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Benutzername: 
dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 191 Bewertungen
Bewertung vom 07.01.2025
Die Villa der Architektin
Mazzucco, Melania G.

Die Villa der Architektin


sehr gut

Es ist ein Zufall, der Melania Mazzucco auf die Spur von Plautilla Bricci gesetzt hat. In einem kunsthistorischen Werk trifft sie auf ein Wort, das es im Italienischen gar nicht gibt: L’architettrice, die Architektin. Gemeint war Plautilla Bricci, eine Architektin der römischen Barockzeit, eine große Unbekannte. Melania Mazzucco nimmt Witterung auf. 19 Jahre lang forscht sie in Archiven, in den Depots der Museen und privaten Kunstsammlungen, in Briefwechseln und in Tagebüchern. Stück für Stück sammelt sie kleine Puzzleteilchen, die sie schließlich zu einer Geschichte zusammensetzt: die Geschichte der Plautilla Bricci, die sich selbstbewusst als „L’architettrice“, als Architektin bezeichnete.

Mit dem Titel dieses Buches löste Melania Mazzucco allerdings Proteste aus. Mazzucco lebt in einem Land, in dem die Ministerpräsidentin auf der Anrede „Herr Präsident“ besteht. Weibliche Berufsbezeichnungen werden von den italienischen Rechtspopulisten als Angriff und Abwertung betrachtet, und so wurde Mazzucco von der rechten Presse wegen des Buchtitels angegriffen.

Plautilla Bricci hatte diese Probleme nicht, dafür aber andere. Bricci, 1616 geboren, lebte in einer Zeit und einer Gesellschaft, in der sich das Leben der Frauen im engen Umkreis der Häuslichkeit erschöpfte. Dazu kam ihre Herkunft aus einer ständig von Geldnöten geplagten Familie, die der Vater mehr schlecht als recht mit seinen Malereien und Dichtungen über Wasser hielt. Aber er erkennt die Begabung seiner Tochter und unterrichtet sie im Lesen und Schreiben, in Mathematik, Astronomie, Physik, Malerei, in Sprachen und allem, was er für wesentlich hielt. Plautilla hat seinen wachen Geist geerbt und nimmt nach seinem Tod ihr Leben selber in die Hand.

Sehr anschaulich beschreibt Mazzucco die Abhängigkeit der Künstler von den barocken Höfen, allen voran der Kurie, und das von Intrigen, Betrügereien, Neid und Missgunst geprägte Klima der Stadt. Die Prunksucht der Päpste und des römischen Adels, der Überfluss an Geld auf der einen Seite, bitterste Armut auf der anderen Seite, Korruption und Vetternwirtschaft – all das entsteht vor dem Auge des Lesers, der Plautilla Bricci auf ihrem Weg durch dieses Haifischbecken begleitet. Ihre Leistungen werden durchaus anerkannt, aber als Frau hat sie dennoch zu schweigen, und immer wieder muss sie erleben, wie sie verraten wird und ihre Leistungen von Männern für sich selber reklamiert werden, so dass sie schließlich dem Vergessen anheimfällt.

Ihr Hauptwerk ist ein pompöser Palazzo in Schiffsform: die Villa Benedetta auf dem Hügel Gianicolo. Diese Villa baute Plautilla Bricci für ihren Geliebten Elpidio Benedetti, der als Botschafter für Kardinal Mazarin und den französischen König Ludwig XIV. tätig war. Im italienischen Freiheitskampf gegen die französische Besetzung wurde diese Villa der Mittelpunkt des Widerstands und daher 1849 zerstört, als dem Papst die weltliche Herrschaft wieder zugefallen war.

Insgesamt ein akribisch recherchiertes Buch, dessen Sachkenntnis überzeugt. Mit der immer wieder holprigen sprachlichen Gestaltung wäre die Ästhetin Plautilla Bricci vermutlich nicht ganz zufrieden gewesen. Dennoch: hier zeigt sich ein buntes Kaleidoskop des barocken Roms mit seinem Glanz, aber auch mit seinem sozialen Elend. Ein opulentes Sittengemälde!

Bewertung vom 06.01.2025
Die Insel des kleinen Gottes (eBook, ePUB)
Pechmann, Alexander

Die Insel des kleinen Gottes (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Schiffsunglück, Sagen um ein Geisterschiff, nächtliche Irrlichter über dem Meer, eine einsame Insel – das sind Zutaten, aus denen sich ein spannender Roman stricken lässt! Pechmann baut seinen Roman auf der Sage von einem brennenden Geisterschiff auf. Es handelt sich um das niederländische Schiff Palatine, das Mitte des 18. Jahrhunderts mit ca. 300 Auswanderern von Amsterdam aus nach Neu-England segelte und dort an Weihnachten auf den Sandbänken vor der Insel des Kleinen Gottes (später Block Island genannt) strandete. Sehr zur Freude der örtlichen Strandräuber, die das Schiff plünderten und anschließend ohne Rücksicht auf die Passagiere in Brand setzten. Seitdem erscheint das brennende Spukschiff vor der Küste.

Die Geschichte ist historisch nicht belegt, aber die Sage hält sich hartnäckig. Pechmann lagert die Sage in zwei Rahmenhandlungen ein. Ein Kartograf, der die beste Position für einen Leuchtturm berechnen soll, wird Zeuge des Unglücks und versucht mit anderen, den Menschen zu Hilfe zu kommen. Er leidet jedoch unter Gedächtnislücken, sodass er nach einigen Jahren wieder zur Insel reist, um mit der Hilfe von Überlebenden seine eigene Rolle bei der Rettung bzw. Brandschatzung zu erkennen. Die Erzählung einer Überlebenden ist das Kerngerüst des Romans. Sie erzählt anschaulich von der Werbung durch einen betrügerischen Werber, der sie und die anderen Auswanderer letztendlich in die Schuldknechtschaft von Reedern und Fabrikanten verkauft, sie erzählt von der teils dramatischen Überfahrt, der Mangelernährung, heftigen Unwettern, dem Ausbruch von Krankheiten und dem geldgierigen Verhalten der Besatzung. Aus ihrer Erzählung ergibt sich ein sehr lebendiges und anschauliches Bild einer solchen Auswandererfahrt auf einem Seelenverkäufer ohne hinreichende Ernährung und unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen, bei der die Auswanderer dem Gewinnstreben der Besatzung und v. a. der Reederei wehrlos ausgesetzt waren. Ebenso hilflos stehen sie den Wreckern gegenüber, die das Schiff mit trügerischen Positionslampen auf einer Sandbank havarieren lassen.

Sehr beklemmende Bilder gelingen Pechmann, wenn er seine Überlebende erzählen lässt, wie der Großteil der Inselbewohner den Havarierten nicht zu Hilfe eilt, sondern ihnen beim Ertrinken zuschaut und das Spektakel genießt. Da drängen sich zeitgenössische Bilder vor die Augen des Lesers....

Die Erzählung wird strukturiert durch 10 Tarotkarten, mit deren Hilfe der Kartograf sein eigenes Erleben rekonstruiert. Diese Rekonstruktion gelingt etwas mühsam und bleibt an vielen Stellen unklar. Pechmann zieht gegen Schluss eine Spukshow ab, die man als gruselig empfinden kann oder auch nicht. Es kommt aber zu Längen und Doppelungen der Handlung, die sich nicht eindeutig entwickelt, und damit bleibt die Rolle des Kartografen bei der Rettung nach wie vor wenn nicht im Dunkeln, dann doch im geisterhaften Halbdunkel.

3,5/5*

Bewertung vom 09.12.2024
Zauberberg 2
Strunk, Heinz

Zauberberg 2


ausgezeichnet

1914 wurde Thomas Manns „Der Zauberberg“ veröffentlicht, und 100 Jahre später erweist u. a. auch Strunk dem Meister seine Reverenz. Er hat seinen Zauberberg sehr genau gelesen, die Parallelen, teilweise auch Übernahmen sind deutlich. Man muss allerdings „Zauberberg 1“ nicht kennen, um trotzdem Strunks Roman zu folgen.
Strunk versetzt die Handlung kompromisslos in die Gegenwart und bedient damit wie Thomas Mann das Genre des Zeitromana. Das Sanatorium liegt an der polnischen Grenze, isoliert und fernab jedes menschlichen Getümmels, wie gehabt, und die Patienten sind nicht lungenkrank, sondern leiden an psychischen Problemen. Jonas Heidbrink, der Protagonist, begibt sich freiwillig dorthin und wird, wie Hans Castorp, im Lauf der Zeit von der Klinik aufgesogen, die Zeit verliert ihre Bedeutung, und die Außenwelt versinkt.
Der Klinikalltag ist eintönig und wird von merkwürdigen Behandlungen strukturiert, und hier zeigt sich schon Strunks Freude an der Übertreibung, am Sarkasmus oder auch an der ironischen Brechung seiner Vorlage. Auch die Mitpatienten sind ein Reigen skurriler Gestalten, jeder für sich isoliert, von Weltschmerz gebeutelt. Sehr originell fand ich die Figur des Mitpatienten Zeissner, mit dem Strunk die Figuren Settembrini und Naphta karikiert. Strunk lässt diesen Alles-Erklärer seine nur vordergründig philosophisch eingefärbten Monologe führen, die niemlas zum Ende und auch niemals zum Punkt kommen. Seine Sentenzen erinnern an billige Kalendersprüche und verstecken ihre Oberflächlichkeit hinter einem anspruchsvollen Vokabular.
Und Strunk wäre nicht Strunk, wenn es nicht gelegentlich auch eklig zuginge.
Strunks Beobachtungsgabe ist so scharf wie sein Vokabular. Sein Blick auf seine Mitmenschen ist provokant, zugleich unbestechlich und ironisch bis hin zum Zynismus, aber zugleich sieht er auch das Menschliche in seinen Figuren. Diese eigenartige Mischung aus Mis- und Philanthropie zeigt sich auch in seinem unglaublichen Sprachwitz, der nie nur für sich dasteht, sondern immer verbunden ist mit einer Erkenntnis von Absurditäten des Lebens.
Das Hörbuch wird vom Autor selbst eingelesen. Strunks Lesung ist nicht mit der geschulten Stimme eines Schauspielers zu vergleichen; er haspelt und verhustet sich auch gelegentlich, aber das alles macht sein temporeiches Vorlesen sehr authentisch und letztlich zu einem Vergnügen.
4,5/5*

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.12.2024
Intermezzo (eBook, ePUB)
Rooney, Sally

Intermezzo (eBook, ePUB)


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:
Zwei ungleiche Brüder stehen im Mittelpunkt. Peter, der Ältere, 32 Jahre, ist ein erfolgreicher Anwalt, liebt Frauen, Alkohol, Tabletten und Drogen – und Ivan, 10 Jahre jünger, ein introvertierter Nerd, der nach Abschluss seines Studiums von kleineren Jobs lebt und sich dem professionellen Schachspiel verschrieben hat. Die einzelnen Kapitel nehmen abwechselnd die jeweilige Perspektive ein. Und je nach Perspektive unterscheidet sich auch die Erzählweise.
Die Erzählweise ist es auch, die dem Leser Hürden aufbaut. Rooney schreibt abgehackt und wie atemlos: kurze Sätze, Satztrümmer, Auslassungen, kurze Einwürfe. Sie verzichtet auf Anführungszeichen, sodass sich der Leser immer wieder rückversichern muss, wer nun spricht bzw. ob überhaupt jemand spricht oder der Text nicht wieder in den endlos fließenden Gedankenstrom übergegangen ist. Diese Erzählweise wird in den Peter-Kapiteln auf die Spitze getrieben, während die Ivan-Kapitel um einiges ruhiger erzählt werden.
Hat man sich durch die ersten Kapitel durchgekämpft, entfaltet der Text einen ganz besonderen Sog. Die beiden unterschiedlichen Brüder kämpfen beide mit dem kürzlichen Tod des Vaters, der sie jedoch nicht näherbringt, sondern eher noch weiter entzweit. Beide sind zudem in belastete Beziehungen verstrickt. Rooney folgt minutiös ihren alltäglichen Kleinigkeiten und ihren Gedankengängen, und immer deutlicher wird, wie verletzt jede ihrer Figuren ist. Ein dichtes Psychogramm entsteht, fein gewebt, sprachlich teils schwierig, aber sehr eindrücklich.
Und noch eines wird zunehmend klarer: wie unsicher und entfremdet alle Figuren im zwischenmenschlichen Bereich sind. Sie stellen sich zwar alle über gesellschaftliche Konventionen, aber sie sind emotional vereinsamt und unsicher. Ständig wird das eigene Verhalten und auch das der anderen hinterfragt; jeder reflektiert in nicht endenden Gedankenströmen. Ebenso häufig werden Entschuldigungen vorgebracht und Rückversicherungen vom anderen erbeten. Dahinter steckt der große Wunsch nach Harmonie oder zumindest nach einer emotionalen Gemeinsamkeit mit dem anderen, die jedoch so fragil ist, dass sie ständig beschworen werden muss.
Hier zeigt Rooney eine erstaunlich scharfe Beobachtungsgabe, und es gibt dem Buch einen besonderen Strich, dass sie auch das Thema des Vergebens streift.

Bewertung vom 30.11.2024
Das Geheimnis der Weihnachtstage
Kitchin, C.H.B.

Das Geheimnis der Weihnachtstage


ausgezeichnet

Malcolm Warren, ein junger Londoner Börsenmakler, verbringt seine Weihnachtstage in Beresford Lodge, einem großzügigen Anwesen, das seinem Auftraggeber Mr. Quisberg gehört. Hier trifft er auf die Patchwork-Familie und auf Freunde Mr. Quisbergs, darunter eine der Töchter seiner Frau aus einer vorherigen Ehe und ihren dubiosen Möchte-Gern-Verlobten sowie einen befreundeten Arzt.

Der Leser wird in eine Zeit versetzt, in denen unsichtbare Dienstboten die profanen Dienste in Hof, Haus und vor allem der Küche erledigten und ein Trupp Gärtner sommers wie winters den Garten in Ordnung hält. Ein Diener bringt morgens den Tee ans Bett und später auch das Frühstück, wenn gewünscht. Außerdem ist er sofort zur Stelle, wenn man nur den Klingelzug betätigt. Familie und Gäste dagegen sind mit Spielen und Spaziergängen beschäftigt, um nicht in Langeweile zu verfallen.
Wie schön! Wie bequem! Zumindest für Familie und Gäste.

Diese Idylle wird getrübt durch spektakuläre Leichenfunde, und die Polizei ermittelt. Malcolm Warren hat nach dem Mord an seiner Tante eine gewisse Erfahrung mit Mordfällen und wird daher vom ermittelnden Inspektor in die Polizeiarbeit eingebunden, erst recht, weil er die Mordfälle entdeckt hatte.

Nun entspinnt sich eine lange Gedankenkette in Malcolms Kopf. Er ermittelt nicht systematisch, denn seine Stärke liegt seiner Meinung nach nicht in der Sichtung und Analyse von Beweisen, sondern in psychologischen Schlussfolgerungen.

Der Inspektor ist jedoch auch nicht auf den Kopf gefallen. Er verbindet seine eigenen Beobachtungen mit Malcolms Schlussfolgerungen und zerrt schließlich gnadenlos die unschönen Wahrheiten der Familie ans Licht.
Eine originelle Idee hat der Autor am Schluss, wenn er den fiktiven Leser in ein klärendes Zwiegespräch mit seinem Protagonisten Malcolm verwickelt.

Ein liebenswerter Krimi, der in bester Agatha-Christie-Tradition den Mord mit Logik und geistiger Flexibilität löst. Er macht neugierig auf weitere Werke des Autors.
4,5/5*

Bewertung vom 26.11.2024
Aufbruch nach Artimé / Wächter der Magie Bd.1
McMann, Lisa

Aufbruch nach Artimé / Wächter der Magie Bd.1


ausgezeichnet

Einer unserer kleinen Mitbewohner gehört zur Zielgruppe: K. ist 11 Jahre alt und ein begeisterter Leser. Also haben wir das Buch beide gelesen. K. liebt Bücher mit magischem Inhalt und hat das Buch zügig gelesen, obwohl es, wie er meinte, streckenweise langweilig war.

Der düstere, grausame Beginn des Buches hat ihn sehr beeindruckt. Das Land Quill, in dem Menschen in Nützlichkeitskategorien eingeteilt werden und in dem Eltern die Tötung ihrer Kinder zulassen und sogar befördern – das hat ihn emotional beschäftigt. Umso erleichterter war K., als er wie die Protagonisten in der freundlichen Kunstwelt Artimé ankam, in der Kreativität und persönliche Eigenheiten sogar gefördert werden. Und da er gerne schnitzt, hätte er sich vom Magus ein Schnitzmesser und eine Werkbank herzaubern lassen.

Gut gefallen hat ihm auch, dass jedes Kind sich seinen individuellen Zauber basteln konnte, je nach seinen Stärken und Vorlieben. Weniger gut gefallen hat ihm allerdings dass dieser Zauber überwiegend zur Waffenherstellung genutzt wird. Das kriegerische Aufeinandertreffen der beiden Welten fand er nicht gut. „Wieso reden die denn nicht miteinander und machen was aus?“, meinte er. Man sollte Kinder nicht unterschätzen...Zudem fand er, dass einige Kampfszenen zu ausführlich geschildert wurden.

Welche Figur war K. am sympathischsten? Er musste überlegen. Auf alle Fälle der Magus, der Mitleid mit den Kindern hat und ihnen eine bunte, fröhliche Welt zaubert. Zu Alex, dem Protagonisten, entwickelte er eine eher ambivalente Haltung. Wie ich auch, verstand K. nicht recht, wieso Alex, der seinen geliebten Zwillingsbruder Aaron zurücklassen musste, in seinem Trennungsschmerz keine Zuwendung findet. Trotzdem hätte Alex den Magus trotzdem nicht hintergehen dürfen mit seinem Türzauber, meinte K., aber auf der anderen Seite gefiel ihm Alex wegen seines Muts und seiner Geschwisterliebe, obwohl Aaron das nicht verdient hätte.

Vielleicht bringen die Folgebände eine Entwicklung der Charaktere? K würde ihn gerne lesen.
3,5/5*

Bewertung vom 25.11.2024
Wir finden Mörder Bd.1 (2 MP3-CDs)
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1 (2 MP3-CDs)


sehr gut

Richard Osmans Schreibstil ist unnachahmlich. Flüssig und eingängig, und dazu mit einer besonderen Prise an Ironie und teils auch makabrem Humor erzählt er seine Geschichten, ohne aber jemals flapsig oder nachlässig zu werden. Dazu kommt seine Vorliebe für eigenwilliges, um nicht zu sagen schrulliges Personal. Dieser Vorliebe, die der Leser aus dem Donnerstagsmordclub kennt, bleibt er hier treu.
Im Mittelpunkt stehen Amy, eine Personenschützerin, und ihr Schwiegervater Steve, der um nichts in der Welt auf seinen wöchentlichen Quizabend im Pub verzichten will. Dazu gesellt sich Amys derzeitige Auftraggeberin Rosy, eine schrille und extravagante ältere Schriftstellerin. Mit Hilfe von Rosies Millionen können die Ermittlungen problemlos über mehrere Kontinente ausgedehnt werden.
Hat man die ersten Kapitel überstanden und die Vielzahl an Personen sortiert, kann man das Hörbuch genießen. Der Einstieg wird einem nicht leicht gemacht. Dazu trägt auch der Episodenstil bei mit den vielen Perspektivenwechseln, der den Leser dazu auffordert, die nicht erzählten Leerstellen zu schließen.
Der Episodenstil hat jedoch den Vorzug, dass der Autor sich gerade liebevoll einzelnen Szenen, z. B. Dialogszenen widmen kann, in denen er das Skurrile der Situation herausarbeiten kann. Das sind Szenen, die auch den Sprechern liegen, wenn sie mit Betonungen oder leichten Verzögerungen das Hintergründig-Ironische greifbar lassen werden.
4,5/5*

Bewertung vom 24.11.2024
Vierundsiebzig
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


gut

2023 sorgte ein Prozess in München für großes öffentliches Aufsehen. Eine deutsche Islamistin wurde schuldig gesprochen, den Tod eines 5jährigen jesidischen Mädchens, mit ihrer Mutter verschleppt und versklavt, bewusst in Kauf genommen zu haben. Mit dem Prozess und dem Schuldspruch rückte die grausame Verfolgung der Jesiden, einer kurdischen Minderheit, durch das IS-Kalifat in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit.

Die Autorin ist in Deutschland aufgewachsen als Tochter eines jesidischen Vaters, der aber ein sog. Abtrünniger ist, weil er sich aus den strengen, fast archaischen und reformfeindlichen Konventionen dieser Glaubensgemeinschaft gelöst hat. Die Identifikation mit dem Jesidentum ist der Autorin selber auch unerklärbar: „Ich bin es, und ich bin es nicht“, sagt sie.

Ein Fernsehbericht über den Genozid im August rüttelt sie auf. Sie recherchiert von Deutschland aus, und sie reist schließlich in die unruhigen kurdischen Grenzgebiete in Syrien, dem Irak und der Türkei. Sie trifft Flüchtlinge, sie besucht zerstörte Dörfer, Massengräber, Museen, sie fotografiert und dokumentiert minutiös auch kleinste Beobachtungen. Sie besucht aber auch die Rückkehrer, die nach dem Sieg der kurdischen Truppen auch den Jesiden die Rückkehr ermöglichten. Vor allem aber besucht sie die weitläufige Familie ihres Vaters, bei denen sie immer wieder als Kind ihre Sommerferien verbracht hat, und dokumentiert ihre Vertreibungsgeschichte. Mit ihren Erinnerungen ergänzt sie ihre Recherche-Ergebnisse. Hier macht sie jedoch eine Entdeckung, die aber nur kurz anklingt: Auch ihre Familie ist der Nutznießer eines anderen Genozids, von dem niemand mehr spricht, nämlich des Genozids an den Armeniern.

Das Buch bietet keine durchgängige Erzählung, sondern besteht eher aus Fragmenten, die die Autorin montiert. Mit diesen Fragmenten und der punktuellen Darstellung von Einzelschicksalen fügt sich der Leser ein Bild zusammen von den Grausamkeiten, denen die Jesiden unter der IS-Besatzung ausgesetzt waren. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass der Schrecken noch nicht beendet ist und in syrischen Lagern noch viele verschleppte und versklavte Frauen vermutet werden.

Der Autorin ist das Problem der sprachlichen Gestaltung ihrer Fragmente sehr wohl bewusst. Sehr häufig überlegt sie, wie sie das Unfassbare beschreiben bzw. erzählen soll. Sie entscheidet sich für einen fragmentarischen, abgehackten Stil, mit vielen wortwörtlichen Wiederholungen, bei denen vor allem die in Endlosschleife wiederkehrenden Anaphern zunehmend meine Geduld strapazierten. Ebenso strapaziös fand ich die langwierigen Aufzählungen von Objekten, denen keine weitere Bedeutung zukam.

Interessanter fand ich dagegen ihre poetologischen Überlegungen. Die Autorin beobachtet sich selber und erkennt ihre steigende Identifizierung mit dem Jesidentum, um aber gleichzeitig wieder von dessen archaischen Konventionen (Ablehnung von Bildung, Schriftlichkeit und Selbstbestimmung, Kastenwesen etc.) abgeschreckt zu werden.

Das Buch ist ohne Zweifel wichtig. Als Roman hat es mich aber nicht überzeugt.

Bewertung vom 23.11.2024
Das Fest
Fricke, Lucy

Das Fest


ausgezeichnet

Ein runder Geburtstag macht einen immer etwas nachdenklicher, und je runder die Geburtstage werden, umso heftiger können die melancholischen Attacken sein. Jakob, der Protagonist, wird 50. Kein Alter, könnte man sagen, da wartet noch so viel auf einen, das Leben braust noch! Aber Jakob sieht das anders. Er blickt auf ein Leben voller Niederlagen zurück. Beruflich, amourös und überhaupt: er steckt seiner Ansicht nach in einer nicht endenden Flaute. Er steckt fest in Selbstmitleid und Zukunftspessimismus.

Seine Freundin Ellen sieht das anders, und mit ihrem Geburtstagsgeschenk, einer Badehose, führt sie Jakob in einen ganz besonderen Tagesverlauf. Im Laufe des Tages begegnet Jakob nämlich einigen Menschen, die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten. Erinnerungen werden in Jakob wach, und er erkennt mit einer ganz besonderen Mischung aus Dankbarkeit und Demut, wie diese Menschen ihn geformt und sein Leben beeinflusst haben. Und allmählich ändert sich seine Einstellung. Das Leben hat ihn versehrt, das ja, und das wird an seinen verschiedenen Verletzungen auch sichtbar, aber dennoch hebt sich seine Stimmung. Nicht nur dieser besondere Geburtstag, sondern sein Leben ist nun für ihn „Das Fest“.

Die Geschichte ist, realistisch betrachtet, eher unwahrscheinlich. Aber sie hat einen Charme, dem sich der Hörer, auch dank Bettina Hoppes perfektem Vorlesen, nicht entziehen kann. Der Optimismus und die Lebenszugewandtheit der Erzählung sind wohltuend, und die Kernbotschaft finde ich wunderbar: der reflektierende Rückblick auf ein gutes Leben zeigt weniger die äußeren Erfolge, sondern zeigt die Beziehungen zu Menschen, die einen eine Zeitlang begleitet und unterschiedlich geformt haben. Jakob empfindet Dankbarkeit. Seine Verhärtung bricht auf, er schaut wieder hoffnungsfroh in die Zukunft.

Dieses eigentlich schwergewichtige Thema erzählt die Autorin leicht, voller Verständnis für ihre Figuren, mit Humor und auch Ironie, und in jeder der Begegnungen sieht man ihre eigene Lebensklugheit und Menschenfreundlichkeit.

Bewertung vom 22.11.2024
Maddalena geht (eBook, ePUB)
Weiß, Margit

Maddalena geht (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Autorin versetzt ihre Leser in das Buchenheimer Tal, eines der isolierten Bergtäler der nördlichen Alpen, in denen sich die Sprachgruppen der Ladiner bis heute erhalten konnte. Es ist der Autorin ein sichtbares Anliegen, nicht nur ein Zeitzeugnis zu erstellen, sondern v. a. auch die Kultur der Ladiner in diesem Buch zu verewigen. So flicht sie ein ladinisches Kinderlied in ihren Text ein, und man erfährt einiges über die Mythologie des ladinischen Raumes.
Im Mittelpunkt steht aber der Weg der Maddalena Decassian, die sich aus der Enge und Aussichtslosigkeit einer streng patriarchalisch geprägten Gesellschaft aus eigener Kraft lösen kann. Das Leben im Buchenheimer Tal, in das Maddalena hineingeboren wird, ist geprägt von täglicher harter körperlicher Arbeit, von Entbehrungen, Kargheit, Armut und ständigem Hunger. Aber auch von Kirchenhörigkeit und Kinderreichtum, sodass die Ankunft eines Neugeborenen oft dazu führt, dass eines der älteren Kinder weggegeben werden muss. Das Leben der Frauen ist, so die Autorin grundsätzlich fremdbestimmt durch Mann bzw. Ehemann; der Wert einer Frau bemisst sich in ihrer Arbeitskraft, und sie ist Übergriffen jedweder Art hilf- und rechtlos ausgesetzt. Hier und auch an anderen Stellen setzt die Autorin auf kräftige schwarz-weiße Kontraste; ein differenzierteres Bild hätte mir besser gefallen.
Maddalena hatte sich eine Ausbildung zur Hebamme am Klinikum Innsbruck erkämpft und wandert nun, viele Jahre später dorthin zurück. Auf diesem Weg erfahren wir Stück ihr Stück ihre Lebensgeschichte. Sehr schön und geschmeidig gelingt es der Autorin aber, Maddalenas Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, bis sich die beiden Zeitebenen schließlich verbinden und der eigentliche Sinn der Wanderung deutlich wird. Zugleich nutzt die Autorin die Gelegenheit, die Entmündigung der Frauen durch eine männlich dominierte Medizin oder auch, sehr deutlich, die oft prekäre Lage der weggegebenen Kinder darzustellen.
Die Geschichte der Maddalena fließt ruhig vor sich hin, so wie sie beim Wandern ihre Füße bedächtig einen vor den anderen setzt. Die Liebe der Autorin zu ihrer Herkunft zeigt sich nicht nur in den ladinischen Zitaten, sondern auch in den schönen Naturbeschreibungen des Buchenheimer Tals und der Dolomiten. Es bleibt allerdings unklar, wieso der Schriftsatz auf die üblichen Kennzeichen der wörtlichen Rede verzichtet und damit den Lesefluss immer wieder erschwert bzw. unterbricht.
Ein ladinisches Glossar beschließt den Text. Ein kleiner Ausblick auf das Leben der historischen Maddalena hätte den Roman sehr schön abgerundet!