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ToniLudwig
Wohnort: 
Gera

Bewertungen

Insgesamt 15 Bewertungen
12
Bewertung vom 16.03.2023
Leonard und Paul
Hession, Rónán

Leonard und Paul


ausgezeichnet

Der neu gegründete kleine Verlag Woywod&Meurer aus Kerpen bringt jährlich zunächst nur ein Buch heraus und startet mit Leonard und Paul .

Dieser Debütroman von Rónán Hession, der zudem auch Musikalben produziert, wurde von Andrea O'Brien aus dem Irischen übersetzt und mehrfach für renommierte britische Buchpreise nominiert.

Im Mittelpunkt stehen zwei Männer, etwa Mitte dreißig jung, behütet aufgewachsen, respektvoll und herzlich miteinander befreundet. Leonards alleinerziehende Mutter stirbt, doch er hat nicht nur seinen Freund als Beistand, sondern auch einen Job als Schriftsteller für Geschichtslexika für Kinder, der ihm ermöglicht, trotz Grossraumbüro weitgehend ohne Kontakt zu anderen Kollegen in die kindliche Perspektive insbesondere der römischen Geschichte einzutauchen.

Paul hingegen - noch introvertierter - lebt bei seinen Eltern und geht nur gelegentlich einem Job als Aushilfspostbote nach, wenn er - besonders montags - gerade hierfür angefordert wird.

Beide empfinden ihrem Alltag als hinreichend erfüllend, was nicht bedeutet, dass sie ausschliesslich in den Tag hineinleben. Denn es treten Ereignisse in ihr Leben, mit denen sie so nicht gerechnet hätten und die ihnen Handlungen und Entscheidungen abverlangen, die ihnen keineswegs leicht fallen, die ihre Wege zwar nicht voneinander lösen werden, aber doch in ganz andere Bahnen führen wird.

Gemeinsam sind sie eingebunden in die Familie von Paul, deren aktive Eltern Peter und Helen ein gut bürgerliches Leben führen und die ihre allmählich eintretenden Pensionierung auch durch ehrenamtliche Tätigkeit in einem Krankenhaus bereichern.

Und es gibt noch Pauls Schwester Grace, die vermeintlich mit beiden Beinen fest im Leben steht und die mit beachtlichem Aktionismus ihre Hochzeit vorbereitet, um den wohl schönsten Tag im Leben perfekt erleben zu dürfen.

Es ist ein kleiner Kosmos, der im Buch umkreist wird, aber die unendliche Liebe des Autors zu seinen Figuren überträgt sich auf den Leser in einer kaum zu beschreibenden Warmherzigkeit in der Fülle des Miteinanders.

Wie allein das Ehepaar miteinander umgeht, wie sie ihre Kinder betrachten und einbeziehen in ihr Leben, wie Leonard in spielerischer Weise an den Abenden der Familie teilhaben darf, das hat meine Seele erwärmt und mein Herz geöffnet.

Selten habe ich wie hier ein Buch zur Seite gelegt, weil ich mich so auf das nächste Kapitel gefreut habe, dass ich darüber noch eine Nacht warten mochte.

Es sind die Kleinigkeiten des Alltäglichen, die diesen auch sprachlich sehr ausgewogenen Roman zu einem Ereignis machen, dem ich viele Leser wünsche, wie auch dem Verlag eine Vielzahl weiterer Auflagen und eine glückliche Hand für das nächste Buch.

Dabei ist der Roman an vielen Stellen unglaublich erheiternd, reflektiert klug unsere Gegenwart in ihrer Reizüberflutung und Schnelllebigkeit und entlarvt ihren Optimierungswahn schonungslos. Die beiden Freunde gehen gut und sanftmütig damit um - gegen die Unrast und die Achtlosigkeit und sie lassen zu, dass sie nur so viel in ihre Welt hineinlassen, ohne davon überwältig zu werden, sie haben einen Pakt der Bescheidenheit gegen Konkurrenzgerangel und Getöse.

Kurzum - lesen Sie dieses (auch mit Lesebändchen gut ausgestattete) Buch und verschenken es an ihre besten Freunde, an ihre Eltern und an ihre Kinder für ein Lesevergnügen der besonderen Art.

Bewertung vom 29.12.2022
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Arno Geiger, erfolgreicher österreichischer Romancier, überrascht hier mit einem autobiografischen Werk, verlegt im Carl Hanser Verlag München, ungeachtet einer auch hier zeitweise ambivalenten Beziehung zwischen Schriftsteller und Verlag.

Geiger stellt seiner Erzählung ein Zitat von Imre Kertész voran :
Immer hatte ich ein heimliches Leben,
und immer war das mein wahres Leben.

Und in seinem Einführungskapitel findet sich gleichsam der Schlüsselsatz, dass ein solcher Text besser klingt, als er klingen dürfte.

Aber auch ohne dies klugen Einschübe wird dem Leser sehr schnell klar - hier ist keiner, der mit seinem Schicksal kokettiert, schon gar nicht mit der Absicht, hieraus ein Buch entstehen zu lassen.

Geiger nimmt uns mit auf seine einsamen Runden durch die Papiertonnen in Wien, zu Fuß, mit einem geborgten Rad, mit seinem eigenen besseren Rad.

Und mit immer ausgeklügelteren Methoden, um sich in den Tonnen möglichst verletzungsfrei zwischen Abfall und Papier zurechtzufinden, beginnend mit einem früheren Aufstehen, um schon vor dem Müllwagen da zu sein.

Und er bringt von seinen trüben, einsamen Streifzügen immer etwas mit : weggeworfene und keineswegs nur wertlose Bücher, Zeitungen, Notenblätter, Tagebücher, Briefmarkensammlungen, alte Comics, alte Autoprospekte, Druckgrafiken und Plakate.

Zuweilen werden sie ins Auktionshaus getragen, teilweise in immer regelmäßigeren Abständen auf dem Flohmarkt verkauft, das bescheidene Leben finanzierend.
Parallel dazu werden die schriftstellerischen Versuche vorangetrieben, natürlich auf gefundenem Geschäftspapier und mit der zunächst erwartbaren Erfolglosigkeit.

Die ohnehin spärliche Wohnung erhält neue Unterteilungen in Geschäft und Depot.

Auf diese Streifzüge wird der Leser mitgenommen und der Autor entwickelt eine zuweilen fast zärtliche Beziehung zu seinen Funden mit einer magischen Anziehungskraft voller Geheimnisse aus fremden Federn von Tagebüchern und Briefen.

Und das Erstaunliche tritt ein : zögernd und von Misserfolgen durchwoben gelingt es Geiger zunehmend, hierdurch das eigene Leben besser verstehen zu lernen und verständlicher zu machen, hieraus Literatur zu entwickeln.

Dies zu verfolgen, ist grandios. Hier taucht jemand nach Abfall nicht, weil er ganz unten angekommen war, sondern weil er sich diese Freiheit nahm, heisst es an einer Stelle der Erzählung.

Aber Geiger bleibt sensorisch und verletzlich. Als sich der schriftstellerische Erfolg einstellt, empfindet er dies als nahezu irreal und entgeht nur schwerlich einer Paranoia.

Frauen und Trennungen und eine Affäre säumen seinen Weg ebenso wie die Erkrankungen seiner Eltern, die er bis zu deren Tode begleitet, obschon er lange zuvor nichts mit deren Problemen zu tun haben wollte, der alte Generationenkonflikt. Besonders das Verhältnis zu seinem an Demenz erkrankten Vater, welches Geiger in einem gesonderten Roman (Der alte König in seinem Exil) eindrucksvoll beschrieben hat, ist berührend. Hingegen bleiben die Frauenfiguren auf seltsame Art blasser, ohnehin werden sie nur mit ihrem Anfangsbuchstaben benannt.

Neben der eigenen Entwicklung, die Geiger in schmerzvollen Erfahrungsräumen durchlebt, erkennt er auch eine gesellschaftliche Entwicklung, die Inhalte in den Tonnen spiegeln den rauher werdenden gesellschaftlichen Wind wieder.
Souverän geht Arno Geiger mit der Überraschung um, irgendwann ein von ihm selbst verfasstes (erfolgreiches!) Taschenbuch als weggeworfenes Objekt zu finden.

Die Erzählung in dem immer etwas bitter erscheinenden Sprachduktus ist auch ein Plädoyer für das Buch schlechthin, denn -wie Geiger sehr zutreffend erkennt- durch Lesen verkürzen wir unsere Lebenszeit nicht, wir verlängern sie.

In diesem Sinne : klare Leseempfehlung für dieses Buch und doch auch für das Leben.

Bewertung vom 19.10.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Vom Booker-Preisträger Ian McEwan erschien bei Diogenes sein neuester Roman Lektionen in der bewährten Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben, welcher im Original ebenso in diesem Jahr in London veröffentlicht wurde.

Wohl nicht zufällig ist der Erzähler dieses voluminösen Werkes, Roland Baines, wie der Autor im Jahre 1948 geboren und so weist der Roman durchaus autobiografische Momente auf.

Denn anders als in vielen seiner vorherigen Werke kreist der Autor in seinem 17. Roman nicht um ein zentrales Leitthema, sondern spannt einen gewaltigen Bogen von der Nachkriegszeit bis hin zur gegenwärtigen Corona-Pandemie.

In seinen mit der Kindheit beginnenden Rückblenden nimmt uns der Autor mit zu den vielfältigsten gesellschaftlichen Ereignissen mehrerer Jahrzehnte, eindrucksstark verwoben mit dem nahegehenden persönlichen Schicksal des durch diese Zeit Getriebenen, welches das vorangestellte Zitat von James Joyce Erst fühlen wir. Dann fallen wir in über 70 Jahren mit Leben erfüllt.

Und diese Schilderungen beginnen schon im ersten Kapitel mit beeindruckenden wie verstörenden Szenen. Die junge Klavierlehrerin der zu diesem Zeitpunkt elfjährigen Romanfigur Roland Baines kneift ihren Schüler schmerzhaft in die Innenseite seines Oberschenkels, doch dies ist erst der Anfang von nachhaltigen Übergriffen auf den Schüler, die in langanhaltenden sexuellen Obsessionen münden.

Dies erfährt der Leser jedoch erst viel später und wird jedoch alsbald von der Vorahnung erfasst, dass dies das Leben von Roland auf immer prägen wird, zumindest im Bezug auf Frauen und Sexualität (eine der wenigen Personen, denen er diese Erlebnisse später überhaupt erzählt, sagt zu ihm, die Klavierlehrerin habe sein Hirn neu verdrahtet).

Und ein zweiter Handlungseinstieg erschüttert zu Beginn : Bains wird von seiner Frau Alissa kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Lawrence (den die Mutter nie gestillt hat) verlassen (und zugleich auch noch mit ihrem Verschwinden aus England als Verdächtigter in Zusammenhang gebracht).

Dies alles geschieht zur Zeit der Tschernobyl - Katastrophe, auf die der junge Vater nachvollziehbar irrational reagiert und schon hier miterleben muss, wie sich eine absurde Wolke der Selbsttäuschung über Europa legt:
nicht nur Moskau wollte keine Fehler eingestehen, auch der Westen meinte, der radioaktive Pesthauch hätte zur Überquerung der Grenze keine Berechtigung.

Eingebettet in die Zeitläufte versucht der Protagonist sein Leben zu meistern und reflektiert über die Jahrzehnte immer wieder nach : über den Tod, Kälte, Stille, Verfall, über die Sinnhaftigkeit des Lebens schlechthin.

Meisterhaft gelingt es dem Autor, die gesellschaftlichen Veränderungen mit den Lebensentscheidungen von Baines zu verknüpfen. Was macht ein Leben aus, wo sind die Wendepunkte, welche Erfahrungen bleiben, was ist Zufall, was unvermeidlich und in welchem Maße sind und bleiben wir die Kinder unserer Eltern.

Unmöglich, diesen mehr als 700 Seiten umfassenden Roman in einer einzigen Rezension zusammenfassen zu wollen.

Nachhaltig bleiben Passagen in Erinnerung, in denen im Jahre 1960 (!) im Internat für Jungs der Englischlehrer über Masturbation spricht und dies in zwei Worten zusammenfasst : Genießt es.

Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell und die anderen Widerstandskämpfer der Weißen Rose finden ebenso Eingang in das Buch wie die falsche Einschätzung des sozialistischen Systems von außen (Baines in Ostberlin, dem vermeintlich einzig wahrhaften sozialistischen Staat), weiter über die Perestroika (Gorbatschow ein Narr oder ein Genie), den Mauerfall in Berlin, die einhellige Euphorie hierüber und die in der Folge doch dominierende Trauer über die vergebenen Chancen überall auf der Welt, wo von Jerusalem bis Mexiko wieder Mauern errichtet werden und in den USA das Kapitol gestürmt wird.

Der immer sympathisch bleibende Roland Baines entfaltet dabei keinerlei größeren beruflichen Ehrgeiz, bleibt ohne hochtrabende Pläne, schon die Schule wird er nicht beenden; Gelegenheitsarbeit und Geldmangel bilden ein immer wiederkehrendes Thema.

Aber vielmehr versucht er in der schwierigen Geborgenheit seiner zerrissenen Familie anständig zu bleiben und das kleine Glück wertzuschätzen und auch seine partnerschaftlichen Beziehungen mehr oder weniger aufzuarbeiten, dabei absurde und skurrile Begegnungen meisternd und immer bleibt er seinem Sohn ein liebevoller Vater.

In diesen dystopischen Zeiten (Die Welt taumelte um die eigene Achse und wurde an zu vielen Orten von ebenso schamlosen wie ignoranten Menschen regiert, die Meinungsfreiheit war auf dem Rückzug, und die Räume der digitalen Öffentlichkeit hallten vom Geschrei delierender Massen wider.) endet der Roman immerhin ein wenig ermutigend für den Leser, denn das letzte Wort gehört in rührend persönlichen Dialogen seiner zugewandten Enkelin.

Ein wenig zu lang der Roman ? Mag sein, doch ex cathedra wollte ich nicht reden.

Bewertung vom 15.09.2022
Bullauge
Ani, Friedrich

Bullauge


sehr gut

Wie nahezu in jedem Jahr überrascht uns Friedrich Ani mit einem neuen Roman, diesmal mit dem Titel Bullauge, erneut bei Suhrkamp verlegt.

Längst schon sind die Schilderungen bei Ani desillusioniert, die Figuren keinesfalls geradlinig in ihren oft gebrochenen Biografien.

Und erneut wird die alltägliche Polizeiarbeit in den Kontext der Ereignissen der Gegenwart gesetzt : gewaltbereite Mitmenschen unter dem Deckmantel der Spaziergänger verletzen den Protagonisten des Romans schwer.

Die Ermittlungen zum Täter bleiben erfolglos, zurück bleibt ein deutlich gezeichneter Polizist, psychisch und physisch überfordert und wohl auch allein gelassen von den Kollegen seiner Dienststelle, die selbst (nicht nur) durch eine Vielzahl von Einsätzen überfordert sind.

Die zuweilen lakonische Hauptfigur bezieht dabei eine klare Haltung gegenüber den Aktiven und den Mitläufern der Neuen Volkspartei Deutschlands, die mit ihren platten Parolen wie Freiheit dem Volk oder Meinungsdiktatur, nein danke Deutschlands Demokratie gefährden und nicht nur in München viel zu viel Zulauf haben.
Anis Buch ist kein Kriminalroman und in der Mitte des Buches quält sein desillusionierter Protagonist sich und die Leserschaft mit seinen trunkenen Abstürzen nahezu im Übermaß.

Dabei tragen auch einige sprachliche Ungereimtheiten wie aus einem Himmelseck spitzte die Sonne in mein Fenster oder der Wind tapezierte meinen Körper mit wohliger Gänsehaut bei.
Auch hätte einem aufmerksamen Lektorat auffallen sollen, dass die Nachbarin Lea ein paar Absätze weiter nunmehr Inge heisst.

Aber Friedrich Ani gelingt es letztlich doch, der zuweilen etwas bemühten Konstruktion wieder deutlich Fahrt zu geben und so mündet der Roman in ein fulminantes Finale, in dem sich das Politische im Privaten verbirgt.
Berührend auch die Randfiguren der Geschichte, skurril, abgestürzt und dennoch liebenswert.

Am Ende bleibt die Hoffnung, es möge noch mehr von der Sorte des Kay Oleander geben, der trotz aller Enttäuschungen, Irrtümern und privaten Wirrnissen zwar nur mit einem Auge, aber letztlich eben doch mit beiden Beinen im Leben steht.

Bewertung vom 10.08.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


ausgezeichnet

L'chaim - Auf das Leben

Die in Tel Aviv geborene und bislang der Öffentlichkeit als Journalistin und Moderatorin bekannte Shelly Kupferberg legt nunmehr ihr dankenswerter Weise bei Diogenes erschienenes erster Buch Isidor - Ein jüdisches Leben vor.

Erzählt wird die Geschichte der Familie von Dr. Isidor Gellert, den seine orthodoxen Eltern Israel genannt hatten und der es aus dem ärmlichen Galizien in die österreichische Metropole Wien schaffte.
Dieser Aufstieg war ein harter und dornenreicher Weg, begleitet vom latenten Widerspruch seines Vaters, dem intelligenten und mittellosen Talmudgelehrten, dem Verständnis der sich aufopfernder Mutter und der Hilfe seines Bruders David, der zuerst den Weg nach Wien fand und später doch an schwerer Krankheit leidend den Weg nach Amerika nicht mehr schaffte.

Auch die berührende Geschichte der früh verwitweten Schwester Fejge findet Eingang in das Buch, sie, die sich später Franziska nennen wird, nimmt ihr Schicksal beherzt in die Hand, heiratet den ebenfalls verwitweten Emil Grab und wird beruflich erfolgreich.

Im Jahre 1908 kommt Isidor in die Donaumetropole Wien, der damals sechstgrößten Stadt, die geprägt ist vom Aufschwung der Moderne.
Kunstsinnig saugt er all diese Strömungen, Mentalitäten und Kulturen ein, Verführung, Leichtigkeit und Sinnlichkeit lassen die dörfliche Enge der Geller'schen Kindheit verblassen.
Jedoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass Isidor durch Matura, Studium und Promotion sich ein exzellentes Wissen auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft aneignete, welches seine spätere Lebensweise überhaupt erst ermöglichte und ihn auch den ersten Weltkrieg einigermaßen unbeschadet überstehen ließ.

Denn nun kann er auftreten auf der Bühne des Zeitgeistes, umgeben von der Kunst Gustav Klimts, Gustav Mahlers, Arnold Schönbergs oder Arthur Schnitzlers.

Intelligent, stolz und wohlhabend führte er dort ein mondänes Leben, erhaben gegenüber den heraufziehenden dunklen Wolken des Nationalsozialismus.

Denn wer als emanzipierter und assimilierter Jude die Vorzüge der Großstadt zu genießen wusste (auch ohne Erfüllung in den eigenen Liebesbeziehungen), konnte durchaus zu der fatalen Fehleinschätzung kommen, Antisemitismus sei ein Phänomen, mit dem man sich arrangieren könne, zumal als angesehener und einflussreicher Kommerzialrat und zeitweise bestellter Wirtschafsweiser der Stadt.

Isidor wie auch Walter, der Sohn von Franziska und Emil, werden jedoch auf überaus schmerzliche Weise erfahren und erleiden, wie die Nürnberger Rassengesetze die Benachteiligungen und Schikanen der Juden rechtlich legitimierten und wie die Menschen (auch jene, die von Isidors Großzügigkeit profitierten) in widerlicher Weise der Propagandamaschine des Führers entsprachen und im Umgang mit ihren jüdischen Mitmenschen entarteten.

Shelly Kupferberg gelingt es meisterhaft, dem Leser das Schicksal ihrer Familie nahezubringen, die Kapitel wirken wie ein Roman, obschon die entsetzlichen Geschehnisse leider nicht fiktiv sind.

Und wer die Ereignisse bis zum bitteren Ende verfolgt - und nur ein Barbar würde dies nicht tun - kann auch das merkwürdig anmutende Cover des Buches entschlüsseln.

In einer Zeit, da Antisemitismus in Deutschland wie in Österreich und anderen europäischen Ländern sich offenbar nur unter einer oftmals schon schmelzenden Oberfläche verbirgt, ein überaus wichtiges Buch.

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