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booktower
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Rodgau

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Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 10.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Die Geschichte beginnt in Kamerun – einem Kamerun, das von Deutschen besetzt und regiert wird. Das eine der vielen Kolonien Afrikas war, die von westeuropäischen Mächten vereinnahmt wurden. Solche Besetzungen wurden immer mit dem Euphemismus „Schutzherrschaft“ benannt, „protectorate“ unter englischen Eindringlingen, „protectorat“ von Franzosen. Ausbeutung, Gesetzlosigkeit, Unterdrückung, Schändung von unschuldigen Leben, Vergewaltigung von afrikanischen Frauen, Brandmale auf Handrücken zu Tausenden waren die Folgen. Die Verbindungen zur Gegenwart sind noch sehr präsent. All das und noch viel mehr lesen wir, als das Leben von Issa sich vor uns entfaltet. Wir lernen Issas Leben in ihrer Familie in Kamerun und Deutschland kennen. Bis zur letzten Seite fesselt uns diese Geschichte so sehr, dass man immer weiter lesen möchte. Dieses Leben entfaltet sich in Rückblicken. Sie beginnen 1903.
Issa fliegt aus Deutschland nach Douala. Während des Fluges erinnert sie sich an ihre Mutter, als diese ihren Vater begraben ließ und diese Erinnerungen lassen uns die komplizierten Strukturen der afrikanischen Gebräuche erahnen. Das Cover zeigt eine moderne afrikanische Frau die uns mutig entgegen blickt. Der Schreibstil erinnert an die poetische und bildreiche Sprache, die alle Geschichten und Romane aus afrikanischer „Feder“ prägt und das Leseerlebnis verstärkt und bereichert. Eine Legende aus der Welt der Elefanten, die eine Brücke zu den Menschen schlägt, wird uns erzählt und befeuert unsere Vorstellungskraft. In der Folge lesen wir weitere Geschichten, die uns die Welt des traditionellen Kameruns näher bringt. Die wichtigste Person ist Issa, ihre Reise dient nicht nur der Selbstfindung sondern auch der Vorbereitung auf die Geburt und darauf, dass diese leicht für sie wird und sie ein gesundes Kind zur Welt bringen kann. Sie wird in Rituale eintauchen, die ihr weiteres Leben, ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und deren Vorfahrinnen sowie das Leben des Ungeborenen für immer zum Guten beeinflussen wird. Von 1903 bis in die Gegenwart lesen wir eine Geschichte von Familien – in Kamerun und Deutschland. Dieses Buch ist eine Schatzkiste - angefüllt mit Begebenheiten, die in dieser Zeitspanne geschehen sind. Die unzählige Leben beinhalten, auch die von denen wir nicht lesen, die uns aber betreffen, je tiefer wir in diese Geschichte eindringen. Wir lesen von Geschehnissen, die so wie hier noch nicht erzählt wurden. Wir erkennen, wie das äußere Leben das Innere von Menschen berühren, beeinflussen und bedrängen konnte, ohne dass diese Menschen es sich gewünscht hätten oder voraussehen konnten, was mit ihnen geschehen wird. Diese Ereignisse sind unvergessen und reichen bis in unsere Gegenwart. Der erste Weltkrieg 1914 – 1918, auch „Der große Krieg“, „The Great War“ genannt, beeinflusst die damalige Kolonie Kamerun zutiefst. Zu lesen, welches unermessliche Leid er über unschuldige Menschen bringt und in die Familiengeschichte Issas eingreift, ist bestürzend. Das Vorsatzpapier des Buches zeigt eine sehr anschauliche Karte, die alle Schauplätze erfasst und die Nachbarländer Kameruns – Nigeria, Tschad und die Zentralafrikanische Republik – mit einbezieht. Nicht nur spannende Unterhaltung in höchstem Maß, sondern auch die Themen Weltgeschichte, Diskriminierung, Verständnis zwischen Völkern, Sozialgeschichte – letztere auch deren Versäumnisse an den Menschen - wird hier dargestellt. Ich wünsche diesem Buch weite Verbreitung und Übersetzungen.

Bewertung vom 03.03.2024
Annas Lied
Koppel, Benjamin

Annas Lied


ausgezeichnet

Wer diese Geschichte zu lesen beginnt ist innerhalb von wenigen Seiten eingesponnen in diese lebendige jüdische Familie in Kopenhagen. Wir sind im Jahr 1929 und erleben die Wohnungsnot in Kopenhagen und wie Familien sich helfen, in einer kleinen beengten Wohnung noch eine Familie, die bald ein Baby erwartet, aufzunehmen. Diese Juden empfinden sich als Dänen, nachdem sie schon über zwanzig Jahre in Dänemark leben, sprechen aber teilweise jiddisch. Neue Verwandte werden in der beengten Wohnung der sechsköpfigen Familie aufgenommen. Darum zieht Hannah zu ihren Eltern ins Schlafzimmer.
Ihr Vater Jitzhak, ein begabter Schneider, fährt mit seinem Fahrrad Waren aus. Wir erleben, wie er in einer Versammlung, die gegen Juden wettert, halt macht um zuzuhören und angegriffen wird. Ein Polizist rettet ihn und warnt ihn, sich in solche Situationen zu begeben. »Tja, es war jedenfalls nicht sonderlich klug von Ihnen, sich unter diese Versammlung von Bauerntrampeln und Aasgeiern zu mischen«, erklärt der Polizist und wies mit dem Kopf in die Richtung, in der die Männer verschwunden waren. Damit ist die Atmosphäre schon klar, die in diesem Roman die Trope ist: Judenfeindlichkeit.
Wir begleiten die Geschichte dieser Familie durch sieben immer turbulente Jahrzehnte.
Wir werden Zeuge jüdischen Lebens, wie es damals geschah. Die Eheleute Bruche und Jitzhak. Ihre drei Jungen und Hannah. Konflikte sind vorprogrammiert – die Jungen wollen Däninnen heiraten und keine Jüdinnen – ein Sakrileg für orthodoxe Juden. Die alte Schule besagte, „dass man natürlich die Befehle der Thora, des Talmuds und der eigenen Eltern zu befolgen hatte…“ Für die Mutter Bruche eine Katastrophe, wenn dies nicht beachtet wird, für den Vater Jitzhak auch, aber er ist der stillere Teil dieser Ehe, während wir von Bruche Temperamentsausbrüche erleben, die ihresgleichen suchen. Die Brüder aber können sich immer durchsetzen, nur Hannah muss sich anpassen – ihr bleibt eine arrangierte Ehe mit einem französischen Juden, Francois, nicht erspart. Aber vorher darf sie ihre große Liebe mit Aksel heimlich erleben – eine Liebe die sie ihr ganzes Leben lang begleiten wird – ein großes Geschenk in ihrer dann unglücklichen Ehe in Paris, die sie erträgt – Mädchen und Frauen ertragen eben. Ihr Gegenpol zu dieser Einstellung ist die Freundin Elisabeth, eine Dänin, sie und Hannah sind von Kindheit an befreundet. Sie wünscht sich für Hannah, dass sie Francois verlässt – vergeblich.
Dieser wunderbare Roman ist so erfüllt von wahren Schicksalen, Begebenheiten, Gefühlen und Erlebnissen, die in einer Rezension nicht zur Sprache kommen können. Aber das wichtigste und warum wir in diesem Roman so sehr in allen Facetten – wunderbaren und zutiefst traurigen – mitfühlen, ist die Sprache. Benjamin Koppel ist Musiker und so ist seine Sprache: nicht nur ist diese Geschichte großartig komponiert, wie gute Geschichten es sein müssen sondern eben bildhaft und immer illustrativ, vollkommen in allen Beschreibungen der Begebenheiten und Charakteristiken der Personen – allen erwähnten und es sind noch viel mehr. Dazu kommt der Hintergrund der Kriegszeiten und geschichtlichen Ereignissen, die immer wieder so erschütternd wirken, obwohl sie ja bekannt sind. Diese eindrucksvolle Geschichte ist ein Juwel und wird nicht umsonst als „Überraschungsbestseller aus Dänemark“ bezeichnet. Es geht nicht zuletzt auch um Hoffnung und Mut in den schwärzesten Zeiten und die tröstende Kraft der Musik. Wir lesen eine bedeutende und zutiefst bewegende Geschichte des letzten Jahrhunderts bis heute.

Bewertung vom 13.02.2024
Nostalgia Siciliana
Di Stefano, Patrizia

Nostalgia Siciliana


ausgezeichnet

Tita gestaltet Titelentwürfe für neue Bücher und führt ein erfüllendes Leben in Berlin, außerdem hat sie freie Hand in ihrer Arbeit. Doch die Nachricht vom Tod ihres Onkels in Sizilien, ein Bruder ihres früh verstorbenen Vaters, hat einschneidende Konsequenzen für Titas Leben.
Die Geschichte beginnt mit Titas Kindheitserinnerungen. Sie erzählt liebevoll und detailreich von den Reisen der Familie nach Ragusa auf den Familienbesitz Magní bei Ragusa. Wie von einem unsichtbaren Faden zieht es sie nun dorthin. Sie kann sich ihren Gefühlen, ihrer Sehnsucht nicht verschließen. Seit über zwei Jahrzehnten hat sie Sizilien nicht mehr besucht.
Die Geschichte erzählt sie in Rückblicken auf die Kindheit ihres Vaters Gianni und abwechselnd mit der Jetztzeit ihres Besuches. Er ist hochbegabt und schließt das Priesterseminar mit der Matura ab. Doch tief in sich fühlt er, dass es für ihn nicht richtig ist, ein Priesterleben zu führen. In diese Zeit seiner Zweifel fällt die Zeit des Anwerbens in Deutschland von italienischen Gastarbeitern, wie es die Touristen in Sizilien erzählen. So beschließt Gianni nach Deutschland zu gehen um dort sein Glück zu versuchen. Nach schweren Anfängen - ein Fremder zu sein, deutsche Feindseligkeit zu spüren, hart zu arbeiten für wenig Geld und die Heimat zu vermissen, fasst er Fuß, heiratet eine Deutsche und wird zum erfolgreichen Unternehmer mit Restaurantgründungen und der Einführung der italienischen Küche, beginnend mit der inzwischen überall beliebten Pizza. Mit dieser Pizza beginnt eine Zusammenarbeit mit der Firma Dr. Oetker.
Nach Titas Ankunft in Magní fühlt es sich für uns Leser so an, als ob wir zusammen mit Tita durch die Räume gehen und das Anwesen in allen Einzelheiten besichtigen. Diese intensiven Erinnerungen wechseln Kapitelweise ab mit Titas derzeitigem Leben in Berlin, das sie zusammen mit der Vergangenheit und dem Leben ihres verstorbenen Vaters reflektiert. Was uns aus den Seiten entgegenfliegt ist pure, tief empfundene Nostalgie. Ihr Schreibstil ist farbig, ich nenne ihn eine olfaktorische Sinfonie. Gerüche der italienischen Küche mischen sich mit der landschaftlichen Schönheit Siziliens. Erinnerungen, die großartig beschrieben werden und uns die Seele Siziliens und der Menschen nachempfinden lassen, vermittelt der Text dieses Lebensberichtes, der einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte enthält, denn er schließt deutsche Geschichte der Moderne ein – wie die Ankunft der italienischen „Gastarbeiter“ wie sie genannt wurden. Diese „Gastarbeiter“ veränderten die deutsche Gastronomie und andere Lebensbereiche in Deutschland nachhaltig, denken wir nur an die Berufe, in denen sie eingesetzt wurden, weil nach dem 2. Weltkrieg Manpower fehlte. Eine Geschichte, die einen gleich in den Bann zieht während des Lesens, weil sie voller Leben steckt. Sie hat mich von der ersten Seite an begeistert. Es lohnt sich, diese Geschichte über eine Familie und zwei Völker zu lesen und vieles zu erfahren, dass wir bisher nicht kannten.

Bewertung vom 18.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


ausgezeichnet

Schon zu Anfang möchte ich sagen: „Die Verletzlichen“ ist eines der wenigen Bücher, die ich gleich wieder gern nochmals von vorne an lesen möchte. Es enthält so viel Spannendes und Ungewöhnliches. Es ist ein Roman, aber einer, der genau das enthält, was einen Roman ausmacht: Viele verschiedene Arten der Literatur nämlich. Teilweise liest er sich wie ein Essay. Später wird einem klar, dass die Zeit in der die Handlung spielt die der Pandemie ist.
Es fängt schon ganz besonders an. Allein der Einband – wir erkennen einen umgekehrter Papagei – einen Ara namens Eureka - und ein rosa Blumenbouquet. Stellt Eureka vielleicht die Welt auf den Kopf? Nunez Beobachtungen sind so vielfältig und besonders, dass das Lesen ihrer Texte zu einem reinen Vergnügen wird. Sie streut Beispiele aus der Literatur ein: Charles Dickens, Oscar Wilde, Rilke, Sylvia Plath- ihre vielfältigen, wie es scheint, unerschöpflichen - Beobachtungen und Statements faszinieren. Ihre Beobachtungen schon am Anfang, die Aufzählungen von Blumen, deren Farben und deren Bedeutung – warum bringt man Hortensien mit Altern in Verbindung am Beispiel von Madonna, die beleidigt war, als ihr ein Verehrer eine Hortensie überreichte – sind einfach faszinierend. Der Text erscheint so. als ob Erinnerungen an die Kindheit, an Schulkameraden, an ihre Mutter, an Lehrer und Lehrerinnen aneinandergereiht werden. Man findet sich wieder in diesen sensiblen Beschreibungen der vielen Charaktere. Wie belanglos hingeworfen erscheinen die Sätze, doch sie haben einen tiefen Sinn, den man erkennt, je mehr man weiterliest. Nunez Betrachtungen enthalten philosophisches wie z. B. die Ausführungen über Blumen und ihre Namen: Ist es Zufall, dass die Namen von Blumen auch immer wunderschöne Wörter sind? Rose. Veilchen. Lilie. So attraktive Namen, dass die Menschen sie ihren Töchtern geben. Jasmin. Iris.
Dieser Text liest sich sehr spannend und ungewöhnlich.
Ihre Beziehung mit Eureka ist so wunderbar beschrieben, dass es anrührt. Man möchte diesen hellgrünen Papagei kennenlernen. Nicht nur das, man erfährt sehr viel darüber, wie es sich anfühlt, sich auf Tiere einzulassen, von ihnen zu lernen und zu beginnen, sie zu lieben.
Ich finde Nunez‘ Erzählweise ideal. Sie spricht für den kurzen Roman. „Der traditionelle Roman hat seinen Platz als wichtigstes Genre unserer Zeit verloren“, schreibt sie. Gerade die Einschübe, die Reflektionen über so viele Themen flicht sie wie zufällig ein, springt von einem zum anderen Thema und doch gehört alles zusammen. So wie sie scharfsinnig die Themen behandelt und über sie spricht, ist es vielleicht sogar besser, als eine ganze zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Was sie selbst aber in diesem großartigen Text tut.

Bewertung vom 28.11.2023
Kaltblütige Lügen / Die San-Diego-Reihe Bd.1
Rose, Karen

Kaltblütige Lügen / Die San-Diego-Reihe Bd.1


ausgezeichnet

…sowie Verwicklungen und Rätsel auf allerhöchstem Niveau zeigt uns Karen Rose in ihrem fünfundzwanzigsten Krimi Thriller. Bei Krimi Liebhabern ist Karen Rose keine Unbekannte – im Gegenteil, hochverehrt und immer wieder mit Hochspannung erwartet werden ihre Werke. Detective Katherine „Kit“ McKerrick und ihr Partner können nicht zur Ruhe kommen (welche Detectives können das schon?). Hier jedoch reichen die Fälle der ungeklärten Morde an jungen Mädchen Jahre zurück. Die neuen Verbrechen reißen einfach nicht ab – immer sind es junge Mädchen – blond, zierlich und wie man liest, zu vertrauensselig. Allerdings werden sie auf so perfide, raffinierte Weise geködert und hinters Licht geführt, dass man nachvollziehen kann, wie so junge, moderne und ambitionierte Mädchen durch Versprechungen ihrer Wünsche und Ziele in die Todesfalle tappen. Das Team in San Diego ist Tag und Nacht unterwegs auf der Suche nach Lösungen. Kit und ihr Partner Bas, sowie ihr Chef Navarro sind ein Super Team voller Erfahrung. Wir lernen Kits Hintergrund näher kennen, sie ist persönlich betroffen, da ihre Schwester Wren auch auf diese Weise – Strangulierung und Beerdigung an unbekannten Plätzen, vorzugsweise in Parks – umkam. Kit ist schwer traumatisiert, in Therapie und sucht rastlos nach Lösungen. Zum Glück unterstützt ihre Schwester Akiko sie. Zusammen mit Kits Pudel Snickerdoodle leben sie auf einem Boot. Auf 534 Seiten folgen wir den Bemühungen des Teams der Detectives der San Diego Police - SDPD. Außerdem treten auf Psychologen und Anwälte, Schuldirektoren, Ehefrauen, Schüler und Schülerinnen und viele andere Nebenfiguren. Die Wendungen und Ereignisse in dieser Geschichte überraschen ununterbrochen. Modernste Hilfsmittel bei den Ermittlungen erleben wir – z. B. KI und Bodenradaruntersuchungen. Lesen dieses Krimis ist wie ein Wettlauf zusammen mit den handelnden Personen, um endlich herauszufinden, wie all diese schrecklichen Ereignisse geschehen konnten und vor allem schnell den Mörder zu finden. Die Angst, dass er immer weiter mordet und noch mehr unschuldige junge Mädchen von ihm zuerst vergewaltigt und auf perfideste Weise ermordet werden ist so präsent, dass die Tage und Nächte des Teams einem Alptraum gleichen. Soviel sei verraten: Rose hält die Spannung, die uns atemlos macht und erst auf den allerletzten Seiten erleben wir die Lösung, an der wir seiten- und stundenlang gerätselt haben.

Bewertung vom 29.10.2023
Nebenan ist doch weit weg
Bones, Antje

Nebenan ist doch weit weg


ausgezeichnet

Die Geschichte eines Umzugs. So intensiv, wie Kinder einen Ortswechsel erleben. Das Heimweh an das Zurückgelassene beginnt schon beim Packen. Die zwölfjährige Edith erzählt ihre Eindrücke. Sie schreibt Tagebuch. Sie erzählt das ganze Drama, wenn umgezogen wird und zwar, weil die Eltern es wollen und nicht die Kinder. Die neue Heimat wird Krakau in Polen sein. Ihre Gedanken erleben wir intensiv, über das neue fremde Zuhause, Erkunden der Nachbarschaft und die Umgebung, den Schulwechsel. „So vieles ist fremd für mich. Ich bin fremd“, schreibt sie. So ganz allmählich – mit dem Beginn der Schulzeit – wird es besser. Sie fährt mit dem Bus, entdeckt Krakau. Freundet sich an mit Milena. Eine Freundschaft beginnt. Hilfreich sind auch ihre Klassenlehrerin und andere Lehrer. Erstaunlich, wie viele Menschen Deutsch sprechen, entdeckt sie, es wird auch als Schulfach gelehrt, so wie Englisch und Französisch. Sie macht sich viele Gedanken über Vorurteile: mit ihrer Hündin Lina macht sie Spaziergänge im Feld, Äpfel leuchten und gern würde sie einen pflücken, aber „ich traue mich nicht, einen Apfel vom Baum zu pflücken. Es könnte ich ja jemand sehen - und dann heißt es vielleicht: Die Deutsche klaut Äpfel.“
Sie erkundet mit den Klassenkameraden Milena und Antek Krakau, sie besuchen den Flohmarkt in Kasiemierz, dem früheren jüdischen Viertel und treffen dort den wunderbaren Buchhändler Jerzy Singer. Diese Geschichte eines Einlebens birgt noch ein Geheimnis - wobei Jerzy den Kindern hilft, das Rätsel im Haus von Ediths Eltern zu lüften. Das Mysterium dort, das tief in die Vergangenheit führt, liest sich faszinierend und im höchsten Maße anrührend. Die Schreibweise, Wechsel des Erzählens mit Ediths Tagebucheinträgen kommt dem Thema sehr entgegen. Dieses Buch von Antje Bones ist ein Juwel in der Jugendliteratur, das ich den Erwachsenen zu lesen wünsche, die diese Literatur lieben. Die Illustrationen von Michael Ssyszka tragen zur Freude des Lesens und Entdeckens bei.

Bewertung vom 22.10.2023
Das kleine Bücherschiff
Hansen, Tessa

Das kleine Bücherschiff


ausgezeichnet

Wir lesen von zwei jungen Frauen, Miri und Katja – jahrelangen Freundinnen – die aus ihrem Leben in der Kleinstadt Stade aussteigen, aus ihrem Job und etwas ganz Neues und total Mutiges beginnen. Die Idee der Autorin Tessa Hansen ist echt genial, ja außergewöhnlich, was sie sich hier für einen Neustart von zwei Freundinnen ausgedacht hat. Diese beiden, Katja und Miri, entscheiden sich, eine Barkasse aus dem Jahr 1938 im Museumshafen Övelgönne im Hamburger Hafen zu mieten und daraus ein Bücherschiff zu machen. Nicht nur ein Bücherschiff – nein, sondern das erste Bücherschiff überhaupt in der Hansestadt Hamburg. Dazu sind beide keine gelernten Buchhändlerinnen. Nicht nur renovieren sie das Schiff, besorgen Möbel, richten es ein, alles mit eigenen Händen und wenigen Helfern, sondern bringen sich das Wichtigste aus der Buchhandelsbranche bei um gerüstet zu sein für diese gigantische Aufgabe. Man kann die beiden lebenslangen Freundinnen, Katja und Miri bewundern wie sie das alles anpacken. Viel geschieht, die Geschichte ist abwechslungsreich, lebendig und überzeugend geschrieben. Auf diesen über 400 Seiten werden Leser*innen bestens unterhalten. Alles was eine gute, spannende Story enthalten sollte, finden wir hier. Begeisterung der Hauptpersonen, viele interessante Aufgaben und überraschende Wendung bis zum Ende. Abgesehen von der Renovierung und liebevollen Einrichtung des Schiffs sowie dem Geschäftsbeginn müssen Wohnungssuche, Umzüge und Einleben in der fremden Großstadt bewältigt werden. Diese beiden Freundinnen sind unglaublich enthusiastisch und bewältigen dieses Vorhaben in bewundernswerter Weise. Die Autorin hat sich hier eine Geschichte ausgedacht, die an Unterhaltung, Witz und Tempo nichts vermissen lässt. Die Liebe kommt natürlich nicht zu kurz und es gibt so einige Bewährungsproben und Geheimnisse, die alle bewältigt und entdeckt werden müssen. Nicht nur in der Liebe, nein, auch im Geschäftsleben müssen gigantische Hürden genommen werden. Der Erfolg der beiden bringt Neider und ihr gewiefter Vermieter macht ihnen das Leben schwer, nachdem alles so gut angelaufen war. Doch nichts im Leben das wirklich wichtig ist, ist leicht und so bewältigen die beiden nachdem schon fast alles verloren scheint, die sich auftürmenden Hindernisse. Sie haben inzwischen Freunde gefunden und auch die Presse steht wohlwollend Miri und Katja. So fügt sich am Ende alles zum Besten zusammen. Diesem Buch wünsche ich viele Leserinnen. Es macht Mut und zeigt trotzdem, was gebraucht wird, wenn Erfolg am Ende stehen soll: Biss und die Überzeugung niemals aufzugeben.

Bewertung vom 27.09.2023
Der späte Ruhm der Mrs. Quinn
Ford, Olivia

Der späte Ruhm der Mrs. Quinn


ausgezeichnet

„Es ist schon seltsam, dachte Jennifer bei sich, wie Rezepte die
Menschen überleben, die sie aufgeschrieben haben, und wie
sie dabei diese Menschen in gewisser Weise wieder zum Leben
erwecken, als würde ein winziges Stück ihrer Seele in
den Anweisungen weiter bestehen.“
Wie wahr diese Gedanken sind und wie sie im Laufe des Romans mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, erfahren wir, während wir in diese Geschichte voller Liebe und Wunder eintauchen. Hier breitet sich ein ganzes Leben vor uns aus. Wir erleben Jennys und Bernards Leben und das ihrer großen Familie. Sie stehen kurz vor ihrem 60. Hochzeitsjubiläum. Es ist es eine liebevolle kinderlose Ehe, die diese beiden verbindet. Jenny ist dankbar, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Doch mehr und mehr lassen Jennys Gefühle sie fragen, ob dies alles war im Leben. Sie liebt Backen über alles, tut es täglich und besitzt eine wunderbare Sammlung alter Familienrezepte, von denen sie viele auswendig beherrscht. Leidenschaftlich verfolgt sie eine in England beliebte Backshow. Sie bewirbt sich, sie wagt es, sich in ihrem Alter von 77 Jahren dort anzumelden. Es ist unendlich spannend zu lesen, wie Jenny eine moderne Produktion im Fernsehen erlebt, wie sie interagiert mit allen anderen Teilnehmern und denjenigen, die die Show produzieren. Nicht zu vergessen, dass alle ihre wunderbaren Rezepte, Jenny Wissen sowie ihre Vorgehensweise unterhaltsam vorgestellt werden, sowie viele der anderen Teilnehmer. Den Kapiteln vorangestellt sind Ereignisse und Gedanken aus Jenny Vergangenheit, die sich dann mühelos in die Gegenwart einfügen Diese Geschichte enthält unendlich viele Überraschungen. Fords bildreiche und gefühlvolle Sprache entfaltet vor uns das Innenleben der Figuren sowie die Chronik eines ganzen Lebens mit allen Träumen, den gelebten und ungelebten. Fords Erzählweise macht diese Geschichte vollkommen. Sie erzeugt beim Lesen nostalgische Gefühle, wir betreten eine andere Welt, die uns gefangen nimmt. Und dann ist da noch ein Geheimnis, auf das wir gespannt sein können.

Bewertung vom 20.08.2023
Der Glanz der Zukunft. Loulou de la Falaise und Yves Saint Laurent
Marly, Michelle

Der Glanz der Zukunft. Loulou de la Falaise und Yves Saint Laurent


ausgezeichnet

In bildhafter Sprache lässt Michelle Marly aka Micaela Jary die 60er und 70er Jahre vor uns erstehen. Es geht in diesem Roman um die faszinierende Welt der Mode und um viele herausragende Persönlichkeiten, die in der internationalen Welt eine große Rolle spielten. Gezeigt werden uns diese durch einen Lebensabschnitt von Loulou de la Falaise, der späteren Muse Ives Saint Laurents. Sie entzieht sich der strengen Erziehung ihrer Großmutter und lebt ihren eigenen Stil, den sie auf den berühmten Londoner Flohmärkten findet und sich zusammenstellt, was ihr gefällt. Sie ist mit 20 Jahren so lebenshungrig wie man es in diesem Alter nur sein kann. Durch ihre Herkunft hat sie genügend Kontakte, um vieles auszuprobieren, immer geleitet von ihrem untrüglichen Instinkt und Geschmack. Sie wird bewundert in ihrer Kreativität und Eigenständigkeit. Sie lernt Menschen kennen, die ihre Talente entdecken und schätzen. Es kommt dazu, dass sie Assistentin von Yves Saint Laurent wird, und später ihren eigenen Modeschmuck in seinem Atelier entwickelt. Bis dahin begleiten wir sie auf ihren vielen Reisen durch die Welt, nach Marokko, USA, in die Städte Paris, New York, London, Marrakesch, Tanger und andere. Überall trifft sie gleichgesinnte und später berühmte Persönlichkeiten, die dieser Zeit in der Mode, der Bildenden Kunst, Musik, Architektur ihren eigenen Stil entwickelten und vermittelten, der bis heute berühmt und anerkannt ist. Die Geschichte ist aufgeteilt in vier Teile, jeder Teil trägt Zitate passend zu den erwähnten Persönlichkeiten. Michelle Marly erwähnt in ihrem Nachwort, dass sie hofft, uns Leserinnen und Leser gut unterhalten zu haben. Dies gelingt ihr wie wohl kaum eine andere, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Die Art und Weise, wie sie den Menschen, die sie hier beschreibt, Leben einhaucht, so dass wir alles mit unserem inneren Auge erleben, ist überzeugend und großartig. Die Seiten sind erfüllt mit den unvergleichlichen Farben der vielen Schauplätze. Marly hat dieses Talent, alles lebendig erstehen zu lassen, sie hat es in vielen anderen Romanen gezeigt, die sie als Micaela Jary veröffentlichte. Beigefügt sind dieser Geschichte am Ende Kurzbiographien der wichtigen handelnden Personen. Dies sind viele und die Biographien sind ein Streifzug durch die eine Epoche, die wir, die sie erlebt haben, nie vergessen können. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Begeisterung und des Experimentierens mit Neuem auf allen Gebieten der Politik und Künste. Ich wünsche diesem Werk viele Leserinnen und Leser.

Bewertung vom 31.07.2023
Mattanza
Fabiano, Germana

Mattanza


ausgezeichnet

Abgesang an eine vergangene Welt

Mit präzisem, langsam dahinfließendem Stil entfalten sich die Ereignisse im Leben auf der Insel Katria mit ihren Bewohnern und nun auch Touristen, die die erste und einzige Pension auf der Insel bevölkern werden. In sehr bildreicher, ja poetischer Sprache erzählt Fabiano die Schicksale der Inselbewohner. Sie entfalten sich nach und nach vor uns und wir lernen faszinierende Charaktere und Geschichten kennen. Im Mittelpunkt steht Noras Geschichte, Nora, die auserwählt ist, etwas zu sein und zu tun, das ihr fremd ist. Nora ist die Enkelin
des Raìs der Insel, Andrea Lombardo, ihr Großvater eine imponierende Persönlichkeit. Nora sollte eigentlich ein Junge werden, um eines Tages ihren Großvater als Ràis abzulösen. Er ist der „Dirigent“ des Thunfisch Fangs, der Mattanza. Raìs ist ein Titel. So entfaltet sich uns ein Szenario, das zeigt, wie es ist, wenn altes von Neuem, Ungewohnten überrumpelt wird, wenn alles, was sakrosankt war und noch ist, sich auflöst und in Stücke zerfällt die mühsam wieder zusammengesetzt werden müssen. Die Inselbewohner werden gestört in ihrem gewohnten Dasein, dessen Mittelpunkt seit Generationen der Thunfischfang ist. Der Niedergang der Fische durch moderne Fangpraktiken kommt gleichzeitig mit der Ankunft von Flüchtlingen aus afrikanischen Ländern. Sie wollen nicht nach Katria, doch das ist ihr Anlaufpunkt. Und dann wird nichts mehr so sein wie vorher. Es kommt, wie es sich angekündigt hat – das auch das letzte Stück der alten Welt auf Katria sich auflösen muss – unwiederbringlich wird alles, das einmal Katrias Welt, die Welt ihrer Bewohner und der Tonnara gewesen ist. Die Thunfischschwärme ziehen nicht mehr vorbei, die Flüchtlinge bleiben und stellen die Bewohner vor nie erlebte Aufgaben. Wie ein Bürger Katrias bemerkt: “Die Welt besteht aus Menschen, die kommen und Menschen die gehen, und es wird der Moment kommen, an dem wir uns alle vermischen. Anstatt nicht mehr zu wissen, wer wir sind, werden wir deshalb nur etwas anderes sein…“ (S. 168)
Wir lesen eine Parabel – ein Sinnbild - über unsere moderne Welt, wie sie sich nun schon seit langem darstellt. Eindringlich erzählt Fabiano diese Geschichte, die voller Lebensweisheit steckt. Mit ihrem Stil, ihrer Wortwahl, ihrer sensiblen eindringlichen Beobachtungsgabe schenkt sie uns eine Dichtung, die lange nachwirkt.