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Benutzername: 
luisa_loves_literature
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NRW

Bewertungen

Insgesamt 108 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2023
Ich, Sperling
Hynes, James

Ich, Sperling


sehr gut

Wer nach einem gemütlichen historischen Wohlfühl-Schmöker sucht, sollte die Finger von „Ich, Sperling“ lassen, denn der Roman ist harter Tobak, aber guter.
James Hynes taucht mit seinem Protagonisten der vielen Namen (Maus, Antinoos, Antiochus, Pusus) tief in eine Identitätssuche ein, die sich in Carthago Nova (dem heutigen Cartagena/Spanien) entspinnt, während das Römische Reich in seinen letzten Zügen liegt. Pusus, mittlerweile gealtert und nun Jakob genannt, erinnert sich an seine Kindheit in der hispanischen Hafenstadt, die alles andere als angenehme Erinnerungen beinhaltet. Wie könnte sie auch? Auf einem Sklavenschiff in der Stadt gelandet, von dem Dominus eines Bordells gekauft, wächst der kleine Junge zwischen den Wölfinnen genannten Prostituierten auf, verrichtet erst Botendienste und Küchenarbeiten bis er schließlich selbst zur Wölfin wird.

James Hynes schont seine Leser nicht. Das römische Reich mit seinem auf Sklaven beruhenden System wird in seiner Grausamkeit und Brutalität bis ins letzte Detail, also auch bis in die Zellen der Wölfinnen, ausgemalt. Zwar wird auf erotische Schauwerte verzichtet, aber der geschilderte Geschlechtverkehr ist nichts für empfindliche Gemüter.
Ebenso rau wird der Alltag in dem Viertel, in dem die Taverne „Helikon“ liegt, mit seinen Gerüchen und Geräuschen, seinen Gebäuden und seinen Menschen geschildert, sehr plastisch und überaus lebendig– als Leser ist man mittendrin im täglichen Leben einer römischen Provinzstadt und lernt nebenbei ganz viel über römische Gesellschaftsklassen, Handwerker, Handel, Regeln und Gesetze – alles aus der Perspektive derer, die ganz unten im Ansehen stehen und keine Stimme haben.

So beeindruckend dieses tiefe Eintauchen in die Welt der Antike ist – man ist wirklich ganz dicht dran – so grausam, fordernd und brutal ist es zu lesen, wie der Protagonist selbst in seiner grenzenlosen Abhängigkeit in die Prostitution gezwungen wird. Viele Details und Szenen sind unerträglich, verdeutlichen aber wie ausweglos die Situation und wie groß die Ohnmacht und Abhängigkeit von Sklaven war. Inmitten all der Rohheit und Gewalt eröffnen sich allerdings immer wieder Momente großer Zuneigung und Liebe – im Rahmen ihrer Möglichkeiten kümmern sich die Wölfinnen um den Jungen, der so nicht nur etwas Wärme erfährt, sondern auch ein Mindestmaß an Bildung.

Neben der Erkundung der Abgründe der römischen Gesellschaft, ihres opportunistischen Verhältnisses zum frühen Christentum und ihres Alltags, legt Hynes den Fokus auf die eingangs erwähnte Identitätssuche: Wer kann man sein, wenn man seine Wurzeln nicht kennt, nichts über die eigenen Herkunft weiß, nur raten kann, aus welchem Land man kommt? Wer kann man sein, wenn man keinen Namen hat, nur „Junge“ heißt und letztlich ein Objekt ist, das jederzeit wieder auf dem Markt verkauft werden kann? Wie wirken sich Traumata und fehlende Nestwärme, Gewalt und Brutalität, Unfreiheit und dauernde Angst auf das Heranwachsen aus?

Auch wenn der Roman nur eine fiktionale Antwort auf diese Fragen geben kann, ist diese doch überaus überzeugend und nachvollziehbar, nicht zuletzt, weil dem Autor mit seinem Protagonisten eine Figur gelungen ist, die die Sympathie auf sich zieht, mit der man mitleidet und um die man bangt, die sich aber nie selbst bemitleidet, sondern in überaus sachlichem Ton die Begebenheiten der Vergangenheit schildert. Hinzu kommt, dass das erzählende Ich von Beginn an jede Lesererwartung im Keim erstickt und der Roman dadurch schon weitab vom traditionellen historischen Roman mit seiner Tendenz zu vorgezeichneten Handlungskurven und Figurenzeichnung liegt – ich hätte mir lediglich gewünscht, dass man mehr über die Jahre, die zwischen Antinoos und Jakob liegen, erfährt.

Das Carthago Nova aus „Ich, Sperling“ fühlt sich so echt an, wie es nur geht. Mitreißend und spannend wird hier eine Geschichte ausgebreitet, die sich so wohl hunderttausendfach im Römischen Reich zugetragen haben könnte. Sprachlich anspruchsvoll mit sehr viel historischem Hintergrund lässt einen „Ich, Sperling“ sprachlos, erschüttert und beeindruckt zurück. Eine Leseempfehlung, allerdings nichts für zartbesaitete Seelen.

Bewertung vom 12.09.2023
Porträt auf grüner Wandfarbe
Sandmann, Elisabeth

Porträt auf grüner Wandfarbe


sehr gut

Das „Porträt auf grüner Wandfarbe“ hätte ich ja zu gern einmal selbst gesehen, am liebsten natürlich in seiner angestammten Umgebung auf dem Gutshof nahe Köslin an der Ostsee. Da ergeht es mir wie der etwas blass geratenen Protagonistin Gwen, die völlig unvermutet nach der Wende von ihrer Tante Lily zu einer Reise auf den Spuren ihrer Familie nach Polen ermuntert wird und dabei so manches Beziehungsgeflecht, Geheimnis und Schmuckstück zutage fördert.

Elisabeth Sandmann nimmt den Leser mit auf eine Expedition durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu einer detektivischen Schnitzeljagd durch Familienschweigen, falsche Annahmen und Entfremdungen. Aufgespannt wird diese kurzweilige und faszinierende Familiensaga zwischen bildhübschen, detailliert beschriebenen Kulissen wie Oxford, Schloss Elmau, Salzburg und der Ostsee, Orte, die Dreh- und Angelpunkte in der Familienhistorie sind.

Bevölkert wird der Roman von einer Vielzahl von Personen, denen die Autorin viel Zeit widmet. Während die flamboyante Großmutter Ilsabé mitunter etwas überzeichnet erscheint, kann man sich mit allen anderen Figuren (trotz leicht stereotyper Tendenzen) sehr gut anfreunden. Besonders erfrischend ist, dass es in diesem Roman mal keinen unsympathischen Bösewicht von der Stange gibt. Die Tragödien, der Kummer und das Leid, die die Familie heimsuchen, sind allesamt dem zeitlichen Kontext und der politischen Lage geschuldet. So kann man sich mit dem Figurenpersonal durchweg zuhause fühle, sich an den verschiedenen Handlungssträngen erfreuen und rätseln, welche Wendung das Schicksal wohl als Nächstes bereithält, auch wenn so manche Entwicklung sich zunehmend andeutet und daher nicht zu überraschen vermag. In diesen leichten Kritikpunkt spielt auch der Eindruck hinein, dass der Roman an einigen Stellen zu deutlich konstruiert ist. Zwar passt bei der Handlung ein Puzzlestück ins andere, aber der Fluss des Geschehens wird zu stark in den Dienst der Konstruktion gestellt – es muss sich schließlich alles irgendwie am Ende fügen. Mich persönlich hat dies nicht gestört, ich war eher von dem sehr übertriebenen Teegenuss der Figuren irgendwann genervt.

Für mich ist „Porträt auf grüner Wandfarbe“ ein süffiger, sehr gut lesbarer, niemals langweiliger Schmöker mit sympathischen Figuren, einem Hauch Nostalgie und malerischen Settings, der einem herrliche Lesestunden zum Abtauchen bescheren kann. Im Vergleich zu vielen anderen Romanen des Genres bietet er deutlich mehr Abwechslung, ist ansprechend konzipiert und stimmt mit seinem Thema des Verlusts durchaus nachdenklich. Ich hätte am Ende zwar auch mit sehr viel weniger Happy End leben können, aber vermutlich fordert dieser Roman einen solchen Abschluss, um der Trauer des Lebens etwas entgegensetzen zu können. Eine Leseempfehlung für Liebhaber von üppigen Familiensagas mit Niveau, die jedoch damit leben können, dass die Überraschungen, die die Vergangenheit bietet, begrenzt sind.

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Bewertung vom 14.08.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


sehr gut

Selten hat mich eine Protagonistin so in ihren Bann geschlagen wie Alex, die in Emma Clines „Die Einladung“ einige Tage der Obdach- und Mittellosigkeit mitten im Überfluss der Hamptons auf Long Island überbrücken muss, nachdem ihr gutsituierter, älterer Liebhaber sie vor die Tür gesetzt hat.

Dabei haben es mir weder der Roman noch Alex zu Beginn besonders einfach gemacht: die ersten 50 Seiten vergingen quälend langsam, ich kam kaum in die Geschichte rein. Doch dann packte es mich: Clines subtiler Spannungsaufbau, der ganz existenzielle Kampf von Alex um die nächste Übernachtungsmöglichkeit und das nächste Mittagessen hat mich völlig gefangengenommen und tatsächlich sehr interessiert. Und dies, obwohl Alex weder sympathisch noch (zumindest für mich) einen Hauch von Identifikationspotenzial bietet.

Der Roman lebt tatsächlich zu einem sehr großen Teil davon, dass Alex eine Frau ohne Eigenschaften ist. Wie ihre zahlreichen Liebhaber auch erfährt man so gut wie nichts über ihre Herkunft oder Vergangenheit, man hat keine belastbaren Hinweise, wie sie sich in dieser Position wiederfinden konnte und würde sich äußerst schwertun, sie zu charakterisieren. Sie ist die vollkommene Opportunistin, die die Rolle spielt, die Männer von ihr erwarten, mit dem Ziel möglichst lange ausgehalten zu werden und ihr Überleben zu sichern. Um dieses Leben ertragen zu können, trinkt Alex und nimmt Schmerzmittel und Drogen, was sie sehr passiv und bisweilen apathisch wirken lässt. Darüber hinaus ist sie, in einem verzweifelten und unbewussten Versuch sich von dem Schmutz ihres Daseins zu befreien, süchtig nach Schwimmen – vorzugsweise in Pools.

An dieser oberflächlich betrachteten Geschichte einer kaputten Existenz, die in einer verfahrenen Situation durch den enormen Luxus einer sehr privaten Gesellschaftsschicht treibt, hat mir besonders die Symbolik gefallen. Zahlreiche Aktionen und Begegnungen sind mit einer tieferen Bedeutung aufgeladen, die sich aber nur bei genauer Betrachtung entschlüsseln lässt. Ebenso überzeugend ist das Motiv der grünen Welt um Alex herum oder das Reh, das immer mal wieder zwischen den Buchseiten erscheint. So schafft Emma Cline einen sozialkritischen Roman, der über eine ungeahnte Tiefe verfügt und feine literarische Qualitäten besitzt.

Auch wenn der Roman genau wie zu Beginn im vorletzten Viertel schwächelt und unter der beständigen Wiederholung Pool-Schmerzmittel-Sex in Langatmigkeit abzugleiten droht, kann das Ende des Textes doch wieder voll überzeugen. „Die Einladung“ ist allein thematisch sicherlich kein Roman für jeden Geschmack – ich selbst bin noch immer erstaunt, dass er mich so mitgerissen hat – aber eine Lektüre, die sich aufdrängt und beschäftigt.

Bewertung vom 07.08.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


sehr gut

Die Schönwalds sind sicherlich keine Familie zum Liebhaben, aber sie bieten einiges an Erzählstoff. Ruth, Hans-Harald und ihre drei längst erwachsenen Kinder Chris, Karolin und Benni haben sich in ihrem „Familienleben“ gut eingerichtet, das zumindest oberflächlich nur deshalb so reibungslos funktioniert, weil jeder hier alles für sich behält, niemand über Gefühle oder Wahrheiten spricht und mehr oder minder zufrieden damit ist, belanglos nebeneinander her zu existieren.

Wie bei einem Kammerspiel treibt Familie Schönwald nach Jahrzehnten milde interessierter Koexistenz auf einen großen Showdown zu, als sich alle Familienmitglieder treffen zur Eröffnung von Karolins Buchladen für queere Literatur treffen, bei der es zu einem Skandal kommt. Dieses Ereignis nutzt Philipp Oehmke als Auftakt für tiefe Einblicke in die Vergangenheit und Gegenwart der Familienmitglieder. Ausführlich beleuchtet er Schlüsselmomente in der Entwicklung seiner Figuren, zeigt eindrücklich auf, warum diese so werden mussten, wie sie sind. So wird der Roman zu einer breitangelegten, überaus durchdachten Charakterstudie einer ganzen Familie, ihres Beziehungsgeflechts und ihrer mangelnden Kommunikation.

Darüber hinaus gelingt es Oehmke äußerst vergnüglich, mitunter haarscharf an der Satire vorbeistreifend, den Finger in die Wunden heutiger und vergangener deutscher Befindlichkeiten zu legen. Der Text ist sehr oft frech, politisch zum Glück nicht immer korrekt, dafür aber ehrlich, genau auf den Punkt und durchaus auch subtil ironisch. Hier wird mit allerlei Hysterie und vermeintlich gerade herrschendem Mainstream aufgeräumt – es tut tatsächlich sehr gut, mal einen Text zu lesen, der sich etwas traut und die Absurditäten unserer Zeit (wie z.B. Wohlstands-Bio-Kost, Dorf-Lifestyle und völlig ahnungslose Social-Media-Moralisten) vom Podest holt. Oehmkes Beobachtungsgabe ist messerscharf und mitunter fast respektlos, aber stets zutreffend und manchmal auch mit einem Hauch von Nostalgie verbrämt (ein Highlight ist z.B. die Beschreibung der Senator-Lounge der Lufthansa).

Eingebettet sind diese sehr unterhaltsamen Kommentare in einen äußerst lesbaren Text, der einen enorm hohen Unterhaltungswert bietet. Die Handlungsorte und einzelnen Handlungsaspekte sind ausgezeichnet beschrieben und bilden den passenden Hintergrund für die Irrungen und Wirrungen der Familie Schönwald. Vom Tennisclub über den Unibetrieb bis hin zum Hospital in Islamabad und der teuren psychologischen Praxis in Köln-Hahnwald – in diesem Roman wirkt alles authentisch und lebensecht, sicherlich auch, weil der Bezug zu realen Personen wie der Trump-Gefolgschaft geschaffen wird. Oehmke ist mit „Schönwald“ – was für ein Name für eine sehr deutsche Familie – ein unterhaltsames, punktgenaues und sehr zeitgeistiges Porträt von Menschen gelungen, die nicht mit, aber auch nicht ohne einander leben können.

Das Einzige, was man an dem Roman bemängeln könnte, ist, dass er aufgrund seiner Konstruktion der Rückschauen und Perspektivenwechsel oftmals den Eindruck erweckt, in jedem Kapitel zwei Schritte vor und einen zurück zu machen. Einige Ereignisse werden mehrfach aufgegriffen und dann aus der Sicht verschiedener Figuren betrachtet. Dies ist sowohl für das Verständnis der Situation als auch der Figur sinnvoll, führt aber mitunter zu einem Hauch von Langatmigkeit und dem Eindruck, dass der Text etwas auf der Stelle tritt.
Dennoch: „Schönwald“ ist absolut lohnenswert, sicherlich ganz besonders wenn man selbst der Generation X angehört. Feiner Humor, eine gründliche Auseinandersetzung mit Figuren, ein klarer und kritischer Blick auf deutsche Befindlichkeiten und die Fallstricke familiären Miteinanders wurden selten so gekonnt vereint.

Bewertung vom 04.07.2023
Sommertage im Quartier Latin / Paris und die Liebe Bd.1
Martin, Lily

Sommertage im Quartier Latin / Paris und die Liebe Bd.1


sehr gut

Ganz viel Spätsommer, viel Liebe (für allem für Paris), leckeres Essen und stimmungsvolle Musik – das sind die Zutaten für Lily Martins Roman „Sommertage im Quartier Latin“. Hinter dem Pseudonym Lily Martin verbirgt sich Anne Stern und von ihr weiß man seit ihrer erfolgreichen Reihe um die Hebamme Fräulein Hulda Gold, dass sie schreiben kann.

Dies stellt sie auch in während der „Sommertage“ unter Beweis, allerdings handelt es sich hier – im Gegensatz zur Hulda-Serie - um eine sehr leichte Sommerromanze, die eine Idealversion von Paris feiert: Herzkino in Papierform mit ganz viel Postkartenhochglanz – ein Stadtidyll, das leichte Lesefreude zum Weltvergessen verspricht, indem alles hübsch und freundlich ist. Das ideale Sommerbuch also für heiße Tage, fürs Parisweh und den Traum von einer wahren Liebe. Durch die Seiten weht nicht nur der warme Sommerwind, sondern auch der Duft von Brioche, Macarons und Noisettes, es klingen immer wieder die Töne bekannter französischer Popsongs und Chansons durch die Seiten und Paris wird durch die Konzentration auf ein Viertel zum Dorf.

Dieses Dorf wird von durchweg liebenswerten Figuren bevölkert, sei es der Lebkuchenhändler Pierre Leco, der Concièrge Samir oder die alternde Diva Jacobine Simenon. Alles ist warm, hell, wohlwollend und charmant – das einzige, was man dem Roman vorwerfen könnte, ist somit die Tatsache, dass er zu süß, zu zuckrig, zu seicht ist, aber das Mysterium um die verschwundene Großmutter der Protagonistin Lola sowie die Tatsache, dass Lola schon sehr früh ihre Mutter verloren hat, bringt auch ein paar düstere Zwischentöne in den Handlungsbogen. Dieser ist – wie bei Geschichten des Herzens dieser Art – selbstverständlich weitestgehend absehbar, aber man liest Liebesgeschichten ja auch genau deshalb: weil man den Weg zum sicheren Happy End mitbeschreiten möchte. Wen interessiert es da, dass vielleicht das ein oder andere Mal zu oft die sich Wangen röten?

Ich habe mir eine reizende Geschichte mit sympathischen Figuren gewünscht, mit der man sich durch Sommerstunden treiben lassen kann und genau das habe ich bekommen.

Bewertung vom 01.07.2023
Vom Verschwinden der Arten
Bauer, Friederike;Böhning-Gaese, Katrin

Vom Verschwinden der Arten


gut

Mit ihrem Buch „Vom Verschwinden der Arten“ weisen die Autorinnen auf einen wesentlichen Baustein im Kampf um die Rettung unseres Planeten hin, der leider bei der medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, die dem Klimawandel zuteil wird, viel zu sehr in den Hintergrund gerückt wird: das Artensterben, welches aufs Engste mit dem Klima verbunden ist. In ihrem Buch zeigen sie eindrucksvoll Hintergründe, Fakten und Zusammenhänge auf, die nicht nur die Konsequenzen des Artensterbens durchleuchten, sondern auch die vorherrschenden gesellschaftlichen Perspektiven (der Verlust großer Tierarten erfährt vergleichsweise große Aufmerksamkeit) und wirtschaftlichen und finanziellen Interessen aufzeigt. Sie zeigen zahlreiche Lösungsansätze auf, von denen die 30x30-Initiative sicherlich ein besonders vielversprechender ist, blicken auf das Ungleichgewicht zwischen globalem Norden und globalem Süden, auf augenscheinlich positive Aktionen, die sich aber als Trugbilder entpuppen, und auch auf die Belastung der Natur durch den Menschen, der dringend wieder als Teil derselben wahrgenommen werden sollte.

Das Buch liefert viele fundierte Hintergründe und Informationen, allerdings wird man als Leser so manches Mal an den Rand der Konzentrationsfähigkeit getrieben, weil das Buch stilistisch und vom Aufbau her nicht besonders leserfreundlich ist. So werden viele Fakten mehrfach in unterschiedlichen Kapiteln wiederholt und aufgegriffen, was zu überflüssigen Dopplungen führt. Darüber hinaus droht man so manches Mal von der Faktenflut überrollt zu werden – ich wünsche mir da doch sehr, dass sich deutschsprachige Sachbuchautoren vom englischen non-fiction-Markt inspirieren lassen würden, wo die Darstellung von Fakten in einen ansprechenden, lesbaren und begeisternden Stil gepackt wird (als Beispiel mögen David Attenboroughs Bücher dienen). Hier scheinen sich die Autorinnen zwar der Rationalität zu verpflichten, dies geht aber zu Lasten des Leserinteresses.

Hinzu kommt, dass dieses Buch gendert, was zu unzähligen grammatikalischen Ungenauigkeiten führt. Wann werden deutsche Verlage endlich wieder damit aufhören, gegen den Wunsch der Leser (dieser ist im deutschen Sprachgebrauch übrigens ein inklusives Konzept) die deutsche Sprache durch die momentan grassierende Mode (die nicht einmal offiziell anerkannt ist) zu verunstalten? Hier ist z.B. von „Schafbäuer*innen“ die Rede – interessant, mir war nicht bewusst, dass es das Wort „Schafbäuer“ im Deutschen gibt. Auch Wörter wie „Professor“, „Multiplikator“ und „Freund“ kann man nicht so einfach gendern, ohne die Grammatik eines deutschen Satzbaus zu ruinieren. Sowohl bei „Schafbäuer*innen“ wie auch bei „Freund*innen“, denen man dankt, fallen nun die Männer hinten runter. Das kann ja wohl nicht der Sinn des Gendern sein. „Eroberer“ wird im übrigen erstaunlicherweise nicht gegendert – warum auch, so etwas machen ja nur Männer?

So gut, wichtig und lösungsorientiert ich die Aussagen des Buches finde, so wenig zufrieden bin ich mit dem Stil und allein fürs Gendern, das hier sehr merkwürdige Formen annimmt, muss ich leider einen Stern abziehen.

Bewertung vom 26.05.2023
Gidget. Mein Sommer in Malibu
Kohner, Frederick

Gidget. Mein Sommer in Malibu


ausgezeichnet

Frederick Kohners Geschichte eines Sommers in den 50er Jahren fängt auf perfekte Weise Zeitgeist, Summerfeeling, Freiheit und Aufbruchstimmung ein. Überraschend modern in Sprache und Ereignissen ist der kurze Roman auch die Betrachtung einer Emanzipation, eines Coming-of-Age und des Zaubers des Glaubens an die erste Verliebtheit. Gidget, die Titelfigur, für die Kohners Tochter Pate stand, stellt sich im Kreise einer männlichen Surfercrew im wahrsten Sinne des Wortes auf eigene Füße, testet ihre Grenzen aus und lernt ihre Unsicherheiten und das Erwachsensein kennen.

Der Roman fesselt den Leser von den ersten Zeilen an. Überaus überzeugend, authentisch und glaubhaft gelingt es dem Autor, die jugendliche Sprache der Ich-Erzählerin auf die Seiten zu bannen. Gidgets Stimme ist lebendig, ehrlich und fast hörbar. Ihre Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen und Wünschen, ihre Pläne und Ränke, um ihre Ziele zu erreichen sind für eine Fünfzehnjährige absolut passend und nachvollziehbar. Großartig ist vor allem die Darstellung des Konflikts zwischen angestrebter weiblicher Reife, z.B. wenn Gidget eifersüchtig versucht, die Nummer Eins im Leben ihres Schwarms zu werden, und kindlich-naivem, überfordertem Verhalten, wenn ihr nach dem ersten Kuss bereits der Satz „Ich liebe dich“ auf den Lippen brennt. Sie ist mittendrin im atemlosen Sommer ihres Lebens – auch wenn sie die Geschichte angeblich für später aufzeichnet – und der Leser ist es mit ihr. Neben der sehr lebhaften und lebensechten Erzählerin fängt der Text auf feinste Weise das Lebensgefühl eines endlosen, kalifornischen Sommers am Malibu Beach ein. Lange sonnendurchflutete Tage, warme Nächte, Gemeinschaft, Surfen und Parties prägen den Erzählfluss – wie Gidget fühlt man auch als Leser die Anziehungskraft von Malibu Beach.

Ein wunderbarer, sommerlicher, jugendlicher und gar nicht mal so leichter (wenn man etwas tiefer blickt) Sommerroman, der allein schon durch seine vorwitzige, weibliche Erzählfigur ein Klassiker sein sollte.

Bewertung vom 11.05.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


sehr gut

"Melody" hat mir sehr viel Freude bereitet. In eleganten Sätzen und gehobener Atmosphäre wird der Leser in das Mysterium der verschwundenen Melody, einst Verlobte des überaus erfolgreichen Dr. Stotz, eingeführt. Dieser steht am Ende seines Lebens und engagiert den jungen Juristen Tom, um die Zeugnisse seines Lebens in eine sinnvolle und vor allem präsentable Form zu bringen - auf den ersten Blick ein typischer Fall von erwünschter positiver Selbstinszenierung. In zahlreichen Sitzungen zwischen Wein und anderen Spirituosen, untermalt von hervorragender italienischer Küche, enthüllen Tom und Dr. Stotz das Rätsel um Melody Schicht für Schicht.

Die augenscheinliche Obsession des alten Mannes mit seiner spurlos verschwundenen Liebe hat mich sehr fasziniert. Die wie ein Krimi anmutende Handlung ist spannend - auch wenn sie in einem vermeintlich ruhigen Gewand daherkommt. Der Leser kann nicht umhin, selbst Vermutungen zum Verbleib Melodys anzustellen - nicht zuletzt, weil man auch von Dr. Stotz in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. An der Seite von Tom erfährt man dennoch auch Frustration, denn erfahren kann man über Melody immer nur so viel, wie Dr. Stotz preiszugeben bereit ist. Dass die krimiartige Handlung auch den ein oder anderen Twist aufbietet, ist natürlich ein absoluter Bonus - zumal der Roman so durchkomponiert ist, dass ihm auch im letzten Drittel nicht die Luft ausgeht.

Die Figuren sind insgesamt erstaunlich problemfrei - geschuldet ist dies sicherlich der Tatsache, dass das gesamte Personal des Romans sich im Luxusbereich bewegt. Auch wenn Dr. Stotz unheilbar krank ist, echte Empathie oder gar Trauer kommen im Angesicht dieses bedrückenden Umstands nicht auf. Es ist ein fait accompli über den es sich offensichtlich nicht zu diskutieren lohnt. Das wäre denn auch mein einziger Kritikpunkt an dem Roman: eine rechte Identifikation oder Involviertheit mit den Figuren kommt nur schwer zustande. Selbst der eher durchschnittlich anmutende Tom interessierte mich als Charakter nur mäßig. Einzig die große Unbekannte - Melody - sticht aus diesem Kreis reizvoll heraus, sie ist Dreh- und Angelpunkt des eigentlichen Anliegens des Textes: der Frage nach der persönlichen Wahrheit. Denn eins wird in "Melody" deutlich: Wahrheit ist immer das, was ich dafür halte.

Insgesamt, ganz besonders aufgrund dieser spannenden Diskussion des Wahrheitsgedanken, eine sehr empfehlenswerte und unterhaltende Lektüre, gut geschrieben und fein unterhaltend.

Bewertung vom 13.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


gut

Die Lyrikerin Doireannn Ní Ghríofa beschreibt in ihrem autofiktionalen Erstlingswerk, wie sie während der Still- und Kleinkindzeiten ihrer Kinder über das Leben und Dichten der Irin Eibhlìn Dubh stolpert, welches sie in der Folge nicht mehr loslässt. Fast obsessiv fühlt sich die junge Mutter zu der Frau aus dem 18. Jahrhundert hingezogen, besonders weil über diese so wenig bekannt ist. Die Erzählerin beginnt eine Spurensuche, die zwischen Imaginiertem und Fakten angesiedelt ist, dreht jede noch so kleine Porzellanscherbe um und lernt in dem Prozess immer mehr über sich selbst, den Fluch und Segen von Weiblichkeit und Mutterschaft.

„Ein Geist in der Kehle“ ist unbestritten ein innovatives und sehr kluges Buch. Das durch den Roman refrainartig hallende „Dies ist ein weiblicher Text“, das auch recht werbewirksam auf dem Cover vermerkt ist, umschreibt das Anliegen der Autofiktion: es ist eine Studie weiblicher Beschränkung, Marginalisierung und Pflichtverbundenheit, die sehr deutlich den Fokus auf die Tatsache richtet, wie viele weibliche Stimmen und Texte uns im Verlauf der Jahrhunderte wohl verloren gegangen sind. Frauen waren eher den mündlichen Überlieferungen (wie z.B. bei Märchenerzählungen) als der Verschriftlichung verbunden – nicht zuletzt aus Mangel an (Frei-)Zeit und Bildung. Auf diese Unstimmigkeit richtet die Autorin ihr Augenmerk und verbindet sie mit der Wahrnehmung ihrer selbst, während der sie feststellt, dass sie aus sehr viel Körper und Körperlichkeit besteht. Für sie ist z.B. das Gebären und das Stillen auch eine Form des weiblichen Textes. Sie misst der Funktionstüchtigkeit ihres weiblichen Körpers viel Bedeutung bei, reflektiert über das Ende ihrer Fruchtbarkeit und ihres Lebens.

All diese Gedanken sind in Episoden der Selbstbeschreibung, kleinerer und größerer Ereignisse und natürlich in die Forschung zu Eibhlìn Dubh eingebunden. Sie bilden den roten Faden des Textes, können aber leider nicht verhindern, dass man sich als Leser über weite Teile des Romans langweilt. Die fortdauernde und nicht immer ganz schlüssig verbundene Introspektion und Selbstreflexion ermüden und können nur selten fesseln – zumal der Gedanke weiblicher Marginalisierung und Sprachlosigkeit überhaupt nicht neu ist. So gerät der Text zum Denkmal einer möglicherweise zu Unrecht vergessenen Dichterin und zum Ausdruck der Selbstbespieglung einer Frau, die einen nicht unerheblichen Teil ihres Selbstwerts an ihrer Funktionsfähigkeit als nährende Mutter bindet.

Sprachlich ist der Roman gelungen. Doireann Ní Ghríofas lyrisches Talent scheint auf jeder Seite durch, es hat seinen eigenen melodischen Fluss, der von den Übersetzern grundsätzlich gut eingefangen wurde. Allerdings muss man die Übersetzer/das Lektorat bei diesem Roman ganz ausdrücklich kritisieren. Ich finde es gelinde gesagt unsäglich und unerträglich, einem aus dem Englischen übersetzten literarischen Text die deutsche Gendermanie aufzuzwingen. Im Englischen gendert man nicht – es ist eine germanische Sprache, die ebenso wie das Deutsche übrigens – inklusiv ist. „Reader“ sind alle Leser – egal welchen Geschlechts. Und so findet sich im Original des Romans, der ja sogar eine sehr ausdrückliche Beschäftigung mit Weiblichkeit und ihren Implikationen ist, folgende Passage: „I know I should be grateful to the many translators and scholars…“ Ich sehe hier kein Gendern, kein „male and female translators and scholars“ (diese Möglichkeit hat das Englische ja durchaus!). Trotzdem macht die deutsche Übersetzung daraus: „Ich weiß, dass ich den vielen Übersetzer:innen und Wissenschaftler:innen dankbar sein sollte…”. Nicht nur, dass das so im Original tatsächlich nicht steht, hier wird eine durchaus fragwürdige deutsche Formulierung genutzt und einem literarischen Text eine Lesart aufgezwungen, die so schlichtweg nicht gegeben ist. Das ist ärgerlich, überflüssig und äußerst störend – zumal dies nicht das einzige Bespiel ist. Egal, ob Anhänger des Genderns oder nicht: beim literarischen Übersetzen sollte doch der Ursprungstext bestimmen, wie gelesen wird.

Bewertung vom 15.02.2023
Andere Sterne
Rishøi, Ingvild H.

Andere Sterne


sehr gut

„Andere Sterne“ ist die etwas andere Weihnachtsgeschichte, die den Traum von Weihnachten dennoch sehr eindrücklich einfängt. Ronja wünscht sich ein paar einfache Dinge: dass ihr Vater weniger trinkt, nicht in Bars geht, sich um sie kümmert, eine Arbeit hat und ihr Geborgenheit schenkt. All diese Dinge sollten mehr oder weniger selbstverständlich sein, doch Ronjas Vater scheitert regelmäßig daran und so sind sie und ihre Schwester auf sich selbst gestellt.

Ingvild H. Rishoi ist eine nachdenklich stimmende, berührende, völlig kitschfreie und sehr moderne Weihnachtserzählung gelungen, die nicht nur das heutige Oslo überzeugend in Szene setzt, sondern auch auf wenigen Seiten das Seelenleben einer Grundschülerinnen, die täglichen Herausforderungen im Umgang mit dem immer wieder hinweggleitenden und unzuverlässigen Vater und die Sehnsucht nach dem kleinen bisschen Glück sehr stimmungsvoll darstellt. Besonders auch die Darstellung der Hilfsbereitschaft verschiedener Männerfiguren ist ihr geglückt, unterläuft sie damit doch auch gängige Handlungskonzeptionen und Lesererwartungen. Ebenso gelungen ist auch der verantwortungsvolle Zusammenhalt des Schwestern-Duos – in Abwesenheit von elterlicher Fürsorge spendet man sich gegenseitig Trost und Nähe.

Für mich ist „Andere Sterne“, das mit seinem wunderbaren Schluss bei mir Erinnerungen an H.C. Andersens „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ weckte, eine sehr gelungene zeitgenössische Erzählung für einen ganz besonderen Blick auf den Zauber von Weihnachten.