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Benutzername: 
MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 181 Bewertungen
Bewertung vom 17.10.2024
Worte wie Mandelblüte
Schnack, Sophia Lunra

Worte wie Mandelblüte


ausgezeichnet

Ein herrlicher Hybrid aus Prosa und Lyrik, eingepackt in 11 bezaubernde Erzählungen

In elf beeindruckenden Erzählungen nimmt uns die Autorin mit auf eine sprachliche Reise, die Grenzen zerbricht. Mal in Prosa, mal in Lyrik oder im Hybrid aus beiden. Es sind Geschichten, die sich vornehmlich damit beschäftigen, was bei und nach Abschieden geschehen kann. Gefühle, Vergängliches, Anhaftendes … Zerbrechliches.
Es sind Worte wie Seifenblasen, schillernd schön. Sie tragen einen davon, lassen im Zauber der Worte verweilen, entschweben, in der Hoffnung, sie mögen niemals platzen.
Die Sprache ist oft kryptisch, reduziert auf das Wesentliche, ohne „lästigem“ Beiwerk wie Hilfsverben oder ausführlicheren Erläuterungen. Es entstehen unweigerlich Bilder die aufsteigen, ohne groß und breit erklärt werden zu müssen. Die Worte sind eine Injektion ins bildhafte Verstehen.

S.13: „Während die Sonne immer tiefer, wird in der nächsten Stunde hinter einen der Felsen sinken, währenddessen noch einmal kurz ins Wasser, steigen, nicht springen, diese Angst vor Plötzlichkeit. Möchte Deine Satzreste mit Kälte verrauschen. Nochmals dünne Haut werden
um Deine Bilder, meine geworden
wegzutauchen
nicht durchzulassen

Ich muss zugeben, manche Seiten, Passagen musste ich mehrfach lesen, um mich hineinfallen lassen zu können, oder auch nur ansatzweise die tieferen Bedeutungen zu verstehen.
Es ist ein Experiment in Sprache, ein sehr gelungenes Experiment würde ich meinen, das ich sehr gerne gelesen habe. In Portionen, Häppchen. Jeden Tag, oder auch nur jeden zweiten Tag eine Erzählung, um das Gelesene besser wirken lassen zu können.

S.101:
„Vortasten nicht stören
dieses Aufwachen
in einen Traum
von erster Nähe

Wir ist eine Zeile
du ein Gedankenstrich
Zeit ein Ensemble von Begegnungen“

Sehr gerne gebe ich für diesen wunderbaren Band eine Leseempfehlung für alle Freunde von Sprachmagie und Lyrik, und diejenigen, die es noch werden möchten.

Die Autorin Sophia Lunra Schnack konnte mich mit ihrem Roman „feuchtes holz“ schon begeistern. Ein Buch, das ich ebenfalls wärmstens empfehlen möchte.

Bewertung vom 13.10.2024
Wald im Haus
Morn¿tajnová, Alena

Wald im Haus


ausgezeichnet

Die traurige Geschichte eines kleinen Mädchens. Erzählkunst vom Allerfeinsten!

Sie wird „Trutschel“ genannt. Von ihrer Großmutter, ihrem Großvater, ihrer Mutter. Ein kleines Mädchen, das die Mutter am liebsten abgetrieben hätte, und es der neunjährigen auch ins Gesicht sagt. Ein Kind, das für alles, was schief läuft, was im Leben ihrer Verwandtschaft nicht passt, schuldig gemacht wird. Die einzige Flucht des Kindes: die Schule. Aber wehe ein Wort! Nichts, absolut nichts darf sie sagen. Kein Wort darüber, was zu Hause passiert. Lehrerin und Schulpsychologin haben ein Auge auf die Ich-Erzählerin. Sie erzählt alles in Rückblenden als erwachsene Frau. So, wie es damals war, an was sie sich erinnern kann. Vor allem an eines: Es wird in dem Haus gestritten und geschrien, was das Zeug hält.
Gleich hinter dem Haus beginnt der Wald. Mit seinem Duft nach Moos, Tannen und Harz. Er ist dunkel, tausende Schauermärchen erzählt die Oma dem Kind. Dass dort kleine Mädchen verschwinden, und schlimmeres. Ihr Opa, der sich fast nur in seiner Werkstatt aufhaltet, riecht danach (geniale Titelgebung). Sie mag ihn nicht. Und auch sie ist nur ein geduldetes, lästiges Anhängsel.
S.68: „In der Gegenwart von Oma war ich ein undankbares, verbittertes Mädchen, für Opa war ich ein Angsthase, für Mama eine Tochter, die ihr eine Last war.“
Mit ihrer imaginären Freundin Monika verkriecht sie sich in eine Ecke in ihrem Zimmer, liest Monika aus Büchern vor. Sofern sie in ihr Zimmer darf, und es Oma erlaubt, denn Mama ist selten daheim. Ihr Papa ist eines Tages verschwunden und ward nie mehr gesehen. Er hat ihr zumindest zur guten Nacht eine Geschichte vorgelesen. Irgendwann verschwindet auch ihre Mutter. Macht sich auf und davon und lässt das arme Kind bei ihren Großeltern zurück. Sie vermisst beide … und dann tauchen zwei Jungen auf. Ihre Schulfreundin Ester wird neugierig, sie tuscheln, und das Mädchen verrät Ester etwas … etwas, worüber sie besser geschwiegen hätte … denn so manche ungute Dinge nehmen ihren Lauf. Und das eingeschüchterte Kind kann sich nicht wehren oder ausdrücken. Sie ist eben nur neun Jahre alt, und sehr ängstlich.

S.175: „Die Fragen kamen wie Gewehrsalven, aber ich saß da wie festgefroren und weinte. Ich schwieg, nicht einmal nicken konnte ich. Ich hatte Angst, solche Angst. Alles, was ich fühlte war Angst und vor allem: Hass. Ich hasste mich selbst und war voller Wut. Ich hasste die Frau, die mir gegenübersaß, wegen der schrecklichen Gefühle, die sie mit ihren Fragen in mir auslöste.“

Die Jahre vergehen, sie wird selbständig, kann den Krallen des Hauses am Wald entfliehen, aber die Vergangenheit holt sie dennoch wieder ein. Und wie alles ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten.
Das Buch ist äußerst atmosphärisch geschrieben, beinahe schon beängstigend real. Die handelnden Erwachsenen würde man am liebsten aus den Seiten herauszerren … man leidet mit der Kleinen mit. Fühlt und zittert. Auch die Sprache finde ich sehr genial. Einerseits erzählt die Geschichte die erwachsene Frau, einerseits richtet aber die Neunjährige das Wort an uns. Genial kombiniert, wunderbar in Sprache verpackt.
S.54: „Manchmal, wenn im Winter Schnee fiel, bedeckte er die Traurigkeit der gefallenen Blätter und verhüllte die Nacktheit der Bäume.“
Und so allmählich erahnen wir beim Lesen, was dem Kind tatsächlich passiert ist. Es wird nicht ausgesprochen, nur in Schemen angedeutet. Und dennoch wird klar, was es mit dem Wald und der ganzen Familie auf sich hat.

Von mir eine ganz große Leseempfehlung und ein Jahreslesehighlight . Lest das Buch, ihr könnt es nicht mehr weglegen. Es vereinnahmt, fesselt. Die Geschichte ist einfach wunderbar erzählt und könnte wahr sein.

Bewertung vom 10.10.2024
Raureif
Postolache, Ion

Raureif


ausgezeichnet

Ein sehr bewegendes Stück Zeitgeschichte über den Staat Moldau, verfasst von Tagebüchern.

Was wissen wir über den Staat Moldau? Wahrscheinlich geht es den meisten so wie mir, und müssen diese Frage mit: „so gut wie gar nichts“ beantworten.
Ion Postolache war zeitlebens Moldauer, auch wenn er in seinem langen Leben (1918-2012) in ein und derselben Gegend in mehreren Staaten lebte, mehrere Sprachen und Schriften aufgezwungen bekam. Das Staatsgebiet war einst Bessarabien, Rumänien, UDSSR, moldawische SSR und nun Moldau. Irgendwann hielten lateinische Buchstaben Einzug, und ein oder zwei Generationen später war es wieder umgekehrt. Und das Spiel drehte sich und setzte sich fort.

Er erzählt uns sehr vieles über die geschichtliche Vergangenheit, vieles von seinem Großvater und Vater, die allesamt Landwirte in dem sehr fruchtbaren Land waren. Er hatte Tagebuch geführt, und somit ein Stück wertvolle Zeitgeschichte über dieses Land erhalten.

S.8: „Beobachtungen und Reflexionen einfacher Menschen, auch kleine und unbedeutende – es sind genau diese Geschichten, die dann das große Puzzle der Menschheit entscheidend formen.“ […] „Ein einfacher Bauernsohn war er, mein Großvater.“
S.9: „Wir wussten nicht, wer wir sind. Ich weiß es bis heute nicht, wenn ich ehrlich bin.“

Die politischen Geschehnisse und Zerwürfnisse, willkürliche Grenzziehungen, Verschleppungen, Enteignungen, alles am eigenen Leib erfahren, erzählt er ruhig. Meistens besonnen, geizte aber nicht an Kritik, obwohl die auch noch weit heftiger hätte ausfallen können, als geschildert.
Seine Eltern wurden grundlos in der stalinistischen Grausamkeit nach Sibirien verschleppt, während er das Glück hatte, in einem anderen Ort als Veterinär zu arbeiten. Und dabei hatten sie sogar noch so etwas als Glück dabei. Sie konnten sich in der Fremde so etwas Ähnliches wie eine neue Existenz aufbauen, trotz ihres Alters von sechzig Jahren und von Arbeit zerschundenen Körpern. Anderen erging es weit schlechter. Ihr aller Herz hing an der alten Heimat Moldau.

S.115: „ … die Sowjets waren schlimmer als die Barbaren, über die wir im Geschichtsunterricht gelernt hatten …“

Es ist bewegend, wie Postolache alles erzählt, viel Wissen über Land und Leute mit uns teilt und uns ein äußerst lebensnahes Bild des Landes Moldau über eine Zeitspanne von bald 200 Jahren präsentiert.
Mir hat das Buch, das weder Roman noch Sachbuch ist, äußerst gut gefallen und hinterließ einen tiefen Eindruck. Sehr gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für dieses brillante Stück Zeitgeschichte aus Moldau. Lest es, denn lesen bildet – und in diesem Fall stimmt es mehr denn je.

Bewertung vom 06.10.2024
Fremde am Pier
Aw, Tash

Fremde am Pier


ausgezeichnet

Bewegendes Familienportrait aus Asien, Suche nach der eigenen Vergangenheit, gegen das Vergessen der Wurzeln.

Der Autor erzählt hier in einer unaufdringlichen, aber sehr berührenden Weise die Geschichte seiner Familie. Er reist mit uns zurück, als seine Großväter das Chinesische Reich in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts verließen. Hunger und Krieg trieb sie zur Flucht, und sie landeten im heutigen Malaysia. Sie fanden Arbeit, konnten Familien gründen. 1971 wurde der Autor in Taiwan geboren. Was dazwischen liegt, was an Verlusten, Ängsten, Verzweigungen, Hoffnungen und vor allem an „Leben“ geschah, wird uns in diesem Buch erzählt. Es sind gerade mal 120 Seiten. Sie hinterlassen ein Bild einer breit gefächerten Familiengeschichte, in der sich Tash Aw auch nicht immer sicher ist, wo er sich selbst einordnen kann.
Asien ist ähnlich wie Europa ein multilingualer Vielvölkerkontinent, in dem oftmals willkürliche Landesgrenzen gezogen wurden, ohne Rücksicht auf Ethnien. Wir Europäer charakterisieren auf Grund ihres Aussehens einen Asiaten als solchen, ganz allgemein, kaum fähig zu unterscheiden, zu welchem Volksstamm oder Staat er wohl gehören mag. Das passiert umgekehrt genauso.
Auf seinen zahlreichen Reisen lernt Tash Aw viel darüber, spricht hier diesen Umstand an, und möchte damit sagen, dass politische und wirtschaftliche Gründe um den ganzen Globus Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen, um wo anders ein friedvolles und sicheres Leben zu haben. Die ethnischen Gruppen finden sich zwar wieder, auch vermischen sie sich natürlich, mögen ihre eigenen Gruppen bilden, aber wo letztendlich jener Ort ist, der schlicht als Heimat genannt wird, ist schwer zu lokalisieren.

„Wir wollen, dass der Fremde einer von uns ist, jemand, den wir verstehen können.“

Das Buch ist äußerst lehrreich, und hilft uns dabei, mit anderen Augen auf uns und den Kontinent Asien zu blicken, auch wenn es nur klitzekleine Momentaufnahmen der eigenen Erfahrungen des Autors sind. Seine Erzählweise fesselt von Anfang an, und man wünscht sich, man könnte länger in den Zeilen verweilen.
Ganz große Leseempfehlung für dieses bewegende Plädoyer und Portrait einer Familie.

Bewertung vom 03.10.2024
Abseits
Rüdenauer, Ulrich

Abseits


ausgezeichnet

Momentaufnahmen im Leben eines geduldeten Kindes. Sprachlich grandios!

Richard wächst bei Onkel und Tante auf einem Bauernhof in der Nachkriegszeit auf. Er ist geduldet, wurde in die Schar seiner Nicht-Brüder aufgenommen. Von Liebe keine Spur. Auch von seinen Eltern weiß Richard nichts, es wird auch nicht darüber geredet.
Sein Onkel ist ein sehr strenger Mann, arbeitsam wie alle am Hof und äußerst gottesfürchtig, sowie das ganze Dorf, am Rande zur Stadt, die in einer Stunde zu Fuß erreicht werden konnte.
Richard lernt langsam, ist aber bemüht. Er liebt seine Fibel, mit der er, wenn es die Zeit erlaubt, auf die Wiesen und in den Wald flüchtet, um zu lesen.
Einzig sein Großvater ist ihm wohlgesonnen. Dieser taucht allerdings nur sporadisch auf, hatte sich ein kleines Haus gekauft, als der den Hof an seinen Sohn übergab. Manchmal steht Großvater mitten in der Nacht an Richards Bett. Und Richard beruhigt sich wieder, wenn es ihm schlecht geht. Und dann ist Opa auch schon wieder verschwunden. Auch die Nachbarin Jolanda hat stets ein Lächeln für Richard übrig, und ist genauso flüchtig wie sein Großvater. Gerade noch hier, dann schon wieder verschwunden.
Der Lehrer ist sehr streng, aber auch etwas einsichtig mit den „Bauern“. Der Pfarrer hingegen ist ein Monster, der seine Macht allen gegenüber brutal ausübt. Besonders bei den Kindern, wenn es um den Schulunterricht geht.
Triggerwarnung für den Roman: Szenen mit expliziter Gewaltausübung an Kindern.

S.48: „Er brauchte jedes einzelne, um mit ihm seine Gemeinheiten treiben zu können. Fehlte eines, waren seine Quälereien weniger wert. Weniger Publikum, weniger Züchtigungsobjekte“.

Auch der Onkel war von seiner Bigotterie zerfressen.

S.49: „Ob die Kinder schreiben oder lesen oder rechnen konnten, das war nicht entscheidend. Aber beten, das mussten sie lernen; und sich klein machen vor Gott und seinen Vertretern auf Erden […]“.

Ist Richard mal alleine im großen Haus, so treibt ihn die Neugier um. Er inspiziert so manches Zimmer, oder einen Schrank. Und er wird fündig, beginnt sich Fragen zu stellen über seine Eltern …und auch handeln, trotz seines noch zarten Alters.
Der Autor beschreibt in wunderbaren Sätzen die Geschichte von Richard. Es sind Momentaufnahmen über einen kurzen Zeitraum. Richard, sehr eingeschüchtert, langsam sprechend, entdeckt, dass es da noch mehr gibt in seiner kleinen Welt außer Arbeit und Prügel. Die Art und Weise, wie uns Rüdenauer an Richard heranführt, ist sehr beeindruckend. Jeder Satz ist ein kleines prosaisches Wunderwerk. Einfühlsam werden Menschen und Umgebung gezeichnet, besprochen, uns näher geführt. Man lebt und leidet mit Richard mit, freut sich über seltene, kleine Lichtblicke, und ärgert sich über die Ungerechtigkeiten wie am eigenen Leib erfahren.
Der Autor beschreibt Szenen, wie sie möglicherweise tausendfach geschehen sind, über die wir schon oft gelesen haben, und dennoch der Faszination einer neuen (wenn auch grausamen) Erfahrung erliegen.

Einen wunderbaren Satz möchte ich noch gerne zitieren:
S.186: „Nichts ist vorhersagbar. Nicht das Schlechte. Aber auch das Gute nicht. Das Gute geschieht vielleicht sogar öfter, aber man muss es erkennen, und dann muss man zugreifen.“

Der Titel „Abseits“ ist nicht nur ein Begriff aus dem Fußball, der im Roman auch seine Berechtigung hat.
Sehr gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman. Auch die Aufmachung des Buches ist Buchdruckkunst vom Allerfeinsten.

Bewertung vom 01.10.2024
Die Oberfläche des Chaos
Linde, Louisa

Die Oberfläche des Chaos


ausgezeichnet

Ein sehr authentischer Coming-of-Age Roman. Man kann den Zeilen nicht entkommen.

S.181: „Oberflächlichkeit wird zum Ziel im Leben bestimmt. Dass darauf niemals etwas Schönes oder Wahres entstehen könnte, sondern Zerstörung, wissen sie nicht. Das nicht zu wissen, ist die größte Dummheit unserer Zeit.“

Elli wächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter am Berliner Ring auf. Stadtrand, und teilweise scheinen die Bewohner der Hochhäuser dort auch am Rand der Gesellschaft zu leben. Ausgestoßen von einer pulsierenden Mitte, zu der es nur schwer Zugang gibt.
Die Ich-Erzählerin Elli berichtet von 1992-2002 über ihr Aufwachsen im Ghetto, von ihrer Messie-Mutter, die es kaum schafft, Elli zu erziehen bzw. für sie da zu sein. Schon als Sechsjährige muss Elli die Wohnung in Schuss halten, ist zuständig für das Sauberhalten eines Großteils der Wohnung. Sie erzählt unter anderem, wie sie mit einem Messer den Urinstein in der Toilette abschaben muss.
Ihre einzige Flucht aus der Tristesse des Komplexes ist die Bücherei, in die sie flüchten kann. Sie liest und liest und liest. Ist Klassenbeste. Auch das Milieu, in dem sie aufwächst, kann ihren Willen, es mal besser zu haben, nicht brechen. Sie freundet sich mit Jo an, der im gleichen Haus wohnt und regelmäßig von seinem Vater verdroschen wurde. Jo dealt mit Drogen, entführt Elli ein Stück weit in seine Welt.
Die Autorin beschreibt hier ein zärtliches Chaos, das allgegenwärtig um ihre Protagonistin wuselt. Sie betrachtet es gerne von außen, studiert die Oberflächen (nicht nur von verschimmelten Speiseresten), lernt Wörter und Begriffe, saugt begierig alles auf, ohne zu bewerten.
Nur vielleicht bei ihren Begegnungen mit ihrem Großvater, der sie meistens in einen Gasthof zum Mittagessen einlädt, oder ins Theater, versucht sie tiefer hinter die Fassade zu blicken. Ein Großvater, der keine Ahnung vom Leben seiner Tochter hat, und dessen Rolle im Krieg zu einem schwebenden Fragezeichen wird.
S.180: „Bis jetzt habe ich Ekel, Chaos und Dreck, und vor allem Dummheit, in allen Menschen gefunden, denn niemand ist davor gefeit. Niemand!“
Der Roman von Louisa Linde ist Auftakt einer Trilogie. Er entwickelt von der ersten Seite an einen Sog. Die Sprachführung ist wunderbar klar und einfach. Sie formuliert die Gedanken von Elli in jeder Lebenssituation, und lässt einen nicht mehr los. Ein Mitfiebern, Hoffen, Bangen, rundum alle Emotionen von Elli, werden sehr authentisch wie einfühlsam in die Zeilen gelegt – und man kann nicht entkommen. Ich freue mich sehr auf die Fortsetzungen.
Sehr gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen wunderbaren Coming-of-Age Roman.

Bewertung vom 29.09.2024
Der lange Schatten
Fremlin, Celia

Der lange Schatten


sehr gut

Very british! Spannungsgeladen eingebauter Familienauflauf, wie man ihn niemandem wünscht.

Imogen ist seit zwei Monaten Witwe, wohnt in einem großen Haus mit vielen Zimmern, und ist etwas zwiegespalten. Auf der einen Seite ist ihr Verlust über Ivor noch schmerzlich, besonders so alleine im Haus, auf der anderen Seite richtet sie es sich gerade im Leben neu ein, denn ihr Verschiedener war nicht unbedingt ein Prachtexemplar von Ehemann.
S. 15: „O Gott, murmelte sie – und näher an einem Gebet war wohl nichts, was Imogen jemals geäußert hatte – bitte lieber Gott, lass mich nie vergessen, was für ein Ekel er sein konnte.“ (very british)
Während sie noch so darüber nachsinnt, das ein oder andere Zimmer zu vermieten, wird ihr Wunsch schneller erfüllt, als ihr lieb ist. Ihre anverheiratete Verwandtschaft kommt mehr überraschend denn eingeladen über die Weihnachtsfeiertage vorbei und richtet sich häuslich ein. Denn man könne ja schließlich Imogen besonders zu Weihnachten in ihrer Trauer nicht alleine lassen. Stiefsohn Robin ist ein selbstgefälliges Ekel, und Stieftochter Dot reist mit ihren beiden Söhnen an, im verzögernden Schlepptau erscheint noch ihr Ehemann, den Dot lieber wo anders gesehen hätte. Es wird gestritten, was das Zeug hergibt. Und zu allem Überfluss kommt dann auch noch Cynthia direkt von den Bermudas, die zweite Ehefrau von Imogens verstorbenem Ehemann. Und die ist so, wie man sich eben diese reiche Tanten aus Übersee vorstellt: über jeden Zweifel erhaben, bestimmend und arrogant und trotzdem mit einer latenten Fähigkeit zur Gefühlsduselei.
Es ist ein wahres Tollhaus, in dem sich Imogen wiederfindet. Aber sie hält sich tapfer, verwünscht die ganze Bagage manchmal zum Teufel, auf der einen Seite glaubt sie, an deren Anteilnahme und Fürsorge dankbar sein zu müssen. Die Gründe für die Besuche könnten aber auch anders geartet sein … denn Weihnachten ist schon Wochen vorbei und der Besuch hält sich hartnäckig.
Zu allem Überdruss wird sie von einem jungen Herrn belästigt, der strikt und stur behauptet, Beweise zu habe, dass Imogen ihren Mann getötet hat. Man könne sich ja dennoch unter der Hand einigen … gegen eine gewisse Summe ...
Imogen versteht die Welt nicht, denn ihr Mann verstarb bei einem Autounfall, zweihundert Meilen entfernt von zu Hause und seiner Frau. Und dennoch, durch ihr Blackout an jenem Tag, wohl hervorgerufen durch den Schock, … wäre es möglich gewesen … oder was steckt hinter all diesen Behauptungen? Es löst sich natürlich am Schluss alles auf … mehr wird nicht verraten.
Celia Fremlin (1914-2009) versteht es perfekt, eine schwelende Spannung aufzubauen. Nur hin und wieder wird man als Leser mit den Vorwürfen des Mordes konfrontiert, bekommt ein paar Happen zugeworfen. Es gibt seltsame Dinge, die im großen Haus passieren, und für die es keine Erklärungen geben mag. Frische Schriftstücke tauchen in der Handschrift von Ivor auf, manche Dinge sind nicht mehr dort, wo sie eben noch waren, usw. Den Rest der Handlung geht es darum, die sich parasitär sesshaft machende Verwandtschaft zu verteufeln.
Trotz des großen Tohuwabohus im Haus und dem Fakt, dass die „Aufklärung“ der Beschuldigungen stark in den Hintergrund treten, wird das ganze Zeilenspiel nie langweilig. Die Charaktere sind sehr fein stilisiert, man erhält perfekte Abbildungen. Die Autorin stellt alle handelnden Personen plastisch und sehr authentisch dar, man wähnt sich mitten im Haus, und alle wuseln um einen herum und sind einem besser bekannt als die eigene Verwandtschaft. Das ist eine ganz große Erzählkunst. Nebenbei setzt Fremlin sehr gezielt eine erfrischende Komik ein, die, wie schon erwähnt, teilweise bitterböse britisch ist.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen sehr unterhaltsamen Roman.

Bewertung vom 27.09.2024
Eine Violine für Adrien
Victor, Gary

Eine Violine für Adrien


ausgezeichnet

Ein virtuoses Abbild aus der Diktatur Haitis, eingepackt in einen bewegenden Coming-of-Age Roman

Port-au-Prince, Haiti. Es ist der Beginn der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Duvalier, genannt „Papa Doc“ hat das Land fest im Griff, seine Militärdiktatur beutelt das Land, Spione und Denunzianten finden sich an jeder Straßenecke.
Adrien ist 14 Jahre jung, wächst in relativ behüteten Verhältnissen auf, und ist gut in der Schule. Er wohnt bei seiner Mutter, der Vater kommt hin und wieder vorbei, pflegt noch andere Liebschaften. Das Geld ist knapp, aber es reicht auch für den ein oder anderen Theater- oder Konzertbesuch. Und so nimmt ihn seine Mutter zu einem Violinkonzert von Monsieur Benjamin mit. Adrien ist so begeistert, dass er selbst Violine spielen lernen möchte. Er bekommt die Gelegenheit, wird in seinem ersten Jahr der beste Schüler von M. Benjamin, der nebenbei noch gute Kontakte zu der Regierung hat. Doch ab dem zweiten Jahr darf Adrien nur mehr am Unterricht teilnehmen, wenn er selbst ein Instrument besitzt. Adriens großer Traum, Violinenvirtuose zu werden, zerbröselt vor seinen Augen ins Nichts, denn eine Geige ist in Haiti nicht erhältlich, kann nur importiert werden, und kostet ein Vermögen. Seine Mutter beteuert ihm, zu sparen, und Adrien nimmt neben der Schule selbst einen Job bei Herrn Nino an. Er versucht mit allen möglichen Mitteln, an Geld zu kommen, aber es wird kaum reichen. Bis eines Tages der Vater seiner Freundin Nadine, ein hochgestellter Offizier der Tonton Macoutes ihm einen Vorschlag macht … mehr wird nicht verraten, es lohnt sich sehr, die Geschichte selbst zu lesen.
Der Autor spielt in diesem Roman mit Hoffnung und Schuld vor dem Hintergrund der Militärdiktatur und der Machtübergabe nach dem Tod Duvaliers an dessen Sohn „Baby Doc“ und der omnipräsenten Geheimpolizei. Das Land ist im Chaos, niemandem kann getraut werden, und gut geglaubte Strukturen und Ehen spiegeln wider, wie es in Haiti aussieht.
Die Sprache ist flüssig, schnell zu lesen. Der Inhalt bewegend, manche irrationale vom Voodoo geprägte Szenen fügen sich ins Ganze harmonisch ein und verstärken den Zwiespalt, der dem jungen Adrien innewohnt.
Sein inniger und wahrhafter Wunsch, eine Geige zu bekommen kann hier sicherlich stellvertretend für ein freies Haiti gesehen werden. Gary Victor zeichnet mit diesem berührenden Coming-of-age Roman, dem eine tiefe Tragik nicht abgestritten werden kann, eine gutes Abbild der Gesellschaft des Landes. Die Menschen lebten in einem Gefängnis, degradiert zu Staatsmarionetten, deren Wünsche, Sorgen und humane Ziele in der Gesellschaft nichts verloren hatten.
Sehr gerne gebe ich für diesen fein gezeichneten Roman eine große Leseempfehlung.

Bewertung vom 25.09.2024
Das Einhörnchen, das rückwärts leben wollte
Moers, Walter

Das Einhörnchen, das rückwärts leben wollte


ausgezeichnet

Ein Buch voll mit Zamonischem Humor und 20 interessanten Flabeln

Der Autor greift hier wieder äußerst tief in seine Trickkiste und beschert uns mit zwanzig wunderbaren Flabeln. Ja, FLabeln, mit L, denn nach Zamonischen Lesegeschmack sind normale Fabeln unlustig. Und hier wurde Zamonischer Humor hineingepackt, darum das L in Flabeln. Ein Humor, denn der Rest der Welt natürlich sehr genüsslich missinterpretiert und das Ganze eher dem Makaberen zuweist. Aber dennoch – herrlich erzählte Geschichten, wie es bei Fabeln und Flabeln so ist, meistens lehrreich. Zumindest was die Zamonische Artenvielfalt anbelangt. Und auch dem Tun und Handeln der beschriebenen Geschöpfe kann man einen gewissen pädagogischen Ansatz nicht abstreiten, denn am Ende weiß man zumindest, wie man es nicht macht. So ein Rückwärtsleben wie es das Einhörnchen wollte kann dann schon auch Grenzen haben. Und auch Werwölfe haben so ihre Probleme, wenn sie lieber Wiewölfe sein möchten und von Latein so ziemlich null Ahnung haben. Für den Ubufanten, der nur noch donnerstags sein wollte, endete sein Wunsch auch nicht gerade so, wie er es sich vorgestellt hatte. Aber immerhin donnerstags …
Und dann treffen wir zum Beispiel noch Vampirgeier, Silberne Witwen, oder yhollische Trollbluthunde. Und natürlich die allseits liebenswerte Buchlinge in ihrer abgeschlossenen Ledernen Grotte. Nur Wudlik Jelzer Fohnemaz wollte die Welt neu erfinden, und dachte sich da was mit Herz und so aus. Nunja ... welcome to real life.
Walter Moers hat die Geschichten wieder wunderbar übersetzt, und dieser Hildegunst strotz gerade so vor Einfallsreichtum. Ihn hat das Orm (Zamonienliebhaber wissen was gemeint ist) wirklich und wahrlich durchströmt. In Summe sind es sehr amüsante (obwohl, das mit dem Humor …) Geschichten, und das Buch mit zahlreichen Zeichnungen und Illustrationen, ist ruckzuck gelesen.
Apropos Humor: im Nachwort von Walter Moers wird noch etwas genauer darauf eingegangen.
Von mir eine ganz große Leseempfehlung für alle Zamonienfans und solche, die es noch werden wollen.

Bewertung vom 22.09.2024
Die Schwarzgeherin
Denk, Regina

Die Schwarzgeherin


sehr gut

Atmosphärisch dichter, spannender Roman aus der bergigen Welt des vorletzten Jahrhunderts. Ein junge Frau möchte aus dem System ausbrechen.

Die Autorin macht mit uns eine Reise in die Vergangenheit, zurück in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in die entbehrungsreiche Welt der Bergbauern. Das Leben ist mühsam, karg, mit 40 Jahren galten Mann und Frau als alt. Die Arbeit war hart, bestimmt vom Rhythmus der Natur und vom Willen Gottes. Denn nach seiner Devise gestaltete sich das komplette Leben. Gottesfürchtig, mit Betonung auf Furcht, wäre eine möglich Beschreibung. Seit dem haben sich ein paar Dinge geändert. Die Technik hat Einzug gehalten, Straßen und Wege wurden besser. Was sich nicht geändert hat, ist die Empathielosigkeit, das Ausbeuten von Grund und Boden, Tieren wie Menschen, die stupide Bigotterie und das jegliche Existenzen unterdrückende Patriarchat.
Irgendwo, weit hinten im Tal, hoch oben. Die Menschen, die dort lebten, kannten zeit ihres Lebens vielleicht mal fünfzig Personen. Die nächste Stadt weit weg.
Und dennoch verschlägt es hin und wieder Menschen in den Zauber der Schroffheit, bleiben hängen, finden manchmal sogar die Liebe, oder was sie dafür hielten. Frauen, die bei Männern bleiben, die die eigenen Töchter dann verschachern wie ein Stück Vieh.
Insofern kommt der Roman wie ein Stück Zeitgeschichte daher, berichtet von Praktiken unter dem Dach des Patriarchats, die sich bis heute kaum wesentlich geändert haben. Aber da gibt es den Aufschrei einer jungen Frau, Theres, die sich damit nicht mehr abfinden kann und will.
Die Autorin schafft mit ihrer Liebe zum Erzählen eine Art Heimatroman, der sich spannend liest, und deutlich seine Sympathieträger und Antipathiepersonen herausschält.
Einschneidende Erlebnisse, die ich lieber nicht gelesen hätte (S.24, aber auch heute noch gängige Praxis), prägten damals die sechsjährige Theres. Der Wunsch nach einem unabhängiges Leben, in Freiheit, weg vom Zwang der Familie, vom Gefangensein in diesem engen, von Berggipfel eingepferchtem Dasein um selbst zu tun und lassen, was sie wollte, wurde geboren. Frei sein, wie der Adler über ihrem Kopf, wollte sie sein. Doch selbst dieses erhabene Tier hatte seine Reviergrenzen.
Es gab trotz des schönen Sprachflusses und der wunderbaren Dialoge, besonders als es aus Theres so richtig herausbrach, und allen die Meinung sagte, Stellen und Passagen im Buch, durch die ich mich ein wenig zwängen musste. Das Wort „Herrgott“ und die Gefälligkeit daran wurden für meinen Geschmack dann doch ein wenig zu oft benützt und ließ den Verlauf der Geschichte ein wenig stocken (auch wenn es damals bestimmt so war). Da hatte ich, besonders im ersten Drittel des Buches, schon Angst, der Roman würde in eine kitsch- und klischeehafte Heimatschmonzette abdriften. Aber zum Glück war dem dann nicht so.
Kurzum: es gab zwei wohlhabende Bauernhöfe. Einer im Ort mit Theres als einziges Kind, der andere auf dem Plateau darüber, mit Leopold als einziges Kind. Die Väter waren miteinander befreundet, die Kinder an einander schon im Windelalter versprochen. Es gab Kindesfreundschaften, das südländische Blut in Theres (von ihrer Mutter), ein geheimnisvoller Fremder, der Argwohn herauf beschwor. Eine sehr verliebte und störrische Theres. Eine bockige Theres, die mit ihren achtzehn Jahren dem Patriarchat zu entfliehen versucht … und dann die ein oder anderen Familiengeschichten samt Tragödien, deren Fäden am Ende alle zusammenlaufen. Zwei Ungereimtheiten wären mir dann in der Handlung schon noch aufgefallen, weil ich sie mit Logik nicht zuordnen kann, aber das tat dem Leseerlebnis keinen Abbruch (und ein Benennen wäre jetzt gespoilert). Sprachlich (mit den genannten Ausnahmen) und stilistisch wunderbar in Szene gesetzt, wurde die Atmosphäre gut eingefangen.
Also in Summe ein feines, rasantes Lesevergnügen aus der Feder von Regina Denk – man darf sich auf weitere Romane freuen.