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Z
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Hamburg

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Insgesamt 20 Bewertungen
12
Bewertung vom 14.08.2021
Ein erhabenes Königreich
Gyasi, Yaa

Ein erhabenes Königreich


ausgezeichnet

Dieser Roman hat mich sehr berührt.
EIN ERHABENES KÖNIGREICH ist eine Familiengeschichte, die vor allem durch ihr fein ausbalanciertes Verhältnis zu lebensnahem Drama besticht.

Gifty ist Tochter eines Haushalts, der sich zwischen Religion, Aberglauben, Tod und Ablehnung aufgerieben hat.
Heute ist sie Neurowissenschaftlerin, doch als ihre depressive Mutter bei ihr auftaucht, um sich ins Bett zu legen und die Welt auszublenden, kommt die Vergangenheit mit voller Wucht zu Gifty zurück.

Gyasi ist es gelungen, eine Geschichte zu entwickeln, die zu Herzen geht und nachhallt. Auch wenn meine Lebenswirklichkeit als Heranwachsende eine ganz andere war als Giftys, konnte ich mich an so vielen Stellen in ihr wiederfinden. Jeder von uns hat seine ganz individuelle Familiengeschichte, aber in allen finden sich Momente von Freude, Trauer, Verlust, Zweifeln und Vergebung.
Die Geschichte von Giftys Familie ist zudem die von ghanaischen Einwanderern und geprägt von Fragen nach Zugehörigkeit, Einpassung, Rebellion und Rassismus.

Gyasis Schreibstimme ist tief greifend und bietet eine faszinierende Kombination aus Zartheit und Kraft bietet. Wie sie mit gefühlter Leichtigkeit solch universelle Themen und die durchweg authentisch gezeichnete Hauptfigur miteinander verwebt, ist richtig gut.
Ich kann dieses Buch jedem nur ans Herz legen. Und möchte jetzt wirklich gern HEIMKEHREN lesen.

Bewertung vom 18.07.2021
Weiße Nacht
Suah, Bae

Weiße Nacht


sehr gut

Dies ist kein Wohlfühlbuch. Man liest sich durch diesen Roman wie durch ein Labyrinth verwinkelter schmaler Gassen, während ständig der Boden wegzukippen droht. Das anfänglich langsam ansteigende Summen wird schnell zu einem Gefühl permanenter Schieflage. Unaufhaltsam geht es weiter, während man hat keine Ahnung hat, wohin eigentlich.

Ayami hat ihren letzen Arbeitstag an einem Hörtheater in Seoul, bevor es für immer schließt. Sie weiß nicht, wohin das Leben sie führen wird, nach dieser nass-heißen Nacht, die gefüllt ist mit Freunden, Fremden, Doppelgängern und Geistern, die sich ineinander auflösen.

Mantraartige Wiederholungen und Überschneidungen verschieben die Grenzen zwischen Realität und Fiktion ins Unerklärbare. Befinden wir uns in einem Roman, einem Film, einer reality-tv-show?

Es ist schwierig, etwas Genaues zum Inhalt dieses Romans zu formulieren. Sicher sagen kann ich nur eines: diesen Roman wie eine klassische Erzählung im Sinne des Entwicklungsromans begreifen zu wollen, wäre falsch. Natürlich gibt es eine Handlung. Was mir aber besonderes oft bei Rezensionen auffällt, ist, dass viele Leser enttäuscht sind, wenn sie keine runde, zuende erzählte Geschichte mit Problemstellung und Auflösung erwartet. Diese gibt es hier nicht, vieles bleibt unklar und assoziativ, wie ein Fiebertraum.

Dafür erlebt man eine atmosphärische Dichte, die nachhallt, wenn man bereit ist, dieses kurze Buch als eine Art Gedicht anzunehmen. Es zeigt (wie zum Beispiel bei Han Kangs DIE VEGETARIERIN) eine andere Seite des Bildes vom technologisierten, hippen, reichen und immer jungen Seoul, das man sonst oft in den Medien findet. Eine gar nicht durchschnittliche Geschichte über eine durchschnittliche Frau.

Bewertung vom 23.05.2021
Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
Green, John

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?


gut

Ich gebe „Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?“ 3 von 5 Sternen.
So bzw. so ähnlich endet jedes der etwas zweieinhalb Seiten langen Kapitel dieses Buches, das eine Zusammenstellung spannender Alltagsfragen bietet.

Das Anthropozän ist das Zeitalter des Menschen und wir haben die Erde geprägt wie kein Lebewesen vor uns. Klimaanlagen zerstören unsere Umwelt, das wissen wir mittlerweile alle. Was aber haben sie außerdem mit Freiheit und der Besiedlung bestimmter Lebensräume zu tun? Oder die Pest mit einer perfekten Welt? Vom Geschmack von Dr Pepper geht es zu Monoply, der Pest und seinem persönlichen Liebeslied für alle Zeiten ist alles dabei.

Green springt locker zwischen den unterschiedlichsten Themen hin und her, immer gespickt mit einer persönlichen Anekdote, die ihn bewogen hat, sich Gedanken dazu zu machen. So wirkt die Zusammenstellung weder erzwungen, noch wahllos, sondern wie ein locker gesponnener roter Faden aus Greenes Leben. Den ich jetzt ein ganzes Stück besser kenne.

John Green mag so manch einem als Autor von „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ bekannt sein. Mir war das nicht bewusst und ich habe es auch nicht gelesen, daher kann ich nicht über seine schriftstellerischen Fähigkeiten im fiktionalen Bereich urteilen.

Nichtsdestotrotz hat mich gerade die sehr persönliche Einleitung gelockt. Greene schreibt erfrischend offen und ehrlich über sich selbst und die Welt, in der wir leben. In Kombination mit einem gut recherchierten Background aus bunt gemischtem Alltagswissen, ergibt das eine feine Sammlung interessanter Geschichten, denen er zum Schluss jeweils seine ganz persönliche Benotung zu Teil werden lässt. Ein ganz witziges Detail und ich bin unerwarteterweise doch jedes Mal gespannt, wie viele Sterne es diesmal werden.

Der Schreibstil ist angenehm flüssig und absolut passend für ein solches, ich nenne es mal „Sachbuch mit biographischem Einschlag“. Fakten werden konzentriert, aber gefällig dargestellt und auf unkomplizierte Weise mit seinem persönlichen Erleben verbunden.

Eine kurzweilige Lektüre für Freunde der banalen bis gar nicht so banalen Trivia, in die man dank der kurzen Abschnitte immer mal wieder gerne reinlesen wir

Bewertung vom 20.03.2021
Die Erfindung von Alice im Wunderland
Hunt, Peter

Die Erfindung von Alice im Wunderland


sehr gut

Reich bebilderter Einblick hinter die Spiegel

Fast schon ein Bildband, kompakte 128 Seiten und doch so viel Information. Dieses Buch ist ein spannender Fundus für große ALICE IM WUNDERLAND-Fans. Für Kinder würde ich es nicht empfehlen, da es sich eine wissenschaftliche Abhandlung handelt.
Hunt schlüsselt die Hintergründe der Entstehungsgeschichte hinter ALICE IM WUNDERLAND auf. Wir begleiten den Autor Charles Dodgson alias Lewis Caroll, sowie die „echte“ kleine Alice und ihre Familien von der ersten inspirierenden Bootsfahrt, auf der die Geschichte ihren Anfang nahm bis zum Erfolg des Buches und darüber hinaus. Wer und was könnte Hunt zu den vielen skurillen Figuren und Verläufen inspiriert haben? Wieso hat sich gerade dieses Kinderbuch bis heute in die Herzen so vieler Kinder und Erwachsener geschrieben?
Beim Lesen musste ich feststellen, dass meine Lektüre von ALICE doch schon lange her ist und empfehle definitiv, es sich vorher noch einmal zu Gemüt zu führen. Zwar hangelt sich der Text fortlaufend an Zitaten entlang, was für einen gut verständlichen Aufbau sorgt, wenn man die Geschichte aber nicht mehr klar vor Augen hat, könnte es manchmal schwierig werden, zu folgen.
Man merkt dem Autor an, dass er ein großer Fan von ALICE und vor allem Dodgson ist, was für ein Sachbuch nur natürlich ist und auch nicht störend in den Vordergrund tritt. An manchen Stellen fragte ich mich jedoch, wie realistisch seine Thesen wirklich sind. Ein wenig hat Hunt sich stellenweise doch in seinen Ausführungen verloren. Insgesamt erscheint mir die Abhandlung aber ausführlich recherchiert und vor allem sicher in seinen historischen Kontext eingeordnet. Kritische Worte findet Hunt lediglich in einem einzigen Satz.
Eine für ALICE-Liebhaber lesenswerte Sekundärliteratur. Vor allem die vielfältigen Fotos und Grafiken fand ich sehr interessant und haben die Entwicklung des Romans in seiner Zeit anschaulich dargestellt.

Bewertung vom 02.03.2021
Das Flüstern der Bienen
Segovia, Sofía

Das Flüstern der Bienen


sehr gut

Nana Reja, die alte Nanny der wohlhabenden Familie Morales im mexikanischen Lineares, findet ein Baby, umhüllt von Bienenschwärmen. Auf der Hacienda der Familie wächst Simonopio, geliebt und geschützt vor Anfeindungen wegen seines ungewohnten Äußeren und Verhaltens, als einer der ihren auf. Simonopio hat eine besondere Gabe, er scheint Dinge vorhersehen zu können. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die spanische Grippe und der Bürgerkrieg wüten, kann er die Familie mehrmals vor großen Katastrophen bewahren. Doch das Glück wird nicht ewig andauern.

DAS FLÜSTERN DER BIENEN spielt durch stark variierende Kapitellängen auf sehr gelungene Art mit dem Erzähltempo. Von Ein-Satz-Kapiteln bis zu ausführlichen Kurzgeschichten in der Story selbst ist alles dabei. Und komischerweise ist das gar nicht schwer zu verdauen, ebenso wie die wechselnde Erzählperspektive.

Die Worte fließen durch diesen Roman wie Honig. Reich und sättigend wickelt er sich langsam um den Löffel, in immer mehr Schichten, um ebenso träge wieder herabzufließen und fast unbemerkt beginnt, schneller zu fließen, schneller und schneller, bis er schließlich als goldgelber See vor einem liegt.
Bald spürt man eine tiefe Verbundenheit nicht nur zu Simonopio, der nicht einmal selbst spricht, sondern auch zu den anderen Figuren aus Familie und Angestellten, in deren Leben wir eintauchen. Selbst zu denen, die wir nicht unterstützen wollen.

Landschaft, Zeit und Stimmung sind auf den Punkt gebracht. Sprachlich und technisch gefällt mir dieses Buch (übersetzt von Kirsten Brandt) außerordentlich gut. An keiner einzigen Stelle bin ich über eine unelegante Formulierung oder schlecht verknüpfte Handlungen gestolpert und konnte so einfach nur die Geschichte genießen.

Einzig, dass an manchen Stellen Dinge vorweggenommen wurden, störte mich etwas. Das ist aber wohl eine individuelle Präferenz. Auch wenn ich keine Krimileserin bin, habe ich nie etwas gegen ein paar Körner suspence.
An manchen Stellen wich mir außerdem die Geschichte zu stark in Nebenstories ab, die für den eigentlichen Verlauf keine Rolle mehr spielten. Auch wenn dies ebenfalls ganz tolle kleine Geschichten waren und ich mir schon wünschte, der Weg möge in diese Richtung weitergehen, hätte ich sie am Ende eher gestrichen. Und bitte zu neuen Romanen verarbeitet. Liebenswerte und nahbare Figuren mit ihren ganz eigenen Geschichten entwerfen kann Segovia nämlich wirklich ganz hervorragend.

Dieses Buch ist vor allem eines: leise (aber nie langweilig). Leise aber auf eine sehr ergreifende Art und Weise, wie ein sanfter Griff an die Schulter, der uns vorsichtig aber bestimmt immer weiter hinein führt in diese Geschichte über Selbstlosigkeit und Missgunst, Familie und Fremdsein und die Auswirkungen politischer Ereignisse auf diesen winzigen Punkt unter dem Brennglas, der die Hacienda der Familie Morales ist. Und mit ihr auf die vielen Leben der Menschen, die dort eine Heimat gefunden zu haben glauben.
Es ist ein ruhiger, besonnener Appell an die Menschlichkeit, für das gegenseitige Verständnis und ein Miteinander.

Absolut empfehlenswert und 4 Sterne, die sehr sehr nah an der 5 sind.

Bewertung vom 27.02.2021
Der Zirkus von Girifalco
Dara, Domenico

Der Zirkus von Girifalco


sehr gut

Ein italienischer Traum über den Zufall

Wer so ein richtiges schönes Wohlfühlbuch zum Wegträumen in dieser nicht immer leichten Zeit sucht, findet hier genau das Richtige.

In poetischer Sprache lässt Dara das kleine kalabrische Dorf Girifalco für uns lebendig werden. Wir folgen verschiedenen Dorfbewohnern durch heiße Sommertage und sternenklare Nächte im August rund um das Fest des Heiligen San Rocco. Just zu diesem Zeitpunkt hält ungewollt ein Zirkus im Ort und beschließt, ein paar Tage zu bleiben. Dieser Zufall scheint unglaubliche Auswirkungen auf die Leben der Einzelnen zu haben.

Zu Beginn ist es recht schwierig, die vielen verschiedenen Personen auseinander zu halten, auch wenn man vorweg einen sehr detaillierten Einblick in die jeweiligen Vorgeschichten bekommt. (Kleiner Tipp: Am Ende findet sich ein Personenverzeichnis - das ich natürlich erst nach Beenden des Romans entdeckte… ). Durch die liebevolle und wirklich gelungene Ausarbeitung einer jeden Figur ist man aber bald drin. Alle Charaktere haben mich immer mehr bezaubert, die „bösen“ wie auch die „guten“, denn Dara schafft es auf beiläufige Art und Weise, sie dem Leser so offen und menschlich zu präsentieren, dass man nur mit ihnen mitleiden, sich freuen und wundern kann. Ein besonders gelungener Aspekt, gerade wenn man an die hohe Personenzahl denkt.

Lust auf ein bisschen Alltagsphilosophie und eine Prise Zauber sollte man haben, um das Buch so richtig genießen zu können. Der Zufall spielt hier die Hauptrolle. Auf charmante Weise wird dieses Thema immer wieder auch beziffert, aber nicht auf erschöpfende Art totanalysiert, sondern in die Geschichten eingewebt wie ein glänzender Faden.

Ich habe neue Freunde gefunden in Don Venanziu und Roro, mit Lulu und Archidemu gelitten, an Mararosas Seite gestanden und mit Taliana geweint. Dies ist ein Roman zum Zurücklehnen und Forträumen ins ferne Italien, das man durch jede Seite spürt. Genau richtig zur Zeit.

Bewertung vom 24.02.2021
Die Bücherfrauen
Tilghman, Romalyn

Die Bücherfrauen


schlecht

Drei sehr verschiedene Frauen treffen in der Kleinstadt New Hope im ländlichen Kansas aufeinander. In einer ehemaligen Bibliothek wurde ein Kulturzentrum eingerichtet, in dem „Müll-Künstlerin“ Traci versucht, neu Fuß zu fassen. Angelina zieht eine Recherche über die Carnegie-Bibliotheken in die Heimatstadt ihrer Großmutter. Gayle wurde durch einen Tornado aus dem Nachbarort Prairie Hill vertrieben. Alle drei verbindet die Liebe zu Bibliotheken und Kultur – und die Suche nach Gemeinschaft, die sie unter den Frauen New Hopes zu finden hoffen.

Es stimmt schon, dass dies, grob zusammengefasst, der Inhalt dieses Romans ist. All das, was ich mir davon erhofft habe – die Stimmung in dem kleinen Ort, besondere tiefe Beziehungen zwischen den Frauen, die eine lebendige Gemeinschaft aufbauen, die Liebe zu Büchern – kommt aber leider nicht rüber. Der Schreibstil (oder die Übersetzung) ist unangenehm platt, die Figurenbeschreibungen oberflächlich und der Aufbau nicht nachvollziehbar.

Erzählt wird die Geschichte in wechselnden Abschnitten aus den Sichtweisen der drei genannten Frauen. Unterscheidungen in der Erzählerstimme lassen sich leider fast vergeblich suchen. Die Ausdrucksweise ist oft erstaunlich informell und passt an vielen Stellen weder zu Person, Situation, noch Zeit.

Die Charaktere selbst bieten zwar verschiedene Geschichten an, es scheitert aber an der Ausarbeitung. Ihre Entwicklungen und Emotionen werden teilweise gebetsmühlenartig wiederholt, aber immer nach dem Konzept „all tell, no show“. Ich konnte keine Beziehung zu ihnen aufbauen. Zudem sind Schlüsselszenen vielmals so kurz gefasst, dass man kaum Gelegenheit hat, emotional daran teilzuhaben.

Interessant sind einige Informationen zu den Carnegie-Bibliotheken und dem Leben in so einem kleinen Ort zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Damit hat es sich aber auch.

Insgesamt ein Thema mit vielversprechenden Ansätzen, das aber absurd schlecht ausgearbeitet wurde. Ich hatte eher den Eindruck, einen ersten Entwurf zu lesen als einen fertigen Roman. Warum das Buch in den Staaten so viel Anklang gefunden hat, kann ich mir nicht erklären, möchte es aber nicht unerwähnt lassen. Für mich war es leider ein absoluter Reinfall und eines der schlechtesten Bücher, die ich je gelesen habe.

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.02.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


ausgezeichnet

Dieses Buch steht völlig zu Recht im spotlight und sollte gelesen werden. Nicht nur von Frauen, die sich in derselben Position befinden, sondern gerade auch von Männern.

Kim Jiyoung ist vieles. Sie ist Enkelin und Tochter, Angestellte, Mutter, Ehefrau, Freundin, Hausfrau. Und sie ist verrückt.

Dieser schmale Band erzählt anhand der Lebensgeschichte Jiyoungs davon, wie zerrissen viele Frauen im heutigen Südkorea sind. Sich aufzuarbeiten bis man nicht mehr weiß, wer man eigentlich ist. Der Versuch, allen Ansprüchen gerecht zu werden und dabei schlechter bezahlt, behandelt und schließlich ganz unter den Teppich gekehrt zu werden. Das mag wie ein alter Schuh klingen, aber erstens ist dieses Lied nie alt bis sich endlich etwas geändert hat. Zweitens ist es ein wirklich gut geschriebener Roman. Der Erzähler führt uns durch Jiyoungs Leben, ihre Schulzeit, das Verhältnis zu ihrer Familie und Freunden, Männern und Frauen, durch ihr Erwachsenwerden bis heute.

Dies geschieht in einer auffallend neutralen Erzählweise, die eher an Berichterstattung erinnert. Und doch hat mich diese Geschichte während des Lesens so aufgewühlt und wütend gemacht. Vielleicht gerade, weil sich keine erkärenden oder bedauernden Worte zwischen den Zeilen finden. Weil nie jemand aufsteht und sagt „Moment mal, so geht das nicht. Das müssen wir ändern.“ Die einzigen, die so etwas sagen, sind die Betroffenen selbst. Und meist denken sie es nur. Denn sie haben sowieso nicht genug Macht, etwas zu ändern.

Dieses Buch hat mich sehr bedrückt und traurig gemacht. Allein das ist es wert, es zu lesen. Denn Dinge, über die nicht gesprochen wird, werden so bleiben wie sie sind. Die Thematik ist so alt und doch so aktuell, dass man sich die Haare raufen könnte.

Neu gelernt habe ich auch, dass es Frauen in Südkorea genau so geht wie hier, oder besser gesagt: statistisch gesehen sogar schlechter. Nicht nur sind die Erwartungen höher und strenger, auch das Machtgefälle ist noch größer als hier in Europa.

Ich habe dieses Buch an einem Nachmittag verschlungen und weiß, dass es noch sehr lange in mir nachhallen wird.
Absolute Empfehlung!

Bewertung vom 17.01.2021
Ohne Schuld / Polizistin Kate Linville Bd.3
Link, Charlotte

Ohne Schuld / Polizistin Kate Linville Bd.3


gut

Im dritten Band der Reihe um die Inspektorin Kate Linville entfaltet sich eine dramatische Familiengeschichte um die Frage nach Schuld und Rache.

Kate ist im Begriff, ihr Leben nach Scarborough zu verlegen, um unter ihrem früheren Chef Caleb Hale zu arbeiten, als sie in einen Anschlag auf eine andere Frau verwickelt wird. Sie können entkommen, doch warum hat es jemand auf das Leben der unglüklichen Hausfrau Xenia abgesehen?

Zugleich wird eine junge Lehrerin schwer verletzt, die Waffe ist dieselbe, mit der auf Xenia geschossen worden war. Dabei scheint es zwischen den beiden Frauen keinerlei Verbindung zu geben. Oder doch?

Die Geschichte zieht den Leser von Beginn an mitten ins Geschehen, der Schreibtstil ist wie immer sehr flüssig und macht Spaß am Weiterlesen. DIe Sprünge zwischen verschiedenen Erzählebenen gelingen sehr gut und bringen ordentlich Rätselvergnügen in die Lektüre. Am Ende gibt es ein paar Längen.

Meiner Meinung sind die liebevoll ausgearbeiteten Charaktere eine der größten Stärken Charlotte Links und einer der Gründe für ihren großen Erfolg. SIe schafft es, die Figuren ganz nebenbei lebendig und nahbar zum Leben zu erwecken.

DIe Geschichte selbst geht durchaus nahe und ist realistisch, sowie im Großen und Ganzen gut konstruiert, auch wenn es meiner Meinung nach an ein paar Stellen zu nicht ganz überzeugenden Kausalzusammenhängen kommt.

Insgesamt ein spannender Krimi in Linkscher Tradition mit Familiendrama, was mir persönlich immer sehr gut gefällt.

Bewertung vom 27.10.2020
Männer in Kamelhaarmänteln
Heidenreich, Elke

Männer in Kamelhaarmänteln


ausgezeichnet

So emotional kann es also sein, alte Nachthemden zu kaufen.

Erwartet (und ehrlich gesagt auch erhofft) hatte ich mir ein kleines, feines Büchlein über die Mode mit Bezug zu bekleidungswissenschaftlichen Hintergründen. Das große Aaaah und Oooooh, Moooode.

Wie angenehm wurde ich doch überrascht, dass dieser hübscher Leseband eine ausgewählt bezaubernde Sammlung sehr persönlicher Geschichten von Elke Heidenreich enthält, in denen es die kleinen großen Momente ihres Lebens sind, die sie in Bezug setzt zu dem, was den Menschen kleidet.

Aufgeteilt nach Farben arbeitet sie in den Kapiteln einzelne Fragmente zu lebendigen Augenblicken ihres Lebens (oder dem anderer Personen) aus. Kann sich nicht jeder noch an das erhebende Gefühl im ersten Abendkleid erinnern oder an diesen Pullover des untreuen Ex, den man geliehen und nie zurückgegeben hat, weil man zumindest diesen einen kleinen Fetzen behalten wollte? Heidenreichs Geschichten gehen oft noch darüber hinaus, tanzen zu Coco Chancel, Ravel oder Gott, der Freundin, die an Marie Kondo verzweifelt und zurück in die eigene kleine Welt, in der Kamelhaarmäntel nur einer einzigen Person auf der ganze weiten Welt zu stehen vermögen.

Man kann sie sich geradezu vorstellen, wie sie ihre Erinnerungen hervorkramt wie zeitweilig vergessene kleine Schätze und in ihnen badet, ihnen nachspürt. Den Duft der Lederjacke eines vergangenen Geliebten wiederaufleben lässt oder das Gefühl des zarten Stoff des Lieblingskleides der Mutter in den Händen spürt. Die Geschichten sind sehr persönlich, aber der Ton sehr offen und lädt uns fremde Leser ganz selbstversändlich ein in dieses kleine Reich der Erinnerungen, das nicht unseres ist, aber für kurze Zeit dazu wird. Zauberhaft, wie Heidenreich es trotzdem schafft, den Leser mitfühlen zu lassen. Auf der einen Seite liest man sich in belustigtes Schnauben, die nächste nimmt uns mit in traurige, dunkle Stunden, da geht es auch schon weiter zu einer Geschichte, die uns nachdenklich macht und lange nachhallen wird.

DIe Vielfältigkeit der Geschichten sorgt für kurzweiliges, aber überhaupt nicht banales Lesevergügen. Ich gebe zu, alle Geschichten an zwei Abenden hintereinander verschlungen zu haben, doch bin ich fast traurig drum. Tastet euch ruhig nach und nach vor, wie in einer Schachtel kostbarer Pralinen, von denen man sich jede einzeln auf der Zunge zergehen lässt.

Nein, man muss absolut keine Ahnung von Mode haben, um Freude zwischen den Seiten zu finden, ja nicht einmal Interesse an ihr. Das ist es es, was dieses Buch ausmacht. Es gibt hier keine WIchtigtuerei, kein Palaver, keine Belehrungen. Es ist das Wohlwollen in der Erzählerstimme, das für mich den Wert dieses Buchs ausmacht - wobei natürlich die gewisse Scharfzüngigkeit nicht fehlen darf

Mode ist nicht wichtig, nicht weltbewegend, ja ja ja. Das ist alles richtig und so gerne verurteilen wir andere dafür, dass sie ein Gewese um ihre Kleidung machen, ihr Äußeres, ach, wie profan. Gerne zeigen wir uns als unbeeindruckt von modischen Neuheiten und finden darin unser standhaftes Selbst, das sich keinen Zwängen beugt.

Vielleicht müssen wir uns nahc dieser Lektüre selbst einmal an die Nase packen und mitnehmen, was man aus dieser Prosa mitnehmen kann.

Frau Heidenreich zeigt uns ganz nebenbei, worum es eigentlich in der Mode geht: Darum, sich wohlzufühlen, sich auszudrücken, einander zu begegnen und sich voneinander zu lösen, man selbst zu sein oder auch jemand anderes, wenn man das gerade möchte. Mode deckt alle Facetten des Lebens ab. Wir müssen nur zulassen, sie wahrzunehmen und für uns zu nutzen. Mode kann Freiheit sein, Revolte, ein Zugeständnis, sie kann eine Liebeserklärung ersetzen oder eine Erinnerung wachhalten, Rache bedeuten und Triumph. Eine Nebensächlichkeit, aber, und das nimmt man hier mit: eine schöne.

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