Roman über das antike Griechenland, während sein Sekretär Alvera heimlich eine Waffe kauft und den perfekt nach Dostojewski inszenierten Mord plant. Sie alle drehen sich in diesen prägenden Jahren wie ein Karussell im Kreis. Sich ihren persönlichen Zweifeln an früheren Überzeugungen und ihrem Platz in der aktuellen politischen Lage stellend, klammern sie sich fest, hoffend, nicht zu stürzen.

Thema und Genre
Dieser Roman ist ein eindrückliches, vielschichtiges Zeitbild der späten 1930er Jahre, ein sozialkritischer, politischer Gesellschaftsroman mit überlegt und gekonnt gewählten Figuren, die nachvollziehbar für die jeweilige Meinung und das entsprechende Verhalten stehen und die Darstellung einer Vielfalt von essentiellen Themen ermöglichen. Es geht besonders um die Darstellung der unsicheren politischen Situation dieser Jahre, Russland unter Stalins Diktatur, Deutschland unter dem Führer Adolf Hitler und seinen Nationalsozialisten, Spanien im Bürgerkrieg. Auch die Literatur ist ein wichtiges Thema.

Charaktere
Es sind Figuren zwischen Hoffnung und Resignation, in ihren Ansichten und Bewertung des eigenen Verhaltens im großen weltpolitischen Zusammenhang rückblickend zerrissen und zweifelnd. „Wieder überkamen ihn die alten, inzwischen fast schon vertrauten schwermütigen Gedanken, dass alles umsonst gewesen war, dass das ganze Leben ein Irrtum war, dass von den früheren Überzeugungen fast nichts mehr übrig war, bei niemandem.“ (Zitat Seite 312)

Erzählform und Sprache
Ort der Handlung ist überwiegend die Stadt Paris in den späten 1930er Jahren. Die Handlung als Ganzes wird fortlaufend geschildert, wobei auch Zeiträume ereignislos übersprungen werden, dies aber für den gesamten Figurenkreis. Doch obwohl die Ereignisse im Leben der einzelnen Protagonisten chronologisch erzählt werden, besteht dieser Roman aus aneinander gereihten Episoden, Teilchen, die sich nicht unbedingt zusammenzufügen, sondern die Zerrissenheit dieser Jahre zeigen. Sie bleiben es Bruchstücke, die dennoch einem gemeinsamen Spannungsbogen folgen. Die Geschichte um Alvera, dem jungen Sekretär des Schriftstellers Vermandois, und den von ihm geplanten, perfekten, skrupellosen Mord nach literarischem Vorbild, wechselt zeitlich mit den andren Handlungssträngen ab, ist jedoch eine eigenständige, in sich abgeschlossene Erzählung.

Fazit
Es sind die langen inneren Monologe der einzelnen Figuren, ihre unterschiedlichen Bewertungen der politischen Situation, aber auch die intensive Hinterfragung des eigenen Lebens, sowie die literarischen und philosophischen Aussagen, die diesen Roman so interessant, spannend und lesenswert machen. Denn hier handelt es sich um ein Zeit- und Gesellschaftsbild direkt aus den 1930er Jahren, mit authentischen Beobachtungen und Aussagen, und nicht um den Bericht von heutigen Historikern oder Politwissenschaftlern. Was Mark Aldanow damals nicht ahnen konnte ist, wie sehr sich alles gerade jetzt, etwa neunzig Jahre später, wiederholt.

Bewertung vom 02.07.2023
Mann vom Meer
Weidermann, Volker

Mann vom Meer


ausgezeichnet

Ein poetisches, literarisches Sachbuch

„Die Größe, die Bedeutung und die lang währende Kraft und Wirkungsmacht von Thomas Manns Werk besteht darin, dass er einerseits schonungslos und radikal immer wieder sich selbst preisgab. Und – noch wichtiger – dass dieses Selbst auf, ja, magische Weise mit seiner Zeit, mit den Menschen seiner Zeit, der Politik, der Gesellschaft, den Ängsten, den Hoffnungen der Gegenwart verbunden war.“ (Zitat Seite 141)

Thema und Inhalt
Dieses Buch ist eine ungewöhnliche, sehr gut gelungene Mischung. Ein narratives, kreatives Sachbuch, welches die Geschichte des Lebens von Thomas Mann neu erzählt, ausgehend von seiner engen, sehnsuchtsvollen Bindung und Liebe zum Meer, welche sich durch sein Leben und seine Werke zieht.

Umsetzung
Ihre frühen Kindheitsjahre verbrachte die Mutter von Thomas Mann in Brasilien, in einem Haus direkt am Meer. Für Thomas Mann, der in Lübeck aufwächst, wird das Meer zum Sehnsuchtsort, einerseits Begriff von endloser Weite und Freiheit, andererseits Sinnbild für einen geheimnisvollen Sog in die ebenfalls endlose Tiefe.
In vielen Textbeispielen aus Thomas Manns Werken folgt Volker Weidermann dem Menschen Thomas Mann, der die Vorbilder für seine Romanfiguren vor allem in sich selbst findet, aber auch in den Menschen in seinem Umfeld, beginnend mit dem großen Roman seiner Familie, den Buddenbrooks. „Er war ein Seelenkenner, nicht nur seiner selbst. Sondern auch ein Seelenkenner der Welt, die ihn umgab.“ (Zitat Seite 141)
„Mann vom Meer“ ist keine verklärte oder verklärende Biografie des berühmten deutschen Schriftstellers und Nobelpreisträgers, sondern es zeigt einen lebenslang mit seinen Gefühlen ringenden Menschen, der sich selbst und sein Leben in seinen Romanen schonungslos offenlegt, den Ehemann und Familienvater, an dessen Seite es niemand leicht hat, der seine Frau Katia liebt, sich aber auch immer wieder in junge Männer verliebt. Volker Weidermann schildert offen, aber nicht wertend, die sich mit den Jahren und Erfahrungen stark verändernden politischen Überzeugungen von Thomas Mann, vom patriotischen Optimisten zum überzeugten Demokraten. Im Nachwort geht es um Thomas Manns Tochter Elisabeth Mann Borgese, eine beeindruckende, selbstbewusste Frau, eine Wissenschaftlerin mit Ansichten, Ideen und Anliegen, die ihrer Zeit weit voraus waren und bis heute zeitlos aktuell sind. Mit einer ausführlichen Bibliographie schließt das Buch.

Fazit
Diese Geschichte vom Mann vom Meer birgt eine Fülle an neuem oder ergänzendem Wissen, nicht nur für interessierte Lesende, die Thomas Mann bisher vielleicht von der Schullektüre her kennen, sondern auch für Menschen, die sich schon lange und intensiv mit Thomas Mann und seinem Werk beschäftigt haben. Die Sprache sorgt für Lesevergnügen und das Buch selbst schlägt auch nach der Lektüre Wellen, die einen langen, stetigen Sog entwickeln und dazu anregen, die Romane von Thomas Mann nun wieder, oder aber auch zum ersten Mal, zu lesen.

Bewertung vom 26.06.2023
Über die Schwalbe
Moss, Stephen

Über die Schwalbe


ausgezeichnet

Die unglaubliche Reise eines faszinierenden Zugvogels

„Nicht jeder verknüpft den Wechsel der Jahreszeiten mit der Schwalbe, doch ich weiß, jene nervöse Vorfreude, die mich alljährlich erfasst, erfüllt auch Millionen andere Menschen.“ (Zitat Seite 211)

Inhalt
Der englische Naturforscher und Autor Stephen Moss folgt den Schwalben, in diesem Fall der Hirundo Rustica, der Rauchschwalbe, durch das Jahr. Der englische Originaltitel „The Swallow. A Biography“ drückt dies wesentlich besser aus, als der deutschsprachige Titel. Seine eigenen Beobachtungen und sein Fachwissen, er folgt der Reise der Schwalben bis nach Südafrika, ergänzt er mit Auszügen aus wissenschaftlichen Fachartikeln und literarischen Texten aus allen Epochen, von Aristoteles bis zu modernen Songtexten.

Gestaltung
In einem Prolog wird der Weg beschrieben, den eine Schwalbe im Lauf eines Jahres zurücklegt, von Südafrika über Nordafrika nach Europa und wieder zurück. Im ersten Kapitel erfahren wir Wissenswertes über diesen besonderen Zugvogel, Inspiration auch für viele Mythen, Aberglaube und Geschichten. Dann folgen vier Kapitel mit den detaillierten Schilderungen und Fakten über das Verhalten der Schwalben in den einzelnen Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Zahlreiche Abbildungen in Farbe ergänzen die Texte und am Ende des Buches findet sich das entsprechende Abbildungsverzeichnis.

Fazit
Ich habe dieses Buch über diese einzigartigen Vögel und ihre unglaubliche Reise, die sie jedes Jahr im Frühjahr und Herbst antreten, im Garten sitzend gelesen, während ich die Schwalben beobachtet habe, ihren rasanten Flug bei der Insektenjagd, ihre Flugkünste bei der Rückkehr zu den Nestern, wo die Jungen auf Futter warten. Allerdings liegen die Nester oben an unseren Hauswänden, unterhalb der Dachvorsprünge, denn es sind Mehlschwalben. Mit dem Autor teile ich das Warten und die Freude, wenn die Schwalben wieder bei uns einziehen und die leise Wehmut, wenn sie etwa Anfang September plötzlich fort sind. Eine interessante, unterhaltsame Lektüre, nicht nur für Schwalbenfreunde, und sicher auch ein willkommenes Geschenk.