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Bewertungen

Insgesamt 61 Bewertungen
Bewertung vom 15.07.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


sehr gut

Aufwühlendes Stück Zeitgeschichte - „In Malaysia zeigen Großeltern ihre Liebe, indem sie wenig sprechen. Genauer gesagt, sie sprechen nicht über ihr Leben in den Jahren 1941 bis 1945, einer Zeit, in der die Kaiserlich Japanische Armee in Malaya (wie Malaysia vor der Unabhängigkeit genannt wurde) einmarschierte, die britischen Kolonisten aus dem Land warf und in eine duldsame Nation verwandelte, die mit sich selbst Krieg führte.“ Die einleitenden Worte der Autorin lassen sich erst vollends am Ende des Romans begreifen. Und doch hat man bereits jetzt eine Ahnung, was dieses Unaussprechliche sein könnte.

Erzählt wird in zwei Zeitebenen. 1945 lebt Cecily Alcantara mit ihrer Familie im japanisch besetzten Malaya. Ihr 15-jähriger Sohn Abel ist von einem Tag auf den anderen verschwunden, ihre Tochter Jasmin arbeitet in einem Teesalon, die 7-jährige Tochter Jujube muss sich aus Angst vor der Zwangsprostitution im Keller verstecken. Der Vater Gordon eher eine Randfigur. In Cecilys Augen ist die Situation, in der die Familie, das ganze Land steckt, einzig ihre Schuld. - 1935 lernt Cecily den charismatischen Kaufmann Bingley Chan kennen, der sich als japanischer Spion Fujiwara entpuppt. Er spannt Cecily für seine politischen Machenschaften ein.

Gerade durch die unterschiedlichen Zeitebenen und die Perspektiven von Cecily einerseits und ihren drei Kindern andererseits erhält der Roman eine ganz besondere Dynamik. Jeder Blickwinkel, jede Erzählsprache ist einzigartig. Jedes Schicksal für sich genommen ist brutal, hart, unbegreiflich. Und doch ist da auch immer dieser Schritt zurück in eine Art übergeordnete Perspektive mit Blick auf ein Land, das furchtbar unter Kolonisierung, Rassismus und Krieg gelitten hat. Und auf eine Frau, hin und her gerissen zwischen selbstbestimmtem Leben und moralischen Wertvorstellungen, deren vergangene Handlungen Auswirkungen bis in die Gegenwart haben.

Vanessa Chan hat mit ihrem Debütroman ein Stück Zeitgeschichte zum Leben erweckt, von dem ich persönlich bislang eher wenig wusste. Viel zu oft wird hier doch Geschichte und insbesondere der 2. Weltkrieg allein aus Europäischer Sicht bedient.
Die Bilder, die sie hervorruft, sind brutal und schonungslos. Ehrlich. Aber gerade aus der Sicht der drei Kinder nochmal ergreifender. Insofern ist der Roman sicherlich nicht für jeden etwas.

Bewertung vom 09.06.2024
Heiligenbilder und Heuschrecken
Martínez, Layla

Heiligenbilder und Heuschrecken


ausgezeichnet

Skurrile Rachegeschichte vom Feinsten - Wenn ihr Lust auf eine skurrile, schaurig feministische Rachegeschichte habt, dann seid ihr bei diesem Buch genau richtig! Layla Martínez’ Roman ist so grandios gut geschrieben, dass ich es garantiert ein zweites Mal lesen werde.

Heilige und Schatten, sie „leben“ gemeinsam mit der Großmutter und ihrer Enkelin in diesem Haus in ärmlichen Verhältnissen, das abseits der Gemeinschaft in einem einsamen Dorf in Spanien steht. Das Haus, das als Zuflucht dienen sollte und dann doch zur Falle für 4 Generationen von Frauen wurde. „Niemand kommt von hier weg, und die, die es doch schaffen, die kommen am Ende zurück. Dieses Haus ist ein Fluch.“ Stets beäugt von den übrigen Dorfbewohnern, die in mittelalterlichen Vorstellungen die Bewohnerinnen des Hauses für Hexen halten, was sie jedoch nicht davon abhält, sich ihrer unerklärlichen Kräfte zu bedienen. Und die Bewohnerinnen wissen sich die Macht der Santas, der Heiligen, zunutze zu machen, ebenso, wie sie auch dem Knarren, Quietschen und Tösen des Hauses und seiner Seelen Einhalt gebieten können.

Als der Sohn der reichsten Familie des Ortes verschwindet, scheint dann auch schnell klar zu sein, wer dafür verantwortlich zeichnet. Denn schon immer waren es diese Jarabos, die den Weg der Enkelin und ihrer Vorfahren säumten und ihre Macht einsetzten, um die Familie auszunutzen. Und schon immer waren es Männer, die die Frauen des Hauses drangsalierten und beherrschten.

Aus Sicht der Enkelin und „der Alten“ erfahren wir nach und nach die Geschichte des Hauses und seiner Bewohnerinnen. Es ist eine Geschichte übelster patriarchaler Strukturen, Jahrzehnte der Gewalt an und Unterdrückung von Frauen, von Machtmissbrauch und Missgunst. Und es die Geschichte von Widerstand und unbändigem Trotz, von Aufbegehren - und dunkler Magie.

Sprachlich ist dieser Roman ein Hochgenuss! Da ist einerseits die Enkelin, die in langen, einfachsten Worten durch „ihre“ Geschichte hetzt. Die unüberlegt ihre Gedanken ausspricht und sich selbst damit in der von ihr kritisierten „Art der Amen“ immer wieder enttarnt. Die nicht wie die Alte über Jahrzehnte geübte Worte bedachtsam wählt, die wahlweise die Santas oder das Haus für sie handeln lassen. Was zunächst in Ekel und Ablehnung beginnt, wendet sich dann zunehmend in ein Verständnis und einen Zusammenhalt ob der gemeinsamen Geheimnisse und Schicksale.

Ob man es möchte oder nicht: Diese Geschichte zieht trotz der derben Sprache und des grotesken Inhalts in den Bann und lässt mich mit einem schaurig-bösen Lächeln am Ende zurück. Ganz große Erzählkunst und eine große Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.05.2024
Zuckerbrot
Balli, Kaur Jaswal

Zuckerbrot


ausgezeichnet

Generationen in Singapur -„Versprich mir, dass du nicht so wirst wie ich.“ Dieser eine Satz der Mutter an ihre Tochter trägt sich durch den neuen Generationen-Roman von Balli Kaur Jaswal. Was ist in der Vergangenheit geschehen, das die Mutter so hart zu sich selbst werden lässt?

Die zehnjährige Pin lebt mit Mutter Jini und Vater in den 90er im multikulturellen Singapur. Die Punjabi-Familie lebt in einfachen Verhältnissen, Pin besucht als Stipendiatin eine christliche Elite-Schule, ist dort täglichen rassistischen und religiösen Auseinandersetzungen ausgesetzt. Zu ihrem Vater hat sie ein sehr liebevolles Verhältnis, ihrer Mutter steht sie mit gemischten Gefühlen gegenüber. Irgendetwas verschweigt diese ihr: Woher kommen ihre ständigen Ausschläge, warum ist sie der Großmutter und Tante gegenüber so ablehnend, was verbergen die Eltern vor ihr? Als dann die kranke Großmutter Nani-Ji bei der Familie einzieht, reißen alte Wunden auf, und die Familiengeheimnisse kommen ans Licht.

In zwei Zeitebenen ergründen wir Pins und Jinis Leben, die strengen religiösen und gesellschaftlichen Regeln, das Kastensystem und die patriarchalen Strukturen, die Entwicklungen und Unterschiede innerhalb der Generationen. Und das Ganze inmitten herrlichster Gerüche und Farben, kleinen Freuden und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.

Der Roman ist so farbenfroh und bunt wie das Buchcover, auch, wenn die Geschichte um Pin und ihre Familie durchaus tragisch ist. Aber die Autorin schafft es, in ihre Sätze und Gedanken immer wieder einen positiven Lichtblick, einen kleinen Zwinker einzubauen. Dazu die wunderbaren Einblicke in eine für mich eher wenig bekannte Kultur. Toll.

Kleiner Wermutstropfen: Mir persönlich waren einige Passagen zu langatmig und in sich wiederholend, so dass ich leider die ein oder andere Seite eher überflogen habe. Dafür war das Ende, die Auflösung sehr schnell. Das hätte ausgeglichener sein dürfen.

Bewertung vom 25.04.2024
Die Stimme der Kraken
Nayler, Ray

Die Stimme der Kraken


ausgezeichnet

Spannend und erschreckend realistisch - Stell dir vor, „wir entdecken, dass wir zwar die einzige Homo-Spezies sein mögen, es tatsächlich aber noch eine andere sapiens-Spezies gibt.“ Wie würden wir als Menschheit dieser Spezies begegnen? Im eigentlichen und übertragenen Sinne? Die Szenarien, die Ray Nayler in seinem Roman zum Leben erweckt, sind in jedem Falle spannend und phantastisch, wenngleich auch kritisch.
In der Zukunft sind die Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen sowie der sehr menschliche Android Evrim auf der evakuierten und streng abgeriegelten Insel Con Dao einem unglaublichen Phänomen auf der Spur. In der Tiefsee vor der Insel lebt eine Krakenpopulation, die offensichtlich in der Lage ist, bewusst zu kommunizieren. Unter der Aufsicht der Wissenschaftlerin Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan beginnen sie, die Hinweise zu entschlüsseln; unter Zeitdruck, denn von außen droht Gefahr. – Auf dem autonomen, KI-gesteuerten Frachter Sea Wolf arbeiten derweil Eiko und Son als Slaven unter unmenschlichen Bedingungen. Effizienter und günstiger als Salzwasser-anfällige Roboter müssen sie die letzten Fischbestände aus den Ozeanen holen und sind der permanenten Beobachtung durch die KI hilflos ausgesetzt. – In der Republik Astrachan erhält Rustem einen geheimnisvollen Auftrag, der sein ganzes Können verlangt. Als einer oder vielleicht der beste Hacker der Welt soll er Zugang zu einem besonderen KI-Netzwerk finden.
Zugegeben: Ich bin keine IT-Kennerin und brauchte einige Seiten, um in diesen Roman reinzukommen. All die neuen Technologien und Methoden, Alltag in diesem Roman, sind spooky –aber tatsächlich unglaublich nah an dem, was wir heute schon im Kleinen können. Und gerade das zeichnet diesen Roman aus: Nayler hat viel Recherche und Wissen in seine Story eingeflochten, was sehr realistisch anmutet. Das, verbunden mit vielen philosophischen und ethischen Ansätzen, macht dieses Buch zu einem krass guten und spannenden Roman.
„Das Großartige und das Schreckliche an der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.“
Ganz in diesem Sinne stößt der Roman viele Themen unserer Zeit an: Die rasanten technologischen Entwicklungen, politische und gesellschaftliche Umbrüche, die weiterhin andauernde massive Ausbeute des Planten. Und hier treffen dann Fragen über unsere Zukunft auf tiefgründige philosophische Betrachtungen, die auch die Protagonisten des Romans betreffen: Wie weit wird KI unser aller Leben bestimmen? Wer werden die Gewinner, wer die Verlierer in diesem System von Macht, Ausbeute, Überwachung, technologischen Entwicklungen sein?
Besonders spannend fand ich die Gegensätze von Leben und Technologie in diesem Roman: Da ist auf der einen Seite der Android Evrim, eine perfekte KI, ein nahezu humanes Wesen. Der sich gemeinsam mit Ha Gedanken über sein „Menschlichsein“ und über ein Bewusstsein macht. Und auf der anderen Seite erleben wir eine Jahrtausende alte Spezies, die in vermeintlich einfachster „Sprache“ kommuniziert. Aber sind diese Kraken wirklich so „einfach“ entwickelt, wie wir Menschen das beurteilen, oder ist es gerade unser Unvermögen zur Kommunikation, das uns sie unterschätzen lässt?
Ergreifend realistisch auch das Gefühl der Gleichgültigkeit, das zum Ende des Romans an Bedeutung gewinnt, sich aber von Anfang an durch die Story zieht. Und die sich in allem manifestiert: im Umgang miteinander, mit der Natur, mit Technologie, mit dem Planeten.
„Was unsere Anwesenheit auf diesem Planeten tut, ist töten. Alles, was wir haben – alles, was wir zum Leben nutzen -, ist jemand anderem genommen worden.“
Ein spannender Roman, der sicherlich kein ruhmreiches Bild der Menschheit zeichnet, aber auf seine Art die richtig großen, globalen Themen unserer Zeit anspricht.

Bewertung vom 02.04.2024
Marseille 1940
Wittstock, Uwe

Marseille 1940


ausgezeichnet

Wichtiger, geschichtlicher Beitrag - 1940 greift Hitler Frankreich an. Das Land, das vielen als Zuflucht vor den Nazis galt, erfährt eine furchtbare Fluchtbewegung gen Süden. Unter den Flüchtenden auch zahlreiche Personen aus Literatur, Kunst, Politik und öffentlichem Leben, die in dem Land Schutz vor Verfolgung und Vernichtung suchten. Sie alle versuchen nun, das Land über die südlichen Grenzen Richtung Spanien und Übersee zu verlassen, um ihr Leben zu retten.

In Marseille hat der Amerikaner Varian Fry als Vertreter des Emergency Rescue Committee gemeinsam mit engen Vertrauten ein geheimes Netzwerk etabliert, um möglichst vielen Menschen die Flucht aus Frankreich zu ermöglichen. Bestückt mit einer in den USA definierten Liste an „zu rettenden Kunstschaffenden“ ist es an ihm, diese ausfindig zu machen und sie in Sicherheit zu bringen. Am Ende werden es über Tausend sein, Künstler, Juden, politisch Verfolgte, Andersdenkende, alliierte Soldaten – Menschen, denen er und seine Mitstreiter unter größter Gefahr des Entdeckt-Werdens zur Flucht verhelfen.

Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Anna Seghers und ihre Familie, Lisa und Hans Fittko, Franz und Alma Werfel, Marc Chagall, Max Ernst und so viele mehr. Sie alle verdanken ihr Überleben dem riskanten Einsatz von Varian Fry und seinen Unterstützern und Weggefährten. Doch kennen die Wenigsten von uns wohl diesen Amerikaner und seine Lebensgeschichte.

Und so ist für mich dieses Buch in erster Linie ein Zeugnis von Menschenliebe, Aufrichtigkeit und Hilfe unter größten Gefahren, um in unmenschlichsten Zeiten das Leben Unzähliger zu retten. Nicht allein große Namen, sondern auch so viele andere, die Frys Hilfe in Anspruch nahmen. „Sich für einen weltberühmten Mann einzusetzen, um ihn zu schützen, ist vergleichsweise einfach. Wie viel schwieriger ist es, einen unbekannten Flüchtling zu retten.“ - Ein authentisches und ergreifendes Stück Geschichte und ein emotionaler „Nachruf“ auf einen stillen, wenig bekannten Mann, der Großes leistete, Varian Fry.

Bewertung vom 21.03.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


sehr gut

Ein spannendes Gedankenspiel: Was würdet ihr tun, wenn ihr die Möglichkeit hättet, 20 Jahre in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu reisen? Würdet ihr stumm beobachten oder eingreifen und ein Ereignis ungeschehen machen, Begegnungen und Entscheidungen beeinflussen? Nicht wissend, welche Auswirkungen dies für die Zukunft haben könnte. Dieses „was wäre, wenn“ greift Scott Alexander Howard in seinem Debütroman auf und bettet diese eher philosophischen Betrachtungen in einen Spannungsroman mit einem Hauch Fantasy.

Ein Tal eingebettet in hohe Bergketten am Ufer eines Sees. Hier leben Odile und ihre Freunde Alain, Edme, Jo und Justine. Ein ganz normales Dorf, wären da nicht die identischen Dörfer, die sich nach Osten und Westen in identischen Tälern anreihen – jeweils um 20 Jahre zeitversetzt; nach Osten in die Vergangenheit, nach Westen in die Zukunft. Alle Dörfer sind gut gesichert und bewacht voneinander abgeschirmt. Nur in Trauerfällen dürfen nach vorheriger Genehmigung durch das Conseil Angehörige die Grenzen überschreiten – versteckt hinter Masken und begleitet von Gendarmen. Odile, eine 16-jährige, stille und eher in sich gekehrte Schülerin mit Ambitionen auf einen der begehrten Ausbildungsplätze im Conseil sichtet nun eines Tages ein hinter Masken verstecktes Paar. Sie erkennt in ihnen die gealterten Eltern ihres Freundes Edme. Schlagartig begreift sie, dass diese aus dem westlichen Tal kommen, um noch einmal einen Blick auf ihren verstorbenen Sohn erhaschen zu dürfen. Für Odile ein Moment und eine Erkenntnis, die alles verändern wird.

Howards Roman lässt sich schnell und flüssig „wegschmökern“. Edmes Eltern treten bereits sehr früh in Erscheinung und so fiebert man als Leserin die ganze Zeit mit Odile und ihrem Gedankenkarussell mit. Sagt sie etwas, sagt sie nichts. Wie würde sie sich in abstrakteren Fällen verhalten? Kann sie eingreifen, ohne dass jemand etwas merkt und hätten ihre Entscheidungen auch Auswirkungen auf sie selbst und ihren weiteren Lebensverlauf? Eine spannende Idee, die Howard hier in einem Dorf irgendwo auf der Welt spielen lässt.

Für mich persönlich hat der Roman im zweiten Teil leider etwas nachgelassen. Noch immer konnte ich zwar mit Odile mitfiebern; gleichwohl hatte es hier einige Längen und die Schilderungen ihres Arbeitsalltags waren mir auf eine Art zu wiederholend und ein bisschen zu klischeebehaftet. Das konnte dann auch der gelungene Twist am Ende der Geschichte nicht ganz wett machen.

Für alle, die Coming-of-Age Romane, Dystopien und Fantasy mögen, ist dieser Roman in jedem Falle eine spannende und kurzweilige Unterhaltung, die zum Nachdenken anregt!

Bewertung vom 08.03.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Poetische, sprachgewaltige Mutter-Tochter-Geschichte Was für ein sprachgewaltiges, emotional tief berührendes Debüt Christine Vescoli uns mit diesem Mutter-Tochter-Roman geschenkt hat! Eine Liebeserklärung an die Frau, die der namenlosen Erzählerin ihr N I C H T S hinterlassen hat und die doch nach ihrem Tod so allgegenwärtig zu sein scheint.
„Was von Mutter unsichtbar war. Ich hatte es vor Augen und konnte es nicht sehen. Es ist das von Mutter unsichtbar Gemachte. Eine Lücke mitten im Leben. Der Nebel mitten im vergilbten Bild. Ein Nichts, das da ist.“
Nur wenig bleibt der Tochter nach dem Tod der Mutter. Kurze Sequenzen und kleine Fragmente, die kein Bild ergeben, im leeren Raum verharren. Aufgewachsen in Südtirol, wo die Menschen arm waren aber viele Kinder hatten. Wo Hunger gelitten wurde. Wo die Mutter bereits mit 4 Jahren von der Familie weggegeben wurde und mit 8 Jahren dann als Dirn zum Arbeiten auf einen Hof kam. Ein Hof, auf dem Härte, Kälte und Strenge herrschte. Dem konnte die Mutter nichts entgegensetzen als laute Gedichte und Lieder, herausgerufen in die Kälte. Nie kehrte sie in die Familie zurück, blieb immerzu nur ein Gast.
Die Erzählerin begibt sich auf Spurensuche, reist zurück in die Vergangenheit an die Orte der Erinnerung. Versucht, das bisschen, das ihr von der Mutter geblieben ist, zu halten und erkennbar zu machen. „Mutter, ich will sehen, was du vor mir verborgen hieltest“.
Was so entsteht sind Bilder und verschwommene Erinnerungen, wie es hätte sein können, Wege zur Wahrheit und Wirklichkeiten, die ein Nichts füllen könnten - aber eben doch nur Möglichkeiten abbilden.
Christine Vescoli hat mich mit ihrer poetischen und kraftvollen Sprache vollends in ihren Bann gezogen: dieses Nichts, das trotz des Versuchs, ihm etwas entgegenzusetzen, allgegenwärtig ist; die Sehnsucht der Tochter nach Antworten. Sprachgewaltige, schmerzvolle Sätze und Gedanken voller Zuneigung, die noch lange nachhallen. Für mich ein ganz, ganz wertvolles und großartiges Debüt! Wunderbar!

Bewertung vom 24.02.2024
Acqua alta
Autissier, Isabelle

Acqua alta


ausgezeichnet

Eindringlicher Appell -Der Klimawandel erscheint oftmals eher als abstrakte Bedrohung. Die daraus resultierenden Katastrophen, Feuer, Dürren, Hochwasser, tangieren uns da schon mehr, werden dann gelebte Realität, wenn sie vor der Haustür geschehen oder das persönliche Umfeld betreffen.

Isabelle Autissier hat solch ein Schreckensszenario sehr real und greifbar gemacht. Denn Klimakatastrophen wie Flutwellen und Hochwasser gehören auch in Europa zu realen Bedrohungen. Dieses Mal nun trifft es Venedig, die Stadt, die auch in der Vergangenheit immer wieder mit Acqua Alta zu kämpfen hatte. Eine verheerende Flut löst eine Kettenreaktion aus, der die Lagunenstadt nichts entgegenzusetzen hat. In gewaltigem Getöse geben tausende Tonnen Stein und ebenso viele Pfähle nach. Die Stadt versinkt.

Einem Rollenspiel gleich treten nun die unterschiedlichen Akteure nach vorn, die die Diskussionen tragen: die Vertreter der Wirtschaft, die Wachstum und Profit vor alles andere stellen; die Aktivisten, die sich mit zum Teil radikalen Mitteln für Umwelt und Naturschutz einsetzen; die Wissenschaftler, die vielleicht Gehör finden, aber noch immer zu wenig erreichen können; die Ignoranten, die stoisch weitermachen wie bisher ; die große, namenlose Masse all derjenigen, die der Katastrophe zum Opfer fallen.

In persona ist das die Familie Malegatti. Vater Guido ist im Stadtrat für die Wirtschaftsbelange Venedigs verantwortlich. Massentourismus ist für ihn der Garant für Macht, Erfolg und wirtschaftliches Wachstum. Seine Tochter Léa ist Umweltaktivistin und arbeitet aktiv gegen den Vater. Ausschlaggebend dafür u.a. ihr Geliebter und Professor, der sich als Wissenschaftler für eine wirtschaftliche Kehrtwende zum Erhalt der Lagunenstadt stark macht. Die Mutter Maria Alba tangiert das Getöse ihrer Familie wenig. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, die von Stellung und Ansehen, gutem Essen und glanzvollen Auftritten geprägt ist.

In Rückblenden erleben wir die Argumentationen und das Aufeinandertreffen der einzelnen Protagonisten. Die Sprache eher ruhig und sachlich, unterbrochen aber immer wieder von emotionalen Bildern, nahezu poetischen Gedanken. Als würde ich im Angesicht von Tod und Trümmern noch immer den Glanz der Stadt erkennen.

Mir gefiel dieser nüchtern erzählte Roman sehr gut, gerade weil er auf unaufdringliche Art und Weise verdeutlicht, wie bedrohlich der Klimawandel ist. Die klischeehafte Darstellung der Protagonisten hat gut dazu beigetragen, die großen Konfliktpositionen auszumachen. Für meine Begriffe allerdings hat Autissier da an manchen Stellen zu dick aufgetragen. Die minderjährige Studentin, die sich auf eine Affäre mit dem viel älteren Professor einlässt und sich erst durch ihn als Frau fühlt; der italienische Politiker, der selbstverständlich ein aufbrausender Macho ist und dem Korruption nicht ganz fremd ist; die ewig gestrige, verarmte adlige Mutter, die wie aus dem vorletzten Jahrhundert erscheint. Diese Klischees erschienen mir zu überzeichnet, fragwürdig und überholt und wären für die Eindringlichkeit des Themas nicht nötig gewesen.

Dennoch ein eindringlicher Roman, der viele Fragen aufwirft und einmal mehr die Diskrepanz der Kehrtwende in der Klimapolitik verdeutlicht.

Bewertung vom 19.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


ausgezeichnet

Starkes und bewegendes Debüt -Julja Linhofs Debütroman hat mich vom ersten Satz an inhaltlich wie erzählerisch gefesselt und so viele Bilder und Emotionen geweckt, dass ich am Ende das Bedürfnis hatte, direkt nochmal von vorn zu beginnen.

Es ist ein trockenheißer Sommer. Der 19-jährige Georg „Jirka“ kehrt nach 5 Jahren Abwesenheit auf den heruntergekommenen Elternhof zurück. Dort trifft er auf eine Mauer aus Ablehnung und Unbehaglichkeit: Seine ältere Schwester Malena zeigt ihm die kalte Schulter, hat er sie doch zu lange mit dem gewalttätigen und lieblosen Vater allein gelassen. Die Großmutter Agnes hatte einst als „Ersatz“ für die zu früh verstorbene Mutter gedient, lieblos und mit Strenge, jetzt dement und nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Der Vater selbst lässt sich nicht blicken. In dieser beklemmenden und ablehnenden Atmosphäre begegnet einzig Leander, der Sohn des verstorbenen Verwalters, Jirka offen und wohlwollend. Aber genau diese Offenheit setzt Jirka erst recht zu, löst sie doch in tief sitzende Verdrängungen und verborgene Gefühle aus.

Nach und nach eröffnet sich der Leserin das Ausmaß der Verletzungen und Traumata, die die jungen Erwachsenen in ihrer Kindheit erleiden mussten. Und die Leere, Einsamkeit und Lieblosigkeit, die sich offenbart, wird greifbar, ebenso wie die Hoffnung auf Zuneigung und einem Halt im Leben.

„Da ist das Internat, der Ort, an dem mein Inneres wieder zusammengewachsen ist. Krumm, und mittendrin ein riesiger Spalt. Aber lebensfähig. Und da ist der Hof, der zu mir gehört wie meine Gliedmaßen, den ich nicht wegdenken kann, den ich meide und der mir trotzdem fehlt wie sonst nichts in meinem Leben.“

Julja Linhof beschreibt diese Szenerie in einer Dichte und erhitzten Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Die Schwüle des Sommers dringt in jede Ecke des alten Hofes ein und macht auch vor seinen Bewohnern nicht halt. Vorwürfe, die sich entladen, Erinnerungen, die Jirka einholen, Spannungen, die in der Luft liegen, aber auch zaghafte und heilende Annäherungen. Großartig, wie die Autorin die Gefühlswelt der drei jungen Menschen mit der melancholischen, drückenden Umgebung verwebt und diese Schwere in ihre Erzählsprache übersetzt.

Mir hat dieser Roman wahnsinnig gut gefallen und ich bin mir sicher, dass er uns noch lange begleiten wird. Und ich hoffe sehr, dass wir zukünftig noch viel mehr von Julja Linhof lesen dürfen.

Bewertung vom 19.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Jäger und Beute -Dieser Roman ist der Wahnsinn! Im wahrsten Sinne des Wortes! Sicherlich nichts für schwache Nerven aber einmal angefangen taucht man erst auf Seite 253 nach Atem schnappend wieder auf!

Es geht um die Großwildjagd in Afrika. Das allein schon ist ein aufgeheiztes Thema, das in all seinen moralischen, wirtschaftlichen und kulturellen Facetten starke Kontroverse hervorruft. Ganz zu schweigen vom Artenschutz und der vom Kolonialismus geprägten Historie.

Das Ziel eines Großwildjägers: die Big Five. Aber wie wäre es, wenn man dem noch die Krone aufsetzen könnte? Eine sechste Art hinzukäme?

Hunter White – der Name ist Programm! – ist so ein Jäger. Steinreich. Ein Wohltäter Afrikas. Die Spitze der Nahrungskette. Tötet allein der Jagd wegen. Die Trophäe eher etwas für die Ehefrau daheim. Er kommt nach Afrika, um seine Big Five endlich vollzumachen. Frustriert, weil dies in letzter Sekunde vereitelt wird, erfährt er so das erste Mal von den Big Six. Aufgepumpt mit Adrenalin, Jagdfieber und den besten moralischen Absichten beginnt sein Kopf zu arbeiten…

Gaea Schoeters Roman ist genauso gegensätzlich wie seine Thematik. Die Bildsprache gewaltig und faszinierend, einen kleinen Landstrich Afrikas beschreibend, der so vielfältig ist, dass es einem die Sprache verschlägt. Du spürst die Hitze, hörst die unzähligen, fremdartigen Geräusche, nimmst eine vollkommen andere Landschaft vor deinem geistigen Auge wahr. Erhälst faszinierende Einblicke in Kultur und Bräuche längst durch den Kolonialismus und die Folgen der „weißen“ Zivilisation zurückgedrängten Stämme und Völker. – Und bist gleichzeitig den Gedankengängen eines weißen, „zivilisierten“ Mannes ausgesetzt, dem der Jagdinstinkt und die Überlegenheit quasi in die Wiege gelegt wurden. Der mit manch verstörenden, schockierenden Thesen aufwartet, dann wieder eher versöhnliche Töne anschlägt. Der in jedem Falle polarisiert und doch auch immer wieder Argumente aufführt, die durchaus populär sind und im Pro und Contra der Großwildjagd und des Artenschutzes ebenso wie im Kontext des Kolonialismus und dessen Folgen für den gesamten Kontinent zum Tragen kommen.

Gaea Schoeters Darstellung ist in vielerlei Hinsicht ein Maximum, eine Gratwanderung, die bis an ihre Grenzen geht. Aber eben auch nur bis an Grenze und nie drüber. Sich der Klischees und überspitzten Charaktereigenschaften eher als stilistisches Mittel bedient. Das war für mich persönlich krass gut und zutiefst aufwühlend.