Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
miss_atticos

Bewertungen

Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 07.10.2021
Was man bei Licht nicht sehen kann / Vergissmeinnicht Bd.1
Gier, Kerstin

Was man bei Licht nicht sehen kann / Vergissmeinnicht Bd.1


gut

Es ist kompliziert - schade. Nach einigen Tagen Abstand hat sich meine Meinung nicht geändert. Meine hohen Erwartungen wurden nur bedingt erfüllt.

Der Einstieg in die Geschichte ist gewöhnlich. Das Rad wurde hier nicht neu erfunden, was erstmal nicht schlecht sein muss. Ich fühlte mich direkt abgeholt und es gefiel mir, dass es sofort spannend los ging.

Der coole Quinn ist nach einer wilden Verfolgungsjagd und einem Unfall größtenteils auf einen Rollstuhl angewiesen. Eines der unbeliebten Nachbarskinder - Matilda Grübchenface (seit Jahren heimlich in ihn verliebt) - kümmert sich um ihn und erklärt ihn nicht wie viele andere für verrückt. Nach und nach lernt er die magische Welt kennen, in die er hineingeboren wurde und verliebt sich in Matilda, die er früher nie leiden konnte. Dieser plötzliche Sinneswandel wirkt nicht authentisch genug, ist zu überstürzt und löste bei mir kaum bis gar keine Begeisterungsstürme aus. Die Liebesgeschichte nimmt einen hohen Stellenwert ein. Die fantastischen Elemente und Figuren kommen zu kurz. Mit dem, was das Cover und die Gestaltung des Buches versprechen und nach außen tragen, kann der Inhalt nicht ganz mithalten. Nach dem gekonnten Spannungsanstieg vor dem Unfall hat man mit viel mehr zum Ende hin gerechnet. Starker Anfang, schwaches Ende. Insgesamt ein solider Reihenauftakt. Für mich kommt es an die Edelstein-Trilogie nicht heran.

Bewertung vom 22.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


sehr gut

Martin ist der einzige Überlebende seiner Familie. Aus der Not heraus handeln Menschen in dieser grausamen und düsteren Zeit, unkontrolliert und unvorhersehbar. Krieg und Hungersnöte verändern die Seelen der Menschen. Er schließt sich dem Maler an und muss schnell lernen, alleine zurecht zu kommen und dass er dem Maler vielleicht auch nicht einfach sorglos vertrauen darf. Martin ist anders als alle anderen und anderen weit voraus.

Was es mit dem schwarzen Hahn genau auf sich hat, liegt im Verborgenen. Einfältige Menschen fürchten das Tier, scheuen es wie Krankheiten und den Teufel. Für Martin ist der Hahn Gefährte und Wegbereiter.

Der Duktus ist eigenartig und anfangs sperrig. Kurze Sätze führen zwar zu einem bestimmten Lesefluss, gleichzeitig vermitteln diese jedoch auch das Gefühl, selbst viel zwischen den Zeilen lesen zu müssen. Die Geschichte selbst könnte man vermutlich relativ schnell in ein Theaterstück/Drehbuch umschreiben. Eindrückliche Szenen, die viele Fragen aufwerfen. Beim Lesen wanderte ich die Bühne auf und ab, manchmal schaute ich auch nur vom Rand aus zu. Bei genauerer Betrachtung steckt so viel darin, was das bloße Auge im ersten Moment gar nicht fassen kann.

Martin mit seinem schwarzen Hahn lässt mich sofort an eine andere starke Figur denken - an Hans aus dem Kinderbuch „Der lange Hans oder Die heimliche Flucht“. Ebenso wie Hans’ Geschichte wird auch Martin‘s Geschichte Jahre später noch nachhallen.

Lesenswert, ein kleiner Bücherschatz. Obwohl ich mittig meine Probleme damit hatte, wurde ich am Ende belohnt. Das Böse muss dem Guten weichen. Die Dunkelheit verschwindet. Martin lässt Licht in jede dunkle Ecke und überall ist jetzt Wärme und Zuversicht.

Bewertung vom 11.09.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


gut

Kunstvolle Kornkreise überziehen Südengland im Jahr 1989. Calvert und Redbone ziehen von Feld zu Feld und übertreffen sich jedes Mal wieder selbst. Ob ihnen am Ende der perfekte Kornkreis gelingt?

Das Cover und die Leseprobe haben mich neugierig gemacht. Sofort aufgefallen ist mir der poetische und romantische Blick auf Mutter Natur. Myers versteht es, Landschaften wahrzunehmen, zu fühlen und zu beschreiben. Ich bin gerne hineingetaucht in seine Sätze und Metaphern. Selten war ich der Natur näher als hier.

„Als eine große Wolke vorbeizieht, wird das Licht flüssig, als würde geschmolzenes Metall über das Land gegossen. Hoch über den Männern kreisen und lodern und brennen Planeten, und unter dem imaginären Zwergmond des ruhigen silbernen Getreides huschen kleine Säugetiere durch das subterrane Reich.“

Trotz dieser wundervollen und magischen Landschaftsbeschreibungen hat mir gefehlt, dass es mich komplett fesselt und in seinen Bann gezogen hat. Calvert und Redbone ließen mich relativ kalt. Von ihnen erfährt man nicht wahnsinnig viel. Vieles davon wird nur angedeutet und scheint fehl am Platz zu sein zwischen den Kunstwerken, die sie nachts schaffen. Ich hätte mir mehr Calvert und Redbone gewünscht, etwas mehr davon, warum sie Kornkreise entwerfen, mehr Konflikt- und Spannungselemente, die meiner Meinung nach nur ansatzweise vorhanden waren. Das Warum erschloss sich mir nicht. Zu den besonderen Momenten mitten in der Natur sind die beiden Männer der unnahbare und derbe Part der Geschichte. Ich wurde nicht schlau aus ihnen. Für mich gab es keine fließenden Übergänge zwischen den heimlichen Unternehmungen und ihren kargen Dialogen. Es fühlte sich einiges nicht ganz stimmig an. „Der perfekte Kreis“ wird seine Leser*innen finden. Mich konnte diese Geschichte nur bedingt überzeugen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2021
Die Leuchtturmwärter
Stonex, Emma

Die Leuchtturmwärter


sehr gut

Emma Stonex greift in ihrem Roman die wahre Geschichte der verschwundenen Leuchtturmwärter von 1900 auf. Bis heute ist ungeklärt, was mit den drei Männern geschah.

In der Silvesternacht 1972 bemerkt man das Verschwinden von Arthur, Vince und Bill. Der Leuchtturm ist verschlossen, die Uhren sind stehen geblieben und der Tisch ist gedeckt. Von den Männern fehlt jede Spur. Im Logbuch ist die Rede von einem schweren Sturm, den es anscheinend gar nicht gab. Was geschah im Vorfeld?

Die Geschichte besteht hauptsächlich aus zwei Handlungssträngen, welche in den Jahren 1972 und 1992 spielen. Im Jahr 1972 taucht man komplett in die Gedankenwelt der Leuchtturmwärter ein. Zwanzig Jahre später begleiten wir ihre Frauen. Arthurs Frau Helen sucht Kontakt zu Jenny - Bill‘s Frau. Jenny ist von einem Kontakt extrem abgeneigt, sie verspürt weder Verbundenheit noch Freundschaft noch sonst irgendein positives Gefühl für Helen. Michelle trauert immer noch um Vince. Sie hat sich in ein neues Familienleben gestürzt. Die verschiedenen Perspektiven fügen sich sehr gut aneinander. Der Autorin gelingen die Sprünge in den Zeitebenen und zwischen den Personen spielend leicht. Die Figuren bestechen durch ihre individuellen Charaktere. Die Geschichte wird ergänzt um Zeitungsartikel, Befragungen und Gespräche mit Dan Sharp, der die Geschehnisse in einem Roman festhalten möchte.

Emma Stonex hat mich mit der Vielschichtigkeit und dem Stimmungsbild begeistert. Das Meer ist allgegenwärtig. Nach kurzer Zeit ist man mittendrin und durchlebt ein Gefühl nach dem anderen. Die Spannung wird unter die Wasseroberfläche gedrückt - eine versteckte Spannung. Die Spannung weicht der Verwirrung. Die Männer sind nicht mehr sie selbst. Die Zeit auf den Maiden Rock verändert sie und hinterlässt Spuren und wühlt längst Vergangenes wieder auf und bohrt tief. „Die Leuchtturmwärter“ ist eine düstere und unberechenbare Geschichte mit mystischen Elementen und einem ungeklärten Ende. Mit dem Wissen, dass der Roman auf einer wahren Begebenheit beruht, liest es sich noch einmal ganz anders. Einziger Minuspunkt ist diese totale Verwirrtheit, die mich hier und da heimgesucht hat und der Handlung nicht gut getan hat. Die Spannung musste hier leider weichen.

Anfangs hatte ich ein festes Bild jeder Figur, welches sich im Laufe der weiteren Erzählungen, Berichte und tiefen Einblicke in die Gedankenwelt grundlegend geändert hat. Insgesamt hat mich Emma Stonex wirklich überrascht. Ich hatte nie damit gerechnet, was man aus dieser Geschichte herausholen kann. Inhaltlich wie sprachlich sehr gelungen und empfehlenswert!

Bewertung vom 17.08.2021
Wildtriebe
Mank, Ute

Wildtriebe


sehr gut

Der Bethches-Hof ist Lisbeth‘s Ein und Alles, er ist ihr Dreh- und Angelpunkt, ihr ganzer Lebensinhalt. Als ihr Marlies als Schwiegertochter vorgesetzt wird, geraten ihre Werte und Strukturen ins Wanken. Nur Joanna, Marlies‘ Tochter, könnte daran etwas ändern und die beiden Frauen einen. Bevor es dazu jedoch kommt, hat Joanna bereits eigene Pläne geschmiedet.

Der Roman lebt von der fehlenden Kommunikation, von Fehlinterpretationen, von Missfallen und von Vorwürfen. Es treffen starke und eigenwillige Frauen aufeinander, die ihre Werte und Wünsche durchsetzen wollen. Lisbeth und Marlies werden auch noch von den Erwartungen der Dorfgemeinschaft unter Druck gesetzt. Marlies versucht dem Ganzen hier und da zu entkommen, indem sie stille Kämpfe mit Lisbeth austrägt und sich auf Alleingänge begibt. Sie arbeitet Teilzeit, macht den Jagdschein und sorgt somit für Empörung. Die Männer auf dem Hof sind blass gezeichnet, befinden sich im Hintergrund und agieren kaum. Sie konzentrieren sich überwiegend auf die landwirtschaftliche Arbeit. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Machtkämpfen zwischen Schwiegermutter und Schwiegertocher und später auf der Enkelin Joanna.

Die Sprache ist nüchtern und unaufgeregt, wodurch zwar Gefühle und Verhaltensweisen der Figuren nachvollziehbar und authentisch dargestellt werden, jedoch es an Tiefe und Emotionalität mangelt und man keine der Personen richtig lieb gewinnt. Im letztem Drittel verliert Marlies an Biss. Unsicherheiten lassen sie nicht wie eine erwachsene und bodenständige Frau wirken. Der außergewöhnliche Schreibstil kann als Stilmittel für das einfache Landleben, geprägt von Verzicht und Aufopferung, gewertet werden. Ute Mank weiß wovon sie schreibt. Als hätte sie vieles davon selbst erlebt. Die Autorin ist vor 30 Jahren aufs Land gezogen und ist immer noch die aus der Stadt, die Zugezogene. Ihr Roman fesselt, überzeugt und ist sehr authentisch. Die Szenerien des Landlebens in ihrer ehrlichsten und irrwitzigsten Form - manchmal auch zum Schmunzeln. Tradition trifft auf Umbruch und Moderne. Lesenswert und vor allem für all diejenigen, die vom Landleben nie genug bekommen können.

Bewertung vom 03.08.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


sehr gut

Pierre, Nils und Benjamin haben ihre Kindheit in einem Holzhaus am See verbracht, umgeben von Birken. Die Kindheit wirkt anfangs unbeschwert und leicht. In späteren Rückblicken erfahren wir Stück für Stück vom Familienleben. Es entwickelt sich eine gefährliche und düstere Atmosphäre. Zwanzig Jahre später treffen die drei Brüder wieder aufeinander. Ihre Mutter ist gestorben und ihr letzter Wunsch ist, ihren Frieden am See zu finden.

Schweden wie man es sich vorstellt. Stille am See, Licht bricht durch die Birkenblätter. Leises Rascheln. Die Holzbretter am Haus knarzen. Sanfte Wellen, die aufs Ufer treffen. Tobende Kinder. Ausgelassen. Die Eltern sitzen am See und schauen den Jungs beim spielen zu. Sie trinken, ein Glas hier, ein Glas da. Ein Glas zuviel und sie lassen die Kinder Kinder sein. Die Stimmung kippt in den seltsamsten Situationen. Unberechenbar. Nach und nach rollt eine ungemütliche Walze auf die Familie zu. Sie ist nicht zu bremsen und nimmt Formen an, die man kaum aushält. Mir war schon lange nicht mehr so schlecht. Trotz dieser emotionalen Grausamkeiten liest man das Buch weg wie nichts. Man fühlt sich schutzlos und ausgeliefert. Nils flüchtet nach seinem Abi. Benjamin versteht die Welt nicht mehr. Sein großer Bruder hat sich nicht verabschiedet und mit Pierre versteht er sich komischerweise zuhause. In der Schule gehen sie jedoch aneinander vorbei als würden sie sich nicht kennen.

Alex Schulman hat einen so interessanten Roman geschrieben, der sämtliche Überraschungen bereit hält. Ich war schon lange nicht mehr so traurig und ergriffen. Die Vergangenheit hat es in sich. Die Gegenwart ist hier die Schwäche des Romans. Die Figuren bleiben hier blass und das hat mich gestört. An einigen kleinen Stellen ist die Handlung wie stehen geblieben. Es ging nicht vor und nicht zurück. Im Vorwort erfährt man, was den Autor bewogen hat, ein Buch zu schreiben. Das hat bei mir dazu geführt, mich immer wieder zu fragen wie viele reale Situationen darin verarbeitet wurden. Die Sprache und die Beschreibungen machten es leicht, gedanklich nach Schweden zu reisen. Insgesamt ein lesenswerter, harter und aufwühlender Roman.

Bewertung vom 23.07.2021
Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben
Hirschhausen, Eckart von

Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben


ausgezeichnet

Eckart von Hirschhausen holt in „Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben“ zum Rundumschlag aus. Gründe gibt es zur Genüge: Erderwärmung, Feuer, Dürren, Überflutungen… Mit Fakten, Wissen und Humor erzählt er, dass es für eine gesunde Erde gesunde Menschen braucht. In zwölf Kapiteln geht es zum Beispiel um das Leben und das Sterben, um Ernährung, Verbrauch, Nachhaltigkeit, um so vieles, von dem ich persönlich keinen blassen Schimmer hatte. Mutter Erde liegt auf der Intensivstation und die Menschheit juckt das gefühlt ziemlich wenig.

Er ist schonungslos ehrlich, auch zu sich selbst. Seit ein paar Jahren setzt er sich intensiv mit dem Thema Klimaschutz auseinander. Auslöser war die Begegnung mit der Schimpansenforscherin Jane Goodall.

„Wie kann es sein, dass die intellektuellste Kreatur, die jemals auf diesem Planeten gewandelt ist, dabei ist, ihr eigenes Zuhause zu zerstören?“

Er prangert niemanden an bzw. ich fühlte mich nie angeprangert. Vielmehr wird man motiviert, sein Bewusstsein zu schärfen, Anpassungen und Änderungen vorzunehmen, um möglichst unsere Welt zu retten und ihre Schönheit und Vielfalt zu bewahren. Er gibt so viele neue Denkanstöße, dass es immer noch nachhallt. Klimaschutz bedeutet auch Aufklärungsarbeit, alte Muster zu hinterfragen und neue Wege zu gehen. Zwischen ständigem Kopfnicken und Kopfschütteln wurde mir mit jeder Seite bewusster, dass sich die Menschheit selbst zerstört, wenn nicht endlich irgendwas getan wird. Bereits vor rund 40 Jahren warnten Wissenschaftler vor Klimakatastrophen. Jede*r kann jetzt für sich überlegen, was bereits getan wurde und wo noch dringend Handlungsbedarf besteht.

Eckart von Hirschhausen weiß wie man Leser*innen unterhält. Sein Buch ist kein trockenes Sachbuch. Es blitzt wie gewohnt sein Humor auf. Zwischendrin finden sich Interviews, persönliche Geschichten und interessante Grafiken. Besonders beeindruckt hat mich neben seiner Begegnung mit Jane Goodall, diese schier unendliche Wissensfülle. Am Ende gab es zum Glück noch die Pinguingeschichte 2.0, die ich schon in „Glück kommt selten allein“ so gefeiert habe! Insgesamt eine traurige, schmerzhafte und gleichzeitig bereichernde und humorvolle Leseerfahrung. Es ist Zeit zu handeln. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

Bewertung vom 09.07.2021
Es war einmal in Hollywood
Tarantino, Quentin

Es war einmal in Hollywood


sehr gut

Hollywood 1969 in all seinen Facetten - Rick Dalton, sein Stuntdouble Cliff Booth und die Hippiekommune rund um Charles Manson. Glanzlichter, Staub und Pöbel. Serpentinen führen die Hügel hinauf zu den Villen. Quietschende Reifen. Spot an. Wow! Was passiert hier?

Tarantino hat sich noch einmal selbst übertroffen oder vielleicht auch nicht? Rick ist ein Durchschnittsschauspieler, der gerne trinkt und dessen Glanzzeiten längst vorbei sind. Ein sehenswerter und lesenswerter Typ. Durchgeknallt und selbstverliebt. Diagnose: bipolare Störung. Er bekommt neue Nachbarn. Es sind Polanski und seine Frau Sharon Tate. Stuntman Cliff Booth tötet gerne und Charles Manson schart vor allem junge, sehr junge Frauen um sich. Der Rattenfänger schlechthin. Alle sind ihm hörig. Was im gleichnamigen Film nur bedingt oder gar nicht zu sehen ist, greift Tarantino überraschenderweise im Buch auf. Film und Buch ergeben ein großes Ganzes und ergänzen sich perfekt.

Normalerweise lese ich erst das Buch und schaue mir dann den Film an. Hier war es gezwungenermaßen andersrum. Das Buch habe ich trotzdem genossen und größtenteils verschlungen. Parallelen gab es: das ausführliche und anstrengende Gespräch zwischen Rick Dalton und seinem Agenten Marvin Schwarz und seine Drehtage am Set von Lancer. Überzeugt und geglänzt hat am Set vor allem eine Person und das war die achtjährige Trudi Frazer, die Dalton in den Wahnsinn treibt. Neunmalklug, frech und provozierend stiehlt sie ihm die Show. Cliff dagegen fährt durch die Gegend und lotet seine Chancen bei jungen Hippiedamen aus und lässt seinen Fantasien gedanklich freien Lauf. Zeitgleich wütet Charles Manson in Hollywood. Nicht einmal schlafende Ehepaare sind vor ihm und seiner Bande sicher.

Man bekommt hier keineswegs eine reine Nacherzählung des Films, sondern vielmehr eine Erweiterung. Wer ist Cliff Booth wirklich? Was hat er alles erlebt? Auch Sharon Tate ist man zwischen den Seiten näher als auf der Leinwand. Die vielen Namen der Hollywoodsternchen (James Stacy, Steve McQueen, Connie Stevens und viele andere), der Serien und Filme von damals können lesend besser aufgenommen und wahrgenommen werden.

Gegen Nachschub in Form von Hateful Eight oder Inglorious Bastards hätte ich nichts einzuwenden. Tarantino überzeugt durch das Derbe, Perverse und seinen unverkennbaren Humor. Überraschungsmomente und Wow-Effekte inklusive.

Bewertung vom 30.06.2021
Heldinnen werden wir dennoch sein
Wünsche, Christiane

Heldinnen werden wir dennoch sein


sehr gut

Ellie, Susi, Marie, Ute und Helma sind seit ihrer Jugend befreundet. Als Frankie, ein Freund aus vergangenen Tagen, sich das Leben nimmt, holt sie die Vergangenheit wieder ein. Die Jugendjahre waren Freund und Feind zugleich. Auf der Suche nach sich selbst, der einzig wahren Liebe und neuen Perspektiven haben sie vergessen, was Freundschaft ausmacht. Frankie hingegen hat jede der Freundinnen mindestens einmal gerettet und ihnen Halt gegeben. Die Kapitel erzählen abwechselnd aus der Gegenwart und Vergangenheit, zwischendrin finden sich ehrliche und abrechnende Einschübe von Frankie. Was hat ihn dazu gebracht, den Kontakt zu seinen Freundinnen abzubrechen? Warum hat er nur noch Kontakt zu Marie gehalten?

Der anfängliche Wohlfühlroman entwickelt sich zu einem ungemütlicheren Roman, der Schwächen und Fehler sowie Erlebnisse in der Jugend und verschiedene Schicksalsschläge Revue passieren lässt. Christiane Wünsche schafft authentische und lebhafte Figuren sympathischer und unsympathischer Natur. Neben dem Thema Freundschaft, was sie ausmacht und was sie eben überhaupt nicht ausmacht, werden auch andere Themen wie Diskriminierung, Homophobie und Rassismus aufgegriffen. Einige wenige Dialoge fielen durch eine gestelzte Ausdrucksweise auf und das Ende war für meinen Geschmack zu detailliert geschildert. Enden, die weniger ins Detail gehen und mehr Raum für die eigene Fantasie lassen, gefallen mir deutlich besser. Mein Lesevergnügen wurde jedoch nicht ausgebremst. Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen.

Bewertung vom 21.06.2021
Ich will dir nah sein
Nisi, Sarah

Ich will dir nah sein


sehr gut

Lester ist ein Stalker durch und durch. Da scheint der Job im Fundbüro genau das Richtige für ihn zu sein. Verlorene Schlüssel, Handtaschen und allerlei Dinge befühlt und bewertet er. Ganz besondere Stücke nimmt er mit nach Hause. Als eine neue Nachbarin nebenan einzieht, holt ihn die Vergangenheit und seine Geschichte mit Shannon ein. Sie telefoniert im Gegensatz zu seinem verstorbenen Nachbarn. Gut, dass sein Bad in die Wohnung von Erin hineinreicht und die Wände dünn und hellhörig sind. Wird er seine Begierde und seine Wut im Griff behalten können?

Lester ist nicht nur ein Sonderling, sondern ein absoluter Widerling. Die ersten achtzig Seiten brauchte ich, um in die Geschichte zu finden. Die kurzen Kapitel und die wechselnden Perspektiven ließen mich noch ratlos und mit viel Ekel zurück bis sich alles langsam und unaufhörlich Stück für Stück zusammengesetzt hat. Ekel, Beklemmung und Machtlosigkeit gehen fließend ineinander über. Lester ist ein unangenehmer, unkontrollierbarer Kerl. Er hat kein eigenes Leben. Sein Leben besteht vielmehr darin, alles über Erin zu erfahren: was isst und trinkt sie gerne, wo arbeitet sie, wie war ihre Kindheit, was trägt sie gerne, hat sie Familie. Eine andere Art von Thriller wie ich sie üblicherweise kenne. Es geht vorrangig um das Opfer und den Täter, um dessen Ambitionen, Erin sehr nah zu sein. Nach dem ersten Drittel konnte ich dieses Buch auch so gut wie gar nicht mehr aus der Hand legen. Stück für Stück wird die Vergangenheit offengelegt. Wie im Rausch bin ich irgendwann ans Ende gelangt, an dem sich die ganze Situation zuspitzt. Dieses ist so spannungsgeladen und nervenaufreibend und kommt geballt. Begeisterte und weniger begeisterte Rezensionen kann ich gleichermaßen nachvollziehen. Über gut zwei Drittel des Buches überwog einfach der Ekel, so treffend beschreibt Sarah Nisi Lester Sharp.