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Benutzername: 
Antie
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 16 Bewertungen
12
Bewertung vom 07.04.2021
Der Schneeleopard
Tesson, Sylvain

Der Schneeleopard


gut

Es klingt spannend: Ein von seinem Wesen her unruhig-rastloser Autor und Weltenbummler und ein in sich gekehrter fanatischer Tierfotograf machen sich gemeinsam mit zwei Weggefährten in Tibet auf die Suche nach den sehr seltenen und oft schon als ausgestorben geltenden Schneeleoparden.
Das Ergebnis könnte also ein spannendes Buch sein, doch was uns „Der Schneeleopard“ bietet, hat mit einem interessanten Roadtrip absolut gar nichts zu tun. Die äußere Handlung tritt hinter der inneren zurück. Als Leser*in erfährt man zwar, dass es in der Bergwelt Tibets sehr kalt ist, dass es Wölfe, Blauschafe, Yaks und Geier gibt und dass man viel Geduld braucht, um am Ende mit erfüllenden Eindrücken wilder Tiere heim kehren zu können, doch über die Protagonisten gibt es außer wenigen Andeutungen kaum Informationen und ein Spannungsbogen fehlt gänzlich. Stattdessen stellt das Buch erhebliche Ansprüche intellektueller und sprachlicher Art. In teilweise poetischer, manchmal jedoch auch verstiegener Sprache enthält es Landschaftsschilderungen und viele Reflexionen über den Menschen in der Natur, seine unrühmliche Rolle als Krone der Schöpfung und nicht zuletzt Gedanken zu fernöstlicher Philosophie und Religion.
Es ist schwierig zu entscheiden, ob es an der Übersetzung aus dem Französischen liegt oder ob der Autor selbst tatsächlich einen so ungewöhnlichen Wortschatz hat, der durch die Übersetzung kongenial abgebildet werden sollte, aber Wörter wie „albuminös“ erscheinen als Manieriertheit. Mit deutlicher Klarsichtigkeit beschreibt Sylvain Tesson sich selbst in folgender Weise: „Während meine Freunde die Welt durch das Fernrohr sezierten, lauerte ich auf einen Einfall – nein, schlimmer noch! -, auf ein Bonmot. In jeder freien Minute schrieb ich Aphorismen.“ (S.125) Das genau ist die Crux dieses Buches, dessen Anliegen, Achtung vor der Natur zu wecken, an sich nicht hoch genug angesiedelt werden kann. Aber in artifizieller Sprache hält der Autor dieses Anliegen für die Leser*innen auf Distanz und weckt keinerlei Empathie für das Personal. Es scheint ihm eher um wohlformulierte Sätze als um die Tiere in der grandiosen Einöde Tibets zu gehen.
Für Liebhaber*innen von meditativ-philosophischen Büchern, die sich gerne von langsam erzählten Texten mitnehmen lassen, kann „Der Schneeleopard“ einen Kontrapunkt zu Hektik, Oberflächlichkeit und Medienkonsum bieten. Wer die Erwartung hat, einen mitreißenden Roman zu lesen, wird jedoch enttäuscht werden.

Bewertung vom 26.03.2021
Aus der Mitte des Sees
Heger, Moritz

Aus der Mitte des Sees


ausgezeichnet

Tiefsinn und Klosterkitsch
Moritz Heger kennt sich aus – keine Frage! Er hat Theologie studiert, also machen ihm die vielfältigen theologischen Überlegungen seines Protagonisten Lukas keinerlei Probleme, Bibelstellen sind korrekt zitiert und ausgelegt. Er war als Gast mehrmals im Kloster, wie er im angehängten Interview berichtet, also kann er kompetent über den Tagesablauf, über Gebetszeiten und Riten schreiben. Er ist in die Landschaft eingetaucht, die er schildert, also sind seine Landschaftsbeschreibungen stimmig, geographisch und geologisch bis in Einzelheiten nachvollziehbar und evozieren viele Bilder. Unschwer erkennt man das Kloster Maria Laach und seine Umgebung. Weil ihm dieses alles vertraut ist, kann Moritz Heger aus dem Vollen schöpfen. Und trotzdem gibt es ein Aber.
Die Reflexionen des Protagonisten, die sich um seinen Glauben, seinen Orden, sein Verhältnis zu Frauen und nicht zuletzt auch um Gott drehen, ergeben einen nicht enden wollenden inneren Monolog, der sich oftmals an jeweils unterschiedliche Adressaten richtet. Mal an seinen Freund und ehemaligen Mitbruder Andreas, mal an einen seiner Mitbrüder und mal an Sarah, die Frau, mit der er am Ende eine leidenschaftliche Nacht verbringt. Nicht immer weiß man sofort, wer das angesprochene „du“ nun gerade ist.
Auf den ersten Seiten scheint eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Leben als Mönch und seinen Implikationen (Zölibat, Einhalten der Ordensregeln) angebahnt zu werden. Jedoch verliert der Autor das innere Gegenüber seines Freundes Andreas, der selbst das Leben als verheirateter Laie dem Mönchsein vorgezogen hat, im Laufe der Handlung vollkommen aus den Augen. Nun geht es nur noch um Sarah, allerdings wird das, was eine nähere Bekanntschaft oder gar Intimität unter den Rahmenbedingungen des Klosterlebens schwierig machen könnte, zu wenig deutlich. Auch eine Auseinandersetzung mit Gewissensinstanzen, die bei einem Mönch zu erwarten wären, findet nicht statt. Dadurch wirkt die sexuelle Begegnung überraschend, irritierend und die Folgen am Ende, im Epilog, unglaubwürdig und kitschig. So reibungslos kann man sich ein Dasein als Prior eines Klosters und gleichzeitig als Vater in einem Kloster der katholischen Kirche nicht vorstellen.
Nicht frei von Kitsch sind auch die Gedanken über Sarah: „Wie die Sonne bist du für mich.“ Man hätte sich hier einen Lektor gewünscht, der beherzt manchen unglücklichen Vergleich getilgt hätte. So auch zum Beispiel diesen: …“wie wenn wir zwei Briefe wären, die einander nicht aufreißen müssen, um sich lesen zu können.“
An vielen Stellen kann man sich von den oftmals tiefgründigen Gedanken des Mönchs mitnehmen lassen, dessen Tiefgründigkeit ja bereits als gewaltige, quasi omnipräsente Metapher durch den See und durch das Schwimmen gegeben ist. Auch ist es ein Roman, dessen Bezüge zu Bildungsgütern (Rilke, die Bibel) mehr als deutlich sind. Wer ohne Vorwissen ans Lesen geht, kann immer noch von der Liebesgeschichte profitieren. Wer einen Zwiespalt und Glaubenskonflikt erwartet hat, wird am Ende enttäuscht.

Bewertung vom 26.03.2021
Der große Sommer
Arenz, Ewald

Der große Sommer


sehr gut

„Der große Sommer“ trägt seinen Titel zu Recht. Ewald Arenz erzählt von dem ereignisreichen Sommer des ca. 16-jährigen Friedrich. Er hat das Klassenziel nicht erreicht und muss deshalb in den Sommerferien für die Nachprüfungen lernen, ausgerechnet im Haus seines unnahbaren Großvaters. Doch dabei entdeckt er nicht nur unter der abweisenden und pedantischen Schale dessen zugewandte und fürsorgliche Seiten, sondern er erlebt auch Abenteuer zusammen mit seinem Freund Johann, seiner Schwester und mit Beate, die seine große Liebe wird.
Ewald Arenz erzählt gekonnt und mit viel Einfühlungsvermögen für seine Protagonist*innen in diesem Coming-of-Age-Roman von den wilden, sehnsuchtsvollen, schwierigen und erfüllten Momenten eines Heranwachsenden, der sich immer größere Eigenständigkeit und Verantwortungsbewusstsein erarbeitet und in diesen Sommerferien einen deutlichen Reifesprung macht. Daneben werden wie beiläufig auch die Schicksale seiner Großeltern sichtbar und ihr Handeln auf dem Hintergrund ihres eigenen Lebensweges erklärbar und verständlich.
Weitere Themenfelder wie psychische Krankheiten, Tod, Geschwisterliebe, Rollenverteilung und -erwartungen tun sich auf, ohne aufdringlich oder belehrend daherzukommen.
Insgesamt sind die Charaktere glaubhaft gezeichnet, insbesondere die Innensicht des Ich-Erzählers Friedrich ist überzeugend gelungen. Allerdings meint man als Leser*in oft, nicht einen Neuntklässler, sondern einen älteren Jugendlichen vor sich zu haben. Gelegentlich scheint im Hintergrund der Lehrer Ewald Arenz auf. Das stört den Lesegenuss aber nicht. Dieser Roman liest sich süffig und reiht sich nahtlos an den Erfolg von „Alte Sorten“.
Ein Hingucker ist auch das Cover, das haptisch besonders ansprechend ist.

Bewertung vom 24.03.2021
Fürchtet uns, wir sind die Zukunft
Oppermann, Lea-Lina

Fürchtet uns, wir sind die Zukunft


ausgezeichnet

Theo ist achtzehn Jahre alt und gerade neu an der Musikakademie angenommen worden. Für ihn sind die ersten Eindrücke dort überwältigend. Als angehender Pianist findet er in dem verständnisvollen Professor Goldstein einen ungewöhnlichen Mentor, der ihn darin bestärken kann, seine Ausdrucksfähigkeit zu entfalten. Am Schluss des Buches führt das dazu, dass Theo in einem Klavierwettbewerb eine eigene Komposition spielt und in traumwandlerischer Weise neue Erfahrungen machen kann. Vorher allerdings lässt er sich auf die geheimnisvolle Aida ein, die in der Akademie DIE ZUKUNFT, eine geheime und subversive Bewegung, anführt. Theo verliebt sich in sie und wird im Kontakt zu ihr zu Neo, der einige Abenteuer erlebt und vor nie gekannte Herausforderungen gestellt wird. Diese Liebesbeziehung endet jedoch mit einer großen Enttäuschung. Dagegen werden andere neue Bekanntschaften für ihn zu Möglichkeiten, sich selbst zu finden. Die junge Autorin Lea-Lina Oppermann kann aufgrund eigener Erfahrungen eine sehr authentische Atmosphäre der Akademie und der Ausbildung zum Musiker schildern. Die Handlung ist spannend, sodass man als Leser*in an vielen Stellen mitfiebern kann, und der insgesamt gesellschaftskritische Ansatz wirkt durch die Verpackung in Aidas Reden nicht aufgesetzt. Ihre Charaktere sind jedoch nicht immer genügend glaubwürdig gezeichnet. Die Plausibilität der plötzlichen Entwicklung ihres Protagonisten Theo zu einer unkonventionellen, ja aufrührerischen Sichtweise und einem Handeln, das zum Teil den Straftatbestand erfüllt, ist zu wenig nachvollziehbar. Trotzdem ist „Fürchtet uns, wir sind die Zukunft“ eine Lektüre, die aufgrund der außergewöhnlichen Rahmenbedingungen und der Einblicke, die sie in ein Umfeld gewährt, das den meisten Leser*innen wohl nicht vertraut sein dürfte, auf jeden Fall ein Gewinn. Dieses Buch wendet sich in besonderer Weise an junge Musikfans, die auf der Suche nach ihrem eigenen Weg Neues wagen und ihrer inneren Stimme folgen wollen.

Bewertung vom 20.03.2021
Nordwesttod / Soko St. Peter-Ording Bd.1
Jensen, Svea

Nordwesttod / Soko St. Peter-Ording Bd.1


ausgezeichnet

Ein Kriminalkommissar, der nach dem Tod seiner Frau freiwillig in den Streifendienst zurückkehrt, eine Ermittlerin, die nach ihrer Scheidung aus Bayern an die Nordseeküste kommt und eine vermisste Person, die als Umweltaktivistin agiert, sind die Handlungsträger in diesem Krimi. Mit „Nordwesttod“ hat Svea Jensen ein absolutes Muss für alle Fans von Sankt Peter Ording geschaffen.
Die Örtlichkeiten, die sie wie beiläufig in die Handlung einflicht, entsprechen der Wirklichkeit und die Atmosphäre des Ortes und der Halbinsel Eiderstedt sind gut eingefangen. Wind und Wellen, Sand und Strand kommen noch etwas zu kurz, aber es ist ja auch der erste Band von mehreren geplanten, also der Auftakt zu einer Krimireihe.
Insofern kann sich die Autorin Zeit bei der Entwicklung ihrer Personen lassen. Auf den ersten Blick ist das Personal in diesem Buch interessant und sympathisch, ihre Verflechtungen und angedeuteten oder schon weiter auserzählten Konflikte glaubwürdig. Ebenso wirken die Dialoge authentisch und norddeutsch.
Die stringente personale Erzählweise ermöglicht den Leser*innen verschiedene Perspektiven, die Handlung ist nicht unnötig verschachtelt, sie ist geradlinig erzählt und durch den Ablauf einer Woche klar gegliedert.
Der Vermisstenfall wirkt vor allem durch die zugrunde liegenden menschlichen Beziehungen fesselnd, wenn auch die involvierten Charaktere ein wenig schwarz-weiß gemalt erscheinen. Die Ermittlungen laufen glatt, die letztliche Aufklärung geschieht erstaunlich reibungslos, Durch den Fokus auf die Probleme der Protagonisten tritt die Spannung, die sich im Cover andeutet, in den Hintergrund.
Man möchte unbedingt erfahren, wie es weitergeht mit Hendrik Norberg und Anna. Umso erfreulicher, dass weitere Bände folgen werden.

Bewertung vom 16.02.2021
Was wir scheinen
Keller, Hildegard E.

Was wir scheinen


sehr gut

„Hannah Arendts Leben, ihr Werk, ihr Temperament, ist Kraftnahrung vom Feinsten.“ So äußert sich die Autorin Hildegard E. Keller über ihren Roman „Was wir scheinen“. Auf über 550 gehaltvollen Seiten werden wesentliche Episoden und Begegnungen der Protagonistin Hannah Arendt eindrücklich und frisch geschildert. Schon der Titel verrät, dass es dabei darum geht, unter die Oberfläche zu schauen. Und das tut die Autorin. Sie macht das Leben, Schreiben und Denken von Hannah Arendt in einer Weise lebendig, dass man als Leser*in glaubt, unmittelbar dabei zu sein.
Die 69-jährige Hannah Arendt fährt im Sommer 1975 zur Erholung ins Tessin nach Tegna, wo sie bereits viele Jahre ihren Urlaub verbracht hat. Es wird ihr letzter Urlaub dort sein, doch das weiß sie nicht. Obwohl sie bereits einen Herzinfarkt erlitten hat, bleibt sie dabei, eine starke Raucherin zu sein und vertritt das offensiv ihrem Herzspezialisten gegenüber, der neben seiner Profession als Kardiologe auch Interesse an philosophischen Fragestellungen zeigt. Das Gespräch und die weitere Korrespondenz zwischen ihm und Hannah Arendt ist nur ein Beispiel für viele weitere Kontakte und Unterhaltungen in diesem Buch.
In Rückblenden scheinen viele Begegnungen mit interessanten Gesprächspartner*innen, Freund*innen und Bekannten auf. Nicht wenige davon sind für Hannah Arendt lebenslange Begleiter*innen geworden, die immer wieder in ihren Reflexionen und Erinnerungen eine Rolle spielen. Angefangen von ihren beiden Ehemännern, über ihre Hochschullehrer Martin Heidegger und Karl Jaspers bis zu Kurt Blumenfeld, um nur einige zu nennen. Daneben viele andere weniger wichtige, die jedoch dazu dienen, ihr Denken sichtbar zu machen. Eine besondere Stellung und den anteilig größten Raum im Buch nehmen die Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann und die darauf folgenden Anfeindungen und Sanktionen ein, die Hannah Arendt treffen.
Die personale Erzählweise erlaubt es Hildegard E. Keller, die Innensicht ihrer Protagonistin, ihre Gefühle, ihre Erfahrungen und ihre Gedanken darzustellen. Fiktion ist mit historisch verbürgten und gut recherchierten Tatsachen zu einer untrennbaren Einheit verbunden, die auch nicht durch die Originalzitate gestört wird, die im Druck abgesetzt an vielen Stellen den Persönlichkeiten ihre eigene Stimme geben.
In geschickter Weise wird die Gegenwart in Tegna im Jahre 1975 mit vergangenen Jahren von 1941 bis 1969 verknüpft. Die Kapitel wechseln sich in den Zeitebenen ab. Ausgespart wird bei diesem reichen Leben alles, was vor der Landung in den USA geschah. Vertreibung, Internierung, Flucht, liegen bereits hinter ihr und werden nur am Rande erwähnt.
Die Fülle des Stoffs sowie der Personen ist zugleich die Schwäche des Romans, der auf die Dauer immer zäher erscheint. Um das Buch mit Gewinn zu lesen, braucht es ein solides Hintergrundwissen. Ein*e Leser*in muss bereits mit dem Leben und den Gedanken von Hannah Arendt vertraut sein, um die vielen Anspielungen und Vorausdeutungen zu verstehen, die den Lesefluss sonst leicht hemmen oder unterbrechen könnten. Kenntnisse im Bereich von Philosophie und Zeitgeschichte sind hilfreich.

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