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Benutzername: 
Ninis_weltderbuecher
Wohnort: 
Viernheim

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 27.03.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

"Die Binders und die Strobl-Marineks gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana. Tochter Sophie Luise, 14, durfte gegen die Langeweile ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen, ein Flüchtlingskind aus Somalia. Kaum hat mam sich mit Prosecco und Antipasti in Ferienlaune gechillt, kommt es zur Katastrophe." Klappentext

Unbedingt die ersten fünzig Seiten an einen absolut ungestörten Ort lesen. Alles verriegeln, um die Möglichkeit haben zu können, selbst zu entscheiden, ob nach dem Hammerknall erst einmal ein das Buch zur Seite legendes Durchatmen von Nöten ist, oder ob man jetzt erst recht ungehalten die Nase wie im Schnüffelrausch mit Stiraugen in die Seiten presst. Wie auch immer sich das Inhalieren individuell gestaltet, bei mir war es so, dass ich egal wo, egal wann, egal in welcher Situation ich mich befand, unbedingt wissen wollte, was die klare Haltung der von rechts nach links watschenden, urkomisch elektrisierende Handschrift des Autors mit der Geschichte noch so anstellt.
Fesselnd dynamische Dialoge die versteckt absurden Steine in unserer Gesellschaft. Mit pur verspielter Ironie und ergreifender Tragik wird diese ganze Sache, dieses traurige Schicksal, das hier passiert, geschildert und versucht in bizarr köstlichen Szenen voller Irrationalität die Masken der Contenance derjenigen zu sprengen, die sich im Sumpf ihrer Überzeugungskraft über alles stellen, die voll dümmlich klischeehafter Bilder im Kopf nur den Menschen aus ihrem privilegierten Kulturkreis zuhören.

Kann sich dies nicht endlich mal ändern? @daniel_glattauer gelingt es mit seinem fantastischen Roman #diespürstdunicht genau hierfür ein Zeichen:

"Sie haben nicht nur ihre Vorgeschichte, sie haben auch ihre Geschichte, so wie wir alle." 267

"Hören sie auch den Rest der Geschichte an...Dann urteilen Sie selbst, ob die Familie es wert ist, dass man ohr Salz gibt für ihr Weiterleben. Wir haben zwar kein Meer in Österreich. Aber wir haben Salz, mehr als genug. Bei uns sollte niemand vertrocknen. Danke für die Aufmerksamkeit." 270

Jahreshighlight!

Lieben Dank an @hanserliteratur und @vorablesen für das #Rezensionsexemplar

Bewertung vom 23.03.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Judith Herrman zelebriert in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen #wirhättenunsallesgesagt beeindruckend in kafkaesker Manier Stimmungen für das Empfinden einer Nichtzugehörigkeit in familiären Situationen, die in ihren erzeugten Beklemmungen selbst die Kehle des Lesers zuschnürt. Sie erzählt von einer ergrauten Himmelsdecke, die sich unbemerkt offenkundig sturmflutartig über eine Familie spreizt - unkontrolliert jedes Licht erstickt, jedes unausgesprochene Wort, jedes Lachen, jedes freudvolle Zusammensein in ihre dunklen, mächtigen Wolken bettet.

"Für das Wort Glück musste Gott um Verzeihung gebeten werden." (S.77)

Mit allen Sinnen umkreist hier die Poesie das Leben und kämpft in einem klaren, prägnant realen Ton für die unbegreifliche Wirklichkeit, die sich in ihrer Ungeheuerlichkeit versteckt, im Verschweigen genüsslich rastend verborgen bleibt. Judith Hermanns Schreiben sticht stets entdeckungsreich in diese Unbegreiflichkeit, in dem sie mit vollem Bewusstsein tragende Räume umschifft, und gerade damit Leser*innen animiert, das Verborgene zwischen den Zeilen mit sich fürchtenden Blicken zu erkunden - den individuellen Mut aufzubringen, sich von der Unsicherheit des verborgenen Wortes erwärmen zu lassen.

"Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst. Am Ende ist das Zentrum der Geschichte ein schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen." (S.128)

Vielen lieben Dank an @s.fischer für das #Rezensionsexemplar

Das Foto ist in der Buchhandlung Filiale Heidelberg Hauptbahnhof @schmittundhahn entstanden.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.03.2023
Aus ihrer Sicht
Céspedes, Alba de

Aus ihrer Sicht


weniger gut

Zweifelsohne schenkt die Autorin, vertorben 1997 in Paris, mit ihrem Roman 'Aus ihrer Sicht' den Frauen eine Stimme, die die heutigen Feministinnen prägten und fragmentiert schlagkräftig die sozialen und historischen Konstruktionsbahnen Begriffe von Mann und Frau. Mit Bildern trachtender Erdigkeit konnte die Sprache mich an vielen Stellen beeindrucken, dennoch verfiel ich im Laufe der Lektüre in einen dumpf vor sich hindösenden Schlaf, der mich am weiterlesen hinderte. Als ich aufwachte blieben treibend aufwühlende Erinnerungen an das Gelesene aus. Woran genau dies lag, vielleicht am gleichbleibend vor sich hin schreitendem Ton, vielleicht war mir das Erzählte einfach zu bekannt, vielleicht passen der Roman und ich einfach nicht zusammen, vielleicht bin ich zu jung - schwer zu sagen!? Ich bin mir aber sicher, dass sich unter anderem in der Generation meiner Mutter viele begeisterte Leser*innen finden werden. Definitiv ist es noch ein weiter Weg bis wir uns alle gegenseitig befreit vom Konstrukt Mann und Frau in die Augen blickend als gleichberechtigte Engel wahrnehmen können. Gleichberechtigt in beide Richtungen!

Bewertung vom 05.03.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


ausgezeichnet

"Caroline und Andreas sind ein erfolgreiches Paar und beruflich voll eingespannt. Eine Segelreise in die schwedischen Schären soll ihre Beziehung wieder vertiefen. An Bord der Yacht sind auch Andreas' junger Businesspartner Daniel und seine Freundin Tanja sowie der undurchschaubare Skipper Eric. Und kaum haben sie die Küste hinter sich gelassen, geraten vermeintliche Sicherheiten ins Wanken." (Klappentext)

Einen freien Tag und einen zurückgezogenen Ort wählen, sich in eine gemütliche Position mit viel Spielraum bringen, für eine ausreichende, wohltuende Getränkebrise sorgen, ein #bittenichtstörenschild effektiv positionieren und dann ganz sanft in den neuen Roman #inblaukaltertiefe von @kristina_hauff abdriften. Du wirst Dich im rasanten Tempo abwechselnd in Zuständen des Fröstelns, des Schwitzens, des aalenden Genießens sowie des von Wogen bewegten Blickens wieder finden.
Eine personale Erzählstimme hisst für alle die Segel und lenkt multiperspektiv wechselnd das dramaturgische Geschehen durch die verschiedenen Figuren: Caroline, Andreas, Tanja und Daniel. Wobei Caroline an dieser Stelle durch den ausgeprägten Anteil des Erzählpensums ganz eindeutig die Rolle der Kapitänin erhält. Du segelst hautnah mit den Figuren auf ihrer schwankend zerbrechlichen Route mit, - in einem unsichtbar angedockten Beiboot sitzend, kannst Du mit seitlichem Blick auf sie ein gemeinsames Band aller, nämlich die innere Leere, erschielen, die sich im verborgenen in den zahlreich beklemmenden Situationen einschifft.

So wie ein Segelturn eine Episode ist, ist auch dieser Roman eine Episode aus dem Leben von fünf Menschen. So wie ein Segelturn einen klar definierten Anfang und ein offen unklares Ende in sich birgt, lebt auch diese Geschichte nach dem selben Prinzip, denn Vieles bleibt unerzählt, bleibt verborgen in der atemberaubenden blaukalten Tiefe der See. Wie klug geschrieben - sind wir Menschen mit unseren Rissen im Leben im Gegensatz zum Meer doch nur kurzweilige Eintagsfliegen wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Ganz lieben Dank an @hanserblau und an @vorablesen für das #rezensionsexemplar
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Bewertung vom 05.03.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


gut

Kennt Ihr das, wenn ein Roman mit seiner imposant erstrahlenden Sprachmagie sich konzentrisch wie eine Dauerschleife in Deinem Gemüt ausbreitet - mal sanft, mal aufbauschend, mal beglückend, mal erregend - , und dann kommt der Punkt, an dem es an gewollter Sprachinszenierung einfach zu viel wird? Die Figuren verwehen dadurch wie Pulversand von des Lesers' Händen, sind nicht mehr zu spüren, nur noch in leisen Stimmungen hörend zu erahnen.

#dirkgieselmann beeindruckt in seinem Debutroman #derinselmann mit Metaphern, die aufblitzen wie Saphiersteine am Wegesrand, die in ihrer auftretenden Häufigkeit auf die Dauer meine Augen blinzeln ließen - oft blendet ein das an gewollter Schönheit überfrachtete.
Der Autor erzählt labil wehmutsvoll von einer unbeugsam mystisch erwünschten Welt, die sich in scheuer Stille in einem balladenartigen Format mit durch einen kraftvoll sinkenden Stein hervorgerufenen Wellen anpirscht, aufbäumt, aufreißt und im Nichts verschwindet. Schade, dass diese Welt bei mir wirklich im Nichts verschwindet - ich möchte immer um die Wellen trauern, die durch die Lektüre einer Geschichte introvertiert in mir ausgelöst werden. Wenn das Zuklappen eines Buches eine Welle der Träne durch meinen Blutkreislauf anstößt - hallt es lange nach. Dem #derinselmann gelang dies, trotz der zahlreichen Stellen voll beeindruckendem lyrisch-poetischen Könnens sowie der innovativ gewollten Verzerrung eines Saga - Formates, bei mir leider nicht. Sicherlich aber bei vielen anderen Leser*innen!

Vielen lieben Dank an @kiwi_verlag für das #rezensionsexemplar

Bewertung vom 18.02.2023
Young Mungo
Stuart, Douglas

Young Mungo


ausgezeichnet

Young Mungo verhält sich oft im Umgang mit Menschen auf Grund seiner Lebensumstände in seiner Entwicklung etwas zurückgeblieben. Er lechzt verständlicherweise bei seiner Schwester, seinem Bruder und seinem Freund James nach innigster Behütung, die ihm seine selbstsüchtig barbarische, mit alkoholischer Verdammnis bepuderte Mutter bewusst nicht schenkt. Der Weg sich davon zu befreien, wird ein aufgedrungen schmerzhafter sein.
Wieder einmal erzählt Douglas Stuart einfach pur aus dem Leben, von Menschen mit ihren Geschichten. Nach dem erfolgreichen Roman 'Shuggie Bain' schenkt er auch mit 'Young Mungo' den Menschen Glasgows auf beeindruckend ergreifende Art und Weise eine Stimme. Er kreiert klirrend plastische Bilder für das Leben umwogende Leid und für die hervorbestimmt eingemeißelten sowie zu erduldenden Trostlosigkeiten von Sozialgenesen, die einfach da sind und Lebenswege beharrlich bestimmen. All dies erzählt er mit einem eiskalt neutralen, humorvoll radikalen Sound in der Stimme, der die ironische Brutalität des Schicksals so erstrahlen lässt, dass es Dir ungehalten die Unterwäsche vom Leib reißt, um dich einsam verdutzt mit der geschilderten Welt vor dem Spiegel zurückzulassen.
Auf faszinierende Weise findet der Autor immer wieder Worte klarster Nüchternheit für substantiell selbst erhaltende Auswege - er erschafft eine eigene literarische Welt für das Hecheln der Protagonst*innen nach Möglichkeiten, die ihnen den ganzen, unausweichlich erlebten Mist erträglich machen könnten.

Der Roman ist auch eine Geschichte zweier Mutterseelen allein gelassener, heranwachsender Jungs - James und Mungo -, die mit einer zart emotionsgeladen tröstender Sprache begleitet wird. Beide haben vernunftgetränkte Schwestern, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise um sie kümmern, und versuchen die bewusst im Abseits stehenden Eltern zu ersetzen. Beide wollen sich in dieser sozial verwahrlosten Einsamkeit suchend stützen.

"Mungo lehnt sich an ihn und füllte die Lücke unter seinem Arm. Er spürte die Gezeiten in James' Brustkorb und ließ sich auf der Dünung treiben. Das langsame Auf und Ab zog ihn mit, und der Seufzer am Ende jedes Atemzugs tröstete ihn." (141)

Es ist aber auch eine Geschichte zweier ungleicher Brüder, die sozial abgedrängt ich Dickicht gemeinsam und getrennt voneinander versuchen zu überleben. Ihre geschwisterlich biblische Duldsamkeit strotzt aller leiblich und seelisch widerfahrenen Grausamkeiten und ermöglicht ein aus großer Liebe versöhnlich erhabenes Wiederfinden. Fast unaushaltbar für Leser*innen, aber in seiner einfachen Innigkeit tröstlich!

Ein Autor, der ein Zeichen für Ungehörte setzt und sich mit einer beeindruckenden Stimme in der literarischen Welt manifestiert.

Bewertung vom 10.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


sehr gut

"Von außen ist Livs Leben perfekt. Sie liebt ihren Mann und ihre beiden Kinder, lebt in einem hübschen Häuschen in Oslo, sie achtet auf sich. Aber was kaum einer weiß: Sie ist vor Jahren vergewaltigt worden. Doch Liv sträubt sich dagegen, die Opferrolle anzunehmen.." (Klappentext)

@heidifurre erzählt in ihrem Roman #macht mit wortgewandter Wucht aus dem Leben einer Frau, der sexuelle Gewalt widerfahren ist. Mit Liv öffnet #heidifurre in feinfühliger Offenheit den schwierigen Sprung zum Spagat, der das Leben vor einer solchen Tat und nach einer solchen Tat körperlich und emotional versuchen soll in Einklang zu bringen. Wie sehr Liv die Menschen ganz ohne eine Gegenleistung liebt, ist in den ergreifenden Szenen ihrer beruflichen Tätigkeit als Pflegerin zu spüren.

Die vielen erschaffene Zwangsjacken der Frauen weben sich mit hervorragenden Bildern für die Projektionen weiblicher Sozialisation in die Geschichte ein und schmerzhafte Zwischenräume der Erinnerung werden so brillant frei von Pathos beschrieben, dass diese auf ganz individuelle Traumata adaptierbar sind.
Liv ruft mit aller Macht in die Welt, dass ein vergewaltigter Mensch zwar von einem Werwolf gebissen wurde, aber nicht kaputt ist, auch wenn der Biss nie ganz wird heilen können.

"Niemand bleibt nach einer Vergewaltigung liegen. Niemand. Alle stehen auf. Niemand hört danach auf, Mensch zu sein. (...) Ich weigere mich, liegen zu bleiben." 89

Machtlos fühlt sich Liv nur der Statistik gegenüber, der eiskalten Tatsache von zehn Prozent - zehn Prozent aller Frauen werden schätzungsweise Opfer einer Vergewaltigung. Blicke ich meine Tochter Liv an, in eine Klasse, in einen gefüllten Raum jeglicher Art, erschaudert mich diese eiserne Tatsache. Und blicke ich meinen Sohn an wird es nicht anders, denn die Statistik für Jungs mit ihrer sicherlich enormen Dunkelziffer ist ebenso widerlich.

Lediglich das Ende des Romanes empfand ich teilweise als flach, als nicht ganz auserzählt, denn die sich anbahnende Offenbarung ihrem Mann gegenüber bleibt in Alltagszwischenräumen stecken. Der ausgeführte Spagat legt sich nicht vollständig am Boden ab. Absicht oder fehlende Essenz in der Narration!?

Bewertung vom 04.02.2023
Ohne mich
Schüttpelz, Esther

Ohne mich


gut

"Sie ist Mitte zwanzig, gerade fertig mit dem Studium und genauso frisch verheiratet wie getrennt. Was tun, nachdem eine erste große Liebe krachend gescheitert ist? Die Erzählerin von Esther Schüttelpelz' Roman sucht. Nach dem Grund für die Trennung. Nach einem Plan für die Zukunft. Nach Freundschaft und nach Nähe und Rausch und Vergessen.."

'Ohne Mich' ist ein in seiner kompositorischen Ausgereiftheit ein wackeliges Debüt, welches aber an vielen Stellen mit einer sowohl bissig dürstenden als auch sich verzehrend zerbrechlichen Erzählstimme glänzt.
Ich bin ein Verfechter davon, dass jedes Problem ernst genommen gehört, nicht locker vom Hocker über es zu reden gilt, so klein es auch für jemand anderen zu sein scheint. In diesem Roman werden Probleme, die schwer wiegen und geduldig auf eine Lösung warten müssen, lange im dramaturgischen Getümmel bagatellisiert. Da wird die essentielle Verwüstung der Seelen kurz angeschnitten, gewinnt an gehaltvoller Dramatik, um sich dann einfach wieder im bemäntelt kuscheligen Raum zu verstecken. Das Trennungsjahr vor der Scheidung zieht die Mäntel aber aus - entblößt die Eheleute skrupellos vor sich selbst und lässt sie erst einmal in einer Spiegelarena auf sich allein gestellt zurück.
Nach dem die Handlung lange vor sich hin dröppelte, die Figuren nach Tiefe suchten, alles stromflüssig ohne große Überraschungen in die zuvor erahnte Richtung lief, verliert die Erzählerin zum Ende das Festhalten der den Leser+innen gegenüber eingenommenen Distanz und begibt sich in die Spiegelarena. Das Ganze gewinnt an Substanz, wird profund authentisch, verletzlich befreiend, setzt final ganz ohne Sentimentalität den Schmerz in den Fokus, da wo er zu Recht hingehört.

"(...) und dann sieht man ihn an, den anderen, und es tut weh, und zugleich tut es gut, und es tut einem alles so leid, und dabei fühlt man etwas, zur Abwechslung, man fühlt sich so richtig als Mensch, der es verdient, geliebt zu werden, (...). Welpenliebe heißt: Bald ist es vorbei." (S.155)

Bewertung vom 26.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


sehr gut

"Frank ist vierzehn, er lebt in Wien. Er kocht gern und liebt die gemeinsamen Abende mit seiner Mutter. Aber dann gerät sein Leben durcheinander. Der Großvater ist nach achtzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden." (Klappentext)

In der Ruhe liegt die Kraft - so kann sich der raumgreifende, geschmeidige Erzählstil von Michael Köhlmeier zusammenfassen lassen. Die Stimme des Ich-Erzählers Frank fliegt gemähchlich in einem authentischen Sound eines 14-jährigen mit spontan aus dem Leben gegriffenen, oft urkomischen Beobachtungen durch die Seiten.
Der Junge ist klug, einfühlsam, bescheiden, höflich, zurückhaltend, bisweilen manchmal ein bisschen zu brav und beneidenswert ehrlich zu sich selbst - einfach nur sympathisch. Jedes Wort kauft mam ihm ab. Die Beziehung zu seiner alleinerziehenden Mutter berührt mit ihrer lieblichen Innigkeit und kräuselt mit ihrer symbiotisch ungesunden Verzahnung Sorgenfalten zwischen die Brauen.

"Ich gehe ihr über alles. Wir gehen einander über alles." (53)

Die Spannung wird dramaturgisch mit einer Leichtigkeit, ganz unbemerkt in einem Nebenhall in das Geschehen eingebaut - ganz konträr zu unserer Zeit, in der wir leben, in der fast alles für alle auf dem Silbertablett präsentiert wird, in der kaum einer mehr angeregt wird, hinter den Kulissen zu suchen und tatsächlich "in Zeiten, wo man nur am Klo allein ist!(123)".
Frank ist sich bewußt, dass er in allen üblichen Dingen, die keine Umstände bereiten, brilliert, bis ihm der ungemütliche, grauenhaft schillernde Großvater ihm den Halt in dieser Komfortzone schleichend brutal entzieht. Auf tragikkomisch erschütternde Weise begibt er sich mit Leib und Gehirn auf die Straße des Großvaters, eine Straße ohne Abzweigung, die dad Handeln ohne Grund als Richtung vorgibt.
Warum, wieso, oder ob selbst für den Lesenden grundlos? - lest selbst!

Bewertung vom 10.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

"Frühmorgens bricht ein junger Mann mit dem Fahrrad in die Straßen der Stadt auf. Was er dort tut, bleibt sein Geheimnis. Zerschunden und müde kehrt er zurück. Und oft ist er glücklich. Jahrzehntelang hat Arno Geiger ein Doppelleben geführt. Jetzt erzählt er davon." (Klappentext)

Arno Geiger thematisiert in 'Das glückliche Geheimnis' an seinem Werdegang, an seinem Doppelleben gesellschaftliche Zwänge, die einem unentwegt eintrichtern, dass eine Identität einer beruflichen Definition bedarf, einer klaren Zugehörigkeit zu einer bestimmten, allseits akzeptierten Berufsgruppe, die dir dein Dasein legitimiert. Was eine identitätsverzerrende Sackgasse der Gesellschaft! Erfreut vernehme ich aber mittlerweile in der Luft einen kreativen Hauch, der diese Zwänge dezent versucht zu verwehen.

Ein anrührender Klang in der Stimme mit Ausdrücken wie geistige Stahlblitze, die kitzelnd beleben, durchziehen diese ganz persönliche Erzählung. Faszinierend ehrlich, voll melancholischer Ausgeglichenheit beschreibt er den Weg dahin, begriffen zu haben, dass das Schreiben sich nicht nur mit Sprache auseinandersetzt, sondern eine schmerzhafte Entblößung sowohl nach innen als auch nach außen verlangt.

Ich glaube, alle Schriftsteller brauchen diese 'Quadratur des Kreises', wovon Arno Geiger spricht, einen körperlichen Ausgleich - was auch immer dieser sei -, der das Schreiben nicht nur erhält, sondern es pulsiert - Gedanken, Gefühle, Wörter, Sätze, Blicke aufkeimen lassen, die dann aus allen Poren auf das Papier triefen wollen. Wie gut, dass es sie gibt - sie schenken den Lesenden durch ihre Bücher eine unersetzbare magische Kraft:

"Durch Lesen verkürzen wir unsere Lebenszeit nicht, wir verlängern sie. In wenigen Stunden können wir die Erfahrungen nachvollziehen, die ein anderer Mensch in Jahren oder Jahrzehnten gemacht hat. Wir gewinnen Erfahrung im Zeitraffer." 228