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Benutzername: 
Adelebooks
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 116 Bewertungen
Bewertung vom 21.10.2024
Die Geschichte vom zauberbunten Garten
Rübben, Andrea

Die Geschichte vom zauberbunten Garten


ausgezeichnet

Herzerwärmende Geschichte über Trost und Freude der Blumen…

Die Geschichte vom zauberbunten Garten von Andrea Rübben und Stella Dreis ist wahrhaft eine zauberhafte Erzählung. Dabei überzeugt nicht nur die rührende Geschichte um eine alte Frau, die sich in einer grauen Stadt in ihrem eigenen Garten eine blühende Oase angelegt hat. Diese Schönheit und die Kraft der Pflanzen in die Stadt zu tragen, macht sie sich zur Aufgabe, steckt den Menschen die ihr begegnen Blumen zu und verbreitet so die Magie ihres Gartens in der ganzen Stadt. Die Hauptrolle spielen für mich jedoch die traumhaft schönen Zeichnungen, die die Geschichte illustrieren! Die Schattierungen und fast nebelartigen Skizzen erzeugen eine ganz eigene Stimmung, die vom Text fast nur noch ergänzt werden. Was daraus entsteht, erinnert an ein modernes Märchen. Das Buch zieht so trotz der Kürze jung und alt in einen Bann von Geschichte und zauberhaften Illustrationen. Durch hochwertige Umsetzung in Inhalt und Einband eignet sich das Buch auch wunderbar als Geschenk.

Bewertung vom 14.10.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


sehr gut

Nur die Irren und die Harten können ganzjährig in den Wässern schwimmen…

Ballybrady, ein abgelegener Ort am Meer an der irischen Küste. Hierhin hat es Evan nach einem Schicksalsschlag verschlagen, um zur Ruhe zu kommen, sich und sein Leben neu zu sortieren. Von seinem einsamen Cottage am Meer aus beginnt er die Umgebung und die Menschen im Ort zu entdecken, mit all ihren Eigenheiten und all der Schönheit und Kraft, die die Natur und das Meer ausstrahlen. Besonders hervor sticht seine Vermieterin Grace, die ein zurückgezogenes Leben führt und über die verschiedene Gerüchte im Dorf kursieren. Überraschend bricht über die Dorfgemeinde die Covid Pandemie mit all ihren Einschränkungen herein und dann kommt auch noch Evans tauber Sohn Luca zu Besuch und muss betreut werden. Grace wiederum bekommt unerwartete Gesellschaft von ihrer Nichte Abby. Und so erleben wir in Mitternachtsschwimmer verschiedene Menschen, die im Unerwarteten und Zwischenmenschlichen sich selbst finden, im Trost der rauen Schönheit des Meeres und der Küstenregion. Gleichzeitig ist der Roman auch das Porträt einer Dorfgesellschaft in einem abgelegenen Küstenort, geprägt von Charakteren mit oft liebenswerten Eigenheiten und einer ganz besonderen gemeinschaftlichen Dynamik.

Grace und Evan, so unterschiedlich diese beiden Menschen auf den ersten Blick scheinen, haben schwere Schicksalsschläge im Leben erlebt, zwei verwundete Seelen, die trotz ihrer offensichtlichen Unterschiede und verschiedenen Erfahrungen den Schmerz des jeweils anderen vielleicht am besten verstehen und nach anfänglichen Vorbehalten eine Verbindung zueinander finden können. Doch da ist auch noch die schwierige Beziehung Evans zu Luca, zu dem Grace so spielend leicht und selbstverständlich einen Zugang zu finden scheint.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen und persönlichen Schicksalsschläge sind sehr sensibel und authentisch beschrieben, dies oft mehr durch Auslassungen als konkrete Benennung und gerade dadurch intensiv. Dabei wird die Kraft der natürlichen Elemente in die Erzählung und emotionalen Zuständen der Charaktere immer wieder gekonnt eingewoben, spiegelt diese und bricht sie an anderer Stelle. Besonders gefallen haben mir auch die fast schon skurrilen, komischen Elemente, wie den Umgang von Grace mit ihrem Esel und dem Hund. Das Ende war für mich in einigen Aspekten und Dynamiken jedoch nicht vollständig stimmig.

Mitternachtsschwimmer ist eine sensible und raue Erzählung zugleich, die eingebettet in die Natur und Abgeschiedenheit der irischen Küste einfühlen lässt, wie man auch nach unbeschreiblichen Schicksalsschlägen, die das Leben bereithält, wieder zu sich selbst finden kann. Das Meer dabei stets als Trost und Symbol stetiger Hoffnung, sowie Quelle neuer Lebensenergie und Gelassenheit.

Bewertung vom 07.10.2024
Intermezzo
Rooney, Sally

Intermezzo


sehr gut

Eine andere Sally Rooney oder auch nicht

Peter, Ivan, Margarete - drei Menschen, die auf je eigene Art vom Leben und dem Alltag herausgefordert werden. Peter und Ivan haben gerade ihren Vater verloren. Mit zehn Jahren Altersunterschied und völlig unterschiedlichen Charakteren standen sich die Brüder noch nie wirklich nah. Der Tod des Vaters beschäftigt jeden von ihnen anders. Peter tröstet sich in der losen, diffusen Beziehung zur viel jüngeren Naomi, während echte Verbundenheit für ihn noch immer mit seiner Ex Sylvia verbunden ist. Ivan ist zwar sehr begabt im Schachspiel, fühlt sich jedoch oft einsam und in sozialer Interaktion unsicher. Und so begegnet er auch der attraktiven 36 Jährigen Margarete bei einem Schachevent eher zurückhaltend und unbeholfen. Und trotzdem ist da eine unerwartete Verbundenheit zwischen diesen auf den ersten Blick so unterschiedlichen Menschen. Margaretes Routinen und Alltag, ihr ganzes Bild von sich, werden von der Begegnung mit Ivan, ohne dass sie dies möchte oder bewusst steuern könnte in Frage gestellt.

In die Handlung eingewoben hat die Autorin viele tiefgründige und philosophisch Gedanken, nicht nur zur Gestaltung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern beispielsweise auch der Bedeutung von Geld in diesen und der Gesellschaft. Intermezzo war für mich kein leichtes Buch, dass ich mal eben so weg lese. Dafür war es inhaltlich zu tiefgründig und sprachlich, mit der interessanten aber im Falle Peters manchmal schwer zu folgenden Stilanpassung an den jeweiligen Charakter, zu einnehmend und Konzentration fordernd. Die oft sprunghaften Gedanken in abgebrochenen Sätzen, die Peters Alltag prägen und eine innere Unruhe und Suche - nach nicht weniger als sich selbst - anschaulich verdeutlichen, finden sich auch in der Satzstruktur in Peters Kapiteln wieder und machen sein Erleben so fast zum Erleben der Leserin. Dies ist stilistisch gelungen, jedoch nicht immer einfach zu lesen.

Erneut taucht Rooney gekonnt tief in das Seelenleben und die Gefühlswelten ihrer Protagonist:innen ein. Was dabei zum Vorschein kommt ist oft traurig und schön zugleich, wie es auch das Leben ist. Für mich ist es das bisher reifste Buch von Sally Rooney, wobei ich noch mit den Passagen um Peter und ihrem schwer zu folgenden Stil hadere und das Buch deshalb als weniger zugänglich als ihre anderen Werke empfinde. Mir fehlte trotz der Gedankenschwere oft eine gewisse Leichtigkeit zwischen den Zeilen, die ich von Sally Rooney gewohnt bin. Dies wird jedoch auch in diesem Buch der Autorin mit vielen klugen Gedanken zu unserer Gesellschaft, dem Leben darin und unseren zwischenmenschlichen Beziehungen aufgewogen.

Bewertung vom 04.10.2024
Okaye Tage
Mustard, Jenny

Okaye Tage


ausgezeichnet

Wenn es Liebe ist… Eine authentische, wie zarte Erkundung des Kennen- und Liebenlernens in der Generation Z

Sam und Luc sind Ende 20 als sie auf einer Party in London aufeinandertreffen. Sam ist nur wenige Monate für ein Praktikum in der Stadt, und lebt eigentlich in Stockholm. Luc jobbt nach seinem Master vorübergehend in einer Boutique und sucht seinen Traumjob als Umweltingenieur. Die toughe, aktive Sam ist das Gegenteil der britischen Politeness, die Luc gewohnt ist, Luc wiederum begeistert Sam mit seinem Witz und seiner Sensibilität, die ihr ein Gefühl von zu Hause und Verstandenwerden vermitteln. So unterschiedlich diese beiden Menschen auf den ersten Blick sind, so nah sind sie sich in wesentlichen Aspekten und so beginnt eine der schönsten Geschichten, die ich in diesem Jahr gelesen habe.

Die Liebe, die wir hier begleiten, über das Kennerlernen und Verliebtsein, die Hürden dieses in einen gelungenen Alltag zu überführen, hat etwas Magisches und ganz Natürliches zugleich. Und da ist noch eine zweite Liebe: die zu London, als Sams Sehnsuchtsort und Wahlheimat, mit der ebenso die Beziehung nicht immer konflikt- und widerspruchsfrei ist.

Aus diesen Zutaten webt die Autorin eine wundervolle Erzählung, die tief in die Gefühlswelten von Luc und Sam eintauchen lässt und dabei auch weitere typische Gedanken und Herausforderungen einer Generation geschickt und authentisch integriert - von Klimaschutz über Karriere und Selbstverwirklichung im Job, sowie (nationale) Identität, Fremdheit und Zugehörigkeit in einer vernetzten Welt.

Ganz wundervoll sind die Unsicherheiten und das Gefallenwollen der ersten Verliebtheit bei Sam und Luc von Mustard eingefangen, ebenso wie später die ersten Konflikte. Die beiden Perspektiven erlauben der Autorin in einem feinen Wechselspiel Selbst- und Fremdwahrnehmung gekonnt zu kontrastieren. Dabei sind diese sensibel aufeinander abgestimmt. Beim Lesen gewinnt das Bild aus der ersten Perspektive im Anschluss immer wieder und abwechselnd eine neue Dimension und erfährt zum Teil auch eine Revision. Dies hat mir unglaublich gut gefallen!

Gelungen und komplex sind auch die Hintergründe und Sozialisation der beiden Protagonist:innen. Sams Vater stammt aus Bukarest und heiratete eine Schwedin, sodass sie selbst in Stockholm geboren wurde. Luc hat früh seine Mutter verloren. Die Dynamik der Erzählung lebt förmlich von den zwei alternierenden Perspektiven Sams und Lucs, die jeweils auch durch ihre Herkunft und Sozialisation geprägt sind. So erleben wir deren Innenleben, Kennenlernen und gleichzeitig Missverständnisse und Missdeutungen des Verhaltens des jeweils anderen. Wer kennt das nicht?

Ganz besonders gefällt mir die ehrliche und zugleich zarte Sprache von Jenny Mustard. Ich erkenne hier einen Stil, der bereits seit einiger Zeit die junge britische Literatur prägt und mir unglaublich gut gefällt, weil er die Stimmung einer Generation so authentisch einzufangen vermag.

Okaye Tage hat sich bereits nach den ersten Seiten zu einem meiner Lesehighlights in diesem Jahr entwickelt. Die Geschichte um Sam und Luc ist ein authentisches und zart gezeichnetes Porträt des Liebens und der Herausforderungen einer Generation, das mit sensiblen Einblicken in die Gefühlswelten der Protagonist:innen, wichtigen Gegenwartsthemen und viel Leichtigkeit zugleich überzeugt!

Bewertung vom 26.09.2024
Das Möbel-Handbuch
Ramstedt, Frida

Das Möbel-Handbuch


ausgezeichnet

Informatives Handbuch und tolles Coffeetablebook zugleich!

In neun Kapiteln vermittelt Frida Ramstedt in Das Möbelhandbuch alles was man über Möbel, ihre Herstellung, Ergonomie, Materialen und Anordnung wissen muss. Das im Buch vermittelte Wissen ist dabei nicht nur informativ und bildend, sondern hat auch praktische Relevanz und gibt Hilfestellungen für die eigene Einrichtung und den Möbelkauf.

Die Möbel sind je Kapitel nach Arten untergliedert in Sitzmöbel, Tische, Stauraum (Schränke, Vitrinen, Regale, etc.) und Betten. Zu jedem Möbelstück gibt es Informationen zur Geschichte, Herstellung, Varianten und Kauftipps am Ende jedes Unterkapitels. So eignet sich das Buch nicht nur als informativer Leseband, sondern auch als Nachschlagewerk bei Neuanschaffungen.

Ganz besonders haben mir jedoch auch die „Rahmenkapitel“ zu Beginn und am Ende gefallen. Als Holzliebhaberin fand ich das Kapitel am Ende zu Materialen sehr informativ und aufschlussreich, hier werden u.a. Holzarten, ihr Aussehen und Eignung vorgestellt, aber natürlich auch viele weitere Materialen im Möbelbau, von Glas über Leder bis hin zu Textilien und Metallen. Zu Beginn vermittelt die Autorin Hintergründe und Herleitungen zum Möbeldesign im Kapitel „Der Mensch als Maßstab“. Ich fand es unglaublich spannend zu lesen, welche Überlegungen hinter einem gelungenen, ergonomischen Möbelstück stecken.

Ich äußere mich selten zum Einband, doch in diesem Fall muss es sein. Das Buch ist in einem wunderschön, wertigen Leineneinband eingefasst, sodass man ein bisschen das Gefühl bekommt Frida Ramstedts Fachkunde zu Möbeln, wurde auch bei der Gestaltung des Buchs umgesetzt. So macht das Handbuch gleich doppelt Spaß und eignet sich auch super als Geschenk oder dekoratives Coffetablebook.

Bewertung vom 23.09.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


ausgezeichnet

Ein endloser Albtraum im Netzzeitalter - schockierend aktuell, spannend, klug und unterhaltsam erzählt

Mit Views ist dem Autor der Känguru Chroniken ein hochaktueller, spannender und temporeicher Thriller gelungen. Yasira ist Beamtin beim BKA mit Migrationsgeschichte in der zweiten Generation. Sie lebt gemeinsam mit ihrer 16 Jährigen Tochter in Berlin. Während eines Dates mit einem Journalisten geht online ein Video einer Vergewaltigung einer 16 Jährigen viral und trifft damit als fatales Öl in das Feuer einer ohnehin schon angespannten gesellschaftlichen Stimmung aus brennenden Unterkünften von Geflüchteten und dem Sturm auf das Kapitol in den USA. Yasira wird zur leitenden Ermittlerin ernannt und ermittelt mit ihrem Team zwischen Internetnerds, Heimatschutz und einer alles beobachtenden, gereizten Netzgemeinde. So nimmt ihr ganz persönlicher Albtraum seinen Lauf, in dem sie vieles zuvor als sicher geglaubtes überdenken muss.

Gekonnt spielt der Autor mit zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und zeigt eindrucksvoll deren Gefahren auf. Die Aufmerksamkeitsökonomie im Netzzeitalter, die Macht von Influencerinnen, vernachlässigter Klimaschutz, Reichsbürger und der Hass auf alles Fremde.

Unglaublich gut hat mir auch der Schreibstil gefallen, locker, klug, zuweilen sarkastisch und trotzdem der ernsten Handlung angemessen. Insider- und 90er Jahre Jokes kommen nicht zu kurz. Klare Empfehlung von mir!

Bewertung vom 09.09.2024
Zwei in einem Leben
Nicholls, David

Zwei in einem Leben


sehr gut

Kennen- und Liebenlernen in der Lebensmitte - im Laufschritt von britischer Küste zu Küste

Im Mittelpunkt von Zwei in einem Leben steht die Besonderheit eines Kennen- und Liebenlernens in der Lebensmitte, wenn Beziehungen bereits gelebt, Erfahrungen geprägt und eventuell auch eine Art Gewöhnung an das Alleinsein eingesetzt haben.

Die Zwei, von denen hier die Rede ist, sind Marni und Michael. Marni ist 38, Lektorin und lebt in London, ihre frühe Ehe ist lang geschieden und sie seitdem allein. Michael, 42, ist ein sportlicher Erdkundelehrer aus York, und hat nach der kinderlosen Ehe mit Natascha mit wesentlich mehr als seiner Einsamkeit zu kämpfen.

Eine von einer gemeinsamen Freundin initiierte Wanderung lässt diese zunächst ungleichen Menschen, Marni, den Stadtmensch, und Michael, den Naturbegeisterten Lehrer aus York, aufeinandertreffen und unter auf Gegenseitigkeit beruhender Skepsis, gemeinsam mit der restlichen Kleingruppe eine Wanderung von Küste zu Küste Großbritanniens in Angriff nehmen.

Während die Gruppe sich auf der beschwerlichen Reise immer weiter ausdünnt, verstehen sich Marni und Michael unerwartet gut. Das gemeinsame Erleben und Wandern lässt beide sich langsam öffnen, sie reden und tauschen sich über ihr Leben aus, über vergangene Beziehungen, Kinderwunsch und Elternschaft, Liebe und Partnerschaft in der Lebensmitte, aber auch den Tod und Einsamkeit, die ihrer beider Leben begleitet. Doch wäre es nicht zu einfach, wenn dies schon die Geschichte wäre? Vielleicht müssen Marni und Michael sich erst selbst finden, bevor sie einander finden können…

Das Kennenlernen, aneinander Herantasten und die jeweiligen Herausforderungen, denen Michael und Marni in ihrem bisherigen Leben begegnet sind, sind typisch für David Nicholls sensibel und warmherzig, zuweilen komisch, beschrieben.

Sehr gut haben mir auch die Beschreibungen der Landschaft, zum Beispiel des Lake Districts oder der Yorkshire Dales, ebenso wie der Schönheit und Strapazen von Wandertouren, gefallen. Hier sei insbesondere auf die gelungenen Karten zur Illustration der Wegstrecke verwiesen, die immer wieder die Erzählung bereichern.

Zwei in einem Leben ist eine warmherzige, berührende Erzählung eines Kennenlernens in der Lebensmitte, die ich gern gelesen habe. Ein echtes Highlight war es zwar nicht, als sehr guter Wohlfühlroman für Zwischendurch jedoch auf jeden Fall zu empfehlen!

Bewertung vom 02.09.2024
Blue Sisters
Mellors, Coco

Blue Sisters


sehr gut

Ein wortmagischer Roman über Schwesternschaft, dysfunktionale Familienverhältnisse und Frausein im 21. Jahrhundert

Um eines Vorweg zu nehmen: Coco Mellors ist eine echte Wortmagierin! Die Autorin schafft es mit ihrer Sprache und der intelligenten Zeichnung psychologisch komplexer Figuren eine ganz besondere Dynamik zu erzeugen. Ihr Schreibstil ist so schneidend, schnell und pointiert, dass es einfach nur ein Genuss ist, ihre Geschichten zu verfolgen.

In Blue Sisters ist dies das Schicksal der vier Blue Schwestern: Avery, Bonnie, Nicky und Lucky. Ausgangspunkt ist der unerwartete Tod der mittleren Schwester Nicky. Schnell wird deutlich, dass jede Schwester auf ihre Art nicht nur mit dem Tod Nickys sondern bereits zuvor mit ihren ganz eigenen Dämonen kämpft und mit dem Leben hadert. Auffällig ist hier schon wie im Vorgängerroman Mellors Hang zu exzentrischen Figuren. So ist jede Schwester auf ihre Art sehr außergewöhnlich, sei es Lucky, die als Jüngste bereits mit 15 gefragtes Fotomodel war, Bonnie, die Boxweltmeisterin ist, oder Avery, die mit fotografischem Gedächtnis beruflich erfolgreich ist.

Die Familie Blue und die Schwestern lernen wir in jeweils eigenen alternierenden Kapiteln der verbliebenen Schwester kennen, in denen auch immer wieder auf Nicky und ihren Tod rekurriert wird und Einblicke in das Aufwachsen der Schwestern aufscheinen. In diesem Kontext behandelt Mellors dysfunktionale Familienverhältnisse und wie diese uns und unsere sozialen Beziehungen bis ins Erwachsenenalter prägen, das Thema Sucht und wie diese sich durch ganze Familien ziehen kann, Endometriose und Sexismus im Gesundheitssystem, sowie Trauer und Verlust, die Herausforderungen von Mutterschaft, und natürlich als größtes Thema und Rahmen: Schwesternschaft und ihre Dynamiken.

Dies ist aus meiner Sicht, mit leichten Abstrichen, durchaus gelungen. Für mich ist Blue Sisters ein bisschen wie ein Hollywoodfilm, der unterhaltsam und hochwertig umgesetzt ist, etwas Anspruch hat oder vortäuschen will und aus dieser Perspektive einfach sehr gut gemacht ist - fantastische Unterhaltung mit durchaus komplexen, exzentrischen Figuren! Was Blue Sisters (und auch Cleopatra und Frankenstein) für mich hingegen nicht ist, ist ein Werk mit besonders viel Tiefgang, das jenseits des Unterhaltungswertes nachhallt und zum Nachdenken anregt. Dafür ist der Stil zu schnell und skizzenhaft, letztlich doch primär auf Effekt ausgelegt, die Charaktere zu exzentrisch. Keine der Schwestern ist mir wirklich nahe gekommen, auch wenn ich ihre Geschichte gern verfolgt habe. Der Epilog war sehr amerikanisch und hatte für mich keinen Mehrwert für den Roman, eher im Gegenteil. Die größte Stärke des Buchs, der schnelle, schneidige Schreibstil, wird für mich daher gleichzeitig zu seiner größten Schwäche, indem die Tiefe darunter leidet. Gesellschaftlich und psychologisch relevante Themen im Roman, wie Endometriose oder Verlust und Trauer werden aus meiner Sicht in anderen Publikationen besser behandelt. Eine Ausnahme davon bilden für mich einzelne Passagen im letzten Drittel, die ich in der Darstellung der Emotionen und Verzweiflung unglaublich stark fand - in Zukunft gerne noch mehr davon, Coco Mellors!

Ungeachtet der genannten Schwächen überwiegt für mich jedoch Coco Mellors Erzähl- und Schreibtalent auch in diesem Roman, sodass ich gern 4,5 Punkte vergebe! Blue Sisters ist ein Erlebnis im wahrsten Sinne des Wortes und einfach sehr gute Unterhaltung!

Bewertung vom 01.09.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


ausgezeichnet

Bissig, authentisch, lakonisch: eine moderne Selbstfindung zwischen Frausein, Mutterschaft, Judentum, Vergangenheit und Zukunft

Ludmilla, genannt Lou, ist Galeristin in den Dreißigern und Mutter der kleinen Rosa. Ihre Ehe mit dem erfolgreichen Pianisten Sergej ist stabil, wenn auch mittlerweile mehr durch Routine als durch Leidenschaft geprägt, das Sprechen über Gefühle fällt beiden schwer. Als Rosa bei einem Besuch bei einer Freundin, ein Kinderbuch über Anne Frank in die Hände bekommt und glaubt Hitler hätte dieses geschrieben, setzt bei Lou eine zunächst kaum greifbare Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Identität ein, ein Glauben und eine Kultur, die im Hintergrund schon immer das Leben von ihr und ihrer Familie bestimmt haben, nicht zuletzt die schmerzhafte Geschichte und Vergangenheit, jedoch in den Traditionen und der gelebten Praxis weder für sie noch für Sergej und auch nicht in der Erziehung Rosas heute bisher eine signifikante Rolle gespielt haben.

Und so begleiten wir in Juli, August, September mit Lou eine junge Frau, Mutter, Tochter und Ehefrau auf einer Suche, um eine Leerstelle in sich zu füllen, die zunächst nur vage Umrisse zeigt, sie deshalb kaum benennen oder auch nur fassen und sich lange selbst nicht eingestehen kann.

In Lous und Sergejs eigener Kindheit und Erziehung vermischen sich sich sowjetische und postsowjetische Erziehungsmuster, Traditionen und Kultur mit der jüdischen Familiengeschichte und ihren eigenen Traditionen. So wirft Olga Grjasnowa in diesem Roman einen Blick auf die Lebenswege und Lebenswelt speziell russischer Juden und ihrer schmerzhaften Geschichte. Im Gegensatz zum Rest der großen Familie ist Lous Mutter mit ihr nach Deutschland emigriert und nicht nach Israel, was auch in der Familie immer wieder zu Spannungen führt, die sich schließlich in einem großen Familientreffen auf Cran Canaria anlässlich des Geburtstags ihrer hochaltrigen Großtante entladen.

In diesem Kontext bearbeitet die Autorin neben jüdischer Identität und Lebenswegen weitere zentrale Themen, wie Mutterschaft, Fehlgeburten, moderne Beziehungen und ihre Herausforderungen.

Die Erzählung ist in drei Teile gegliedert. In Juli lernen wir Lou, Sergej, Rosa, ihr Familienleben und die Beziehung näher kennen. Im zweiten Teil steht das Familientreffen mit allen Eigenheiten und Eskalationen auf Cran Canaria im Mittelpunkt und Lous erste Einblicke in die Vergangenheit ihrer Großmutter und Großtante. Der letzte Abschnitt führt Lou auf ihrer Suche nach Antworten schließlich nach Israel.

Die ruhige, lakonische, sensible und aufmerksame Art mit der Grjasnowa Lou porträtiert und begleitet hat mich tief an ihrem Lebensweg und ihrer Geschichte teilhaben lassen. Besonders gut gefällt mir der zum Teil fast bissige Schreibstil, mit dem die Autorin gerade auch Besonderheiten und Absurditäten in der Familie wie im Alltag einzufangen weiß. So gelingt ihr ein modernes Porträt einer postsowjetisch-jüdischen Selbstfindung und Familie. Ganz klare Empfehlung!

Bewertung vom 18.08.2024
Alte Eltern
Kitz, Volker

Alte Eltern


ausgezeichnet

Aufwühlend, ehrlich, sachkundig - ein kluges, berührendes Buch über das Lebensende der Eltern und den Umgang damit

In Alte Eltern widmet sich Volker Kitz behutsam und ehrlich einem Thema, das fast alle von uns irgendwann betrifft und gleichzeitig gesellschaftlich zu oft verdrängt wird: dem nahen Lebensende der Eltern.

Mit viel Empathie beschreibt Volker Kitz die fortschreitende Demenz seines Vaters und mit ebenso viel Ehrlichkeit die Gefühle, die dies bei ihm auslöst. Scham, Verzweiflung, Trauer, Wut, aber auch die Momente der Freude und Dankbarkeit, für das was war, und auch was trotz allem noch ist.

Die Beschreibung des Augenblicks und der Begleitung seines kranken Vaters verbindet sich immer wieder mit dem Rückblick auf die Lebensgeschichte des Vaters ebenso wie seine eigene Kindheit mit diesem. Dazu tritt der Blick in die Zukunft und mit ihm die Gedanken und das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Dabei wird rasch deutlich, dass das Thema Verlust nicht erst mit der Erkrankung des Vaters aufscheint. Der frühe, plötzliche Unfalltod der Mutter fast zwei Jahrzehnte zuvor war bereits ein einschneidendes Erlebnis, dessen Erinnerung und auch eine Form der Aufarbeitung in die Zeilen immer wieder mit einfließt.

Mit kurzen gedanklichen Ausflügen u.a. in die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Neurowissenschaft und sogar Museumswissenschaft erarbeitet sich Volker Kitz einen Zugang zu diesem schwierigen, weil im wahrsten Sinne des Wortes existentiellen Thema und versucht dabei gleichzeitig sich selbst darin zu verorten, im Erinnern und Loslassen in Familien.

So lernt die Leserin beispielsweise über die verschiedenen Arten des Gedächtnisses, wie etwa das prozessuale Gedächtnis, wenn der Kopf das Konzept den Löffel an den Mund zu führen nicht mehr findet oder die Unendlichkeitsfiktion von Gewohnheiten bei Janosch Schobin. So lehrreich, intuitiv und gut gewählt diese theoretischen Zugänge sind, machen sie doch nur einen Aspekt aus, den dieses Buch so lesenswert macht. Die Zeilen leben und überzeugen viel mehr durch die Introspektion des Autors und der Offenheit mit der er diese teilt. Überzeugt hat mich hier insbesondere die Fähigkeit des Autors auch Schmerzhaftes und fast Unaussprechliches in Worte zu fassen, eine Form dafür zu finden, und sei es nur ein Nebensatz, der die ganze Absurdität einer Situation erfasst, wie etwa die Bemerkungen von Menschen in seinem Umfeld, nach dem Unfalltod seiner Mutter und der fehlenden Möglichkeit sich zu besprechen, auszusprechen, ein letztes Mal - sie könnten das nicht. - Als ob man gefragt würde. - So simpel, so wahr. Wahr ist jedoch auch, dass wir versuchen können, versuchen müssen, mit dem zu arbeiten, was das Leben uns vorsetzt, dem Schönen wie dem Schmerzhaften. Und genau einen solchen Zugang eröffnen die Zeilen des Autors und schaffen so in aller Traurigkeit, etwas Wundervolles und Tröstliches in der absoluten Offenheit und Ehrlichkeit.

Der Autor hat mich mit der Beschreibung seiner Gefühle und Gedankengänge in der schwierigen Erkrankungssituation und dem Tod seines Vaters zum Nachdenken angeregt und unglaublich berührt, das Mitansehen des Abbaus und der Verwirrung des Vaters, der nahende Verlust und schließlich Tod des Elternteils, aber auch die Gedanken und das Erinnern an die Vergangenheit ebenso wie die eigene Vergänglichkeit. All dies verknüpft der Autor mit einer informierten Recherche und Introspektion! Unbedingt Lesen!