Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
GeSchwaetz

Bewertungen

Insgesamt 30 Bewertungen
Bewertung vom 14.10.2023
The Magic Border
Parks, Arlo

The Magic Border


ausgezeichnet

The magic border of poetry

„Beim Schreiben von Lyrik geht es für mich um tiefe Innerlichkeit.“ Mit diesem Satz beginnt Arlo Parks ihr einführendes Statement zu ihrem Buch „The Magic Border“. Und sie erläutert weiter: „Wenn ich schreibe, fühle ich mich, als würde ich lernen, schwierige Dinge weicher zu machen und sie dann zu externalisieren.“
Einen Menschen macht in seinem Leben, seinem Empfinden, seiner Kunst, nicht nur eines aus. Und so ist es interessant und auch mutig, dass die Künstlerin hier ihre Gefühlswelt aus Lieben, Ängsten, Zweifeln, Sprache, Poesie, Musik und Bildern der Öffentlichkeit zur Einsicht übergibt.
Ich habe beim Lesen des Buches das aktuelle Album von Arlo Parks „My Soft Machine“ gehört, wodurch ihre Texte, die so viel Liebe, Zweifel, Fragen und Sehnsüchte enthalten, die vom leichtgängigen Rhythmus der Musik und ihrer sanften Stimme zärtlich umspielt werden, noch intensiver wirken. Auf diese Weise ist ein sehr poetisches Gesamtkunstwerk entstanden.
Ihr Blick auf dem Cover aus einem freundlichen Himmelblau heraus, richtet sich nicht an die Betrachtenden dieses Fotos, sondern sucht vielleicht die magische Grenze zwischen der Poesie ihrer Seele und der Wahrhaftigkeit des Lebens.
Der Übersetzung von Amanda Mukasonga hätte etwas mehr Geduld und Sorgfalt gut getan. Schon im Inhaltsverzeichnis ist nicht alles ins Deutsche übertragen worden. Mal eine vertauschte Reihenfolge von Zeilen und mal eine nicht sehr treffende Formulierung, die dem Original nicht gerecht wird, lenken kurz ab, schmälern aber nicht wirklich das Leseerlebnis, dieses Buches, dass man bestimmt öfter zur Hand nehmen wird.

Bewertung vom 09.10.2023
Ich erkenne eure Autorität nicht länger an
Bech, Glenn

Ich erkenne eure Autorität nicht länger an


ausgezeichnet

Tacheles reden. Weil es nötig ist.

Diskriminierungen gegen Menschen, die nicht der sogenannten heteronormativen Lebensführung entsprechen, die aus finanziellen, familiären und diversen anderen Gründen nicht zu den Privilegierten gehören, finden nicht nur weiterhin im Alltag statt, sie nehmen auch zu. Warum wird erwartet, dass Menschen sich und ihre Art zu leben und zu lieben, erklären und rechtfertigen sollen? Hilft es dem Einzelnen wirklich, wenn Stars sich in den sozialen Medien outen und sich symbolisch zum gleichberechtigten Leben aller auf allen Ebenen bekennen?
Aus seiner Hilflosigkeit und Wut heraus schrieb Glenn Bech dieses Manifest, in dem er über seine sehr persönlichen Erlebnisse mit Diskriminierung, Mobbing u.a. berichtet und viele Fragen stellt, die jeder Lesende sich selbst beantworten kann.
Dieses Manifest ist ein Aufruf, uns gegenseitig mehr Raum zu geben, sich wieder auf Empathie und Menschlichkeit zu besinnen. Traurig, dass so etwas nötig ist. Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Das Leben ist kein Film

Daniel Kehlmann erzählt eingebettet in die historischen Ereignisse des 2. Weltkrieges, aus dem Leben und Arbeiten des Regisseurs G.W.Pabst, der zu seiner Zeit, dem Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, sehr berühmt war.
Wunderbar vielsagend beginnt dieser Roman, mit dem Vergessen dessen, was während des Krieges passierte. Vor allem von denen, die sich schuldig fühlten und schuldig waren.
Stellvertretend für unzählige Menschen, wird an G.W.Pabst sehr nachvollziehbar aufgezeigt, wie schwierig es ist, sich in politisch komplizierten Zeiten soweit anzupassen, um überleben zu können, auch wenn einem moralisch vieles gegen die Überzeugungen geht.
Der Regisseur denkt weder politisch korrekt, wie die Reichsfilmkammer es von ihm fordert, noch verhält er sich clever, als es noch die Möglichkeit zu reisen, zu emigrieren gibt. Nach einem Aufenthalt in Hollywood, kehrt er nach Europa, nach Österreich, zurück und soll Filme zur Unterhaltung des Publikums drehen. Immerhin blieben ihm Propagandafilme erspart.
Nach dem Verlust des Material seines Films „Der Fall Molander“, der nach der vehementen Aussage seines Assistenten nie gedreht wurde, hat er sich mehr und mehr in sich selbst zurückgezogen, sich immer heftiger in seine Obsession des Filmemachens hineingesteigert und ist der Welt entflohen. Er versucht, mit Verdrängung der Realität durchs Leben zu kommen. Alles was er sieht und erlebt, betrachtet er aus der Perspektive des Filmemachers. Doch das Leben ist kein Film.
Daniel Kehlmann nutzt gekonnt einige literarische Stilmittel, seinen subtilen Humor und zeichnet sehr einfühlsam die unterschiedlichsten Figuren, ohne zu werten, so dass sie einem fast alle ans Herz wachsen.
Dieses „Lichtspiel“ ist auch deshalb so interessant, weil viele Beschreibungen, Szenen, Dialoge u.a. spiegeln, was für uns heute relevant und politisch sehr aktuell ist.
Die Lektüre dieses Romans ist sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 25.08.2023
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


sehr gut

Bestandsaufnahme statt Zukunftsvision im globalen Dorf.

Ein einsames Dorf, irgendwo im beginnenden Nirgendwo. Eine riesige Hecke, hoch wie ein Leuchtturm, in baumloser Weite. Leerstehende Häuser. Eine Pension ohne Gäste. Dort leben nur noch wenige Erwachsene, zwei kleine Kinder und ein Hund. Auf der Landkarte nur noch als winziger grüner Strich zu entdecken. „Das geht nicht nur uns so. Auch andere Orte verschwinden, Inseln gehen unter, Berge zerbröseln zu Steinklumpen, Klümpchen, zu Staub.“ Alles schwindet. Nur die Hecke wächst. Hinter der großen Hecke vermutet die kleine Pina die Welt. Was tut sie? Was ist der Plan? Gibt es überhaupt einen?
Ihre Mutter arbeitet auf einem Forschungsschiff in der Arktis.
Gianna Molinaris Wissenschaftler, Meeresbiologen, Geologen u.a. versuchen, die Erde, die Natur, rückwärts zu verstehen, denken aber nicht vorwärts. Zumindest wird keine Zukunftsvision angedeutet. Oder soll der Verweis auf die Zugvögel uns sagen, einst werden Beduinen unsere Lehrmeister sein? Ihre Figuren erzählen ständig, sie stellen sich dies und jenes vor zu tun, aber sie verändern nichts. Weil sie keine Zukunft haben? Weil sie resignieren?
Antworten gibt die Autorin nicht. Wir tragen das Wissen um den Zustand unserer Erde in uns.
Gianna Molinari vermengt viele Zutaten für eine Geschichte, die ein Roman werden sollte, wie für eine Bouillabaisse àla Arctica. Jeweils ein paar Gramm Inspirationen aus Nils Holgersson, dem Kleinen König, der Insel der besonderen Kinder, aus Dokumentarfilmen, Zeitungsmeldungen aus den Rubriken, Wissenschaft, Kurioses und Vermischtes u.a.m. Doch das Ergebnis blieb für das große Format dann doch zu klein. Wie die Kinder im Dorf mit der Hecke. Alles ist wie von einem Schlafrock umhüllt und hat beim Verzehr einen dumpfen, trägen, ermatteten, hoffnungslosen Sound.
Die abstrakte Symbolik auf dem Cover war für mich nicht kaufanregend.
Während der Lektüre verstand ich sie allerdings sehr gut. Sie hätte durchaus eindeutiger sein können, denn unser Umwelt-und Klimaproblem ist längst nicht mehr abstrakt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.08.2023
Der Vorweiner
Bjerg, Bov

Der Vorweiner


ausgezeichnet

Ein Roman wie ein Blick in den Spiegel der Zukunft.

Resteuropa Ende des 21. Jahrhunderts. Westresteuropa liegt unter grauen Wolken und leidet durch ewigen Regen. Ostresteuropa ist eine Steppe unter knallblauem Himmel und leidet durch ewige Trockenheit. Ein Gürteltier überquert die Straße, die von autonomen Elektroautos befahren wird.
Die Meeresspiegel steigen an. Jütland ist untergegangen. So haben sich Nord-und Ostsee zu einem Meer vereint.
Frauen befinden sich meist in höheren Positionen, Männer fast nur in Dienstleistungsjobs.
Die Menschen sind emotions- und empathielos geworden. Sie sind nicht mehr in der Lage zu trauern. Sie können ihre verstorbenen Angehörigen nicht mehr beweinen und stellen Vorweiner ein, die durch Agenturen vermittelt werden. Diese Menschen mussten wegen schlechter Lebensbedingungen aus ihren Ländern nach Resteuropa flüchten. Verstorbene werden nicht mehr beerdigt. Die Erklärung dafür ist nicht sehr überraschend. Ihre Asche wird verstreut. Je überzeugender und ansteckender der Vorweiner bei den Zerstreuungsfeiern weint, desto angesehener wird der Beweinte im Nachhinein in der Gesellschaft.
Bov Bjerg erzählt diese düstere Zukunftsvision mit sehr feinem Humor und augenzwinkerndem Sprachwitz, dass es eine sehr unterhaltsame Freude war, diesen Roman zu lesen. Auch, wenn einiges noch etwas unausgegoren wirkte.
Die Buchgestaltung (Cover, Einband, Vorsatz) in den Farben Schwarz, Rot, Gold finde ich passend und gelungen. Rundherum empfehlenswert.

Bewertung vom 06.06.2023
Die Zeitreisende
Lemper, Ute

Die Zeitreisende


sehr gut

Wer Ute Lemper ist, muss man nicht erklären.

Weltstar Ute Lemper scheint uns mit ihrer Autobiografie zuzurufen: Willkommen! Bienvenue! Welcome! in den Erinnerungen meines Lebens.
Und ihr künstlerisches und privates Leben ist so umfangreich, dass dieses Buch uns natürlich nur ein paar wenige, aber sehr interessante Einblicke geben kann.
In 60 Jahren hat sie eine Menge Zeitgeschichte miterlebt, hat viele unterschiedliche Künstler*innen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten getroffen und kreativ in gegenseitiger Inspiration mit ihnen zusammengearbeitet.
La Lemper präsentiert mit diesem Buch eine Zeitreise durch ihre Erinnerungen, die beim Lesen so einiges an zeitgeschichtlichen Erlebnissen im eigenen Gedächtnis antippen.
Das Buch empfand ich dort am besten, am stärksten, am eindrucksvollsten, wo Passagen aus ihrer ersten Autobiografie „Unzensiert“ (1995) eingeflochten wurden.
Ihre kreative und teilweise poetische Sprache, die allerdings zu oft ins Kitschige abgleitet, trübt die Lektüre etwas, passt aber zu der Künstlerin die sie ist.
Kein standing Ovation, aber herzlicher Applaus.

Bewertung vom 28.05.2023
Für jede Liebe ein Problem
Kelly, Anita

Für jede Liebe ein Problem


ausgezeichnet

„Chef‘s Special“ ist eine Kochshow, die in Los Angeles für das landesweite amerikanische Fernsehen gedreht wird und ein geeignetes Setting, um unterschiedliche Menschen zusammenzuführen.
Dahlia Woodson ist frisch geschieden, hat ihren Job gekündigt, ist so gut wie pleite und möchte unbedingt die Siegprämie von einhunderttausend Dollar gewinnen. Die Romanfigur der Dahlia Woodson ist etwas crazy, leicht überdreht, redet viel und schnell und tappt öfter mal in ein paar Fettnäpfchen. Im Grunde ist sie eine unglückliche Seele, die krampfhaft versucht, mit der zur Schau gestellten Coolness und ihrem Humor, von ihrer Unsicherheit und ihren Problemen abzulenken.
London Parker ist die erste nonbinäre Person, die an dieser TV-Show teilnimmt und sich öffentlich outet, in dem London die zutreffenden Pronomen nennt.
Dahlia und London lernen sich mit der Zeit immer besser kennen und kommen sich nicht nur an den Kochinseln im Fernsehstudio näher.
Das Thema LGBTQIA+ ist ein zentraler Punkt im Rezept für diese RomCom, die mit pikanten und erotischen Zutaten, gewürzt mit Humor und Esprit, für Leser*innen jeden Alters bekömmlich ist.
Vielleicht erleben wir es ja noch, dass unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Identitäten akzeptiert werden und dass Einordnungen in Kategorien nicht mehr nötig sind.
Nach über 2000 Jahren Menschheitsgeschichte sollte es kein Problem sein, Personen mit denen von ihnen gewählten und bestimmten Namen und Pronomen anzusprechen. Das Leben und Lieben wäre für alle einfacher und angenehmer. Der Originaltitel „Love & Other Disasters“ wäre ohnehin treffender für die Geschichte, die Anita Kelly sehr flott, humorvoll und einfühlsam erzählt.
Anita Kelly dankt im „Abspann“ Hetty Windley „ … für ein Cover, das mir den Atem geraubt hat, und dafür, dass meine beiden so verdammt heiß aussehen.“
Und: LGBTQIA+-Flagge zeigen! ist eine schöne Idee für die Cover-Gestaltung und des HarperCollins Verlages.
All jenen, die Appetit auf diesen Roman bekommen haben, wünsche ich eine genussvolle Lektüre.

Bewertung vom 05.03.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Vom Zusammenwachsen des Schreibens mit dem Leben.
Wie viel autobiografisches der Autorin steckt in ihren Büchern? Eine der immer wiederkehrenden Fragen, die wir uns stellen. Wollen wir es wirklich wissen und wenn ja, wie befriedigend können Antworten darauf sein?
Judith Hermann hat sich für die Frankfurter Poetikvorlesungen darauf eingelassen und erzählt in einer klaren und authentischen Sprache vor allem „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben.“
Auch Schreibende brauchen ihre privaten Schutzräume und so projizieren sie ihre Wünsche, Träume und Imaginationen auf ihre Figuren, die ein stellvertretendes, ein eigenes Leben entwickeln, in dem Wahres und Fiktives miteinander verwoben wird, so dass eine Symbiose von Leben und Schreiben entsteht, bei der man am Ende den Unterschied zwischen Erlebtem und Erdachtem nicht mehr benennen kann. Das muss man auch gar nicht, denn in der Literatur kommt es nicht auf die eine Wahrheit an, sondern auf Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit, auf das nachvollziehbare Gefühl, das vermittelt wird.
Das Geschichtenerzählen ist seit jeher in unserem Sozialleben tief verwurzelt. Welche Geschichte man wie erzählt, hat vor allem mit einem selbst, seinem Gegenüber und dem Augenblick, einem bestimmten Zeitpunkt im Leben, einem besonderen Anlass zu tun. Was man nicht direkt sagen kann, kleidet man in Geschichten, vor allem, wenn man einen der seltenen Momente verpasst hat, in denen man sich hätte alles sagen können.
Das Cover, ein Ausschnitt des Gemäldes „Squall“ des amerikanischen Malers Andrew Wyeth, vermittelt ein beruhigendes Gefühl, obwohl sich draußen über dem Meer ein Unwetter zusammenbraut. Eine wunderbare, fast poetische Metapher für das Zurückziehen an einen sicheren Ort, von dem aus man die Unbill der Natur beobachten kann, genauso wie man im stillen Zimmer ein Buch aufschlägt und sich lesend in die Welt des Schreibenden hinein begibt.
Ein anregendes, ein interessantes, ein empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 02.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Historische Geschichte im packenden Roman

Die Biografien vieler Menschen ähneln sich. Historische Geschichte und Familiengeschichten wiederholen sich ebenso wie Konflikte zwischen Menschen, Familien und Gesellschaften über viele Generationen immer wieder.
Sabrina Janesch erzählt in ihrem Roman „Sibir“ spannend, einfühlsam und authentisch das ereignis- und erlebnisreiche Leben des Josef Ambacher, das stellvertretend für unzählige vertriebene, verschleppte, geflüchtete Menschen, die Opfer von Kriegen und Willkür wurden, steht.
Die Autorin beschreibt die Verschleppung deutscher Zivilisten durch die Rote Armee, die diese Menschen 1945 in Viehwaggons nach Sibirien transportierte und wie diejenigen, die diese wochenlange Fahrt überlebt haben, in der Kasachischen Steppe unter Aufsicht der Sowjets versuchten weiter zu leben. Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde in einen Gulag (Straf- und Arbeitslager) geschickt.
Durch das Abkommen Konrad Adenauers mit Nikita Chruschtschow durften die Zivil-und Kriegsgefangenen 1955 nach Deutschland ausreisen.
Als 1990/91 nach dem Zerfall der Sowjetunion Russlanddeutsche Aussiedler im deutschen Mühlheim ankommen, in dem Josef Ambacher mit seiner Familie lebt, werden Erinnerungen wach.
Knapp 30 Jahre später wird Josef Ambacher dement und seine Tochter versucht ihm einige Erinnerungen an seine Kindheit zu entlocken, um sie aufzuschreiben und diese Zeit zu rekonstruieren. Die Zeitzeugen sterben langsam aus. Umso wichtiger ist es, so viele Details wie möglich aufzubewahren und weiter zu reichen.
Ich bin begeistert von diesem sehr guten Buch zu einem wichtigen und interessanten Thema. Leseempfehlung!
Für das Cover hätte ich mir ein Motiv der Steppe Kasachstans gewünscht, denn die hat den Protagonisten nie losgelassen.

Bewertung vom 27.10.2022
Für euch
Sayram, Iris

Für euch


ausgezeichnet

Berührende Familiengeschichte mit Lokalkolorit

Iris Sayram, Journalistin und Rechtsanwältin, hat einige ihrer Erinnerungen über ihre Kindheit und ihr Aufwachsen in den 1980er und 90er Jahren aufgeschrieben.
Wie das Cover vermuten lässt, steht ihre Mutter im Mittelpunkt, der sie das Buch auch gewidmet hat.
Mutter Irmtraud, Jahrgang 1939, deren Vater auf Bildung keinen Wert legte, musste nach sieben Jahren in der Schule arbeiten gehen, um die Familie finanziell zu unterstützen. Das sollte sich durch ihr gesamtes Leben ziehen.
Zwei frühen Ehen scheiterten, zu ihren Kindern aus diesen Beziehungen verlor sie jeglichen Kontakt. Als sie trotz Jobs obdachlos war, lernte sie in Köln Mustafa kennen, durch den sie ein Zimmer bei dessen Vermieterin bekam. Er war einer der ersten Gastarbeiter aus der Türkei und arbeitete zunächst bei „Ford“. Später gleitet er ins Zockermilieu hinüber und hat kein regelmäßiges Einkommen mehr.
Die beiden verliebten sich ineinander und bekamen Tochter Iris. Die kleine Familie lebte in finanziell armen Verhältnissen. Die Eltern, besonders die Mutter, versuchte unermüdlich dafür zu sorgen, dass es der Tochter an nichts fehlte. „Für euch“ mache ich das, sagte die Mutter oft. Und aus Bewunderung für das Durchkämpfen durch ein so schwieriges, trauriges Leben, mit tragischen Ereignissen, und aus Dankbarkeit für ihre Eltern, schrieb Iris Sayram dieses Buch „Für euch“.
Sie erzählt in einer einfachen Alltagssprache, selbstironisch-und kritisch, ohne wehleidig zu werden, wie aus einer, die eigene Seele schützenden, Abwehrhaltung heraus. Denn, obwohl Kinder nichts dafür können, wer, was und wie ihre Eltern sind, sind sie ihr peinlich gewesen. Und es ist ein berechtigter Stolz zu spüren, dass sie, obwohl niemand ihr das zugetraut hatte, Abitur, Studium und finanzielle Selbständigkeit erreicht hat.
Ein Buch, das uns aufzeigt, auch in scheinbar ausweglosen Situationen, kann man Lösungen finden und sollte nicht zu schnell aufgeben.
Trotz all der Dramatik hat man durch den flüssigen Erzählstil eine gute Lesezeit.