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Bewertungen

Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 01.09.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


ausgezeichnet

Wundervolle Familien- und Liebesgeschichte - Es gibt diese Romane, von denen man sich wünscht, dass sie nie zu Ende gehen und man ewig über die Figuren weiterlesen möchte. Solch ein Buch ist dieser Roman.
Die elfjährige Beatrix wird 1940 von ihren Eltern von London nach Boston geschickt. Die Eltern wollen die einzige Tochter inmitten der Bedrohungen des 2. Weltkriegs in Sicherheit wissen. Und so kommt Bea zur Familie Gregory, zu Nancy und Ethan und ihren beiden Söhnen William und Gerald. Zunächst schüchtern und zurückhaltend wächst das Mädchen schnell in den neuen Alltag hinein. Als Teil der Familie verbringt sie die nächsten Jahre in Boston und im Sommer im Ferienhaus der Familie auf einer kleinen Insel in Maine. Bea wächst in unvergesslichen Sommern und liebevollen, herzlichen Monaten in Boston auf. Und nach und nach kommen sich Bea und William näher. Doch dann naht das Ende des Krieges, und Bea muss zurück nach London.
Laura Spence-Ash schreibt mit einer solchen Wärme und Herzlichkeit, dass es eine wahre Freude ist. Ihre Figuren sind so feinfühlig und präzise geschildert, dass man sich unweigerlich in sie hineinversetzen kann. Über eine Zeitspanne von gut 30 Jahren begleiten wir die beiden Familien in ihrem Leben und dürfen an gemeinsamen Schlüsselmomenten teilhaben. Die verschiedenen Perspektiven, ganze acht Personen begleiten uns durch das Buch, sind stimmig in den Lauf der Geschichte eingeflochten. Dabei wird der Roman, der von Abschieden, vom Leben und Tod und von der Liebe zu Menschen, Orten und dem Leben erzählt, aber nie kitschig oder übertrieben. Laura Spence-Ash trifft vielmehr immer genau den richtigen Ton, kreiert satte, stimmungsvolle Bilder und überlässt dann doch Vieles der Leserin und ihrer Phantasie.

Bewertung vom 30.08.2024
Der Silberriese
Moster, Andreas

Der Silberriese


ausgezeichnet

Dieser Silberriese bekommt Gold von mir! - Romane zum Thema Elternschaft gibt es häufig. Aus der Perspektive eines alleinerziehenden Vaters von den Höhen und Tiefen des Elternseins zu lesen, ist dabei eine sehr spannende Option, die in der Literatur noch viel zu selten Beachtung findet. Und übrigens nicht nur hier.
“It’s the right thing for us, trust me” versichert sie ihm noch – und dann ist Kara bereits kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Ada verschwunden. Zurück bleibt Patrik mit einem Säugling, für den er als Hochleistungssportler mitten im Training für Olympia noch nicht richtig bereit war. Und mit der aufkeimenden Gewissheit, dass Kara nicht mehr zurückkommen wird. Fortan versucht Patrik, der Rolle als alleinerziehender Vater gerecht zu werden und dabei seine Wünsche und Ziele für sich und sein Leben – allen voran die olympische Goldmedaille – weiter zu verfolgen.
In zwei Erzählebenen begleiten wir Patrik in seinem Alltag. Da ist die nunmehr 12-jährige Ada, die das Geräteturnen für sich entdeckt hat. Ehrgeizig dieses Hobby verfolgt, zunehmend selbständiger und erwachsener wird und sich mehr und mehr vom Vater abnabelt. Und da ist dieses winzige Baby, das die Ersatzmilch nicht trinken möchte. Die auf Spielplätzen spielt. Die viel zu häufig umziehen und sich an neue Freunde und neue Umgebungen gewöhnen muss.
Patrik, der Silberriese, führt ein akribisch getaktetes Leben, in dem alles seinen Platz hat. Er plant penibel, sein Körper funktioniert perfekt. Und dann tritt von einem Tag auf den anderen ein Situation ein, mit der er nicht gerechnet hat. Und die Taktung kommt aus dem Gleichgewicht. Ada wird zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Und damit verschiebt sich alles. Patrik lebt die Ambivalenz eines alleinerziehenden Elternteils, der den großen Erwarten an die Vaterrolle, an Liebe und Aufopferung einerseits gerecht werden möchte und andererseits sich selbst komplett zurückstellen muss. Jetzt wird Ada erwachsen und Patrik muss lernen, loszulassen. Eine Situation, die ihm sichtlich schwer fällt, immer wieder kommen Zweifel auf.
Andreas Mosters dritter Roman kommt nicht mit großen, intensiven Bildern daher, wie ich es aus „Wir leben hier, seit wir geboren sind“ kenne. Und doch ist er sehr emotional, empathisch und authentisch. Er liest sich gleich dem inneren Monolog eines Mannes, der immer wieder die eine Seite gegen die andere abwägt, Gold - Silber; fitter Körper - körperlicher Verfall; richtig Handeln - Fehler machen; Adas Wünsche - seine Wünsche. Da ist keine Anklage, keine Wertung. Nur die Erwartungshaltungen an sich selbst, denen Patrik nicht, vielleicht nie, gerecht werden kann.
Ein toller weil sehr ehrlicher und authentischer Roman, den alle Mütter wie auch Väter sicherlich emotional sehr gut nachempfinden können.

Bewertung vom 24.08.2024
Wir sind frei, die Welt zu verändern
Stonebridge, Lyndsey

Wir sind frei, die Welt zu verändern


ausgezeichnet

Arendts Leben und ihre Werke - viel mehr als eine Biographie - Dieses Buch von Lyndsey Stonebridge ist ein guter Einstieg für alle, die sich mit den Werken und dem Leben der großen Denkerin vielleicht noch nicht so intensiv beschäftigt haben. Aber auch für alle diejenigen, die Hannah Arendt einmal anders einordnen möchten.
Stonebridges Buch ist weniger eine Biographie über Arendt als vielmehr eine exzellent wissenschaftlich recherchierte und durchaus auch kritisch analysierte Abhandlung ihres Lebens und insbesondere auch ihrer Denkansätze und Werke. Philosophische Betrachtungen sind dabei in übergeordnete Themen eingebunden, die auch Arendt geprägt haben; Auszüge aus ihrem bewegenden Leben, Anekdoten aus dem großen Kreis ihrer Freunde und Bekannten, aus ihrer Lehr-, Schreib- und Arbeitstätigkeit eingeschlossen. Liebe, Politik, Flucht, Freiheit, Terror. Die Facetten ihres Denkens verknüpft Stonebridge sehr gekonnt mit Arendts Leben und den Ereignissen ihrer Zeit. Dabei geht sie durchaus kritisch vor und scheut sich auch nicht, auch die „Fehler“ der Philosophin auseinander zu dividieren – „Wie man über race nachdenkt – und wie nicht“.
Besonders gut aber gefielen mir die immer wiederkehrenden Verknüpfungen zur Gegenwart. Der Trumpismus kommt ebenso zu Wort wie die dringenden Fragen zu Umweltschutz, Rassismus, zu eigenem, kritischen Denken und Handeln, zu Liebe und sozialem Engagement. Und so liest sich das Inhaltsverzeichnis des Buches auch direkt wie eine Aufforderung, wirklich zu DENKEN, nicht einfach zu lesen, sondern Wort für Wort über das Gelesene zu reflektieren und eigene Schlüsse für unser Denken und vor allem Handeln im Heute zu ziehen.
Stonebridges Buch ist keine einfache Kost, insbesondere nicht, wenn man dem Mitdenken folgen möchte. Aber ihre Sprache ist leicht verständlich und eingängig, und das Buch erlaubt es, sich Kapitel für Kapitel einer großartigen Frau des 21. Jahrhunderts zu nähern – auch, wenn man keine tiefgründigen Philosophiekenntnisse hat. Eine ganz große Leseempfehlung für alle, die sich, ob mit oder ohne Vorkenntnisse, Hannah Arendt nähern möchten.

Bewertung vom 24.08.2024
Unter Dojczen
Raben, Mia

Unter Dojczen


ausgezeichnet

Jola (mit kurzem o wie in Lolli) ist Anfang 50. Über eine polnische Agentur arbeitet sie seit 12 Jahren als betrojerinki für deutsche seniorki. In den meisten Fällen ein „Knochenjob“, in dem die Agentur viel verdient und Jola für das wenige Geld sehr hart arbeiten muss, mal gut behandelt, mal ausgebeutet wird. Als Jola nach einem Zusammenbruch als Betreuerin zu Ursula, genannt Uschi, kommt, wendet sich das Blatt überraschend. Die alte Dame und auch ihre Familie begegnen ihr mit Respekt und Wertschätzung und zwischen den beiden Frauen entwickelt sich nach und nach ein Gefühl von Zuneigung, Freundschaft, Vertrauen.
Sehr begeistert bin ich von den starken Figuren in diesem Roman, die sich alle – gewollt wie ungewollt, bewusst wie unbewusst – gegenseitig so viel Kraft, Unterstützung, Güte und Wohlwollen zuteil werden lassen. Die das Leben nehmen wie es kommt aber doch immer wieder positiv, resolut und voller Zuversicht in die Zukunft blicken. Das Vergangene als Status akzeptieren und für die Gegenwart in etwas „Formbares“, Hoffnungsvolles wenden. Egal, ob es da um Jola und Magda, Uschi und Bea oder jede einzeln betrachtet geht. Dabei schafft es @miakolumna jede Figur sehr authentisch, ehrlich und verletzlich zu zeichnen, ohne Stereotype zu bedienen. Geschickt flicht sie kulturelle, geschichtliche und gesellschaftliche, deutsche wie polnische Themen ein, ohne in die Tiefe zu gehen oder zu bewerten. So lässt sie der Leserin viel Raum für eigene Gedanken und Interpretationen.
Ein warmherziger Roman, der trotz des schwierigen Settings der Protagonistin sehr ans Herz geht und einen tiefen, zufriedenen Seufzer am Ende erlaubt.

Bewertung vom 14.08.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


ausgezeichnet

Berührende Geschichte zu Freundschaft und Wahlfamilie - Eine Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. Mitten in der Pandemie. Die fast 40-jährige Hanna sieht immer wieder eine junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren, die sie an ihre Freundin Zeyna aus Kindheitstagen erinnert. Von Einsamkeit und Trauer aber auch von Erinnerungen an eine glückliche Zeit geleitet geht sie in Gedanken zurück in die 80er Jahre. Damals lebte Hanna bei ihren Großeltern Felizia und Theo. Ihre Freund Cem sowie ihre Freundin Zeyna mit ihrem Vater Nabil waren ein wichtiger, enger Teil dieser bunt zusammengewürfelten Wahlfamilie, in der die Rollen neu gemischt wurden. Obwohl Hanna und Zeyna als Freundinnen unzertrennlich waren, gab es immer wieder kleine Reibungen, die Cem anfangs zwischen den Mädchen gut abpuffern konnte. Nach und nach aber bekommt die Freundschaft immer mehr Risse bis es dann zum kompletten Bruch zwischen den beiden Freundinnen kommt.

Rasha Khayat schreibt in ihrem zweiten Roman sehr einfühlsam und poetisch von dem, was uns als Menschen verbindet, aber auch von dem, was uns auseinanderdriften lässt. Sie erzählt von Zusammenhalt, bedingungsloser Freundschaft und Liebe. Aber auch von den kleinen emotionalen Spitzen, den kulturellen Unterschieden, dem (Alltags)Rassismus, die diese engen Bande immer wieder aufs Neue herausfordern und auf die Probe stellen. Khayat streift diese Themen, lässt Vieles im Raum stehen, ähnlich der vielen „ungesagten Worte“ im Roman. Und genau diese scheinbar fehlende Tiefe passt wunderbar zur emotionalen Verlorenheit der Protagonistin. Auch sie lässt auf der Suche nach Antworten und Gründen, inmitten ihrer Einsamkeit, viele Gedanken zu, ohne in die Tiefe gehen zu können. Das lässt bei der Leserin viel Raum für eigene Überlegungen und Interpretationen. Die Beweggründe für den Bruch werden so subtil erkennbar, ohne dass sie tatsächlich in Worte gefasst werden (können). Sprachlich ist das unglaublich intensiv und bewegend umgesetzt.

Ich gebe zu: Ich persönlich war zunächst vom Ende des Romans ein wenig enttäuscht, hatte sich der Spannungsbogen doch so gefühlsgeladen entwickelt, dass mir die Auflösung eher „plump und zu einfach“ erschien. Aber bei längerem Nachdenken erscheint mir gerade das die brillante Auflösung der Diskrepanz zwischen Hanna und Zeyna vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen kulturellen, familiären und gesellschaftlichen Prägung zu sein. Ein wunderschöner, gefühlvoll-trauriger, melancholischer Roman, den ich sehr gern gelesen habe.

Bewertung vom 01.08.2024
Der Großcousin
Djafari, Nassir

Der Großcousin


ausgezeichnet

Emotionale deutsch-iranische Geschichte - Abbas lebt mit seiner Ehefrau Maria in Frankfurt. Er ist ein überaus erfolgreicher Unternehmer mit internationalen Auftraggebern. Seine Eltern kamen einst aus dem Iran nach Deutschland, die Kinder nach deutschen Maßstäben erzogen; persisch spricht Abbas mehr schlecht als recht. Als sein Cousin aus dem Iran ihn bittet, sich um dessen 30-jährigen Sohn zu kümmern, der demnächst nach Deutschland kommen wird, geht dies zunächst im allgemeinen Business-Trubel unter – bis Reza nur wenige Tage später vor der Tür steht. Ohne Job, ohne Deutschkenntnisse und mit der Bitte um Unterstützung.

Während Abbas nun in „typisch deutscher Manier“ Ergebnisse von dem jungen Mann als Gegenleistung zu seiner (monetären) Unterstützung fordert – Deutschkurs, Job, Behördengänge – beantwortet Reza diese Forderungen auf seine Art, bleibt unverbindlich und wage. Schnell vermutet Abbas, dass der junge Mann nicht ganz ehrlich zu ihm ist, dass es unausgesprochene Geheimnisse gibt.

Nassir Djafari hat einen tragischen Lebens(ver)lauf in eine wunderbare Geschichte von Familie, (kultureller) Herkunft und Zusammenhalt verpackt. Sein Schreibstil ist durchaus rasant, was aber auch zur Thematik passt. Und dennoch ist jede einzelne Figur fein und detailliert gezeichnet. Die politische und gesellschaftliche Lage im Iran, Unterdrückung, Terror und Überwachung ist ebenso wie Rezas angespannte Situation ein Teil der Geschichte, dominiert sie aber nicht. Vielmehr kommen gerade die zwischenmenschlichen Momente und Begegnungen zum Tragen, stille Augenblicke mit dem Vater, Gespräche im persischen Laden. Und so ist dieses Buch für mich persönlich in erster Linie ein Roman über Familienbande und die Wurzeln, die uns als Menschen prägen.

Bewertung vom 28.07.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


ausgezeichnet

Auf emotionaler Spurensuche

Zora del Buono begibt sich in diesem autofiktionalen Roman auf Spurensuche nach dem Töter ihres Vaters. Und kommt dabei nicht nur E.T. näher, sondern auch sich selbst und der großen Leerstelle in ihrem Leben.

Gerade einmal 8 Monate ist Zora 1963 alt, als ihr Vater bei einem tragischen Verkehrsunfall, verursacht durch E.T., stirbt. Zora wächst allein mit der Mutter auf, für sie die Gewohnheit, das „Normale“. Allein das Gespräch über den Vater vermeidet sie aus Angst vor dem Schmerz, den dieser Verlust bei der Mutter auslösen könnte.

Gut 60 Jahre später, die Mutter mittlerweile dement, beschäftigt Zora die Frage, was aus dem Unfallverursacher E.T. wurde. Und so begibt sie sich auf Spurensuche in den Orten der Vergangenheit, in Archiven, in Erinnerungsstücken der Mutter. Nach und nach wird aus den Initialen ein Name, ein Mensch und aus einem tragischen, abstrakten Ereignis ein Teil ihres Lebens, ihrer eigenen Vergangenheit.

In Fragmenten und Episoden tastet sich Zora del Buono Schritt für Schritt vorwärts. Dabei ist es nicht die sachliche Recherche nach einer Person, bestehend aus zwei Buchstaben, die berührt. Vielmehr sind es die vielen punktuellen Gedankengänge, Erinnerungen und Überlegungen, die der Leere einen Inhalt und ein Gefühl geben. Erinnerungen an die Mutter, die Kindheit, an Gegenstände und Ereignisse. Überlegungen zum Tod, zu Unfallstatistiken, zum Verlust des Vaters in jungen Jahren. Dazwischen Kaffeehausbegegnungen und Gedanken, die aufblitzen und wieder verschwinden.

Del Buono schreibt nie sentimental, verklärend oder gar kitschig. Sie wählt die Worte mit Bedacht und doch mit einer Offenheit und Ehrlichkeit, die zutiefst berührt. Ihre Wechsel zwischen Erinnerungen und Gedankenspielen und der Recherche nach einem bekannten Unbekannten lassen erahnen, wie intensiv und bedeutend diese Reise in die Vergangenheit für die Autorin war. Wunderschön und sehr ergreifend. Große Leseempfehlung für alle, die die kleinen, stillen Geschichten und Gedanken mögen.

Bewertung vom 15.07.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


sehr gut

Aufwühlendes Stück Zeitgeschichte - „In Malaysia zeigen Großeltern ihre Liebe, indem sie wenig sprechen. Genauer gesagt, sie sprechen nicht über ihr Leben in den Jahren 1941 bis 1945, einer Zeit, in der die Kaiserlich Japanische Armee in Malaya (wie Malaysia vor der Unabhängigkeit genannt wurde) einmarschierte, die britischen Kolonisten aus dem Land warf und in eine duldsame Nation verwandelte, die mit sich selbst Krieg führte.“ Die einleitenden Worte der Autorin lassen sich erst vollends am Ende des Romans begreifen. Und doch hat man bereits jetzt eine Ahnung, was dieses Unaussprechliche sein könnte.

Erzählt wird in zwei Zeitebenen. 1945 lebt Cecily Alcantara mit ihrer Familie im japanisch besetzten Malaya. Ihr 15-jähriger Sohn Abel ist von einem Tag auf den anderen verschwunden, ihre Tochter Jasmin arbeitet in einem Teesalon, die 7-jährige Tochter Jujube muss sich aus Angst vor der Zwangsprostitution im Keller verstecken. Der Vater Gordon eher eine Randfigur. In Cecilys Augen ist die Situation, in der die Familie, das ganze Land steckt, einzig ihre Schuld. - 1935 lernt Cecily den charismatischen Kaufmann Bingley Chan kennen, der sich als japanischer Spion Fujiwara entpuppt. Er spannt Cecily für seine politischen Machenschaften ein.

Gerade durch die unterschiedlichen Zeitebenen und die Perspektiven von Cecily einerseits und ihren drei Kindern andererseits erhält der Roman eine ganz besondere Dynamik. Jeder Blickwinkel, jede Erzählsprache ist einzigartig. Jedes Schicksal für sich genommen ist brutal, hart, unbegreiflich. Und doch ist da auch immer dieser Schritt zurück in eine Art übergeordnete Perspektive mit Blick auf ein Land, das furchtbar unter Kolonisierung, Rassismus und Krieg gelitten hat. Und auf eine Frau, hin und her gerissen zwischen selbstbestimmtem Leben und moralischen Wertvorstellungen, deren vergangene Handlungen Auswirkungen bis in die Gegenwart haben.

Vanessa Chan hat mit ihrem Debütroman ein Stück Zeitgeschichte zum Leben erweckt, von dem ich persönlich bislang eher wenig wusste. Viel zu oft wird hier doch Geschichte und insbesondere der 2. Weltkrieg allein aus Europäischer Sicht bedient.
Die Bilder, die sie hervorruft, sind brutal und schonungslos. Ehrlich. Aber gerade aus der Sicht der drei Kinder nochmal ergreifender. Insofern ist der Roman sicherlich nicht für jeden etwas.

Bewertung vom 09.06.2024
Heiligenbilder und Heuschrecken
Martínez, Layla

Heiligenbilder und Heuschrecken


ausgezeichnet

Skurrile Rachegeschichte vom Feinsten - Wenn ihr Lust auf eine skurrile, schaurig feministische Rachegeschichte habt, dann seid ihr bei diesem Buch genau richtig! Layla Martínez’ Roman ist so grandios gut geschrieben, dass ich es garantiert ein zweites Mal lesen werde.

Heilige und Schatten, sie „leben“ gemeinsam mit der Großmutter und ihrer Enkelin in diesem Haus in ärmlichen Verhältnissen, das abseits der Gemeinschaft in einem einsamen Dorf in Spanien steht. Das Haus, das als Zuflucht dienen sollte und dann doch zur Falle für 4 Generationen von Frauen wurde. „Niemand kommt von hier weg, und die, die es doch schaffen, die kommen am Ende zurück. Dieses Haus ist ein Fluch.“ Stets beäugt von den übrigen Dorfbewohnern, die in mittelalterlichen Vorstellungen die Bewohnerinnen des Hauses für Hexen halten, was sie jedoch nicht davon abhält, sich ihrer unerklärlichen Kräfte zu bedienen. Und die Bewohnerinnen wissen sich die Macht der Santas, der Heiligen, zunutze zu machen, ebenso, wie sie auch dem Knarren, Quietschen und Tösen des Hauses und seiner Seelen Einhalt gebieten können.

Als der Sohn der reichsten Familie des Ortes verschwindet, scheint dann auch schnell klar zu sein, wer dafür verantwortlich zeichnet. Denn schon immer waren es diese Jarabos, die den Weg der Enkelin und ihrer Vorfahren säumten und ihre Macht einsetzten, um die Familie auszunutzen. Und schon immer waren es Männer, die die Frauen des Hauses drangsalierten und beherrschten.

Aus Sicht der Enkelin und „der Alten“ erfahren wir nach und nach die Geschichte des Hauses und seiner Bewohnerinnen. Es ist eine Geschichte übelster patriarchaler Strukturen, Jahrzehnte der Gewalt an und Unterdrückung von Frauen, von Machtmissbrauch und Missgunst. Und es die Geschichte von Widerstand und unbändigem Trotz, von Aufbegehren - und dunkler Magie.

Sprachlich ist dieser Roman ein Hochgenuss! Da ist einerseits die Enkelin, die in langen, einfachsten Worten durch „ihre“ Geschichte hetzt. Die unüberlegt ihre Gedanken ausspricht und sich selbst damit in der von ihr kritisierten „Art der Amen“ immer wieder enttarnt. Die nicht wie die Alte über Jahrzehnte geübte Worte bedachtsam wählt, die wahlweise die Santas oder das Haus für sie handeln lassen. Was zunächst in Ekel und Ablehnung beginnt, wendet sich dann zunehmend in ein Verständnis und einen Zusammenhalt ob der gemeinsamen Geheimnisse und Schicksale.

Ob man es möchte oder nicht: Diese Geschichte zieht trotz der derben Sprache und des grotesken Inhalts in den Bann und lässt mich mit einem schaurig-bösen Lächeln am Ende zurück. Ganz große Erzählkunst und eine große Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.05.2024
Zuckerbrot
Balli, Kaur Jaswal

Zuckerbrot


ausgezeichnet

Generationen in Singapur -„Versprich mir, dass du nicht so wirst wie ich.“ Dieser eine Satz der Mutter an ihre Tochter trägt sich durch den neuen Generationen-Roman von Balli Kaur Jaswal. Was ist in der Vergangenheit geschehen, das die Mutter so hart zu sich selbst werden lässt?

Die zehnjährige Pin lebt mit Mutter Jini und Vater in den 90er im multikulturellen Singapur. Die Punjabi-Familie lebt in einfachen Verhältnissen, Pin besucht als Stipendiatin eine christliche Elite-Schule, ist dort täglichen rassistischen und religiösen Auseinandersetzungen ausgesetzt. Zu ihrem Vater hat sie ein sehr liebevolles Verhältnis, ihrer Mutter steht sie mit gemischten Gefühlen gegenüber. Irgendetwas verschweigt diese ihr: Woher kommen ihre ständigen Ausschläge, warum ist sie der Großmutter und Tante gegenüber so ablehnend, was verbergen die Eltern vor ihr? Als dann die kranke Großmutter Nani-Ji bei der Familie einzieht, reißen alte Wunden auf, und die Familiengeheimnisse kommen ans Licht.

In zwei Zeitebenen ergründen wir Pins und Jinis Leben, die strengen religiösen und gesellschaftlichen Regeln, das Kastensystem und die patriarchalen Strukturen, die Entwicklungen und Unterschiede innerhalb der Generationen. Und das Ganze inmitten herrlichster Gerüche und Farben, kleinen Freuden und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.

Der Roman ist so farbenfroh und bunt wie das Buchcover, auch, wenn die Geschichte um Pin und ihre Familie durchaus tragisch ist. Aber die Autorin schafft es, in ihre Sätze und Gedanken immer wieder einen positiven Lichtblick, einen kleinen Zwinker einzubauen. Dazu die wunderbaren Einblicke in eine für mich eher wenig bekannte Kultur. Toll.

Kleiner Wermutstropfen: Mir persönlich waren einige Passagen zu langatmig und in sich wiederholend, so dass ich leider die ein oder andere Seite eher überflogen habe. Dafür war das Ende, die Auflösung sehr schnell. Das hätte ausgeglichener sein dürfen.