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LichtundSchatten

Bewertungen

Insgesamt 241 Bewertungen
Bewertung vom 16.09.2024
All'italiana!
Reski, Petra

All'italiana!


ausgezeichnet

Petra Reski hat hervorragende Bücher über die Mafia geschrieben und erklärt ihre italienische Lebensart, die sie als Deutsche erlebt, auch in diesem Buch humorvoll und treffend. Wer weiß schon, dass im Italienischen Alphabet kein K vorkommt und Frau Reski demzufolge im Wahlverzeichnis nicht vorkam. Ihr Antrag auf Italienische Staatsbürgerschaft war vermutlich noch komplizierter als die bürokratischen Hürden in Deutschland - „und ich hörte nichts mehr: eine Flaschenpost im Meer der Bürokratie.“

Petra Reski erzählt ihr Leben spannend und nachvollziehbar, für jeden, der Italienisch lernen will, ist das erste Kapitel (Italienisch für Anfänger) ein Leid-Faden, um besser zu verstehen. Sie geht an den Strand und hört den Italienern zu, die im Wesentlichen im Indikativ Präsens reden, alles ist irgendwie Gegenwart. „Es nimmt mich sehr für Italien ein, dass man so offen über die dunklen Seiten des Lebens spricht.“

„Dalla padella alla brace“ - was meinen Italiener damit, wenn sie über Politik reden? Es ist egal, ob man von Sozialisten oder Christdemokraten regiert wird, sie alle sind korrupt, machtbesessen und egoistisch. 49 Regierungen gab es seit Kriegsende, Italien erlebt die Politik am Rande der Funktionsunfähigkeit, die Motivation für Frau Reski endlich auch wählen zu wollen, als italienische Staatsbürgerin.

Aber sie wendet sich zunächst der Wiege der Kultur zu, der Renaissance in der Toskana. „Ein Land, in dem man das Tonicwater glänzendes Wasser nennt, kann nicht anders, als Poeten hervorzubringen, finde ich.“ Sie lernt Italienisch in Castiglioncello und verbindet die Erlebnisse mit ihrer Tätigkeit als Anfänger-Journalistin beim Stern. Als Bergmannstochter reagiert sie auf überlegene intellektuelle Linke immer etwas verlegen und stellt Fragen, die man dort nicht gerne hört. Das dann auch noch mit den komplexen Fragestellungen der italienischen Sprache zu mixen, ein echter Hochgenuss das zu lesen.

Der sehnige italienische Intellektuelle kocht ihr eine lange vorbereitete Kichererbsensuppe, mit allem Tamtam. Als sie vom Hof dieses Super-Menschen fährt, sieht sie zwei Kirchererbensdosen im Müll. So ist das eben in Italien, wir kommen mit den Erlebnissen von Petra Reski der witzigen, unglaublichen Realität näher als in Reiseführern, sie beschreibt spannend, anschaulich, mit Lust auf den nächsten Satz.

„Der Italiener meines Lebens ist vor allem Venezianer….Er ist allergisch gegen Tomaten und Kaffee, er verabscheut Knoblauch und interessiert sich nicht für Fußball.“ Ein echter Italiener? 48 Kapitel vom Feinsten: im Hinblick auf Sprache und Erklärungen der Unterschiede und des italienischen Lifestyles. „Es war mein Land, von Anfang an. Es ist ein fehlerhaftes Land, es sündigt, es ist perfide und manchmal sogar teuflisch. Dennoch liebe ich es.“

Ob man die Politiker auch lieben muss, es ist eine ganz andere Frage, zu der Petra Reski eine Fülle an Hintergründen und Wissenswertem beiträgt, genau dieser Sichtweisen wegen habe ich dieses Buch mit größtem Interesse gelesen.

Bewertung vom 13.09.2024
Mein Gesundheitsbuch
Koch, Marianne

Mein Gesundheitsbuch


ausgezeichnet

Ein herausragend gelungenes Buch.

Marianne Koch ist eine wirklich kluge Frau, die Sachverhalte perfekt beschreiben und Hilfestellungen bestens erklären kann.

Ein echtes Vorbild.

Bewertung vom 13.09.2024
Die Quandts
Jungbluth, Rüdiger

Die Quandts


ausgezeichnet

Soeben ist Deutschland als einziges Land der Erde dabei, jene Industrie zu vernichten, die dieses Land mit aufgebaut hat. Grund genug, in die Historie einzusteigen. Sie sei eine Geschichte der Einwanderung lesen wir, die auch Friedrich I von Preußen vorantrieb. Er wollte sein durch den 30-jährigen Krieg zerstörtes Land wieder aufbauen und benötigte dafür selbstständig denkende Unternehmer und Macher. Vor allem religiös verfolgte Minderheiten kamen aus ganze Europa, Christen also mit unterschiedlichen Auslegungen der Bibel.

Erster Unternehmer einer langen Reihe von eher darbenden Handwerkern der Quandts war Emil Quandt, der durch die Heirat mit der Fabrikantentochter Hedwig Draeger zum Unternehmer aufstieg und Tuche für die Uniformen der kaiserlichen Marine produzierte. Trotz Börsenkrise in den 1870ern schaffte er es, das Unternehmen seiner Frau voranzubringen und Erfolge zu erzielen. „An der Spitze stand ein erfolgshungriger Aufsteiger, der darum kämpfte, den gerade erlangen Status nicht wieder zu verlieren.“ Unter elf Tuchfabriken in Pritzwalk überlebte nur sein Unternehmen.

Günther Quandt, der erste Sohn des Ehepaars, kam 1881 zur Welt (zum Vergleich: Konrad Adenauer wurde 1876 geboren), zwei weitere Söhne folgten und ein Mädchen. Günther wurde früh auf die Rolle des Unternehmers vorbereitet und entsprechend erzogen. Er liebte es, Firmen zu besichtigen bzw. diese einzuschätzen. Früh schon übernahm er Verantwortung und hatte Freude an seiner Tätigkeit.

Goebbels urteilte über ihn später: „Ein taktloser Flegel. Der typische Kapitalist. Ein Bürger schlimmster Sorte.“ Beide hatten die gleiche Frau, Magda Goebbels und der Propagandaminister heiratete Quandt’s Exfrau sogar im Gut des Industriekapitäns. Quandt überstand die NS Zeit gut und konnte seinen 2. Sohn Herbert auf das kommende Leben als Nachfolger vorbereiten, trotz dessen Sehschwäche. Später übernahmen dann Harald und Herbert Quandt bzw. bauten das Imperium weiter aus.

Die Äußerung von Goebbels zeigt die Stoßrichtung der damaligen nationalen Sozialisten: gegen das Bürgertum und den Kapitalismus gerichtet, obwohl sie beide dringend für die Rüstung benötigten. Sozialistisch kollektivistisch in den Untergang, das Programm der Nationalsozialisten steht den anderen kommunistischen Diktatoren in nichts nach. Bürgerlich Konservative durften mitmachen, später aber wollte man sie entsorgen.

Insgesamt ein spannendes Buch, das die Familie Quandt bis ins Heute begleitet, Leben, über die man moralisch urteilen könnte, durchaus. Das Buch aber berichtet eher als zu werten. Auch was den Sohn Harald Quandt betrifft. Er war anfänglich ein begeisterter Soldat, erkannte aber am Ende den kommenden Zusammenbruch. Goebbels und seine Mutter Magda Goebbels hatten ihn zum fanatischen Anhänger und Soldat „geschliffen“ und waren stolz auf ihn.

Insbesondere beeindruckt hat mich die Beteiligung an BMW, ein Investment, das nicht ohne Risiko von Herbert Quandt vorangetrieben wurde. Seine Kinder Susanne Klatten und Stefan Quandt sind heute die zentralen Eigentümer von BMW, die eher im Hintergrund, aber doch bestimmend arbeiten.

Eine Vielzahl von Beteiligungen werden heute von den Kindern der beiden Brüder Herbert und Harald Quandt vorangetrieben, wobei bereits die Enkelgeneration eingebunden ist. Dabei nimmt der unternehmerische Anteil tendenziell ab. Das Buch bietet einen großen Querschnitt deutscher Firmen, die gekauft, optimiert, gehalten und verkauft werden/wurden. Ein Blick hinter die Kulissen, die mich fasziniert hat.

Bewertung vom 10.09.2024
Wie wir uns Rassismus beibringen
Sahebi, Gilda

Wie wir uns Rassismus beibringen


schlecht

Denken heißt, dass man unterscheidet. Frau Sahebi meint, dass Unterscheidungen zu Rassismus führt. „Das Narrativ der Spaltung ist überall: Wir unterscheiden nach Geschlecht, nach sexueller Identität und Orientierung, nach Herkunft.“ Sie möchte das alles wohl aufheben und in einem großen Gleichheits-Garten auflösen, in dem Menschen jenseits von Gut und Böse zusammenleben, sie will das biblische Paradies schon jetzt. Wer aber noch unterscheidet und Grenzen zieht, sei Rassist. Das solle man unterlassen.

Deutschland war ein Einwanderungsland, schon immer. Das stimmt. Aber die einziehenden Kulturen/Religionen waren mit der hier atmenden Lebensweise kompatibel. Wer anderes benennt ist für Sahebei schon Rassist. Im Kaiserreich von 1871 bis 1918 war Deutschland deshalb so erfolgreich, weil man sich für andere Kulturen interessierte, sie benannte und die Unterschiede erklärte. Dieses Wissen floss u.a. in Produkte für andere Länder, mit denen man Handel trieb. Unter allen Mächten, die Kolonien hatten, war Deutschland jene, die am wenigsten Interesse an Kolonien hatte. Bismarck wollte sie gar nicht. Viele machten halt mit, weil alle anderen Länder Kolonien hatten.

War es und ist es heute notwendig, dass alle Kulturen in Deutschland leben sollen? Natürlich nicht, es führt oft zu Fremdheit, Parallel- und sogar Gegengesellschaften. Im Zeitalter des Internet leben Menschen dort, wo die größte Sehnsucht nach Konstanz in ihrem Leben gegeben ist, in ihrer Heimat. Kontakte nach außen sind ganz leicht möglich, über den digitalen Verbindungsweg. Urlaub in anderen Ländern ist etwas völlig anderes als in einem Land arbeiten und die Kultur des Landes mit-erleben wollen, im Alltag.

Ich empfehle Frau Sahebi das Buch von Ilhan Arsel: Frauen sind Eure Äcker. Es macht klar, welche Spaltung der Islam im Hinblick auf die Geschlechter Mann versus Frau betreibt. Und zwar unveränderlich, seit Jahrhunderten. Ein Blick in den Iran genügt.

Bewertung vom 05.09.2024
TUMULT - Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Sommer 2024
Georg Simmel, Tilman Nagel, Uwe Tellkamp u.a.

TUMULT - Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Sommer 2024


ausgezeichnet

"Für die gnostischen linksliberalen und ökosozialdemokratischen Zeitgeistpolitiker, die in Deutschland die Politik bestimmen, gehört Realitätsverweigerung zum Programm. sie haben sich in ihrer Wagenburg so tief in der eingebildeten zweiten Realität eingebunkert und mit gefälligen Claqueren umgeben, dass die Wirklichkeit nicht mehr vordringt." (Carsten Germis)

Jeder Artikel eine lesenswerte Zustandsbeschreibung einer Zeit, die später mal als deutsche Entbildung, Familienzerstörung und Deindustrialisierung in die Geschichte eingehen wird. Sie baute Potemkinsche Dörfer und schoss Blendgranaten ohne Zahl ab, in die ein neuer Journalismus einzog, der sich gegen den schreibenden Untertanen erhob und endlich wieder die vierte Gewalt auf die sachliche Ebene stellte.

Besonders lesenswert:

Kafka und wir, Günter Scholdt

Selbstmord aus Angst vor dem Tod, Tilmann Nagel über verfehlte Annäherungen an den Islam
"Die Einheimischen wissen nichts von dieser muslimischen Welt, die in ihrem Schoß gedeiht, und die politischen Wortführer wollen auch nichts davon wissen. Sie befassen sich lieber mit der Islamophobie der Einheimischen und sichern sich dadruch, wie sie vermeinen, eine uneinholbare moralische Überlegenheit."

Bewertung vom 04.09.2024
Hat das Zukunft oder kann das weg?
Pinzler, Petra

Hat das Zukunft oder kann das weg?


weniger gut

Sollte man sich mit dem Kapitalismus noch beschäftigen? „Unbedingt meint die Autorin! „Am Zustand der Welt ist vieles nicht gut, und auch die Aussichten sind eher trübe.“ Trotzdem flüchten die Menschen in die Zentren der Freiheit, dort wo man selbstbestimmt etwas für sich erwirtschaften kann.

Über Netflix Serien und Bernie Sanders wird dann vermittelt, dass heute doch erhebliche Kritik am Kapitalismus aufkäme. Er ginge nur noch, vergleicht eine andere Denkerin, die zitiert wird, weil Umwelt und Natur zerstört werden, sie nennt Kapitalismus einen Kannibalen. Die permanente Aufrüstungsspirale des Konsumismus führt zur Verzweiflung, zum Wachstumszwang….dem sich auch Herr Habeck, der kluge Macher, inzwischen unterworfen habe. Mögliche Lösung: z.B. die Genossenschaft, immer noch private Unternehmen also, sie kooperieren aber für das Ziel eines größtmöglichen Gemeinwohls. Man solle also den Kapitalismus zähmen, bremsen und verwandeln.

In diesem Buch reiht sich ein Denker an den anderen, eine Kritikerin an die nächste und der Kopf schwirrt vor Ideen, am Ende darf Sartre etwas sagen, das ich schon wieder vergessen habe. Die Autorin am Ende: „Wir brauchen Engagement und - Possibilismus. Der Begriff beschreibt eine Geisteshaltung, die irgendwo zwischen dem Pessimismus und dem Optimismus angesiedelt ist.“ Alles klar?

Den Feinden der Demokratie solle man das Feld nicht überlassen. Ich lese nichts von Kulturen, Religion und den damit einhergehenden Problemen. Der Preis der unbegrenzten Dummheit ist, dass man nur durch Schmerz und Verlust begreift. Wie so oft zahlen hier die Falschen den Preis für die Dummheit der Verursacher.

Bewertung vom 04.09.2024
Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein
Sanders, Bernie

Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein


weniger gut

Wut ist kein guter Ratgeber und einseitige Sichtweisen schon gar nicht. Tatsächlich verdanken wir der Marktwirtschaft und dem freien Unternehmertum, den Erfindungen bzw. technischer Innovation einfach alles, insbesonderen den Schritt aus der Armut für viele.

Das Gute aber kritisch sehen, es sinnvoll zu reformieren, dafür fehlt Bernie Sanders die Kraft und die entspannt kluge Sichtweise. Er verharrt in Anklagen, die in einzelnen Bereichen ihre Berechtigung haben.

Ich empfehle stattdessen alle Bücher von Dr. Dr. Rainer Zitelmann.

Bewertung vom 04.09.2024
Sinnovate Your Life
Schwemmle, Martin;Thal, Klaudia

Sinnovate Your Life


sehr gut

Bücher, die mit Viktor Frankl eröffnen, wirken auf mich magisch anziehend. So auch hier, wo ein Mann, dessen Frau soeben gestorben ist, Sinn und Zuversicht von diesem österreichischen Neurologen und Psychiater erhält. Als einziger seiner Familie überlebte Viktor Frankl die Konzentrationslager der Nazis. Sein Lebens-Thema danach wurde, wie man Menschen auch in schwierigsten Lagen Hilfe und Zuspruch, neues Leben ermöglichen kann.

Es stimmt: „Wohlbefinden und Zufriedenheit sind eng mit dem Gefühl von Sinnhaftigkeit verbunden.“ Nach Frankl braucht man einen Gründung, um glücklich zu sein. Glück ist kein Zufall. Fehlt einem Individuum der Sinn, wird alles sinnlos. Sinn erfordert die eigene Verantwortung und den Willen, eine Haltung zu leben, um das Leben aktiv in die eigene Hand nehmen zu können.

Die Erwähnung des Club of Rome und die angedeutete Panik im Hinblick auf Klima haben mich etwas verstört (S. 42), sonst aber ist dieses Buch ein guter Kompass, um seine eigene Haltung zu prüfen und neuen Drive zu bekommen. Gefehlt haben mich auch vergleichende Hinweise auf Religionen, die oft allen Sinn-Versuchen zuwider laufen.

Bewertung vom 04.09.2024
Takt
Scherer, Martin

Takt


ausgezeichnet

Der ehemalige linke Ministerpräsident aus Thüreingen sprach es laut und deutlich aus, er redete von den braunen A…n, mit verzerrtem Gesicht. Höflichkeit und Taktgefühl fehlen den meisten Politikern, die Anwesenheit dieser Eigenschaften ist einer der Gründe für den Erfolg von Sahra Wagenknecht, die sich selten aus der Fassung bringen lässt. Sie ist höflich, wahrt also Distanz, und kann auch Momente der Nähe erzeugen, mithin sehr taktvoll sein.

Baldassare Castiglione (1478-1529) war ein italienischer Höfling, Diplomat und Schriftsteller , der vor allem für seinen Dialog Il libro del cortegiano (1528; Das Buch des Höflings) bekannt ist. Martin Scherer startet sein Buch mit den lesenswerten Gedanken aus diesem ersten Fundus eines Diplomaten. Der Höflichkeit kommt eine relativierende Funktion zu: „Sie vermittelt diskret zwischen Sichtweisen, Temperamenten, Hierarchien und ja, auch zwischen den Geschlechtern.“ Direkte Botschaften, offenes Kritisieren und Herabwürdigen, undenkbar im Spiel der Höflinge.

Aber in der deutschen Kleinstaaterei war es weit weg platziert, im Jenseits des Alltags und der Politik. „Ein übellauniger Protestantismus gibt bis heute den Rest.“ Dagegen tritt der ideale Hofmann auch heute als Virtuose der Selbstinszenierung auf, der seinem Dasein eine zweite Natur zu geben versteht.

Viele Kennzeichnungen in diesem Buch habe ich mir rausgeschrieben, sie sind atemberaubend und treffsicher: so pflegt der Taktvolle eine elastische Distanziertheit zu sich selbst! Die Frage bliebe, wo und wie er die Distanziertheit dann kompensiert.

Ich habe in diesem Buch falsche Verhaltensweisen erkannt, auch die deutsche Direktheit und mich köstlich über die Ideen und Vorteile des Taktes amüsiert. Wendet man das alles für die heutige Multikulti-Vielfalts-Ideologie an, dann wäre durchaus zu kritisieren, dass klare negative Adressierungen nicht mehr erlaubt sind, bei größter Gefahr für das eigene Leben und Handeln.

Höchste Toleranz bei notwendigem öffentlichen Opportunismus, dieses Gemisch kann in der heutigen Social-Media-Gesellschaft tödlich werden. Wenn die Glocke der Toleranz Diskussionen erstickt, werden Höflichkeit und Takt zum Problem.

Trotzdem, man braucht sie im Umgang mit anderen täglich, ungebremste Ehrlichkeit wäre ein Desaster ohne die Anreicherung mit taktvollem Gefühl. Wenn ich ehrlich sein darf, wirken einige Sätze des Buches etwas überspannt, man muss sie des öfteren lesen, sich auseinandersetzen, aber das ist nichts Falsches. Es ist höchst anregend. „Höflichkeit spielt. Höflichkeit schützt. Höflichkeit zivilisiert.“

„Alle Konventionen tendieren zum Faden.“ Trotzdem befrieden sie in einer heftigeren Welt und leider laufen sie oft auch läppisch ins Leere. Der Autor erwähnt die Mission Statements globaler Unternehmen, die sich chamäleonhaft zu den angesagten Werten wie Diversität, Inklusion und Gleichstellung bekennen, ohne die oft problematischen Produktangebote zu reflektieren. Die Liturgie der politischen Korrektheit überzieht zumindest die westliche Welt. „Fragwürdig scheint auch die zugrundeliegende Vorstellung, sämtliche menschlichen Verhältnisse könnten so figuriert werden, dass sie nicht mehr vieldeutig und ambivalent, sondern nur noch von vermeintlich guter, reiner und geordneter Art sind.“ Dieser Satz gefällt mir besonders gut: „Teilen nicht alle Ideologien diese militante Feinsäuberlichkeit miteinander?“ Und natürlich dieser Hinweis: „Muss, wer an ihr zu zweifeln wagt, sich nicht beinahe zwangsläufig von empörten Chören zum Feind erklären lassen?“

Wir bewegen uns im Buch auf den Menschen zu, der feinfühlig verstehen, andeuten und gekonnt reagieren kann: „Taktfähige Existenzen können mit einem Minimalismus im Ausdruck aufwarten, wo dem großen Rest nur der breite Pinsel zur Verfügung steht.“ Sie huldigen dem Gebot des Augenblicks und zeigen lieber das Signal einer gelassenen Co-Ahnungslosigkeit. Diese Menschen begehen keine Taktlosigkeiten, das Vulgäre wie oben vom linken Ministerpräsidenten formuliert, ist ihnen fremd.

„Höflichkeit ist Design, Takt ist Kunst.“ Bis zur Seite 105 durfte ich gespannt sein, um diese Differenzierung zu begreifen. Erst mit diesen beiden Elementen kann jede andere Person begriffen und nicht per se als Vollidiot eingestuft werden, nur so sind Unterhaltungen und Verstehen möglich. Der deutsche Hang nach Ehrlichkeit und Wahrheit steht dem oft entgegen und entfaltet in einer aktuellen Ideologie (Multikulti) seine kompromisslose, unhöfliche, taktlose Ausgrenzung.

Tatsächlich wurde meine Kritik beim Lesen (Hang zur Paraphrase) am Ende des Buches aufgegriffen und zurecht angeführt. Die Möglichkeit zur Würde erfordert das Wiederholen, die Einübung, um das innere Raubtier zu zähmen, ihm Grazie und Eleganz zu verleihen.

Bewertung vom 28.08.2024
Deutschland auf der schiefen Bahn
Sarrazin, Thilo

Deutschland auf der schiefen Bahn


ausgezeichnet

Am 23. August 2024 erschien in der NZZ ein Artikel mit der Überschrift: „Eine Wirtschaftsnation schafft sich selbst ab.“ Der Autor skizziert den Rückgang der deutschen Wettbewerbsfähigkeit und die schleichende Deindustrialisierung, er wählt dafür die Überschrift eines früheren Buches von Thilo Sarrazin. In fast allen Punkten sind die vorhergesagten Entwicklungen wahr, in vielen Bereichen sogar noch dramatischer geworden.

Thilo Sarrazin erklärt in diesem neuen Buch alle aktuellen Probleme und vermittelt, wie man sie lösen könnte. Seine Fähigkeit, sachlich klar zu sehen und notwendige Maßnahmen zu skizzieren, war Jahrzehnte lang Grundlage seiner ehemaligen Partei. Sarrazin war ein höchst kompetenter Mitarbeiter, der im Stillen arbeitete und vor kurzem von dieser Partei ausgeschlossen wurde, weil er die Religion des Islam analysierte und ihre Probleme verdeutlichte. Niemand in der SPD wollte darauf hören - bis zum heutigen Tag, bis Solingen im August 2024.

Die Politik sollte nach Thilo Sarrazin heute Konzepte für das magische Viereck umsetzen, d.h. in der gleichzeitigen Sicherung von Rechtsstaat, Demokratie, Meinungsfreiheit und einer stabilen Friedensordnung. Er analysiert alle relevanten Felder, in denen Politik für eine Stabilität dieses Vierecks sorgen muss und macht konkrete Vorschläge. Nichts bleibt außen vor und die Sprache vermittelt verständliche Sachlichkeit mit nachvollziehbaren Umsetzungen.

„In jedem Fall ist deutlich geworden, dass ein naiver Pazifismus, wie er die deutsche Politik seit den Neunzigerjahren weitgehend parteiübergreifend erfasst hatte, unhistorisch ist uns sehr gefährlich werden kann.“ Deutschland hat hier jegliches Maß und die Mitte verloren, die für Staaten so wichtig ist. Ludwig Erhard hatte mit seinem Appell zum Maßhalten 1965 nach Sarrazin völlig recht, obwohl er damals verlacht wurde. „Wenig später bewirkte dann die erste westdeutsche Nachkriegsrezession jene Disziplinierung bei Staatsausgaben, Löhnen und Preisen, die seine Appelle nicht erreicht hatten.“

Auch demokratische, freiheitliche Gesellschaften müssen nicht so bleiben, ihr Bestand ist immer auch bedroht, z.B. von innen her durch die Macht der Parteien und zu lang agierende Regierungspolitiker, von außen z.B. durch Migration, Asyl und Parallel- bzw. Gegengesellschaften. Dies zu erkennen, ist der Kern dieses Buches und die Beschreibung der Bedrohungslagen. Die Zukunft Deutschlands ist offen, wobei das große, weit einladende Scheunentor für Zuwanderer aus fremden Kulturen mit dem Mythos der Vielfalt hell bestrahlt wird bzw. das größte Problem darstellt. Solange hier klare Lösungen abgelehnt werden, wird die tektonische Verschiebung bei der Wählergunst weitergehen, prognostiziert Thilo Sarrazin.

Thilos Sarrazin war für mich in allen seinen Büchern ein Gradmesser für Sachlichkeit und gelungene Analysen, ein kompetenter Zusammenfasser möglicher Lösungen, immer verständlich und klar formulierend. Auch heute noch würde ich mir wünschen, er wäre an verantwortlicher Stelle der Bundesregierung tätig oder würde zumindest noch verantwortliche Beamte und Staatsangestellte schulen. „Eine maßgebende Wende in der Asyl- und Einwanderungspolitik ist für mich eine zentrale Bedingung, um die Zukunft Europas, der EU und auch Deutschlands zu sichern.“

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