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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 29.08.2024
Wir Gespenster
Kumpfmüller, Michael

Wir Gespenster


ausgezeichnet

Als Lilli ihren leblosen Körper dort im Stadtpark liegen sieht, glaubt sie ihren Augen kaum. Diese Leiche dort, das kann doch nicht wirklich sie sein? Doch nach und nach dämmert ihr, dass sie tatsächlich einem Mord zum Opfer gefallen ist. Erst durch die Hilfe von Andrä, einem vor zehn Jahren erschossenen Kommissar, findet sie sich so langsam zurecht in dieser Zwischenwelt, der Welt der Gespenster. Währenddessen sucht Andräs Nachfolger Bertram nach dem Mörder - so erfolglos, dass irgendwann die Gespenster die Dinge selbst in die Hand nehmen...

"Wir Gespenster" ist der neue Roman von Michael Kumpfmüller, der bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Ihm gelingt darin der Spagat zwischen einer eigentlich tieftraurigen Grundhandlung und überraschend heiteren Momenten, ohne sich auch nur ansatzweise über eine der Figuren lustig zu machen. Im Gegenteil, Kumpfmüller nimmt die Toten mit all ihren Sorgen und Problemen genauso ernst wie die Lebenden, was ein großes Plus des Romans ist. Und es gibt auch gar keinen Grund, sie zu verraten, denn mit Lilli und Andrä hat Kumpfmüller zwei bemerkenswert liebenswerte Hauptfiguren erschaffen. Während sich Lilli fast kindlich-naiv erst zurechtfinden muss in ihrer neuen Rolle als Gespenst, sich gefangen wähnt zwischen Leben und Tod, ist Andrä so etwas wie der starke Gegenpart, der sich routiniert um die kürzlich Verstorbenen kümmert und gar eine Selbsthilfegruppe für Gespenster leitet.

Die Geschichte glänzt zudem nicht nur mit einer aufregenden Grundidee, sondern auch immer wieder mit überraschenden Einfällen und höchst originellen Nebenfiguren. Da sind beispielsweise Karl & Karl, zwei Corona-Tote in ihren Neunzigern, die sich als Andräs Assistenten förmlich aufgedrängt haben und für zahlreiche Schmunzler sorgen. Da ist der junge Ivo, ein Fahrradliebhaber, der in beiden Welten eine ganz besondere Rolle spielen soll. Oder Solveig, die mit 15 Jahren von ihrem Vater ermordet wurde, und die wohl tragischste Figur des gesamten Buches ist. Spannend auch, wie Kumpfmüller nach und nach enthüllt, welche Fähigkeiten die Gespenster haben und welche eben nicht, wo sie auf die Welt der Lebenden angewiesen sind. Dabei erfahren wir als Leser:innen immer eben genauso viel oder wenig wie die Gespenster selbst.

Rein sprachlich wirkt "Wie Gespenster" im positiven Sinne manchmal ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Da wird geseufzt, ein "Ach" folgt einem "Oh weh" und man wähnt sich gelegentlich in einem Drama des Sturm & Drang. Doch wirkt dies gar nicht antiquiert, sondern passt ganz hervorragend zu dieser emotionalen Ballade aus dem Jenseits, das in diesem Roman doch fast gleichzeitig das Diesseits ist. Gerade in den Beschreibungen der Annäherung zwischen Andrä und Lilli, die übrigens auch hervorragend zum elegant-geheimnisvollen Cover passen, finden sich zahlreiche zärtliche Momente, die zudem vollkommen ohne Kitsch auskommen.

Das Gelungenste überhaupt ist jedoch die Atmosphäre. Kumpfmüller erzählt äußert langsam, um sie entfalten zu können. Das merken auch die Figuren, die oft genug betonen, wie viel Zeit sie doch hätten. In seiner Grundstimmung erinnert "Wir Gespenster" atmosphärisch ein wenig an die melancholische Jakob Franck-Reihe von Friedrich Ani, in den Zweifeln der Gespenster an ihrer (Nicht-)Existenz blickt auch David Lowerys genialer Film "A Ghost Story" immer mal wieder durch - beides also ganz hervorragende Referenzen. Da stört es kaum, dass sich die Mördersuche im letzten Drittel ein wenig hinzieht. Auch Krimileser:innen ohne Scheuklappen dürften also auf ihre Kosten kommen.

Insgesamt ist "Wir Gespenster" ein melancholischer und philosophischer Roman über das Leben und den Tod, der zudem immer wieder auch etwas zutiefst Tröstliches hat. So fragen sich nicht nur die Gespenster irgendwann, wer eigentlich die Traurigeren sind: die Lebenden oder die Toten?

Bewertung vom 20.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


sehr gut

London, 1940: Während immer häufiger deutsche Bomben auf die englische Hauptstadt fallen, entschließen sich Millie und Reginald dazu, ihre Tochter Beatrix in die sicheren USA zu schicken. Nach einer langen Schifffahrt warten in Boston die Gregorys auf die Elfjährige. Schnell lebt sich das Mädchen in seiner Gastfamilie ein, was nicht nur an der Herzlichkeit der Eltern, sondern vor allem auch an den Brüdern William und Gerald liegt - und natürlich an der Insel, die sich im Besitz der Gregorys befindet und Beatrix unvergessliche Sommer beschert...

"Und dahinter das Meer" ist der späte Debütroman der 1959 geborenen Laura Spence-Ash, der in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Claudia Feldmann bei mare erschienen ist. In den USA wurde der Roman zum Bestseller und in der Folge in zahlreiche Sprachen übersetzt, wie wir es im Klappentext erfahren. Und auch in Deutschland sollte der Erfolg gewiss sein, spricht "Und dahinter das Meer" doch eine breite Zielgruppe an.

Bereits das Cover, bei dem mare im Vergleich zum Original lediglich die Bomber entfernt hat, dürfte bei potenziellen Leser:innen einen gewissen Kaufreiz entfachen. Eine Frau mit dem Rücken zu den Betrachter:innen, die in die Ferne schaut? Dahinter steckt doch bestimmt eine leicht verdauliche Romanze mit gewissem Kitschfaktor...

Nun, ganz so einfach macht es "Und dahinter das Meer" der Leserschaft nicht. Wobei nicht verhehlt werden darf, dass auch die angesprochenen Käufer:innen nicht enttäuscht sein werden. Denn tatsächlich bewegt sich der Roman in romantischen Gefilden, wobei auch die Kitschgrenze das ein oder andere Mal überschritten wird. Was das Buch von den anderen Rückenfrauen allerdings unterscheidet, sind das hohe sprachliche Niveau und die Erzählkunst Spence-Ashs.

Einerseits gelingt es der Autorin, insbesondere die Insel und das dortige sommerliche unbeschwerte Leben plastisch und liebevoll zu beschreiben. Andererseits - und das ist das eigentlich große Plus des Romans - erweckt sie ihre Figuren so zum Leben, dass man das Gefühl bekommt, seine Freizeit mit ihnen zu verbringen. Dies erreicht Spence-Ash unter anderem mit zahlreichen Perspektivwechseln, manchmal gar innerhalb einer Seite. So ist beispielsweise Bea, wie sie von der Familie bald genannt wird, ihr Zwiespalt hervorragend anzumerken. Von 1940 bis 1945 wird sie einen Großteil ihres bisherigen Lebens in den Staaten bei dieser fremden Familie verbringen, die ihr bald doch näher als die eigene scheint. Darf so etwas überhaupt sein? Und darf sie mehr als schwesterliche Gefühle für den zwei Jahre älteren William entwickeln? Auch Beas Londoner Vater Reginald ist so eine herzerwärmende, authentische Figur. Er ist derjenige, der die wohl schwierigste Entscheidung seines Lebens getroffen und sein Kind verschickt hat. Sein stilles Leid, sein Schwanken zwischen Überzeugung und Zweifeln ist für die Leserschaft stets zu spüren.

Während man die Erzählweise inklusive zahlreicher Adjektive über weite Strecken als schön bezeichnen kann, setzt die Autorin ihre kleinen, überraschenden Nadelstiche eher in der Erzählstruktur. Da "Und dahinter das Meer" über seine gut 360 Seiten einen Zeitraum von insgesamt 37 Jahren behandelt, setzt sie immer wieder erzählerische Lücken und schildert manchmal erst im Nachhinein, manchmal sogar gar nicht, was den Figuren in der ausgelassenen Zeit widerfahren ist. So wirkt es weniger gefällig als die Sprache, wenn liebgewonnene Figuren plötzlich und unvermittelt verstorben sind - ein weiterer bemerkenswerter Kontrast zu den oben genannten Romanzen.

Früh wird hingegen klar, dass "Und dahinter das Meer" im Grunde ein Liebesroman ist. Denn natürlich sind nicht nur Beas Gefühle für William kompliziert - erschwerend hinzu kommt, dass auch der zwei Jahre jüngere Gerald sein Herz an die große Gastschwester verliert. Daraus könnte wie in Emily Brontës "Sturmhöhe" ein bitterböses und furchtbares Eifersuchtsdrama entstehen. Spence-Ash setzt hingegen überwiegend auf Harmonie, was ihr wiederum den Kitschvorwurf einbringen könnte.

Ohnehin kann man dem Buch vieles vorwerfen: Es ist teilweise vorhersehbar, es ist zuckersüß und es nervt mit amerikanischen Spielereien wie den Abkürzungen "Mr und Mrs G.". Nur dass mich all dies mit der Zeit kaum noch störte, weil Spence-Ash es mit ihren melancholischen Rückblicken immer wieder schaffte, mir eine Gänsehaut zu bescheren oder mich zu Tränen zu rühren. Fast so, als schaute man sich eine besonders gelungene Folge der 80er-Jahre-Serie "Wunderbare Jahre" an. Gleichzeitig rührte mich die endlose Empathie und Liebe der Autorin für ihre Figuren, denen sie irgendwann partout kein Leid mehr antun wollte.

Insgesamt ist "Und dahinter das Meer" so etwas wie eine Wohlfühldecke mit kleineren Mängeln in schweren Zeiten, ein warmherziger Liebes- und Familienroman, um den Zyniker:innen einen großen Bogen machen sollten. Alle anderen sollten aber einen Blick riskieren. Auch diejenigen, die sonst keine Bücher mit Rückenfrauen kaufen.

Bewertung vom 13.08.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Als Pia und Jakob in die Schule gerufen werden, glauben sie ihren Ohren nicht zu trauen. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll gegenüber einer Klassenkameradin sexuell übergriffig geworden sein. Während Jakob bedingungslos hinter Luca steht, mehren sich in Pia die Zweifel. Ist ihr Sohn wirklich so gut und lieb, wie sie es bisher glaubte? Oder steckt in ihm gar ein "kleines Monster"? Pia erinnert sich an ihre eigene Kindheit, damals, als sie und ihre Schwestern Romi und Linda eine unerschütterliche Einheit bildeten. Bis das Unsagbare geschah...

"Kleine Monster" ist der zweite Roman der österreichischen Autorin Jessica Lind, der bei Hanser Berlin erschienen ist. Lind gelingt darin ein bemerkenswert spannendes Psychogramm zweier Familien, deren Bindeglied Pia ist - einmal als Mutter, einmal als Schwester bzw. Tochter. Gerade im ersten der drei Teile enden die kurzen Kapitel oftmals mit einem Cliffhanger. Noch größer wird die Spannung dadurch, dass sich in der Regel die Gegenwarts- mit den Kindheitskapiteln Pias abwechseln und somit eine gewisse Zeit verstreicht, ehe man sich der Auflösung des vorangegangenen Spannungsknotens nähert.

Ein weiteres Plus sind die facettenreichen Figuren, die sich im Verlaufe des Romans überwiegend glaubwürdig entwickeln. Lediglich eine nicht unbeutende Szene gegen Ende des Romans wirkt hier ein wenig übertrieben. Besonders stark - auch atmosphärisch - sind die Rückblicke, die sich mit Pias Kindheit und Familienerinnerungen befassen. Lind stellt durch die Trennung von Gegenwart und Vergangenheit die zentralen Themen Mutterschaft und Schwesternschaft gegenüber. Beiden Themen nähert sich Lind behutsam und intensiviert diese im Laufe des Romans. Angenehm ist zudem, dass "Kleine Monster" trotz der Thematik der sexuellen Übergriffigkeit den klammheimlichen Voyeurismus der Leserschaft überhaupt nicht bedient. So wird die Intimität des jungen Luca gewahrt, was für zusätzliche Spannung sorgt.

Sprachlich scheint der Roman auf den ersten Blick unauffällig zu sein. Das erzählerische Präsens sorgt für eine große Unmittelbarkeit, "Kleine Monster" liest sich generell äußerst flüssig. Doch dann sind da immer wieder diese Sätze, die eine so große Wucht entfalten, dass sie die Leser:innen bewegt und ungläubig zurücklassen. "Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind", heißt es plötzlich am Ende eines Kapitels. An einer anderen Stelle lässt Lind Pias Mutter mit Blick auf die adoptierte Romi zu Pia sagen: "Dich habe ich geboren, aber Romi habe ich mir ausgesucht. Sie ist unser Wunschkind." Eine Kränkung auf Lebenszeit, die Pia nicht mehr loslässt.

Ohnehin dreht sich das Buch weniger um "kleine Monster" als um Verletzungen und Verletzlichkeit. Um Liebe und Hass, Verfehlungen und Gewalt. Lind strickt daraus auf 250 Seiten einen intensiven Roman, der ständig mit den Erwartungen der Leserschaft spielt. Da er zudem von der ersten bis zur letzten Seite unterhaltsam ist, sollte er eine durchaus breite Leserschaft ansprechen.

Bewertung vom 13.08.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

Deutschland, im Jahre 2020: Hanna befindet sich in einer Midlife-Crisis. Neben ihrer alltäglichen Einsamkeit drückt ihr vor allem die Corona-Krise aufs Gemüt. Seit einigen Tagen spielt nun auch noch der Verstand verrückt. Bei jeder Gelegenheit sieht sie eine Frau mit dunklen, kurzen Haaren, die ihrer Kindheitsfreundin Zeyna wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Doch zu Zeyna hat sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr. Was ist damals eigentlich vorgefallen, das die jahrelange unerschütterliche Freundschaft zwischen den beiden Mädchen und Cem ins Wanken gebracht hat? Hanna erinnert sich und taucht tief ein in die Bochumer Kindheit der 1980er-Jahre...

"Ich komme nicht zurück" ist der zweite Roman von Rasha Khayat, der bei Dumont erschienen ist. Ein Corona-Roman im Jahre 2024? Möchte man über das Thema eigentlich noch etwas lesen? Ja, denn das Buch behandelt neben Corona auch noch andere gesellschaftlich zentrale Ereignisse, wie beispielsweise den 11. September und die Kindheit von Migrant:innen in den 1980er-Jahren. Zudem ist die Sprache ohnehin ein Ereignis. Auf jeden Fall ist es ein Wagnis, das Khayat eingeht, denn für einige Leser:innen mag die - dringend benötigte - kulturelle Aufarbeitung der Krise noch ein wenig zu früh kommen.

Wobei Khayat ohnehin von Beginn an ihr Selbstbewusstsein deutlich macht, das sich auf den Roman und dessen Sprache unmittelbar überträgt. Wo andere Autor:innen in der Widmung weit ausholen, begnügt sich Rasha Khayat mit einem koketten "Für: Mich." Sympathisch und ehrlich!

Das große Plus von "Ich komme nicht zurück" sind in jedem Fall Sprache und Atmosphäre. Khayat wirft die Leser:innen unmittelbar hinein in Hannas Einsamkeit. Der gesamte Text verströmt eine fast schmerzhafte Melancholie, die sich nicht nur aus dem Lockdown speist, sondern auch aus der 80er-Jahre-Kindheit. Der Soundtrack der Jugend, zeitgemäß als Playlist angefügt als "Mixtape für Hanna, Zeyna und Cem", lässt einen selbst zurückblicken auf die 80er-Kindheit, als das Leben noch überwiegend unbeschwert schien. Brillant eingesetzt sind außerdem die Zitate der libanesisch-amerikanischen Schriftstellerin Etel Adnan und des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch, die dem Roman eine poetische Tiefe geben.

Das Zentrum der Erzählung ist Zeyna, was Khayat durch einen gelungenen Perspektivwechsel deutlich macht. Immer, wenn es um die verlorene Freundin geht, wechselt Ich-Erzählerin Hanna ins unmittelbare Du. Problematisch daran ist, dass über weite Strecken des Buches die Tiefe der Freundschaft nur behauptet wird. Im Gegenteil hat man eher das Gefühl, als bestünde eine dauerhafte Konkurrenz im Buhlen der beiden Mädchen um die Gunst von Hannas geliebter Großmutter Felizia.

Ohnehin weist "Ich komme nicht zurück" Schwächen in der Figurenkonzeption auf. Die Großeltern Felizia und Theo sind ausschließlich herzensgut und zu süß gezeichnet. Zeyna ist die vergötterte Freundin, die erst im Rahmen der Attentate vom 11. September ein wenig an Profil gewinnt. Und Cem ist im Grunde nur eine Art Puffer zwischen den Mädchen, ein liebenswerter Junge bzw. Kerl, der niemandem weh tut.

Khayat setzt sprachlich nach einiger Zeit manchmal zu sehr auf Wiederholungen. So stellt sich Hanna in einigen Szenen beispielsweise selbst Fragen, ehe sie diese nahezu wortgleich an ihr Gegenüber richtet. Falls das für Intensität sorgen soll, erreicht es in Wahrheit eher das Gegenteil. Die Sprache von "Ich komme nicht zurück" ist stark genug, um auf solche Spielereien verzichten zu können.

Insgesamt ist "Ich komme nicht zurück" aber ein lesenswerter, melancholischer kleiner Roman, der auf seinen 170 Seiten zentrale Themen wie Freundschaft, Einsamkeit, Rassismus und Liebe auf poetische Weise zu einem gelungenen Potpourri vermischt und am Ende inhaltlich mit einer echten Überraschung aufwartet.

Bewertung vom 12.08.2024
Das Wesen des Lebens
Turpeinen, Iida

Das Wesen des Lebens


sehr gut

1741, irgendwo in der Nähe Kamtschatkas: Als der Naturforscher Georg Wilhelm Steller auf der gemeinsamen Expedition mit Kapitän Vitus Bering ein Lebewesen erblickt, das er noch nie zuvor gesehen hat, traut er seinen Augen kaum. Das gutmütige und friedfertige Tier verhält sich innerhalb seiner Familie äußerst sozial. Steller beobachtet, forscht und lässt dazu auch Tiere töten. Er ahnt noch nicht, dass dieses Tier Jahre später nach ihm benannt und "Stellersche Seekuh" gerufen werden wird. Doch nur 27 Jahre nach der Entdeckung ist das letzte Kapitel des Tieres auch schon wieder geschrieben, Pelztierjäger erschlagen wohl 1768 das letzte Exemplar in der Nähe der Beringinsel.

Über Leben und Tod, Vergänglichkeit und Verantwortung und vor allem über einen respektvollen Umgang mit der Natur schreibt Iida Turpeinen in ihrem Debütroman "Das Wesen des Lebens", der in der Übersetzung aus dem Finnischen von Maximilian Murmann bei Fischer erschienen ist. In der Heimat wurde er zu einem großen Überraschungserfolg und wird derzeit in über 20 Sprachen übersetzt, wie wir im Klappentext erfahren.

Die Erzählung streckt sich dabei über 280 Jahre und wechselt mehrfach die Hauptfiguren und Perspektiven, während die Seekuh stets ihr verbindendes Element bleibt. Bemerkenswert sind dabei nicht nur die große naturwissenschaftliche Fachkenntnis von Iida Turpeinen und ihre Akribie, sondern auch die unendlich scheinende Empathie, die die Autorin der Tierwelt und dabei insbesondere der Stellerschen Seekuh entgegenbringt. Fast entlarvend wirken die Beschreibungen von Mensch und Tier.

Während die menschlichen Figuren nämlich vielleicht mit Ausnahme des Restaurators John Grönvall eher blass bleiben, beschreibt Turpeinen fast überschwänglich das Wesen der Seekuh, ihre Spiele, ihr Gemüt, aber auch ihr Leid. Das ist einerseits ein Plus des Romans, andererseits aber auch ein Wermutstropfen. Denn während man mit Gänsehaut und Rührung den Tierbeschreibungen folgt, stellt sich zu den menschlichen Charakteren kaum einmal so etwas wie eine nähere Bindung ein.

Das liegt natürlich auch daran, dass "Das Wesen des Lebens" den Menschen - vollkommen zurecht - als das Raubtier schlechthin beschreibt. Es ist der Mensch, der mit seinen Taten zum Großteil das Artensterben erst ermöglicht hat. In einem Abschnitt, der im 19. Jahrhundert spielt, mögen die Figuren nicht daran glauben, dass der Mensch selbst für das Aussterben der Stellerschen Seekuh gesorgt hat - kein Meteorit, die Eiszeit oder irgendein anderes Wetterphänomen. In der wohl stärksten und bewegendsten Szene des gesamten Buches stellt sich der oben genannte Grönvall die zutiefst moralische Frage, ob neben den Jägern nicht auch die Forschung ihren Anteil am Artensterben hat. Vogelfreund Grönvall, der "aus wissenschaftlichem Interesse, [...] im Herzen nichts als Liebe für die Vögel" Tiere getötet und Eier gestohlen hat, stellt sich inmitten seiner wissenschaftlichen Sammlung und bedauert: "Was für ein Schwarm daraus entstanden wäre...". Hier paart sich merklich der Schmerz der Figur mit dem der Autorin, der sich zudem unmittelbar auf die Leserschaft überträgt.

"Das Wesen des Lebens" verbindet Wissenschaft und Literatur in deutlich stärkerem Maße, als es beispielsweise Olli Jalonens "Himmelskugel" oder auch Christopher Kloebles "Museum der Welt" taten. Dadurch ist der gut 300 Seiten umfassende Roman einerseits authentischer, verzettelt sich bisweilen aber auch erzählerisch ein wenig. So wirkt der manchmal berichtsartige Stil durchaus ermüdend, wozu auch der komplette Verzicht auf direkte Rede beiträgt. Insgesamt ist Iida Turpeinens Debüt aber gerade für Tierfreund:innen ein lesenswerter Roman - und dabei nicht weniger als ein warmherziges Plädoyer für den Artenschutz.

Bewertung vom 04.07.2024
Godwin
O'neill, Joseph

Godwin


gut

Mark Wolfe ist unzufrieden. Sein Job als technischer Redakteur erfüllt ihn nicht, die Boshaftigkeit der Welt plagt ihn. Als sein Halbbruder Geoff in England seine Hilfe benötigt, verlässt er erstmals die USA. Geoff arbeitet als Berater im Fußballbusiness und hat offenbar einen ganz dicken Fisch an der Angel. "Godwin" lautet der Vorname des afrikanischen Talents, dessen Videoaufnahmen an einen neuen Messi erinnern. Das Problem ist: Niemand weiß, wo genau dieser Godwin zu finden ist. Als Geoff verletzungsbedingt ausfällt, ist es an Mark, sich auf die anscheinend aussichtslose Suche zu machen...

"Godwin" ist der neue Roman des gebürtigen Iren Joseph O'Neill, der in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl bei Rowohlt erschienen ist. O'Neill stürmt dabei zunächst so erfrischend und unterhaltsam los, dass man glauben könnte, den Titel für den besten Fußballroman habe er schon sicher. Doch in der zweiten Halbzeit gibt es zu viel Ballgeschiebe und Geplänkel, bevor ihm in der Nachspielzeit das entscheidende Eigentor unterläuft.

In "Godwin" gibt es zwei Erzählstimmen. Neben Mark ist es dessen Vorgesetzte Lakesha Williams, eine glatte Businessfrau, die Mark durch dessen Beurlaubung überhaupt erst ermöglicht, die Suche nach dem Fußballtalent zu beginnen. Joseph O'Neill gelingt es ganz hervorragend, diese beiden Erzählstimmen auch komplett unterschiedlich klingen zu lassen. Die einzige Gemeinsamkeit ist der auffällige Einsatz der indirekten Rede, wenn sie ihre diversen Gesprächspartner:innen zitieren. Ansonsten erzählt Lakesha so, wie sie arbeitet: schnörkellos, effizient, ein wenig unnahbar. Mark Wolfe ist das genaue Gegenteil. Er ist ein Grübler, ein Haderer, der mit sich und der Welt nicht im Reinen ist. Immer wieder scheint in seinen Ausführungen der studierte Biologe durch. O'Neill begegnet diesen zwei Stimmen mit feinem Humor und Überspitzungen, die "Godwin" gerade zu Beginn zu einer unterhaltsamen und klugen Lektüre machen, auch wenn ihm einige Passagen dabei zu geschwätzig geraten.

Insbesondere die Teile, die von Mark erzählt werden, sind in der ersten Hälfte große Kunst. In den tragikomischen Ausführungen und dem absurden Humor erinnern sie in den besten Momenten gar an Knut Hamsuns "Hunger". Außerdem streut O'Neill immer wieder philosophische Ausführungen ein, denen man sich als Leser:in mit Genuss hingibt. Ein weiterer Pluspunkt sind die immer wieder mit viel Charme und Liebe erzählten Anekdoten aus der Fußballwelt. Ob Ernst Happel, Eusébio oder Youri Djorkaeff - O'Neill hat wunderbar recherchiert und schafft es, diese kleinen Schnipsel in die Handlung rund um "Godwin" einzuflechten, ohne dass dies bemüht wirkt.

Verantwortlich für diese Fußballgeschichten zeichnet übrigens Jean-Luc Lefebvre, ein französischer Talentscout, der zugleich die präsenteste Nebenfigur des Romans ist. Und dieser Lefebvre ist kurioserweise gleichermaßen in nicht geringem Maß dafür verantwortlich, dass sich die erste Hälfte eben so gut und unterhaltsam liest, die zweite aber zu einem Reinfall wird.

Denn in einer nahezu unerträglich langen Szene lässt O'Neilll Lefebvre Mark Wolfe und seine Frau Sushila in den USA besuchen. Auf sage und schreibe mehr als 100 Seiten erzählt Lefebvre von dessen Erlebnissen in Afrika und seiner Suche nach Godwin - und damit etwa ein Viertel des gesamten Buches. Unterbrochen wird dieser mit der Zeit unglaublich langweilige Monolog durch wenige Einschübe von Mark und Sushila oder von ein paar Streicheleinheiten für Marks Hund. Der Autor und Dramaturg Roland Schimmelpfennig, selbsternannter Kämpfer gegen die literarische Geschwätzigkeit, hätte seine helle Freude am Zusammenstreichen dieser Szene. Lefebvre lässt sich über afrikanische Mythen und Vorurteile aus und kommt dabei vom Hölzchen aufs Stöckchen.

Eine Schwäche, über die man noch hinwegsehen könnte, wenn da nicht auch noch das vermaledeite Ende des Buches wäre. Im letzten Abschnitt kommt wieder Lakesha zu Wort. O'Neill macht daraus eine Wundertüte. Ohne zu viel verraten zu wollen, bricht das Finale nicht nur mit inhaltlichen und erzählerischen Konventionen, sondern präsentiert der mittlerweile ermatteten Leserschaft eine Überraschung nach der anderen. Kann man machen, wäre das nicht alles so furchtbar überkonstruiert, unglaubwürdig und zynisch. O'Neill begeht darin den Fehler, selbst mit der Figur Godwin zu spielen - dabei ist es noch die kleinste zynische Anekdote, dass der Namensgeber des Buches nicht ein einziges Mal während der knapp 430 Seiten wirklich zu Wort kommt. Sprich: Die vordergründige Kritik des Romans am Fußball-Business und an der Globalisierung hintergeht der Autor selbst mit diesem vor Zynismus nur so triefenden Finale. Ein echtes Eigentor in der Nachspielzeit! So hinterlässt "Godwin" trotz der lesenswerten ersten 250 Seiten einen schalen Beigeschmack und ein Gefühl der Ernüchterung.

Bewertung vom 20.06.2024
Darwyne
Niel, Colin

Darwyne


ausgezeichnet

Der zehnjährige Darwyne Massily lebt mit seiner Mutter Yolanda in Bois Sec, einem Slum in Französisch-Guayana. Darwyne ist ein Außenseiter, nicht nur wegen seiner körperlichen Beeinträchtigung. Der Junge befasst sich lieber mit der Flora und Fauna des Amazonasdschungels, als Interesse an seinen Mitmenschen zu zeigen. Als bei der Kinder- und Jugendhilfe ein anonymer Anruf eingeht, dass mit der Familie etwas im Argen sei, nimmt sich Sonderpädagogin Mathurine der Akte an. Auch sie liebt den Regenwald. Wird es ihr gelingen, eine Verbindung zu dem verschlossenen Kind aufzunehmen und sein Geheimnis zu erfahren?

"Darwyne" ist der neue Roman von Colin Niel, der bei Suhrkamp in der Übersetzung aus dem Französischen von Anne Thomas erschienen ist. Der Verlag verkauft das Buch als "Thriller" - eine Fehleinschätzung, die "Darwyne" eventuell einer falschen Zielgruppe zuführen könnte. Denn der Roman ist viel mehr als ein schnöder "Thriller", auch wenn er ähnliches Spannungspotenzial aufweist.

Benennt man einen Roman nach einer Hauptfigur, besteht immer das Risiko, dass diese ihrer Rolle vielleicht nicht gerecht werden könnte. Bei "Darwyne" besteht diese Gefahr jedoch nicht. Der junge Titelheld ist von Beginn an Fixpunkt der Erzählung. Er ist derjenige, der die Handlung auf seinen schmalen Schultern voranträgt. Er ist derjenige, bei dem sämtliche Fäden zusammenlaufen. Colin Niel macht in einer bewegenden Anfangsszene deutlich, wie sehr Darwyne seine Mutter liebt. Fast abgöttisch betrachtet er diese Frau während eines Gottesdienstes. Doch früh wird deutlich, dass Yolanda diese Gefühle nicht erwidert. "Kleines Opossum" nennt sie ihren Sohn oder auch mal "dreckigen Makaken".

Colin Niel gelingt es in seinem jüngsten Werk, auf einer Tonleiter der Emotionen nahezu sämtliche Klänge ertönen zu lassen. So gibt es Szenen, die so schwer zu ertragen sind, dass die Leser:innen mit Wut und Abscheu auf die zahlreichen Demütigungen Darwynes durch seine Mutter reagieren werden. Und es gibt unglaublich zärtliche Momente, etwa wenn Darwyne einen gemeinsamen Ausflug mit Mathurine in den Dschungel unternimmt und der Junge endlich seine ganze Individualität zeigen kann; wenn er zeigen kann, was der wahre Darwyne ist. Und nicht die "gerichtete" - welch schrecklicher Begriff - Version, die die Mutter erzogen hat.

Hervorragend ist auch die Figurenzeichnung, die der Autor mit seiner Multiperspektivität hervorruft. Nicht nur die vier zentralen Charaktere - neben den bereits genannten gibt es mit Jhonson noch den mittlerweile achten Stiefvater des Jungen - weisen die diversesten Schattierungen auf, auch die Nebenfiguren überzeugen. Selbst Mutter Yolanda, die in zahlreichen Szenen wie das üble Abbild einer modernen Medea wirkt, hat diese Grautöne. Beispielsweise, wenn sie Mathurine darüber berichtet, wie schwer es für sie ist, als Einwanderin an diesem unwirtlichen Ort Kinder großzuziehen.

Einen ganz eigenen Part nimmt im Roman der Dschungel ein. Seien es so wunderbare Tiernamen wie "Schreipihas", "Guane" oder "Allobates", seien es die Gerüche und Geräusche, die vor allem Darwyne wie kein Zweiter wahrnimmt - Colin Niel erweckt den Regenwald so furios zum Leben, dass man ihn selbst zu spüren glaubt. Hier merkt man, dass der Autor einige Jahre in Französisch-Guayana verbracht hat, wie man im Klappentext erfährt.

Ein zentrales Thema des Romans ist neben der Mütterlichkeit der Respekt - einerseits vor der Natur und ihren Lebewesen, aber auch der Respekt vor dem Menschen, vor der Invidualität eines jeden. Denn letztlich ist es dieser fehlende Respekt, gepaart mit einer existenziellen Angst vor der Andersartigkeit, die aus Yolanda eben diese schreckliche Mutter macht.

So ist "Darwyne", der in Frankreich bereits völlig zu Recht mit zahlreichen Literaturpreisen bedacht wurde, eben kein klassischer Thriller, sondern vielmehr eine Mischung aus Sozialdrama, Spannungs- und auch Abenteuerroman. In jedem Fall eine großartige Melange, die man nicht so schnell vergessen und verdauen kann. Gewarnt werden soll schließlich noch vor der Lektüre des Klappentextes, der bedauerlicherweise einen so zentralen Aspekt verrät, dass man es nur als Ärgernis bezeichnen kann.

Bewertung vom 30.05.2024
Malnata
Salvioni, Beatrice

Malnata


gut

Monza, 1935: Während sich Italien unter der Diktatur Mussolinis in dunklen Zeiten befindet, fühlt sich die elfjährige Francesca unverstanden. Ihre Mutter begegnet ihr mit Lieblosigkeit und Verboten, ihr Vater verfällt in eine fast sprachlose Gleichgültigkeit. Da wirkt es fast wie ein Wunder, dass sich plötzlich dieses wilde Mädchen für sie zu interessieren scheint, das immer mit zwei etwas älteren Jungen am Ufer des Lambro spielt. Der Name des Mädchens ist Maddalena, doch wird sie von allen im Ort nur "Malnata" genannt - die "Unheilbringende". Allen Warnungen der Erwachsenen zum Trotz freundet sich Francesca mit der "Malnata" an. Eine Entscheidung, die ihr junges Leben komplett auf den Kopf stellt...

"Malnata" ist der Debütroman von Beatrice Salvioni, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem Italienischen von Anja Nattefort bei Penguin erschienen ist und laut Klappentext in Italien noch vor Erscheinen "zu einem literarischen Ereignis" und mittlerweile in 35 Länder verkauft wurde. Hohe Vorschusslorbeeren, denen der Roman leider nur zu Beginn gerecht wird.

Denn der Anfang des Buches ist hochdramatisch und berührend. Ich-Erzählerin Francesca wird im Prolog von ihrer Freundin Maddalena offenbar gerade noch vor einer Vergewaltigung gerettet. Im Rückblick erzählt uns Francesca, wie es zu dieser Situation, vor allem aber zu der unerschütterlichen Freundschaft mit der "Malnata" kommen konnte. Salvioni zeichnet in dieser Phase authentisch und zärtlich, wie sich die beiden Mädchen langsam annähern und unter welchen gesellschaftlichen Anfeindungen insbesondere Maddalena zu leiden hat. Die abergläubische Welt der Erwachsenen macht sie für mehrere Unglücksfälle in ihrer unmittelbaren Umgebung verantwortlich. Es ist bezaubernd, wie feinfühlig Salvioni sich den beiden Hauptfiguren widmet. Dabei gelingt ihr der Spagat, die aufgeladene Atmosphäre des Faschismus hintergründig darzustellen, ohne die Perspektive der Kinder zu verlassen. Die "Malnata" selbst wirkt dabei manchmal wie eine dunkle Pippi Langstrumpf, die mit ihren nicht ganz harmlosen Streichen eine Art freiheitlicher Kontrapunkt zur faschistischen Welt der Erwachsenen darstellt. Die kindlichen Szenen am Fluss, die Mischung aus Unschuld und Härte, erinnern in ihren besten Momenten ein wenig an den legendären "Club der Verlierer" aus Stephen Kings "Es".

Leider gelingt es Salvioni jedoch nicht, diese Szenen zu einem glaubwürdigen Roman weiterzuspinnen. Die Figuren lassen Grautöne vermissen, nahezu alle lassen sich spielend leicht in "Gut und Böse" eingruppieren. Die Erwachsenen sind mit Ausnahme von Francescas Haushaltshilfe Carla menschlich allesamt eine Katastrophe, vor allem die Elternfiguren aller Kinder versagen komplett. Ein regelrechtes Ärgernis ist aber die Glorifizierung der Maddalena. Während die Faszination, die sie auf ihre Freundin aus dem gut-bürgerlichen Haushalt ausübt, zwar authentisch und verständlich wirkt, hat die Figur in ihrer Konzeption so große Schwächen, dass eigentlich nicht einmal Francesca darüber hinwegsehen könnte. So verbreitet die "Malnata" eine erwachsene Weisheit nach der anderen, scheitert aber selbst im zwischenmenschlichen Bereich, indem sie den wenigen ihr wohlgesinnten Menschen großen Schaden zufügt. Beispielsweise durch völlig unsinnige Mutproben, die von der Autorin offenbar nur eingeführt wurden, um den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Oder durch Unstimmigkeiten, in denen Salvioni die Mädchen genau so abergläubisch handeln lässt, wie es die von ihnen verachteten Erwachsenen eigentlich tun würden. Vollends an Glaubwürdigkeit verliert "Malnata", wenn gegen Ende des Buches eine von den Kindern leidlich gepiesackte Figur einen Sinneswandel um 180 Grad vollzieht und sich plötzlich als Hilfsbereitschaft in Person präsentiert.

Eine weitere Schwäche ist die Melodramatik des Textes, die mit fortschreitender Lektüre immer stärkere Züge annimmt und die Kitschgrenze zumindest streift, wenn nicht gar überschreitet. Schicksal reiht sich an Schicksal, die Verehrung Francescas für ihre Freundin nähert sich der Hörigkeit an. Gewalttaten der "Malnata" wie beispielsweise das Blutigschlagen des Kopfes der Sitznachbarin in der Schule auf den Tisch werden als Lappalie abgetan, Tierquälereien als Mittel zum Zweck nicht einmal hinterfragt. Bedauerlich ist auch, dass der Roman kaum noch Überraschungspotenzial hat und sich die Figuren mit Ausnahme der Ich-Erzählerin wenig entwickeln. So ist beispielsweise äußerst früh zu durchschauen, wer hinter der anfangs erzählten versuchten Vergewaltigung steckt.

Letztlich endet das "literarische Ereignis" eher als halbgare Mischung aus Coming-of-Age- und Jugendroman, die ihr anfängliches Potenzial zunehmend verspielt, indem sie - und damit Autorin Salvioni - falsche Entscheidungen trifft und die letzte Konsequenz vermissen lässt. Schade.

Bewertung vom 29.05.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


sehr gut

Peking, 1899: Nach zehnmonatiger Pause ist der einzigartige Transsibirien-Express endlich wieder einsatzbereit, um die lange Reise ins weit entfernte Moskau anzutreten. Mit an Bord ist beispielswese Dr. Henry Grey, eigentlich ein renommierter Wissenschaftler, dessen Ruf jedoch kürzlich merklich gelitten hat. Oder Maria Petrowna, eine junge Trauernde, die nicht ohne Grund unter falschem Namen reist. Und natürlich - wie jedes Mal seit ihrer Geburt im Zug vor 16 Jahren - Zhang Weiwei, als Mitglied der Crew eine Art Mädchen für alles. Gemeinsam mit vielen anderen begeben sie sich auf eine Fahrt, die keine:r von ihnen je vergessen wird. Denn das zu durchquerende Ödland ist gar nicht so öd, wie es der Name vermuten lässt. Ganz im Gegenteil. Als dann auch noch klar wird, dass sich eine blinde Passagierin trotz aller Sicherheitsmaßnahmen in den Zug schleichen konnte, nehmen die Dinge ihren Lauf...

"Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland" ist der Debütroman der im englischen Leeds lebenden Autorin Sarah Brooks, dessen Manuskript bereits vor Veröffentlichung mit dem Lucy Cavendish Fiction Prize ausgezeichnet wurde. Der Roman erscheint in insgesamt 15 Ländern, darunter in der deutschen Übersetzung von Claudia Feldmann bei C. Bertelsmann im Juli. Bemerkenswert schön ist diese Ausgabe rein optisch geworden. Ein goldener Zug unter goldener Schrift, dazu eine liebenswerte Verzierung des Buchdeckels und eine detaillierte Zeichnung der einzelnen Waggons im Inneren. Umso besser, dass da auch der Inhalt insgesamt überzeugen kann.

Gerade die erste Hälfte des Romans weiß nämlich zu gefallen. Brooks nähert sich den oben vorgestellten drei Hauptfiguren behutsam an und legt erst Schritt für Schritt deren Träume und Ziele offen. Ein kluger Schachzug, der zusammen mit der großen Fabulierfreude der Autorin und der Liebe zum Detail für eine aufregende Lektüre sorgt. Da ist beispielsweise das Buch, das diesem Roman seinen Titel gibt und von einem gewissen Valentin Rostow 1880 veröffentlicht wurde. Die Auszüge, die man zu lesen bekommt, wirken dabei so authentisch, dass man kurz zweifelt und sich fragt, ob dieser Rostow nicht vielleicht doch wirklich gelebt hat? Wunderbare Begriffe wie "Ödlandweh" - eine Art Trancezustand, die Reisende während der Fahrt durch das gefährliche Niemandsland befallen kann - "Valentinsfeuer" oder "Birkenkathedralen" und Beschreibungen des Zuges und der Geschehnisse um diesen herum, dürften nicht nur bei Eisenbahnfreund:innen den richtigen Nerv treffen.

Insgesamt ist auch die Figurenkonzeption ein großes Plus des Romans. Sarah Brooks hat sich in jedem Fall für die richtigen Hauptfiguren entschieden, denn Weiwei, Maria und Dr. Grey sind letztlich der Grund, warum das Buch auch in der schwächeren zweiten Hälfte noch zu überzeugen weiß. Sie alle berühren die Leser:innen jeweils auf ihre ganz eigene Art. Sei es Weiwei mit ihrer Sehnsucht nach einer echten Freundin, sei es der gescheiterte Dr. Grey mit seinem Streben nach Wissen und seiner Liebe zur Natur oder die trauernde Maria, die von Brooks mit großer Empathie gezeichnet wurde.

Dabei setzt sich die Autorin durchaus kritisch mit so großen Themen wie den Unterschieden zwischen Natur und Kultur oder auch Wissenschaft und Religion auseinander und scheut zudem keine Genregrenzen. Während die Leserschaft zu Beginn an Horror-Bahnhöfen Halt macht, zwischendrin ein paar Coming-of-Age-Passagier:innen zusteigen lässt, eine kurze Pause auf einem Krimi-Abstellgleis einlegt, driftet die Fahrt in der zweiten Hälfte doch ziemlich rasant und eindeutig in Richtung Endstation Fantasy.

Brooks begeht allerdings den Fehler, dem Grauen vorzeitig den Dampf zu nehmen. Vergleichbar mit einem mittelmäßigen Horrorfilm, bei dem der Grusel mit dem ersten sichtbaren Auftritt des Monsters schlagartig aufhört, muss sich die Autorin den Vorwurf gefallen lassen, es in der zweiten Hälfte mit den Fantasy- und Actionelementen zu übertreiben. Dadurch wirkt das "Handbuch" irgendwann ein wenig überfrachtet.

Dennoch ist es gerade für einen Debütroman erstaunlich, dass Sarah Brooks mit dem "Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland" eine ganz eigene Welt kreiert hat, die vor Ideen und Fantasie nur so strotzt. Zwar erinnern gewisse Momente an den 2014er-Kinofilm "Snowpiercer" von Bong Joon-ho, Jeff VanderMeers "Auslöschung" oder an Albert Sánchez Piñols großartigen Roman "Im Rausch der Stille", doch sind alle drei ja nicht die schlechtesten Referenzen.

Bewertung vom 05.05.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


sehr gut

Die 16-jährige Odile lebt in einem ganz besonderen Tal. Würde sie dort die Grenze nach Westen überschreiten, befände sie sich 20 Jahre in der Vergangenheit. Eine Grenzüberschreitung nach Osten katapultierte sie hingegen 20 Jahre in die Zukunft. Doch über die Grenzen und das gesamte Leben im Tal entscheidet das regierende Conseil, das eine Reise in die Vergangenheit oder in die Zukunft nur in ganz wenigen begründeten Ausnahmefällen zulässt - beispielsweise, um einen zu früh verstorbenen Menschen wenigstens noch ein einziges Mal sehen zu können. Als Odile zufällig zwei maskierte Gäste aus der Zukunft im Tal entdeckt und dahinter die Eltern ihres nahezu einzigen Freundes Edme erkennt, ringt sie mit sich. Soll sie verbotenerweise in das Geschehen eingreifen, um Edmes Tod doch noch zu verhindern? Oder konzentriert sie sich ganz auf ihre angestrebte Ausbildung im Conseil und nimmt damit den Verlust des Freundes in Kauf?

"Das andere Tal" ist der Debütroman des kanadischen Autors Scott Alexander Howard, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger bei Diogenes erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert kluger Roman, dem man den philosophischen Hintergrund Howards nahezu durchgehend anmerkt, ohne dass er auch nur ansatzweise verkopft daherkommt. In den existenziellen Fragen nach Schuld und Moral in Verbindung mit einer jugendlichen Protagonistin erinnert er zeitweilig an Jostein Gaarders "Sofies Welt", über weite Strecken des ersten Teils kommt er einem hingegen wie ein sehr guter Jugendroman vor. Es ist nicht nur die für das Genre typische Begleitung einer Außenseiter-Figur, die sich mit der Zeit stark entwickelt und nach und nach Anschluss findet, sondern es sind auch die Themen wie Freundschaft, erste Liebe, Schule und Ausbildung, die daran erinnern lassen. Und auch wenn junge Leser:innen durchaus Gefallen an "Das andere Tal" finden könnten, sollten Erwachsene nicht den Fehler machen, das Buch zu unterschätzen. Denn im zweiten Teil wird die Handlung ungleich düsterer und nähert sich immer stärker einer Dystopie an.

Sprachlich ist "Das andere Tal" klar strukturiert und gönnt sich wenig Abschweifungen. Doch auch wenn der Roman extrem handlungsorientiert und souverän erzählt wird, weiß Scott Alexander Howard seine sprachlichen Fähigkeiten wohldosiert einzusetzen. Beispielsweise bei einer ungemein romantischen Nachtszene, in der der Geige spielende Edme Odile seine Kompositionen auf einer Klippe vorstellt. Oder bei einem Regenschauer, der sich kongenial mit Odiles Stimmungsbild verbindet.

Das größte Verdienst des Buches ist es aber, dass man als Leser:in im positiven Sinne dazu gezwungen wird, seine grauen Zellen anzustrengen. Das philosophische Konstrukt hinter einer offenbar unendlich wirkenden Reihe von Tälern zu verstehen - oder es zu dekonstruieren. Sich selbst zu hinterfragen, wie man sich entscheiden würde. Und wenn man zu dieser Entscheidung gekommen ist, sich wiederum zu fragen, warum man diese Entscheidung so getroffen hat. Das macht Scott Alexander Howard herausragend, indem er mit den Erwartungen der Leserschaft spielt und diese animiert.

Da ist es dann doch sehr schade, dass ausgerechnet die zentrale Idee des Buches der Hinterfragung nicht standhält. Die ernst gemeinte Begründung der für alle Beteiligten und auch für das Conseil extrem riskanten Grenzüberschreitungen bzw. Zeitreise lautet nämlich tatsächlich: "Das war schon immer so." Hier macht es sich Howard zu einfach und unterschätzt die klugen Leser:innen. Mit bösen Absichten könnte man so die eigentlich hervorragende Grundidee - und damit auch den Roman - komplett auseinandernehmen.

Da "Das andere Tal" einen ansonsten aber nahezu über die gesamte Dauer der etwas mehr als 450 Seiten komplett für sich einnimmt, bleibt dies ein mittelgroßer Wermutstropfen eines ansonsten wunderbaren Debütromans, der große Lust auf weitere Werke des Kanadiers macht.