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iGirl
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Bad Nauheim

Bewertungen

Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 12.03.2023
Zwischen den Zeilen / Die Repoterin Bd.1
Simon, Teresa

Zwischen den Zeilen / Die Repoterin Bd.1


ausgezeichnet

who-is-who der 60-er Jahre

Malou, sommersprossig und zielstrebig, geht unbeirrt ihrem beruflichen Traum nach, Journalistin zu werden. Dabei bricht sie mit den Eltern, muss ihren Lebensunterhalt von nun an selbst bestreiten und sich auch noch in der Männerwelt der 60-er Jahre durchbeißen. Gott sei Dank gibt es in ihrem Umfeld einige Kollegen, Roxy und Onkel Julius, die fest an Malou glauben. Nach und nach gewinnt Malou Sicherheit und berufliche Anerkennung und einige neue Freund*innen dazu. Doch dann kommt die Liebe und mit ihr die Probleme und einiges aus Malous Familiengeschichte, scheint dramatische Konsequenzen zu haben.

Das Thema 'Mädels und Beruf' in den 60ern ist zwar nicht ganz neu, wurde jedoch durch die Autorin, Teresa Simon, in eine nette, gut geschriebene Geschichte gepackt mit einer bemerkenswerten jungen Frau als Protagonistin und pfiffigen Dialogen. Zeitübliche Klischees wurden geschickt in Geschehnisse und Charaktere eingeflochten. So lesen wir von der Vespa, James Dean und den bienenkorbähnlichen Frisuren der Frauen. Auch Romantik und Sex fehlen nicht, ebenso wenig wie kleine Gemeinheiten durch die Anfeindung einiger Kollegen oder der unsäglichen Vermieterin, die an eine alleinstehende junge Frau vermietet. Die damals noch unter Strafe stehende Homosexualität wird im Leben mehrerer Romanfiguren zum Thema. Ich finde, dass die Autorin diese Problematik und die Gefühlswelt der betroffenen Figuren gut aufgegriffen hat. Genossen habe ich die Reise durch das who-is-who in Showbiz, Politik und Sport der 60er-Jahre. Viele der berühmten Namen hatte ich lange nicht mehr gehört und war überrascht wirklich jede*n zu kennen. Ich habe den Roman innerhalb von zwei Tagen durchgelesen und fühlte mich sehr gut unterhalten. Nun bin ich gespannt auf den 2. Teil der Geschichte, die im August veröffentlicht wird, und wie es mit den Geheimnissen um Malous Familie und ihrem beruflichen Weg weitergeht.

Mein Fazit: „Die Reporterin“ ist eine perfekte Entspannungslektüre nach einem anstrengenden Arbeitstag oder im Urlaub und ein wunderbares Geschenk für „Boomer“.

Bewertung vom 18.02.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


ausgezeichnet

Der Augenstern

Luise wächst in einer Umgebung auf, die geprägt ist von sowohl Liebe als auch Missachtung und Ignoranz, von materiellem Reichtum als auch emotionaler Armut. Über allem schwebt die dominante Großmutter. Leni, die halt gebende Schwester Luises wird von der Großmutter bereits in jungen Jahren in ein Internat verbracht. So bleibt die junge Luise alleine zurück im herrschaftlichen Anwesen der Großmutter zusammen mit ihrer schwachen Mutter. Die Großmutter bestimmt die Regeln und das Verhalten ihrer Umgebung und welche (weiblichen) Personen sie duldet. Selbst als zwei tote Frauen am Ufer des Familienanwesens angeschwemmt werden scheint das die erwachsenen Frauen kaum zu berühren, so dass niemand der kleinen Luise beim Verarbeiten der Geschehnisse hilft. Luise flüchtet in ihre Gedankenwelt aus Geschichten und Interpretationen der Geschehnisse. Als die Großmutter stirbt prallen die Frauen der Familie mit ihren Lebensgeschichten und Verletzungen aufeinander.

Auf Männer kann diese Familie in der Tat verzichten, bei soviel Dominanz und Missgunst sind zusätzliche Männer total überflüssig. Nur schemenhaft erfährt man aus der Geschichte etwas über den Mann der Großmutter und den Vater von Luise und Leni. Völlig unklar bleibt der Verbleib des Vaters und die Rolle dieser Männer in der Familie.

Toll geschrieben ist das Buch, in einer Sprache, die Bilder zeichnet und das Kopfkino anwirft. Voller Details und Genauigkeit schildert die Autorin die Szenen und Geschehen aus der Sicht Luises. Manchmal verlor ich etwas den Faden vor lauter Detailverliebtheit. Auch trotz der peniblen Schilderungen konnte ich die facettenreichen Charaktere der verschiedenen Frauen und deren Rollen im Familienkonstrukt nicht vollständig erschließen. Einerseits erscheinen sie so verletzlich und gequält, andererseits tun sie genau dasselbe das sie selbst erleben: sie sind ebenso egoistisch, verletzend oder missgünstig. Oder ist es doch nur der Neid auf die Erbin und Großmutters Augenstern: Luise?

Wer so eine Familie hat braucht keine Feinde mehr. Beim Lesen dachte ich mir: Glücklich, wer keine Verwandtschaft hat, zumindest keine solche wie Luise und Leni.

Bewertung vom 12.02.2023
Jetzt ist Sense
Rath, Hans

Jetzt ist Sense


ausgezeichnet

Unhaltsame Lektüre

Irgendwann ist 'Schluß mit lustig'. Diese Botschaft überbringt der attraktive griechische Gott des Todes, mit dem klangvollen Pseudonym Zino Angelopoulos, persönlich an die Psychologin Olivia, die gerade 50 Jahre alt wurde. Natürlich wird ihr die Nachricht ihres anstehenden Todes nicht direkt ins Gesicht geschmettert, vielmehr führt Zino die überraschte Olivia nach und nach an das Thema heran. So entspinnt sich eine amüsante Geschichte und ein rasanter Ritt, um einen Ausweg aus dem scheinbar Ausweglosen zu finden. Unterstützung findet Olivia durch ihre beste Freundin Conny und auch Zino spielt eine wesentliche Rolle dabei.

'Jetzt ist Sense' ist ein leicht zu lesender, unterhaltsamer Roman, den ich zügig gelesen habe. Die kurzweilige, nette Geschichte wird durch die spritzigen Dialoge der Figuren getragen. Die speziellen Charaktere der Figuren und der geübte Schreibstil des Autors verschafften mir als Leserin amüsante Lesestunden. Ganz nebenbei erhält man einen Abriss durch die griechische Götterwelt, was ja vielleicht für die eine oder andere Schulklasse einen Anreiz zum Lesen mit Bildungshintergrund bietet.

Natürlich spart der Autor nicht damit landläufige Klischees zu bedienen: der Todesgott ist äußerst gut aussehend, die Frauen suchen Liebe und Glück in der Partnerschaft, die Männer sind beruflich erfolgreich, gehen fremd und/oder beherrschen das Leben ihrer Frauen, die Freundschaften der Frauen sind bedingungslos, die Männer sind ohne ihre Frauen hilflos. Die Geschichte findet in einem kurzen Happyend ihren Ausklang und jeder kommt mehr oder weniger gut aus seinem persönlichen Problem heraus. Wahrscheinlich ist das halt der Sinn des Lebens: das Happyend.

Nichtsdestotrotz wirkt die Hauptbotschaft des Todesgottes nach: Nutze dein Leben solange du noch Zeit dafür hast.

Bewertung vom 05.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


sehr gut

Schuld, Sühne, Sehnsucht

Der Protagonist, Kaan, Sohn einer türkischen Mutter und einem deutschen Vater, ist ein begnadeter Gitarrist und Komponist. Als junger Mann reist er mit seiner Freundin in die Türkei zum Begräbnis seiner Großmutter. Vor Ort wird er von Erinnerungen an seine armenische Großmutter und seinen türkischen Großvater übermannt. Deren beiden starken Charaktere finden sich auch in der Stärke von Kaans Mutter (Nur). Kaan denkt zurecht (Seite 199): „Es sind die Männer in den Teehäusern, die Monologe führen und die Welt erklären, während ihre Frauen diese in Bewegung halten.“ Doch Kaan? Wird er seinen familiären und eigenen Ansprüchen gerecht?

Dem Autor, Marc Sinan, ist eine fantastische Reise durch seine eigene Familiengeschichte gelungen, die zurück bis Anfang der 1900 Jahre reicht. Dabei springt er in Kapiteln durch die Jahrzehnte bis in die nahe Zukunft des Jahres 2023 und beleuchtet wiederkehrend die Erzählungen verschiedener Familienmitglieder aus der Perspektive des jeweilig Erzählenden. Die Mystik der alten Geschichten sind geprägt von Gewalt und scheinen auf den Verlauf der Familiengeschichte und deren Verbindung zwischen Armeniern und Türken zu wirken.

Die Figur des Kaan fand ich sehr zerrissen mit der Anmutung eines jungen Mannes mit einer psychischen Störung, ausgeprägten sexuellen Bedürfnissen bei gleichzeitigen Bindungsängsten und unerklärlichen Gewaltfantasien. Dem Druck des Erfolgs als Komponist und Musiker scheint er nicht gewachsen zu sein. Sehr gelungen sind die sprachlichen Bilder, die der Autor zeichnet. Trotz des, für meinen Geschmack, etwas anstrengenden Verfolgens der Handlung entschädigte mich dessen fulminante, teils lyrische, Erzählfähigkeit.

Mein Fazit: „Gleißendes Licht“ ist eine beeindruckend geschriebene armenisch-türkisch-deutsche Familiengeschichte, angefüllt mit Mystik und Religiosität, Macht und Gewalt, Fiktion und Realität.

Bewertung vom 29.01.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Konzentrische Kreise

Die Familie Roleder, Mutter, Vater und der Sohn Hans ziehen oder fliehen auf eine unbewohnte Insel inmitten eines Sees. Der Grund warum die Familie diesen Schritt geht, bleibt im Dunkeln und ist dann irgendwie auch gar nicht mehr wichtig. Stattdessen begleiten wir, als Lesende, Hans in seiner Gedankenwelt, in der jede Begebenheit eine besondere Form und Bedeutung erhält. Hans passt bereits sehr jung nicht mehr zu den zeitüblichen gesellschaftlichen Erwartungen. Nachdem er in der Schule eingeschult und dort verprügelt wurde, geht er eben nicht mehr hin. Was zur Folge hat, dass er den Eltern, seinem Freund Kalle und seinem geliebten Hund entzogen und stattdessen in eine gnadenlose Erziehungsanstalt gesteckt wird. Erst nach vielen Jahren kehrt auf die Insel zurück.

Dieser Roman ist ungewöhnlich, die Sprache ist weniger Prosa als vielmehr Lyrik. Die Gedanken des Protagonisten vermitteln eine gewaltige Gefühlsdichte, so dass der Autor weitgehend auf Dialoge und vollständig auf Kapitel verzichten kann. Kein Fünkchen Hoffnung scheint sich in der harten Lebensgeschichte des jungen Hans zu verbergen. Düster und kühl wirkt die Stimmung auf mich und doch sind da die guten Gedanken eines Jungen, der die Gefühle der Eltern und die Eindrücke aus seiner Umgebung aufzusaugen scheint. Sehr zutreffend fand ich den Satz: „Wie kann etwas eine Erinnerung sein, das niemals geschehen ist?“. Und doch lebt Hans mit und durch seine Erinnerungen. So spürt man zwischen den Zeilen die Sehnsucht des Jungen nach Farbe und Schönheit und dessen Zuwendung zur Natur. Letztendlich wird deutlich, dass Leben ein stetiger Kreislauf ist, mit Beginn und Ende. Und letztendlich denke ich, ja, Hans ist der König der Insel, der Licht und Hoffnung in sich trägt.

Bewertung vom 24.01.2023
Saubere Zeiten
Wunn, Andreas

Saubere Zeiten


ausgezeichnet

Der letzte Brief

Die Kindheit des Jakob Auber ist von Trauer geprägt durch den Verlust der Mutter. Sein ganzes Leben lang leidet er unter diesem Verlust, der ihm Bindungen schwer machen. Als Jakobs Vater stirbt findet er Tonaufnahmen und schriftliche Dokumente, die ihm den Gang in die Familienvergangenheit eröffnen. So beginnt eine Spurensuche, die von der Vorkriegszeit bis in die Neuzeit reicht. Jakob, dessen Großvater im 2. Weltkrieg zu Reichtum gelangte, erfährt von der geheimnisvollen Bella, die das Leben seines Großvaters und seines Vaters beeinflußte. Schrittweise entschlüsselt er die Hintergründe zum Untergang des Waschmittelimperiums und entdeckt dabei sich selbst.

Auf dieser beeindruckenden Lesereise war ich gerne dabei. Der Autor greift im Roman Vorkommnisse aus seiner eigenen Familiengeschichte auf und lässt daraus eine generationsübergreifende spannende Geschichte entstehen. In leisen Worten und in präzisem Schreibstil fasst er die Gedanken und die Einsamkeit der Protagonist:innen in Sätze. Der Autor zeichnet sprachliche Bilder zu den beiden Figuren, Jakob und Bella, die sie für mich sichtbar und sympathisch machten. Dennoch verschweigt die Geschichte nicht die Schrecken der Nazizeit und deren Auswirkung auf die Familie Stein. Sehr stark fand ich die Szene um Bella und ihrer Zeit in der Briefmarkenalben-Firma.

Mein Fazit: Der Roman „Saubere Zeiten“ hat mich durch seine berührende Sprache und den durchwegs erhaltenen Spannungsbogen vollständig in seinen Bann gezogen. Chapeau für dieses tolle Debüt!

Bewertung vom 17.01.2023
Taupunkt
Hansen, Thore D.

Taupunkt


sehr gut

Was wäre wenn...

Das Thema Klimawandel ist ja, berechtigterweise, in aller Munde und wird von den verschiedensten Interessengruppen aufgegriffen. „Taupunkt“ ist ein weiterer Roman zu diesem hochbrisanten Thema. Ein Schwerpunkt des Buches liegt in der Darstellung der konkurrierenden Gruppen und ihren Zielen, die leider viel zu oft von wirtschaftlichen, finanziellen, machtpolitischen Interessen getrieben sind, solange bis die Katastrophe Menschenleben fordert. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Brüder Tom und Robert Beyer, die seit Jahrzehnten ein angespanntes Verhältnis zueinander haben. Tom ist seit seiner Jugend Klimaaktivist und mittlerweile weltweit geachteter Experte zu diesem Themenkomplex. Robert ist Landwirt, spürt die Auswirkungen am eigenen Hof und gehört dennoch eher zur Blase der Klimaleugner. Die Töchter der beiden Kontrahenten hingegen verstehen sich gut und haben ihre eigenen Ansichten und Überzeugungen.

Der Konflikt innerhalb der Familie Beyer mit ihren stark kontroversen Standpunkten spiegelt gut den gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Auswirkungen des Klimawandels wider. Jeder der Protagonist:innen vertritt in der Geschichte ein Extrem: Tom ist der kompromisslose Kämpfer für das Gute, Robert ist der versagende Schattenbruder und Alkoholiker, Janne ist die unerschrockene, militante Vertreterin der jungen Generation und Mareike ist die unglückliche Tochter Toms für die nie jemand Zeit hatte.

Mit dem Schreibstil des Autors hatte ich so meine Probleme. Er erinnert mich an die Schreibweise amerikanischer Autoren: einfache, teilweise joviale Dialoge, Gedanken der Protagonisten werden nur angerissen mit geringer Tiefe und einer irgendwie hinein gepressten Handlung, die nicht immer logisch fortgeführt ist. Über die Dialoge der Figuren wird versucht komplexe Sachverhalte darzustellen, was meiner Meinung nach, nur teilweise gelingt. Mir hätte hier die Darstellung eines nachvollziehbaren Gedankengangs besser gefallen.

Dennoch ist der Roman ein interessantes Gedankenspiel zu einem möglichen Szenario, was passieren kann, wenn nicht endlich ein globales Miteinander zur Eindämmung einer möglichen Klimakatastrophe gelingt.

Bewertung vom 12.01.2023
Knochensuppe (Band 1)
Kim, Youngtak

Knochensuppe (Band 1)


ausgezeichnet

Beinscheibe im Kopf

Bereits nach den ersten Seiten dachte ich: das ist ein gutes Buch. Es ist eine irrwitzige Geschichte: im Jahr 2064 erinnert sich ein alter Restaurantbesitzer an den Geschmack einer Rindersuppe aus seiner Jugend und schickt seinen Hilfskoch, Lee Uhwan, auf eine Zeitreise ins Jahr 2024, um das Kochen der Knochensuppe zu erlernen und das Rezept in die Zukunft zu bringen. Derlei Zeitreisen sind jedoch für die Passagiere gefährlich und enden oft tödlich. Dennoch begibt sich der eher phlegmatische Uhwan in die Vergangenheit und trifft dort auf seine zukünftigen Eltern. Doch auch weitere merkwürdige Ereignisse spielen sich ab von denen die Protagonisten auf die eine oder andere Weise betroffen sind. So beginnt ein gefährliches Abenteuer mit gruseligen Vorkommnissen, in die weitere Zeitreisende verstrickt sind.

Spannend zu verfolgen fand ich wie Uhwan, der Hilfskoch, eine eher lethargische Person, im Verlauf der Geschichte an Format gewinnt. Er entwickelt sich zu einer strategisch denkenden, reflektierten Person. Auch die charakterliche Entwicklung seiner jungen Eltern entwickelt sich unerwartet. Es scheint so, als würden die Figuren einen Entwicklungsprozess durchleben, in gleichem Maße wie Uhwan in die Details des Suppenkochens eingeführt wird. Am Ende wird ein wohlschmeckendes Ganzes daraus. Ebenso interessant finde ich die Überlegung was passiert eigentlich, wenn das Kind aus der Zukunft auf seine zukünftigen Eltern trifft und versucht deren Handlungen zu beeinflussen.

Der Roman ist eine Mixtur aus Science Fiction und Thriller, jedoch mit leisen Tönen, der Schrecken und Grausamkeit andeutet, jedoch nicht detailreich ausschlachtet. Allein die eigene Vorstellung des Lesenden lässt ihn erschaudern.

Dem Autor gelingt es seine Rätsel gekonnt zu streuen und zahlreiche, scheinbar lose Handlungsfäden zu spinnen, die die Lust auf's Weiterlesen wecken. Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen, einerseits trocken und fast distanziert, andererseits angefüllt mit reflektierten Denkvorgängen der Protagonisten. So wird der Spannungsbogen durchgehend aufrecht erhalten. An dieser Stelle ein Lob an die gelungene Übersetzung ins Deutsche.

Am Ende des Buchs bleibt noch jede Menge Handlung offen, so dass es gar nicht anders geht, als auch den zweiten Band der Geschichte zu lesen.
Kurzum: 'Knochensuppe' ist ein bemerkenswert gutes Debüt. Die Geschichte ist klasse!

Bewertung vom 05.01.2023
Der Kreis
Kizilhan, Jan Ilhan

Der Kreis


ausgezeichnet

Kein Ausweg aus dem Kreis

Die Geschichte begleitet den Lebensweg der Jesidin und Heilerin Aziza. Sie lebt in einem Umfeld, das von Zwangskonvertierung der jesidischen Bevölkerung hin zum Islam geprägt ist und der gnadenlosen Verfolgung eines scheinbar religiös motivierten Sheikhs. Das Netzwerk und der Einfluss dieses grausamer bösen Mannes bedeutet eine dunkle Zukunft für die verschleppte, junge Aziza. Ihre Fähigkeit zu Heilen und durch Visionen Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben wird durch den Sheikh schamlos für seine Zwecke ausgenutzt. Aziza ist ein beeindruckend starkes Mädchen, das gelernt hat ihre Gefühle sehr gut zu beherrschen und Kraft aus ihrer religiösen Überzeugung schöpft. Die Rollen der Figuren sind nicht immer eindeutig, wer unterstützt und wer ist wann bedrohlich? Verrat und Kalkül sind jeder Figur eigen.

Ein wenig erinnerte mich die Geschichte an ein orientalisches Märchen und orientiert sich doch an einer realen Figur, was der Autor im Nachwort ausführt. Die Visionen der Protagonistin konnte ich nicht immer nachvollziehen. Interessant sind die Erklärungen zur Geschichte des osmanischen Reichs bis in die 50er Jahre und den religiösen und machtpolitischen Konflikten der verschiedenen Gruppen.

Ich finde, dass das Bild des Kreises eine gelungene Allegorie für den Inhalt der Geschichte ist. Die Kreise, die sich immer enger um die Protagonistin ziehen, die politisch und machtgetriebenen Kreise aus denen es scheinbar kein Entrinnen gibt, der Kreis als Fessel für die zwangskonvertierten Frauen und der Kreis als unerbittliche religiöse Begrenzung der Jesiden, die den Schritt darüber nicht wagen.

Bedrückend finde ich den starken Aktualitätsbezug der in der Geschichte liegt: da denkt man, dass Religion den Menschen Gutes tun und Mut machen sollte. Stattdessen ging und geht es den sogenannten Religionsführern um Macht, Unterdrückung, Unterwerfung, legitimiertes Enteignen, Schinden bis hin zum Tod. Gerade Frauen sind nahezu in jeder Religion benachteiligt. Genau dieses Bild nimmt die Geschichte auf, in der Figur der starken Aziza, die dennoch ihrer eigenen Überzeugung folgt.

Mein Fazit: „Der Kreis“ ist eine lesenswerte, atmosphärische Geschichte mit realem geschichtlichen Bezug und einem sehr guten Sprachstil.

Bewertung vom 28.12.2022
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


ausgezeichnet

Familiäre Spurensuche in der Ukraine

Und plötzlich ist Onkel Wladimir nicht mehr erreichbar. Aber gerade er scheint der Schlüssel zu Victorias Fragen zu sein. Wladimir kennt die Familiengeschichte, doch es scheint als ob er sie nicht preisgeben will. Also reist, die in Belgien lebende, Victoria zurück zu ihren Wurzeln in der Ukraine und geht auf Spurensuche zu einem familiären Tabuthema: Nikodim, dem unter Stalin verschollenen Urgroßonkel und auf die Suche nach Antworten warum ihr eigener Vater Selbstmord beging. Victorias Großmutter Valentina steht ihren Nachforschungen zunächst ablehnend gegenüber, doch im Laufe vieler Besuche und Victorias unermüdlicher Recherche kommen sich Enkelin und Oma immer näher.

Sprachlich überzeugend und mit tiefen Einblicken in die Gefühlswelt Victorias werden die vielen familiären und geschichtlichen Spannungsfelder erzählt. Da die Erzählung mehrere Generationen einschließt, werden die familiären Schicksale mit den geschichtlichen Hintergründen zum Hin und Her zwischen der Ukraine und Sowjetunion im Laufe der Jahrzehnte geschickt verknüpft. Sehr gut gefallen haben mir die Schilderungen zu Gepflogenheiten, Traditionen, Gemeinsamkeit und Abgrenzung innerhalb der dörflichen ukrainischen Gemeinschaft und dem Zusammenhalt im verwandtschaftlichen Umfeld Victorias. Dabei geht es immer auch um Geduld, Beharrlichkeit und Vertrauen.

Ich finde, dass der Autorin mit „Rote Sirenen“ ein sehr gutes biografisches Werk gelungen ist, das nicht nur unterhaltsam zu lesen ist, sondern zudem Einblicke in den seit langem andauernden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland bietet und daher einen dramatisch aktuellen Bezug hat.