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KTh
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Insgesamt 31 Bewertungen
Bewertung vom 12.12.2023
Lindy Girls
Stern, Anne

Lindy Girls


gut

Lasset das Tanzbein schwingen
Anne Stern war mir als Autorin vor der Lektüre von „Lindy Girls“ nur namentlich bekannt, gelesen hatte ich von ihr maximal ihre Insta-Posts. Erzählt wird im Roman die Geschichte von einigen jungen Frauen, deren Namen ich permanent verwechselt habe. Sie sind unter anderem Teil einer von Wally gegründeten und trainierten Tanzgruppe, die allerdings noch auf ihren Durchbruch wartet. Der Charleston ist das bestimmende musikalische Element – leider im Buch häufig auf „Scream for Icecream“ reduziert.
Die grundlegende Stimmung der zwanziger Jahre, der roaring twenties, wird ganz gut eingefangen: Der große soziale Unterschied, die Hinterhofwohnungen, der Dreck und vielfach unhygienische Verhältnisse – kontrastiert durch die Feierlaune, den Champagner und die Tanzvergnügungen z.B. im Friedrichstadtpalast.
Auch gesellschaftliche Fragen wie die Folgen des (Ersten) Weltkriegs, der aufkommende Nationalsozialismus und die Frauenbewegung werden aufgegriffen. Es gibt nur leider kaum neue Aspekte, so dass sich „Lindy Girls“ für mich wie eines von vielen Büchern liest. Es fehlt mir an Tiefgang – die beschriebene Handlung ist doch ziemlich oberflächlich und kratzt nur ab und zu etwas in die Tiefe.
Insbesondere die Vielzahl der Personen hat mich irritiert – zu keiner konnte ich eine emotionale Bindung aufbauen. Auch der Wechsel der Perspektive, der durch die unterschiedlichen Geschichten erreicht wird, hat mich meist eher verstört.
Mein Fazit: Ein ganz gutes Buch, aber mehr leider nicht.

Bewertung vom 12.12.2023
Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen
Engel, Henrike

Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen


sehr gut

Schon der vierte Teil einer kurzweiligen Lektüre
Obwohl ich seit Anfang der Serie mit dem Cover fremdele, gefällt mir der Inhalt umso besser. Natürlich ist es irritierend, dass Anne von der Zwaan, wie sich die Protagonistin jetzt wieder nennt, so viel in so kurzer Zeit erlebt, was die Polizei und mit ihr Kommissar Berthold Rheydt auf den Plan ruft. Aber mit ihrer Arbeit als Hafenärztin lässt sich vieles erklären.
Im vierten Teil spielt Heroin, das Erkältungs- und Stärkungsmittel des frühen 20. Jahrhunderts, eine große Rolle. Denn falsch eingenommen, kann es zu Suchtkrankheiten und zum Tod führen. Eine Tatsache, die sich erst langsam durchsetzt.
Unklar ist zunächst, woher das viele Heroin kommt, das nicht in den Apotheken verkauft und gerade den Ärmsten zur Verfügung gestellt wurde. Der Hinweis im Nachwort auf weiterführende Literatur zum Thema war sehr gut – mich hat diese Geschichte des Heroins nämlich sehr verwundert.
Allgemein ist „Die Hafenärztin“ ein gutes Kaleidoskop der beschriebenen Zeit – noch vor dem ersten Weltkrieg in der Hafenstadt Hamburg – mit den Themen, die relevant sind: Auswanderung, soziale Ungleichheit, Abtreibung, Frauenrechte uvm. Neu im vierten Teil ist die Beschäftigung mit der Psychoanalyse, die Helene Curtius umtreibt.
Ich mag die Verquickung von persönlichen und gesellschaftlichen Themen – auch der schlussendliche Ausbruch des „Alsterschwans“ und die Beschäftigung mit dem weit verbreiteten Thema „häusliche Gewalt“ ist ein wichtiger Aspekt, der m.E. auch im Roman zu finden sein sollte.
Henrike Engel ist in allen vier Bänden, die auch jeweils ohne Vorkenntnis der anderen Bände lesbar sind, eine detailreiche Schilderung des Hamburgs im frühen 20. Jahrhunderts gelungen. Die Charaktere entwickeln sich im Laufe der Handlung, die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe sind gut recherchiert.
Mein Fazit: Eine Reihe von historischen Romanen, die sich einer Zeit widmen, die normalerweise nicht so stark im Fokus steht. Eine spannende Handlung, interessante Charaktere und ein gut lesbarer Schreibstil machen „Die Hafenärztin“ in allen vier Bänden zu einer gelungenen Mischung aus historischem Roman und Krimi.

Bewertung vom 19.09.2023
Als wir an Wunder glaubten
Bürster, Helga

Als wir an Wunder glaubten


ausgezeichnet

Hoffnungen im Dorf im Moor
Anni und Edith waren Freundinnen, haben die Entbehrungen des zweiten Weltkriegs gemeinsam überwunden und warten beide auf ihre Ehemänner, die noch vermisst sind. Beide sind Mütter und Anni ist zwar nicht wirklich liebevoll zu ihrem Willi, hat es aber geschafft, den leicht behinderten Sohn vor den Euthanasie-Maßnahmen der Nazis zu retten.
Die Handlung von „Als wir an Wunder glaubten“ spielt 1949 – der Krieg ist also schon vier Jahre vorbei – und die moderne Zeit hält auch Einzug in Unnenmoor – dem nicht real existierenden Dorf der Handlung im Ostfriesischen. Ich muss gestehen, dass ich die Handlung eher im Teufelsmoor verortet hätte – die ostfriesischen Moorgebiete sind für mich nicht so stark mit Sagen und Märchen verwoben wie eben das Moorgebiet nördlich von Bremen.
Aber sei’s drum: In Unnenmoor kommt das Mammut zum Einsatz – eine Maschine, die die Landgewinnung schnellstmöglich vorantreiben soll. Und gleichzeitig machen Wundererzähler und Quacksalber ihr Geschäft – soll doch laut einem wandernden Wunderheiler die Welt bald untergehen und gelten nicht nur die alte Guste, sondern auch Edith und Tochter Betty als Hexen.
Atmosphärisch ist der Roman ziemlich dicht – wenn auch viele Dinge nicht wirklich ausgesprochen werden. Hexen- contra Fortschrittsglaube, Rückbesinnung auf Märchen und Sagen contra Moderne – in diese Schlagworte könnte man die Handlung stellen. Einen besonderen Stellenwert hat das Moor – es ist mystisch und gefährlich, aber auch schön und geliebt.
Bei der Bewertung des Romans bin ich leicht zwiegespalten. Auf der einen Seite hat mir die Verknüpfung von mystischen Elementen ganz gut gefallen – und ich finde auch die Möglichkeit durchaus vorhanden, dass sich Freundinnen durch einen solchen Aberglauben voneinander entfernen können. Gleichzeitig ist die Geschichte für mich nicht zuende erzählt und birgt einige Unlogiken und leider auch einige Wiederholungen.
Insgesamt sicherlich ein Roman, der gut zu lesen ist – kein Must-read, aber eine lohnenswerte Erfahrung.

Bewertung vom 05.09.2023
Aenne und ihre Brüder
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder


sehr gut

Bewegende Familiengeschichte
Mit „Aenne und ihre Brüder“ ist Reinhold Beckmann ein bewegendes Portrait seiner Mutter und deren vier Brüder gelungen. Die Hauptinformationen basieren auf den Feldpostbriefen der Brüder, die allesamt im zweiten Weltkrieg „gefallen“ sind. Auszüge aus diesen Briefen werden chronologisch in die Erzählung eingearbeitet – wobei mich auch interessiert hätte, was Beckmann weggelassen hat. Da es sich um private Briefe handelt, werden sie ja höchstwahrscheinlich nicht der Forschung zur Verfügung stehen.
Eine weitere Informationsquelle für Beckmann sind die vielen Gespräche, die er mit seiner Mutter über ihre Vergangenheit geführt hat. Und doch bleibt Aenne für mich eine etwas farblose Person, die sich – zumindest in der Schilderung ihres Sohnes – stark über die Brüder definiert.
Stilistisch ist Beckmann meines Erachtens kein großer Wurf gelungen. Einen Brief seines Onkels beschreibt er als stakkatohaftig – und genauso kommt mir auch sein Stil vor. Kaum einmal werden Nebensätze und schon gar kein verschachtelter Satzbau genutzt. Beim Lesen fühlte ich mich wie in einer Terra-X-Folge – relativ leichte Sprache mit klaren Hauptsatzstrukturen.
Was ich mich frage, ist, ob ein solches Buch von einem „Max Mustermann“ verfasst, auch dieses Echo finden würde. Nichts gegen berühmte Menschen, die andere Wege beschreiten und sich, wie in Beckmanns Fall, mit einer wichtigen Familiengeschichte schreibend auseinandersetzen, aber die Frage bleibt schon, inwieweit es einen Promibonus gibt. Auf jeden Fall in Sachen Talkshows, aber diese werden ja auch genutzt, um allgemein über dieses – leider wieder aktuelle – Thema zu sprechen.
Was ich faszinierend finde, ist die Tatsache, dass die Feldpostbriefe so lange überdauert haben. Von meinen – ebenfalls im zweiten Weltkrieg gefallenen – Onkeln sind keinerlei Briefe erhalten. Aber auch sie waren jahrelang ein Thema.
Die Gestaltung des Buches spricht für sich: es gibt viele Fotos im Textteil und einen eigenen Fototeil in der Mitte. Auch der Schutzumschlag, die – ziemlich kurze – Literaturliste und der Abdruck des Songs von Beckmann für seine vier Onkel sprechen für das Buch. Insgesamt wegen der sprachlichen Einfachheit nur 4 von 5 Sternen – aber eine Leseempfehlung von mir.

Bewertung vom 08.08.2023
Die Affäre Alaska Sanders
Dicker, Joël

Die Affäre Alaska Sanders


ausgezeichnet

Nun also die Wahrheit über Alaska Sanders

Joel Dicker fasziniert mich, seitdem ich „Die Baltimores“ mehr oder weniger verschlungen habe. Auch Stephanie Mailer und Harry Quebert wurden seinerzeit schnellstmöglich gelesen – und das auch und gerade wegen der Dicke der Bücher.
Obwohl es immer wieder Querverweise auf die früheren Romane gibt, ist es meines Erachtens nicht notwendig, diese zu kennen – aber die Verweise führen vielleicht dazu, dass es weitere Dicker-Fans geben wird.
Zur aktuellen Geschichte: Alaska Sanders wurde 1999 ermordet, ein Täter relativ schnell ermittelt und verurteilt. Nun sind aber Familie und Freunde seit 11 Jahren dabei, die Unschuld von Eric zu beweisen – und auch der damalige Ermittler Sergeant Perry Gahalowood wird durch einen anonymen Hinweis dazu gebracht, die Schuld infrage zu stellen.
Gemeinsam mit Marcus Goldman, dem fiktiven Autor von „Harry Quebert“ und dem Ich-Erzähler vieler Passagen, nimmt Galalowood die Ermittlungen wieder auf. Dabei wird die Geschichte in verschiedenen Zeitebenen und aus unterschiedlicher Perspektive geschildert – das mag verwirrend klingen, wird aber durch die entsprechenden Überschriften der Kapitel ganz deutlich. Die Rückblicke zeigen dann auch völlig andere Facetten der handelnden Personen.
Was für mich ein absolutes Empfehlungskriterium ist, ist die ausführliche Auflösung des Falles – mit allen Gründen und Hintergründen. Auch wenn für mich Dickers Romane nicht wirklich nur Krimis sind, ist die ausführliche Falllösung schon etwas Besonderes. Vor allem, wenn man sich seitenlang genau mit diesem Kriminalfall auseinandergesetzt hat.
Dabei verzeihe ich als Leserin auch kleine Ungereimtheiten und Fragen, warum denn die ersten Ermittlungen so schlampig verlaufen sind. Oder warum ein Schriftsteller so umfassende Auskünfte von den Beteiligten erhält.
Die Faszination von Dickers Romanen liegt woanders – wobei ich es gar nicht so genau ausdrücken kann. Die detaillierten Beschreibungen von Landschaften, Gefühlen, zwischenmenschlichen Problemen, die Selbstzweifel des renommierten Schriftstellers Goldman – alles führt dazu, sich die Personen und Landschaften und Situationen gut vorstellen und miterleben zu lassen.
Eine klare Leseempfehlung! Und nicht nur für „Alaska Sanders“, sondern auch für „Harry Quebert“ und Co.

Bewertung vom 08.08.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Selbstbestimmte Frauen

Im Roman „Marschlande“ von Jarka Kubsova begegnen den Leser:innen zwei starke Frauen: Britta Stoever, die in der Jetztzeit mit Mann und zwei Kindern in ein Einfamilienhaus in die Marschlande südlich von Hamburg zieht. Ihren Beruf hat sie wegen der Kinder größtenteils aufgegeben, der Umzug war nicht ihre Idee, aber sie versucht das Beste daraus zu machen und die neue Umgebung zu erkunden.
Die zweite Frauenfigur ist die historisch belegte Abelke Bleken, nach der auch die Straße benannt ist, in der Britta nun wohnt. Diese Benennung führt sie dazu, mehr über Abelke erfahren zu wollen, wurde diese doch als sogenannte „Hexe“ im 16. Jahrhundert verbrannt.
Erzählt wird in wechselseitigen Strängen – einmal Britta von Heute, einmal Abelke aus dem 16. Jahrhundert. Dabei sind meines Erachtens die Erzählteile über Abelke, über die es nur wenige Dokumente gibt, darunter ihr unter Folter erpresstes Geständnis, deutlich besser gelungen. Die Nöte und Bedrängungen der selbstständigen Hufnerin, die nach dem Tod der Eltern den Bauernhof weiter versorgt und nur durch die Flut und den Deichbruch in große Probleme gerät, werden eindringlich dargestellt.
Brittas Geschichte klingt irgendwie „abgestanden“ – und ist wohl leider noch immer viel zu aktuell: Der Verzicht auf die eigene Karriere, weil die Kinder versorgt werden müssen, die „schreckliche Schwiegermutter“, die sich in alles einmischt, der Mann, der vor allem seine Karriere und weniger die Familie sieht.
Wunderschön hingegen sind die Landschaftsbeschreibungen der Vier- und Marschlande – so habe ich sie selbst kennengelernt. Und auch die Verbindung der beiden Geschichten ist gut gelungen – das kenntnisreiche Nachwort vielleicht ein wenig zu pathetisch geraten.
Insgesamt eine absolute Empfehlung, auch, um sich auf interessante Art mit diesem Teil der Frauengeschichte zu beschäftigen.

Bewertung vom 25.07.2023
Leichenblass im Fass / Die Friesenbrauerin ermittelt Bd.2
Jensen, Joost

Leichenblass im Fass / Die Friesenbrauerin ermittelt Bd.2


gut

Viel zu viel Tüdelüt
Normalerweise verzichte ich bewusst auf die Lektüre von sogenannten Cosy Crimes, die auf Mundart, Schrulligkeiten und abstruse Mordfälle setzen. Warum ich nun bei „Leichenblass im Fass“ eine Ausnahme gemacht habe, weiß ich nicht wirklich. Allerdings hat mich der „Krimi“ nicht von meiner bestehenden Meinung abgebracht, sondern diese vielmehr noch verstärkt.
Beginnen wir beim Cover: Der Roman ist in Ostfriesland angesiedelt, die Bauweise des abgebildeten „Kroogs“ entspricht aber eher der aus dem Elbgebiet um Hamburg. Ansonsten ist der Himmel stimmungsvoll düster-melancholisch.
Dann die Grundstory: Eine schrullige Schankwirtschaft in einem kleinen Dorf mit einer Brauerin, der immer wieder Tüdelbüdel genannten Gesine Felber. Der Kroog ist Mittel- und Treffpunkt der Dorfbewohner:innen. Nun aber soll das Tüdelbräu in einem (sehr abstrusen) Wettkampf mit weiteren Bieren antreten – u.a. mit dem Dünenhopfen des Großbrauers aus der „Stadt“. Das Tüdelbräu gewinnt, der unsympathische Großbrauer muss seinen Pokal abgeben, der Kroog und das kleine Dörfchen werden von Touristen überrannt. Erst recht, als es auch noch eine Leiche im Bierfass gibt.
Geschickt agiert Jensen, wenn er das Heimatörtchen Sünnum also so klein schildert, dass es noch nicht einmal bei Google Maps zu finden ist. Denn Sünnum ist ein ziemlich idealisiertes Dörfchen, in dem die Welt noch in Ordnung ist – und das erst durch den Ansturm der Touristen seinen Charme verliert.
Weniger geschickt ist die Aufwertung von Großheide, einem kleinen Flecken in Ostfriesland, der vor allem durch das gleichnamige Plakat bei Fußball-Länderspielübertragungen bekannt sein dürfte, zur „Stadt“.
Und was wirklich störend ist, sind die massenhaften Klischees, die die Grundlage der Story bilden. Im Dorf sind die Menschen zuvorkommend, reden miteinander, helfen sich, sind freundlich und nett – und bilden eine Einheit. Alle anderen sind aufdringlich, unfreundlich, laut und unsympathisch.
Zum „Kriminalfall“ möchte ich lieber keine Worte verlieren – Miss Marple aka Tüdelbüdel ermittelt, genau wie Tochter Wiebke, die zwar bei der Polizei ist, aber wohl nur als klassische Streifenpolizistin.
Sprachlich ist Jensens Krimi einigermaßen gelungen. Aber was hätte es für Möglichkeiten gegeben, dem Bier ein richtiges Denkmal zu setzen?! In „Leichenblass im Fass“ wirkt es, als ob Bierbrauen ähnlich wie Teeaufgießen wäre – dabei sind es gerade die kleinen Brauereien, in denen der handwerkliche Vorgang noch zelebriert wird. Und da wäre eine Beschreibung doch lohnenswert gewesen.
Nein, „Leichenblass im Fass“ wird nicht zu einer Empfehlung – und wird mich hoffentlich davon abhalten, weitere Regionalkrimis lesen zu wollen. Immerhin lässt sich das Buch schnell und problemlos lesen.

Bewertung vom 26.06.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


sehr gut

Never complain, never explain!
„Niemals klagen, niemals erklären“ – nach diesem Maßstab wurde Ruth Schönwald erzogen und diese Maßgabe hat sie auch in ihrem Leben durchgezogen – im Verhältnis zu ihrem Mann, ihren Kindern und Enkeln. Dass dadurch schon mal etwas unter den Tisch gekehrt wurde, ist ganz logisch.
Doch Ruth, eine der Hauptfiguren in Philipp Oehmkes Gesellschaftsroman „Schönwald“ lebt nach dem Motto: „Informationsmanagement war ihrer Ansicht nach Teil einer vernunftbegabten Zivilisation. Wenn jeder Mensch alles, was er dachte, alles, was er erlebte, mit jenen teilte, die ihm oder ihr am wichtigsten waren […], wären Schmerz und Leid allerorten. Ständig wäre man nicht nachvollziehbaren oder verletzenden Aktionen anderer ausgesetzt, und umgekehrt. Nicht alle der eigenen Handlungen waren anderen erklärbar. Dafür war der Mensch in all seinen externen Verstrickungen zu komplex.“ (s. 434)
Auch andere Figuren dieser Familiengeschichte möchten sich nicht erklären, wie z.B. Chris Schönwald, der älteste Sohn, der vom linksliberalen US-Linguistikprofessor zum Trump-Fürsprecher geworden ist, nachdem er seinen Posten verloren hat.
Oehmkes Roman wird als „kluger Blick auf unsere gesellschaftliche Gegenwart“ beschrieben – und viele der gegenwärtigen Diskussionen um LGBTQ, „kweer“, „Migrationshintergrund“, „wokeness“, Literatur, Nazivergangenheit und vieles mehr finden ihren Platz.
Mich hat der Einstieg mit dem „Nazigeld“, das den queeren Buchladen der Tochter der Schönwalds finanziert, allerdings auf eine falsche Fährte geführt – ich hatte mehr zu diesem Thema erwartet. Vor allem, weil in der Anlage der Diskussion im Buch auch die These mitschwingt, dass jede:r Deutsche ohne „Migrationshintergrund“ ja einen „Nazihintergrund“ haben müsse.
In „Schönwald“ gibt es viele spannende Themen, die Perspektivwechsel in der Erzählung haben eine eigene Dynamik entfaltet, die Personen allerdings nicht alle die nötige Tiefe erhalten. Einige Passagen bleiben auch unerklärlich – vielleicht wäre weniger thematische Vielfalt doch mehr gewesen. Und ich weiß immer noch nicht, wie ich die Einbindung des Hosen-Konzerts finden soll: Überflüssig oder faszinierend, dass Oehmke, der ja eine Tote-Hosen-Biografie geschrieben hat, sein Sujet auch in diesem Roman einen Platz gibt?
Mir hat die Lektüre von „Schönwald“ auf jeden Fall gefallen – insbesondere der Aspekt der Kommunikation oder Nichtkommunikation, das Vorhandensein von Geheimnissen zwischen den vertrauten Personen hat mich immer wieder zum Nachdenken angeregt. Stil und Thematik von „Schönwald“ machen den Roman für mich zu einer eindeutigen Leseempfehlung. Da kann man auch über einige logische Schwächen, kleinere Wiederholungen und Tippfehler hinwegsehen.

Bewertung vom 28.03.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Der Konjunktiv im Fokus
„Wir hätten uns alles gesagt“ – ja, aber eben nur „hätten“ und nicht „haben“. Das ist das Prägende an dieser nachträglich veröffentlichten Poetikvorlesung von Judith Hermann. Mit dem Hinweis auf die Poetikvorlesung hatte ich etwas ganz anderes erwartet: Auskunft darüber, wie der Schaffensprozess abläuft, wie ein Buch entsteht und vielleicht auch, wie viel von der Autorin in ihren Werken steckt.
Dieser letzte Aspekt wird in Teilen auch in „Wir hätten uns alles gesagt“ angerissen – obwohl die Jonglage mit der eigenen Biografie auch immer eine Tendenz zum Verschleiern, zum Nichtsagen aufweist. Und war es wirklich so, wie sich die Ich-Erzählerin erinnert? Oder ist es nur eine Interpretationsmöglichkeit, die hier aufgezeigt wird?
Insgesamt ist eine profunde Kenntnis des Werkes von Judith Hermann schon fast Vorbedingung für die Lektüre dieses kurzen Bandes. Wer damit nicht so intensiv bekannt ist, hat sicherlich Schwierigkeiten, die vielen Anspielungen zu verstehen – so wie ich auch.
Nichtsdestotrotz ist dies ein Buch mit wundervoller Sprache und vielversprechenden Gedanken – so z.B. „Ich wusste, dass das Schreiben mir gehörte. Ich hatte es mit dem Instinkt eines Tieres verstanden – es war meins. Ich wusste auch, dass es mich offenbar von allem trennte, dass es mich isolierte. Aber ich war mit dieser Isolation einverstanden, und ich bin das, mit Einschränkungen, bis heute.“ (Judith Hermann, Wir hätten uns alles gesagt, S. 107f.)
Eine nicht alltägliche Lektüre, anspruchsvoll und vielleicht auch ein Türöffner für die Welt von Judith Hermann. Bei mir liegt auf jeden Fall „Lettipark“ seit neuestem auf dem SUB.