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MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 05.06.2024
Findet mich
Wirth, Doris

Findet mich


ausgezeichnet

Brillant inszenierte Familiengeschichte. Und wie sich Psychosen auswirken können.

Es hätte schön sein können für den Rest ihres Lebens. Harmonisch, erfolgreich, gut situiert. Theoretisch. Doch das Leben spielt auf seiner unendlichen Klaviatur so manche Misstöne, die das Lied vom Dolce Vita in gesellschaftlichen Disharmonien verwandelt. Liegt es an den einzelnen Personen? Angeboren? Oder verrückt der Druck der Umwelt die Denkweise von so manchem Zeitgenossen?
Erwin und Maria haben sich gefunden, verliebt, eine Familie gegründet. Sie wohnen im Großraum Zürich, die Kinder Lukas und Florence wachsen behütet auf, stürzen in die Pubertät und bringen damit auch das Familiengefüge ins Wanken. Während Maria stets versucht, den Weg der Liebe zu gehen, wird Erwin immer unbeherrschter. Wutausbrüche seinen Kindern gegenüber sind nur der Anfang. Florence verfällt in die Bulimie und leidet jahrelang daran. Lukas geht und findet andere Wege, beginnt zu kiffen.
Mit Erwins Jobs und Selbständigkeit läuft es nicht mehr gut. Sein Vater war ihm nie ein Halt. Im Gegenteil, was auch Erwin machte, er bekam nie die Anerkennung, die er sich wünschte.
Mit Mitte Fünfzig geht es dann so richtig rapide bergab. Erwin, der ein Freigeist war, bricht aus dem Gefüge aus. Sein Realitätsverlust läuft Amok und lässt ihn in die Natur flüchten, fort von allem. In seinen Hirngespinsten malt er sich die schönsten Situationen aus, wie er in und mit der Natur lebt, keinerlei Zivilisation mehr benötigt. Er verschwindet, hinterlässt ein paar wenige Spuren, denn schließlich ist es ein Spiel. Er möchte, dass er gesucht wird. Er will, dass die, die ihn immer noch lieben, leiden. Doch viel Liebe von seinen Kindern gibt es nicht mehr – die hat er sich mit Geltungs- und Kontrollzwang verscherzt.
Erwin sieht sich als Opfer, was in gewissem Maße stimmen mag. Aber vor allem ist er Täter. Durch seine von je her sehr bestimmende Art hat er Mauern um sich gebaut. Denn er ist es doch, der das Geld nach Hause bringt, mühsam erwirtschaftet. Dann können die anderen doch spuren und nach seiner Pfeife tanzen. Besonders seine Kinder. Überhaupt dann, wenn deren Motivation zur häuslichen Mithilfe wieder mal etwas schwankt.

S.173: „Die Antwort lautet stets: nein. Nein, sie [Anm.: Florence] hat nicht genug getan. Was sie auch macht, wie sie sich auch Mühe gibt: Es reicht nicht. Es ist nicht genug. Nein, sie ist nicht genug.“

Erwin, der sich vieles erlauben darf, auch Seitensprünge, denn das läge einfach in seiner Natur, gewährt anderen kaum einen Millimeter persönliche Freiheit. Es kommt, wie es kommen muss und eskaliert eines Tages.
Sprachgewaltig erzählt Doris Wirth diese Familiengeschichte. Die erzählende Gegenwart ist Erwins „Flucht“. In Rückblenden wird die Familienchronik peu a peu aufgearbeitet. Man bekommt ein sehr deutliches Bild der handelnden Personen, lernt die Familie kennen. Man lebt und leidet mit ihr, spielt alle Facetten des täglichen Lebens mit ihr durch.
Erwins Psychose wächst und wächst, seine verbale Gewalt manifestiert sich auf andere Art. Sein Umfeld hat Angst vor ihm.
S.276: „ ...Florence sieht die Scheinwerfer über ihre Wand kriechen. Jedes Mal schlägt sie die Augen auf und hält still. […] Was, wenn er kommt und sie findet? Sie weiß nicht, wozu er fähig ist im Moment.“
Es stellt sich vermehrt die Frage nach den Ursachen für diese psychische Erkrankung. Gesellschaftlicher Druck? Arbeit? Leistungserwartung? Oder einfach von Haus aus ein paar Synapsen zu locker?
Virtuos leitet uns die Autorin durch diese Fragen, packt sie sehr geschickt in die Familiengeschichte ein und verwebt sie zu einem spannenden, äußerst gut und angenehm zu lesenden Roman. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 02.06.2024
Babas Schweigen
Çimen, Özlem

Babas Schweigen


sehr gut

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln, der eigenen kulturellen Identität.

Die Autorin erzählt in drei Erzählsträngen über ihre Reisen nach Ostanatolien, das Land ihrer Wurzeln. Sie hat ein gefestigtes, gutes Leben in der Schweiz, und möchte ihre Erinnerungen an ihre Kindheit bei ihren Großeltern festhalten. Es sind unbeschwerte Kindheitstage mit einer fürsorglichen Großmutter, einen manchmal schimpfenden Großvater, einer Tante, die aus dem Kaffeesatz die Zukunft liest. Sie stehlen Melonen und baden im Fluss Firat. Es ist eine heile Kindeswelt.
Jahre später ist sie mit ihrem Mann wieder dort. Sie werden in der Verwandtschaft herumgereicht, jeder will sie sehen und sprechen. Eines Tages lässt ihr Onkel, zugleich ihr Chauffeur und Fremdenführer, eine Bemerkung los, dass das Land einst den Armeniern gehörte.
Özlem wusste nichts davon und beginnt mit Recherchen. Die stößt an ihre eigenen Wurzeln und stellt fest, dass ihre Familie Zaza sind, eine kurdische Minderheit. Irgendwann wurden sie einfach als Türken assimiliert.
Erst als sie ihren Vater darauf anspricht, erzählt dieser alles, was er darüber weiß.
Leider war mir das viel zu wenig. Der im Klappentext angesprochene Genozid an die Armenier lässt einen zunächst mehr erwarten, ein tieferes Eintauchen in diese dunkle Geschichte der Türkei. Doch leider bleiben hier die historischen Begebenheiten außen vor. Lediglich ein kleines Kapitel widmet Cimen den Berichten ihres Vaters (die Großeltern längst verstorben), wie es sich damals mit der Umsiedlung zugetragen hat, und welches Leid die Menschen erfahren mussten.
Der Großteil der Erzählungen widmet sich aber tatsächlich um die Urlaubsaufenthalte und Einblicke in die Kultur ihrer Ahnen.
Die Erzählerin bekommt somit eine neue Identität als Zaza, der Massenmord an den Armeniern und Kurden wird nur am Rande erwähnt.
Gerne wäre ich mehr in die Geschichte eingetaucht, habe mir Hintergrundwissen erwartet. So bleiben viele Fragen für mich als Leser unbeantwortet und hinterlassen einen etwas dünnen Geschmack.
Erzählerisch möchte ich das Buch dennoch loben, es sind nette, unterhaltsame und auch nachdenklich machende Geschichten dabei, die ich gerne gelesen habe.

Bewertung vom 31.05.2024
Heiligenbilder und Heuschrecken
Martínez, Layla

Heiligenbilder und Heuschrecken


ausgezeichnet

Eine feministische Rachegeschichte der besonderen Art! Schnell, skurril, grob – mit magischem Realismus als würzige Beilage. Erzählkunst vom Allerfeinsten!

Eine feministische Rachegeschichte der besonderen Art! Schnell, skurril, grob – mit magischem Realismus als würzige Beilage. Erzählkunst vom Allerfeinsten!

In einem abgelegenen Dorf in Südspanien haust eine Enkelin zusammen mit ihrer Großmutter in einem alten Haus. Sie sind Außenseiterinnen, werden von den Dorfbewohner:Innen gemieden und schief angeschaut (wenn überhaupt).
Das Haus selbst scheint eine Zuflucht zu sein für verlorene Seelen. Es knarzt und rumpelt, hat seinen eigenen Willen, die Verstorbenen gehen ein und aus.
S.7: „Sobald ich über die Schwelle war, hat sich das Haus auf mich gestürzt. Das passiert immer so mit diesem Haufen Ziegel und Dreck, er fällt alle an, die über die Schwelle kommen, und dreht ihnen den Magen um, bis die Luft wegbleibt.“ (Eröffnungssatz)

Die Enkelin und ihre Großmutter erzählen in abwechselnden Kapiteln von sich, über ihr Leben.

Die Enkelin versucht vom Haus wegzukommen, möchte gerne studieren, aber das Schicksal lässt sie am Haus kleben wie eine Fliege im Netz. Sie hatte Arbeit als Kindermädchen in einer wohlhabenden Familie, die schon seit Generationen die Armen ausbeutet. Auch ihrer Vorfahren arbeiteten dort, wurden klein gehalten von der oberen Schicht. Eines Tages verschwindet ihr Zögling, ein Junge ohne Manieren, man ist nicht wirklich traurig darüber. Die Erzählerin wird verhaftet, mit dem Verschwinden in Verbindung gebracht, und nach drei Monaten wieder frei gelassen aus Mangel an Beweisen (wir erfahren die wahre Geschichte im Laufe der Erzählung, soviel sei verraten).
Ihre Großmutter ist resolut, betet zu den Heiligen, und weiß ganz genau, welche der Santas sie für spezielle Anliegen anrufen muss.
Die Familienchronik ist düster, einst beherrscht von einem Patriarch, der die Frauen für sein Wohl unterdrückte, schlug und ausnützte. Aber er bekam Gegenwind – ein feministischer Aufschrei und eine wehrhafte Frau. Sein Ende, so makaber es war, ist mit der Geschichte des Hauses eng verbunden.

Der ganze, wunderbare Roman ist ein klares Statement gegen die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen. Diese wissen sich auf ihre eigene, sehr spezielle Art zu wehren. Auch zeichnet Martinez ein klares Gesellschaftsbild über die Ausbeutung der Armen von den Reichen. Sie benützt dabei ihre ganz besondere Erzählweise, verwoben in die Geschichten der Toten. Ganz großes Kino!
S.104: „In diesem Haus leben die Toten zu lange und die Lebenden zu kurz. Die dazwischen hängen wie wir, tun weder das eine noch das andere.“

Die Sprachführung ist rasant. Besonders wenn die Enkelin erzählt gibt es sehr lange Sätze ohne Kommas – die Atemlosigkeit schlägt sich in den Zeilen nieder, spiegelt ihr Temperament, ihre Hilfslosigkeit und ihre Abneigung gegen das System. Man kommt beim Lesen kaum zum Luftholen. Wenn die Großmutter berichtet, geht es besonnener zu, in grammatikalisch geordneten Sätzen, denn schließlich weiß sie, wie man sich wehren kann. Und sei es mit Heiligenbildern und Verwünschungen.

Ganz große Leseempfehlung für diesen wirklich einzigartigen Roman, den man mit Sicherheit ein Zweites oder gar drittes Mal zur Hand nimmt, um all die Details in seiner Gesamtheit zu erfassen.
Auf den gerade mal 160 Seiten erschuf die Autorin ein kleines Familienepos, geprägt vom kargen Alltag und den Schieflagen in der Gesellschaft. Das ist Erzählkunst vom Feinsten!

Bewertung vom 25.05.2024
Echos der Vergangenheit
Hamilton, Hugo

Echos der Vergangenheit


ausgezeichnet

Eine Liebeserklärung an die Literatur mit dem Rahmen von grausamen Kriegen

Beruhend auf einer wahren Begebenheit lässt der Autor hier ein Buch einen sehr vielschichtigen Roman erzählen. Richtig gelesen! Ein Buch erzählt es uns. Es ist der Roman von Joseph Roth „Die Rebellion“, der 1933 vor der Bücherverbrennung der Nazis von einer Familie gerettet wurde. Es ist eine Erstausgabe, noch in Sütterlin verfasst.
Das Buch berichtet von seiner Rettung, den Verstecken, und vor allem ganz viel von seinem Verfasser Joseph Roth sowie seiner Frau Friederike Richter. Es sind teils erfolgreiche Schicksale, aber auch sehr traurige. Den Bogen zur Gegenwart spannt die Enkelin des Bücherretters, Lena – eine Künstlerin. Sie erbt eines Tages das Buch, auf dessen letzter Seite eine Art Landkarte gezeichnet worden ist. Von Amerika aus macht sie sich auf den Weg nach Berlin. Sie möchte mehr über das Buch und ihre Verwandten erfahren. Und vor allem auch, was es mit dieser ominösen Zeichnung auf sich hat.
In Berlin lernt sie zwei junge Menschen kennen, die als Kinder vor dem grausamen Tschetschenienkrieg flüchten konnten. Armin trägt ein paar Granatsplitter in seinem Körper, seine Schwester Madina verlor damals ein Bein und unterhält eine spezifische Sammlung von Prothesen. Sie ist mittlerweile eine erfolgreiche Musikerin.
So weit eine kurze Inhaltsangabe. In Wirklichkeit ist dieser Roman viel komplizierter, verschachtelter. Der Spannungsfaden mit Lena und ihrer Kunst, Armin und Madina zieht sich durch den Roman, ist wie der Puls. Die Atemzüge sind das Leben des Schriftstellers Roth mit all seinen Facetten, die nicht immer glorreich waren. Seine Frau „Frieda“ litt sichtlich unter der Beziehung.
Vergangenheit und Gegenwart sind geschickt miteinander kombiniert. Der Große Krieg damals, sowie die Massaker der Russen in Tschetschenien in jüngerer Zeit auf der politischen Ebene; Schriftstellertum zur Nazizeit und bildnerische wie musikalische Künstler:Innen heute.

Hamilton arbeitet Vergleiche von einst versus heute heraus, die sehr erschreckend sind:

S.73: „Nach dem Krieg [Anm.: Erster Weltkrieg] werden die Menschen von einer Schwäche erfasst. Sie sind anfällig für Parolen. Die Grenzen zwischen Tatsachen und Fiktion sind inzwischen so schwammig, dass man beides nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Als hätten die Leute einen Appetit auf Falschmeldungen entwickelt.

S. 75: „Wenn man etwas gesichert nennt, gilt es zugleich als ungesichert. Lügen bedienen Ängste. Die Wahrheit ist zu beschwerlich.“

Der Roman liest sich trotz der Fülle an Details leicht und flüssig, baut einen guten Spannungsbogen auf, der nicht nur von der Suche Lenas geprägt ist, sondern auch die Literaturgeschichte und die Liebe zu den Büchern involviert. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass dieses Buch eine Liebeserklärung an die Literatur darstellt. Die Idee, dass ein Buch erzählt, ist zwar nicht neu, aber immer wieder schön zu lesen. Auch die Gedanken und das „Leben“ der erzählenden Erstausgabe sind faszinierende schriftstellerische Besonderheiten, die ich sehr mochte. Darum gibt es von mir ein allumfassende #Leseempfehlung für dieses wunderbare Buch.
Auch das Cover ist treffend gestaltet, auch wenn man es auf den ersten Blick natürlich nicht erahnen kann, was die Schaukel dort zu suchen hat.

Bewertung vom 15.05.2024
Das Fischerhaus
Bjella, Stein Torleif

Das Fischerhaus


sehr gut

Zwischenmenschliches und idyllische Natur aus dem hohen Norden.

Norwegen. Der Ich-Erzähler Jon, 47, berichtet von seiner gemeinsamen Woche mit seinem achtzigjährigen Onkel Ivar. Beide machen sich eines Tages im Spätherbst auf den Weg zu Ivars See. Der Onkel redselig bis zum Abwinken, Jon in sich gekehrt und nachdenklich, als Musiker gescheitert, bilden sie ein äußerst ungleiches Gespann. Ivar möchte seinen See samt Hütte, Bootshaus und alleinigem Fischereirecht an Jon übergeben. Ivar scheint es sehr wichtig zu sein, erklärt vieles, erzählt von der Familiengeschichte, und bittet Jon inständig, sich alles aufzuschreiben. Nicht dass er dann etwas übersieht und vergisst.
Das enge Nebeneinander, Tag wie Nacht, scheint Ivar nichts auszumachen. Aber es bringt Jon an den Rand der Belastung. Denn es geht nicht nur um das Netzfischen. Ivar behandelt Jon wie einen Lehrbuben, scheint dessen Leben zu zerpflücken wie ein welke Blume, lässt an ihm kein gutes Haar und kritisiert seine Existenz nach Strich und Faden. Da helfen auch viele gut gemeinte Ratschläge nicht mehr.
Es entwickelt sich dennoch etwas menschliches zwischen den beiden. Ton und Umgang miteinander bleiben trotzdem rau wie das Wetter. Wechselhaft, mal sonnig und mit einer gewissen Verbundenheit und einem Verstehen. Und dann kippt es wieder um und wird stürmisch und kalt.
Es ist ein Wechselspiel der Gefühle – starr und stur erzählt, akribisch Tag für Tag. Als Leser fragt man sich, wohin das alles führen mag. Endet es gut oder schlecht, und was nehmen wir genauso wie Jon dabei mit?
Trotz der gefühlten Eintönigkeit des Erzählens bleiben immer wieder diese kleine Fragen offen, man liest und blättert. Der ganz große Aha-Effekt bleibt zwar aus, aber es war nichts desto trotz eine angenehme Lektüre, die versucht, die Sicht auf manche Dinge zurecht zu rücken. Man könnte daraus den Versuch eines Öko-Romans ableiten, überzeugt hat mich diese Sichtweise aber nicht.
Ich habe den Roman dennoch gerne gelesen, und sehe ihn als feine Unterhaltung aus dem Norden an.
Das Buch an sich ist schön gemacht mit feiner Aufmachung und Haptik, das man gerne in die Hand nimmt.

Bewertung vom 30.04.2024
Mitgift
Marusic, Antonela

Mitgift


ausgezeichnet

Berührende Coming of Age Geschichte aus der kroatischen Inselwelt

Die Ich-Erzählerin Nela wächst mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in Split auf. Jeden Sommer reist sie zu ihrer Großmutter auf die Adria-Insel Korčula. Sie lebt in bescheidenen Verhältnissen am Rande der Hafenstadt Vela Luka. Das Geld ist knapp, aber die Landwirtschaft wirft einiges ab. Zudem ist Oma sehr sparsam. Meist ist noch ihr „Barba“, Nelas Onkel im Haus. Ihre anderen Onkel haben das Land schon vor langer Zeit verlassen.
S.9. „An diesem Nachmittag verpasste mir mein Onkel die erste große Tracht Prügel. […] Es ist das Jahr 1981 und ich stehe erst am Anfang meiner Gerechtigkeitsmission. Ich bin sieben Jahre alt ...“
Das sind Zitate von der ersten Seite, die schon erahnen lassen um welche Geschichten es sich handeln wird.
Nela träumt davon, Schriftstellerin zu werden, um ihnen es alle eines Tages zeigen zu können. Auch in späteren (Kindes-) Jahren empört sie sich über ihren Onkel.
S. 103: „ Ich kann es nicht ertragen, dass ein so dummer Mensch jeden Tag meint, mir Befehle erteilen zu müssen.“
Nela erzählt viel von ihrem Inselalltag, von jedem Sommer mit ihrer Oma, die versucht, das Kind so gut wie möglich zu beschützen. Nela hilft im Haushalt so gut wie es geht, verschließt sich aber gerne mit ihren Comics, oder der „Bravo“, später mit ihrem Walkman, um sich von ihren eigenen Gedanken treiben lassen zu können.
Wenn sie alleine ist, stellt sie sich immer vor, ein Junge zu sein.
S. 158: „Wenn ich mit mir selbst rede, bin ich ein Junge. Ich will ein junger Mann sein und nicht das hier.“
Auch verhält sie sich oftmals so, ohne dass es jemals zur Sprache kommt, dass sie möglicherweise im falschen Körper aufwächst.
Vorsichtig geht die Autorin an diesen Umstand heran, und lässt dennoch keine Zweifel an der rebellischen Kraft, die Nela innewohnt. Ihr Verhältnis zur ihrer Oma ist liebevoll, sie mag es mit ihr in einem Bett zu schlafen, um von Oma jeden Abend Geschichten erzählt zu bekommen. Doch je älter Nela wird, des drüber scheint das Verhältnis zu werden.
Auch wenn die Oma ein Quell von unzähligen Geschichten ist, über ihre Flucht vor den Nazis bis nach Ägypten berichtet, wiederholt sich vieles. Die einsetzende Pubertät und das Erwachsenwerden schiebt schleichend eine unsichtbare Distanz in die Beziehung.
Es ist ein Coming-of-Age Roman, der zwischen dem kargen Inseldasein und dem Alltag in der Stadt (der auch nicht glorifiziert wird) berichtet. Nela träumt von Größerem, von einer Befreiung ihrer Zwänge, einem Ausbruch aus der Gefangenschaft von Armut und familiären Strukturen.
S.203: Die Jugend ist anmaßend in meine Seele eingezogen, hat weder angeklopft noch angefragt, ob ein Platz frei ist.“ (ein wunderschöner Satz, wie ich finde)
Sprachlich hat mir der Roman sehr gut gefallen. Die Übersetzung von Marie Alpermann ist, soweit ich das beurteilen kann, eine Wucht. Im Originaltext kommen wohl viele Dialektwörter vor, welche im Text belassen wurden und im Anhang erläutert werden. Sie stören den Lesefluss in keinster Weise, im Gegenteil – sie sind eine echte Bereicherung.
Gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen berührenden Roman über die Sommer der „kleinen“ Nela.

Bewertung vom 28.04.2024
Nebel über Rønne / Lennart Ipsen Bd.2
Kobr, Michael

Nebel über Rønne / Lennart Ipsen Bd.2


sehr gut

Spannend und leicht erzählt. Der zweite Fall für Ipsen auf Bornholm.

Dies ein sehr hyggeliger Roman – ein feines Buch mit Krimi-Beilagen, das Lust auf die wärmere Jahreszeit, Meer und einer salzigen Prise milder Ozeanluft macht. Der Autor versteht es perfekt, eine gute, angenehme Stimmung zu erzeugen, auch wenn das Buch eigentlich ein Krimi ist mit einem sehr dubiosen Mordfall. Und er macht wirklich Lust, diese Insel näher kennen zu lernen.
Lennart Ipsen, Kriminalpolizist, ist im Landeanflug auf Bornholm. Die Luft ist turbulent, der erste Landeanflug muss angebrochen werden. Er war nur kurz weg, freut sich aber wieder sehr auf „seine“ Insel, auf der alles etwas langsamer und ruhiger zugeht. Schon im Flugzeug entdeckt er das Blaulichtgewimmel am Rande des Flugfeldes, welches eine Privatmaschine in das unheimliche Licht taucht. Noch denkt er sich nicht viel dabei, aber schon bald wird es zu seinem bestimmenden Alltag für die nächsten Tage.
Die besagte Maschine zauberte eine perfekte Landung hin, danach war Funkstille, im wahrsten Sinne des Wortes. Die drei Insassen sind tot. Ein verzwickter Fall tut sich für Ipsen und seinem kleinen Team auf. Es könnte ein Fall von internationaler Brisanz sein, theoretisch. Er bekommt von Kopenhagen zwei Tage Zeit, den Fall aufzuklären, bevor ihm die Ermittlungen entzogen werden. Was ihm im Prinzip gar nicht so unrecht wäre, dann hätte er seine Ruhe. Auf der anderen Seite packt ihn natürlich auch der Ehrgeiz, dieses Damoklesschwert selbst abzuwehren, außerdem sitzt ihm seine Mitarbeiterin Britta diesbezüglich gehörig im Nacken.
Erste Befragungen beginnen, die Leben der drei Ermordeten werden aufgerollt, aber es finden sich kaum Anhaltspunkte und Verbindungen zu den Personen.
Es folgen Streifzüge über die beschauliche Insel, die sich langsam vom Winter erholt und sich auf die sonnenhungrigen Touristen vorbereitet. Mit im Gepäck des Autors sind feine Beschreibungen vom Inselalltag der Bewohner, mit Spuren eines Reiseführers, und viel „Privates“ seiner Protagonist:Innen. Hauptsächlich der Besuch von Ipsens Vater samt Lebensgefährtin bringt noch etwas zusätzlichen Stress zu den Ermittlungen.
Der Autor zeichnet angenehme Figuren, authentisch – als hätte er sie nur beschrieben, und nicht erfunden. Es sind keine Superhelden, sondern einfach nur Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen. Der Roman liest sich leicht, wechselt zum richtigen Zeitpunkt das Setting – die Spannung bleibt somit aufrecht erhalten. Lange tappt man im Dunkeln – es bilden sich nicht mal richtige Verdachtsannahmen heraus. Dazwischen gibt es immer wieder Land und Leute … und von mir eine ganz klare Leseempfehlung
Michael Kobr versteht es perfekt, ein spannendes Buch zu schreiben, die 400 Seiten lesen sich weg wie nichts. Bin gespannt, was in Teil drei auf das Ermittlertrio zukommt.

Bewertung vom 27.04.2024
Die Stadt der Träumenden Bücher (Comic)
Moers, Walter

Die Stadt der Träumenden Bücher (Comic)


ausgezeichnet

Graphic Novel der Superlative. Für mich ein Meisterwerk.

Wie toll bitte ist diese Graphic Novel
Auf der Grundlage des Buches „Die Stadt der Träumenden Bücher“ von Walter Moers – eines meiner Lieblingsbücher für immer – erschuf hier Florian Biege zusammen mit dem Autor des Buches eine sensationelle Graphic Novel in zwei Teilen. Dies ist nun der zweite Teil „Die Katakomben“. Im ersten Teil ging es mit unserem lieben Protagonisten nach Buchhaim, das Mekka der Bücher in Zamonien schlechthin, und in allerhöchste Gefahr.
Hildegunst von Mythenmetz wurde verraten und in die gefährlichen Katakomben verbannt. Die Buchlinge fanden und retteten ihn. Sie brachten ihn in ihre Stadt. Er war fasziniert vom Leben dieser kleinen Zyklopen, die sich alle nach einem der Dichter Zamoniens nannten, und auch dessen komplettes Werk auswendig rezitieren konnten. Die bösen Bücherjäger, skrupellos und gemein, stürmten eines Tages diese wohlige Stätte gepflegten Bücherschmökerns und waren drauf und dran, alles zu zerstören und töten. Hildegunst konnte flüchten, sein Weg führte ihn tiefer hinab in die Unterwelt, bis er in das Reich des berüchtigten Schattenkönigs kam. (Mehr wird nicht verraten, denn die Grundgeschichte ist megaspannend).
Die Aufmachung dieses Bandes ist einfach nur wunderbar. Die Zeichnungen sind voller Phantasie und Details, beinahe schon in 3D. Man wird regelrecht in diese zamonische Welt hinein gesogen. Und es bleibt auch nicht beim einmaligen Schmökern. Immer wieder gibt es in den Bildern etwas Neues zu entdecken. - Ganz große Kunst!
Moers hat den Text für diese Graphic Novel meisterhaft adaptiert. Ich bin erstaunt, wie es ihm gelang, mit wenigen Worten die Handlung derart treffend und spannend wiederzugeben. Im Anhang gibt es noch ein sehr interessantes „Making Of“, was diese beiden Bände wunderbar abrundet.
Absolute Leseempfehlung für dieses herrliche Werk. Es hätte eigentlich 10 Sterne verdient.

Bewertung vom 21.04.2024
Die Schönheit der Rosalind Bone
McCarthy, Alex

Die Schönheit der Rosalind Bone


ausgezeichnet

Das Schicksal einer starken Frau in einem vergessenen Dorf. Poetisch. Atmosphärisch.

Cwmsysgod, ein Dorf in Wales, eingepfercht in ein Tal, umgeben von Hügeln und Bergen mit dichtem Wald. Idyllisch, könnte man meinen, nach außen hin. Unter der Oberfläche sieht es anders aus. Die Kohlehalden aus der stillgelegten Zeche sind bedeckt, nicht sichtbar. Aber sie bergen eine Gefahr. Die Menschen im Dorf sind an das Ufer des ehemaligen Bergwerkes gespült, liegen da herum wie angeschwemmtes Holz, und versuchen, das beste aus ihren Situationen zu machen.
Es gab einen schweren Unfall in der Mine mit vielen Toten. Darunter auch der Vater von Mary und Rosalínd. Später wurde der Betrieb geschlossen, Verzweiflung und Arbeitslosigkeit grassierten wie ein Geschwür. Der Vater der Clements-Brüder kam damit nicht klar und beging Suizid, gefunden von seinem Sohn Daniel.
Der Eckladen von Mrs. Williams überlebte dank der „Geschäftstüchtgkeit“ der Besitzerin. Hochbetagt, mit ihren 80 Jahren, aber reich an „Erfahrung“.
Rosalind war ein wunderschönes Mädchen. Sie wurde immer darauf angesprochen, begehrt, schien das einzige weibliche Geschöpf im Tal zu sein, und auf ihr Äußeres reduziert. Sie litt sehr unter diesem Umstand, genauso wie ihre Schwester Mary, die kaum beachtet wurde. Am Tag des Unglücks verschwand Rosalind.
Allein der Wald übersteht die von menschengemachten Tragödien.
Jedes Kapitel erzählt über eine andere Person und deren Part in dem Spiel, welches sich „Überleben“ nennt.
Daniel und Shane – die Clement-Brüder, welche vom Pfad der Tugend abgekommen sind. Jeder weiß das im Dorf, jeder zeigt mit dem Finger auf sie. Aber warum das so ist, auch wenn offensichtlich, offenbart sich dennoch erst im Laufe der Geschichte. Genauso verfährt die Autorin mit den anderen. Immer wieder dreht es sich um Rosalind und Mary. Marys Tochter Catrin entdeckte eines Tages das einzig erhaltene Foto ihrer Tante Rosalind, und beginnt, Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Nebenbei wird in Folge der Brandstiftungen der Brüder eine verwahrloste alte Frau aufgefunden, die gerade noch gerettet werden konnte. Und die Dinge kommen ins Laufen …
All dies und noch viel mehr stecken in den gerade mal 160 Seiten. Fest verpackte Pakete von Schicksalen, welche nach und nach aufgeschnürt und entblößt werden.
Alex McCarthy versteht es in ihrem Debütroman perfekt, ihre Leserschaft zu fesseln. Das Tal, grün und eingekesselt von Bäumen, scheint keinen Lichtschein zu zulassen, so grau und trist kommt es einem vor.
S.146: „Der Himmel hing tief und grau über ihm, eine dunkle Wolke verschlang die nächste, bis alles schwarz war und die Sonne verschwunden.“
Und dennoch möchte man sich beim Lesen durch die Zeilen pressen, um auf der anderen Seite im Tal als reale Person aufzutauchen. Ein Sog, der einen durch das Buch zieht.
Der Sprachstil ist einerseits sehr direkt, und dann wieder derart poetisch mit wunderbar gestalteten Sätzen, dass es eine wahre Freude ist und man manche Absätze mehrmals liest ob der Verzauberung der Worte.
Der Roman ist ein Potpourri von gesellschaftlichen Abgründen, ein Stimmungsbild von patriarchalen Strukturen, welche nur von Frauen durchbrochen werden können. Die Düsterheit des Waldes als Synonym für die Angst der Frauen vor der überall vorherrschenden Misogynie. Perfekt eingepackt in eine atmosphärisch dichte Geschichte.
Ganz große Leseempfehlung und definitiv ein Jahreslesehighlight.

Bewertung vom 19.04.2024
Zonen der Zeit
Müller, Michaela Maria

Zonen der Zeit


ausgezeichnet

Ein wunderbarer, kluger, unaufdringlicher Roman.

Jan ist Historiker, arbeitet Akten des Auswärtigen Amtes durch. Das Jahr 1991 lässt ihn stocken, innehalten. Die Vergangenheit wird aus der Verdrängung hervor gespült, bremst alles.
Er war damals zehn Jahre jung, die DDR am Verschwinden. Wie auch sein Vater, der in den Osten ging. Im neuen Westen hielt ihn nicht mal seine Familie. Jan und seine Mutter „flohen“ in einen Bahnhofskiosk in Berlin und betreiben diesen. Für Jan begann eine Zeit der Verdrängung, und wurde zu einem unscheinbaren Mann, der sich lieber hinter Akten vergrub.
Trotzdem gründet er eine Familie mit Katja, und lebt am Rand von München, in der Nähe des Flüsschens Wurm. Dieses Gewässer ist Namensgeber für die letzte Eiszeit, welche vor 10000 Jahren endete, und unsere Landschaft formte, wie wir sie heute kennen. Eine markante Zeitzone.
Jan pendelt berufsbedingt immer wieder nach Berlin, wo er eine kleine Wohnung unterhält.
Enni ist Notrufdisponentin bei der Feuerwehr in München. Sie ist das Gegenteil von Jan. Quirlig, braucht Menschen um sich. Ein Zufall bringt beide zusammen. Sie spricht Jan vor einer Tankstelle an, als dieser etwas verloren wirkt. Er hat seine Schlüssel verlegt, wohl in seiner Wohnung eingesperrt. Seine Frau mit seinen beiden Söhnen ist bei ihren Eltern, ein heimkommen also nicht möglich. Enni „knackt“ das Schloss, und ein wenig die schleichende Lethargie von Jan. Es entwickelt sich eine leichte Freundschaft, sie treffen sich hin und wieder.
Im Laufe der Zeit (ohne jetzt Einzelheiten zu verraten) zieht es beide nach Berlin – es gibt ein neues Ankommen, und gewissen Endstationen in deren Leben.
Die Autorin lässt abwechselnd Enni und Jan erzählen. Sie berichten von ihrem Alltag, von ihren Jobs und Begegnungen. Beide scheinen eigenwillig zu sein, und doch stechen sie wahrscheinlich nicht besonders aus der Masse heraus. Michaela Maria Müller zeichnet sie liebevoll, detailreich, aber nie langweilig.
Ihre Leben verknüpft sie gekonnt mit brennenden Alltagsthemen genauso wie mit der großen weltweiten Politik oder der Geschichte im Allgemeinen mit all ihren Auswirkungen.
Es ist ein sehr feiner, kluger Roman. Ruhig, unaufdringlich, und dennoch lässt er einen nicht mehr los. Ihre beiden handelnden Personen entwickeln sich, finden neue Perspektiven und machen das beste aus ihren Situationen. Ohne Schnörkel, Pathos oder Kitsch.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman. Es sind tatsächlich immer wieder Zonen der Zeit, die unser aller Leben bestimmen und verändern.