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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 186 Bewertungen
Bewertung vom 26.11.2024
Aufbruch nach Artimé / Wächter der Magie Bd.1
McMann, Lisa

Aufbruch nach Artimé / Wächter der Magie Bd.1


ausgezeichnet

Einer unserer kleinen Mitbewohner gehört zur Zielgruppe: K. ist 11 Jahre alt und ein begeisterter Leser. Also haben wir das Buch beide gelesen. K. liebt Bücher mit magischem Inhalt und hat das Buch zügig gelesen, obwohl es, wie er meinte, streckenweise langweilig war.

Der düstere, grausame Beginn des Buches hat ihn sehr beeindruckt. Das Land Quill, in dem Menschen in Nützlichkeitskategorien eingeteilt werden und in dem Eltern die Tötung ihrer Kinder zulassen und sogar befördern – das hat ihn emotional beschäftigt. Umso erleichterter war K., als er wie die Protagonisten in der freundlichen Kunstwelt Artimé ankam, in der Kreativität und persönliche Eigenheiten sogar gefördert werden. Und da er gerne schnitzt, hätte er sich vom Magus ein Schnitzmesser und eine Werkbank herzaubern lassen.

Gut gefallen hat ihm auch, dass jedes Kind sich seinen individuellen Zauber basteln konnte, je nach seinen Stärken und Vorlieben. Weniger gut gefallen hat ihm allerdings dass dieser Zauber überwiegend zur Waffenherstellung genutzt wird. Das kriegerische Aufeinandertreffen der beiden Welten fand er nicht gut. „Wieso reden die denn nicht miteinander und machen was aus?“, meinte er. Man sollte Kinder nicht unterschätzen...Zudem fand er, dass einige Kampfszenen zu ausführlich geschildert wurden.

Welche Figur war K. am sympathischsten? Er musste überlegen. Auf alle Fälle der Magus, der Mitleid mit den Kindern hat und ihnen eine bunte, fröhliche Welt zaubert. Zu Alex, dem Protagonisten, entwickelte er eine eher ambivalente Haltung. Wie ich auch, verstand K. nicht recht, wieso Alex, der seinen geliebten Zwillingsbruder Aaron zurücklassen musste, in seinem Trennungsschmerz keine Zuwendung findet. Trotzdem hätte Alex den Magus trotzdem nicht hintergehen dürfen mit seinem Türzauber, meinte K., aber auf der anderen Seite gefiel ihm Alex wegen seines Muts und seiner Geschwisterliebe, obwohl Aaron das nicht verdient hätte.

Vielleicht bringen die Folgebände eine Entwicklung der Charaktere? K würde ihn gerne lesen.
3,5/5*

Bewertung vom 25.11.2024
Wir finden Mörder Bd.1 (2 MP3-CDs)
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1 (2 MP3-CDs)


sehr gut

Richard Osmans Schreibstil ist unnachahmlich. Flüssig und eingängig, und dazu mit einer besonderen Prise an Ironie und teils auch makabrem Humor erzählt er seine Geschichten, ohne aber jemals flapsig oder nachlässig zu werden. Dazu kommt seine Vorliebe für eigenwilliges, um nicht zu sagen schrulliges Personal. Dieser Vorliebe, die der Leser aus dem Donnerstagsmordclub kennt, bleibt er hier treu.
Im Mittelpunkt stehen Amy, eine Personenschützerin, und ihr Schwiegervater Steve, der um nichts in der Welt auf seinen wöchentlichen Quizabend im Pub verzichten will. Dazu gesellt sich Amys derzeitige Auftraggeberin Rosy, eine schrille und extravagante ältere Schriftstellerin. Mit Hilfe von Rosies Millionen können die Ermittlungen problemlos über mehrere Kontinente ausgedehnt werden.
Hat man die ersten Kapitel überstanden und die Vielzahl an Personen sortiert, kann man das Hörbuch genießen. Der Einstieg wird einem nicht leicht gemacht. Dazu trägt auch der Episodenstil bei mit den vielen Perspektivenwechseln, der den Leser dazu auffordert, die nicht erzählten Leerstellen zu schließen.
Der Episodenstil hat jedoch den Vorzug, dass der Autor sich gerade liebevoll einzelnen Szenen, z. B. Dialogszenen widmen kann, in denen er das Skurrile der Situation herausarbeiten kann. Das sind Szenen, die auch den Sprechern liegen, wenn sie mit Betonungen oder leichten Verzögerungen das Hintergründig-Ironische greifbar lassen werden.
4,5/5*

Bewertung vom 24.11.2024
Vierundsiebzig
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


gut

2023 sorgte ein Prozess in München für großes öffentliches Aufsehen. Eine deutsche Islamistin wurde schuldig gesprochen, den Tod eines 5jährigen jesidischen Mädchens, mit ihrer Mutter verschleppt und versklavt, bewusst in Kauf genommen zu haben. Mit dem Prozess und dem Schuldspruch rückte die grausame Verfolgung der Jesiden, einer kurdischen Minderheit, durch das IS-Kalifat in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit.

Die Autorin ist in Deutschland aufgewachsen als Tochter eines jesidischen Vaters, der aber ein sog. Abtrünniger ist, weil er sich aus den strengen, fast archaischen und reformfeindlichen Konventionen dieser Glaubensgemeinschaft gelöst hat. Die Identifikation mit dem Jesidentum ist der Autorin selber auch unerklärbar: „Ich bin es, und ich bin es nicht“, sagt sie.

Ein Fernsehbericht über den Genozid im August rüttelt sie auf. Sie recherchiert von Deutschland aus, und sie reist schließlich in die unruhigen kurdischen Grenzgebiete in Syrien, dem Irak und der Türkei. Sie trifft Flüchtlinge, sie besucht zerstörte Dörfer, Massengräber, Museen, sie fotografiert und dokumentiert minutiös auch kleinste Beobachtungen. Sie besucht aber auch die Rückkehrer, die nach dem Sieg der kurdischen Truppen auch den Jesiden die Rückkehr ermöglichten. Vor allem aber besucht sie die weitläufige Familie ihres Vaters, bei denen sie immer wieder als Kind ihre Sommerferien verbracht hat, und dokumentiert ihre Vertreibungsgeschichte. Mit ihren Erinnerungen ergänzt sie ihre Recherche-Ergebnisse. Hier macht sie jedoch eine Entdeckung, die aber nur kurz anklingt: Auch ihre Familie ist der Nutznießer eines anderen Genozids, von dem niemand mehr spricht, nämlich des Genozids an den Armeniern.

Das Buch bietet keine durchgängige Erzählung, sondern besteht eher aus Fragmenten, die die Autorin montiert. Mit diesen Fragmenten und der punktuellen Darstellung von Einzelschicksalen fügt sich der Leser ein Bild zusammen von den Grausamkeiten, denen die Jesiden unter der IS-Besatzung ausgesetzt waren. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass der Schrecken noch nicht beendet ist und in syrischen Lagern noch viele verschleppte und versklavte Frauen vermutet werden.

Der Autorin ist das Problem der sprachlichen Gestaltung ihrer Fragmente sehr wohl bewusst. Sehr häufig überlegt sie, wie sie das Unfassbare beschreiben bzw. erzählen soll. Sie entscheidet sich für einen fragmentarischen, abgehackten Stil, mit vielen wortwörtlichen Wiederholungen, bei denen vor allem die in Endlosschleife wiederkehrenden Anaphern zunehmend meine Geduld strapazierten. Ebenso strapaziös fand ich die langwierigen Aufzählungen von Objekten, denen keine weitere Bedeutung zukam.

Interessanter fand ich dagegen ihre poetologischen Überlegungen. Die Autorin beobachtet sich selber und erkennt ihre steigende Identifizierung mit dem Jesidentum, um aber gleichzeitig wieder von dessen archaischen Konventionen (Ablehnung von Bildung, Schriftlichkeit und Selbstbestimmung, Kastenwesen etc.) abgeschreckt zu werden.

Das Buch ist ohne Zweifel wichtig. Als Roman hat es mich aber nicht überzeugt.

Bewertung vom 23.11.2024
Das Fest
Fricke, Lucy

Das Fest


ausgezeichnet

Ein runder Geburtstag macht einen immer etwas nachdenklicher, und je runder die Geburtstage werden, umso heftiger können die melancholischen Attacken sein. Jakob, der Protagonist, wird 50. Kein Alter, könnte man sagen, da wartet noch so viel auf einen, das Leben braust noch! Aber Jakob sieht das anders. Er blickt auf ein Leben voller Niederlagen zurück. Beruflich, amourös und überhaupt: er steckt seiner Ansicht nach in einer nicht endenden Flaute. Er steckt fest in Selbstmitleid und Zukunftspessimismus.

Seine Freundin Ellen sieht das anders, und mit ihrem Geburtstagsgeschenk, einer Badehose, führt sie Jakob in einen ganz besonderen Tagesverlauf. Im Laufe des Tages begegnet Jakob nämlich einigen Menschen, die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten. Erinnerungen werden in Jakob wach, und er erkennt mit einer ganz besonderen Mischung aus Dankbarkeit und Demut, wie diese Menschen ihn geformt und sein Leben beeinflusst haben. Und allmählich ändert sich seine Einstellung. Das Leben hat ihn versehrt, das ja, und das wird an seinen verschiedenen Verletzungen auch sichtbar, aber dennoch hebt sich seine Stimmung. Nicht nur dieser besondere Geburtstag, sondern sein Leben ist nun für ihn „Das Fest“.

Die Geschichte ist, realistisch betrachtet, eher unwahrscheinlich. Aber sie hat einen Charme, dem sich der Hörer, auch dank Bettina Hoppes perfektem Vorlesen, nicht entziehen kann. Der Optimismus und die Lebenszugewandtheit der Erzählung sind wohltuend, und die Kernbotschaft finde ich wunderbar: der reflektierende Rückblick auf ein gutes Leben zeigt weniger die äußeren Erfolge, sondern zeigt die Beziehungen zu Menschen, die einen eine Zeitlang begleitet und unterschiedlich geformt haben. Jakob empfindet Dankbarkeit. Seine Verhärtung bricht auf, er schaut wieder hoffnungsfroh in die Zukunft.

Dieses eigentlich schwergewichtige Thema erzählt die Autorin leicht, voller Verständnis für ihre Figuren, mit Humor und auch Ironie, und in jeder der Begegnungen sieht man ihre eigene Lebensklugheit und Menschenfreundlichkeit.

Bewertung vom 22.11.2024
Maddalena geht (eBook, ePUB)
Weiß, Margit

Maddalena geht (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Autorin versetzt ihre Leser in das Buchenheimer Tal, eines der isolierten Bergtäler der nördlichen Alpen, in denen sich die Sprachgruppen der Ladiner bis heute erhalten konnte. Es ist der Autorin ein sichtbares Anliegen, nicht nur ein Zeitzeugnis zu erstellen, sondern v. a. auch die Kultur der Ladiner in diesem Buch zu verewigen. So flicht sie ein ladinisches Kinderlied in ihren Text ein, und man erfährt einiges über die Mythologie des ladinischen Raumes.
Im Mittelpunkt steht aber der Weg der Maddalena Decassian, die sich aus der Enge und Aussichtslosigkeit einer streng patriarchalisch geprägten Gesellschaft aus eigener Kraft lösen kann. Das Leben im Buchenheimer Tal, in das Maddalena hineingeboren wird, ist geprägt von täglicher harter körperlicher Arbeit, von Entbehrungen, Kargheit, Armut und ständigem Hunger. Aber auch von Kirchenhörigkeit und Kinderreichtum, sodass die Ankunft eines Neugeborenen oft dazu führt, dass eines der älteren Kinder weggegeben werden muss. Das Leben der Frauen ist, so die Autorin grundsätzlich fremdbestimmt durch Mann bzw. Ehemann; der Wert einer Frau bemisst sich in ihrer Arbeitskraft, und sie ist Übergriffen jedweder Art hilf- und rechtlos ausgesetzt. Hier und auch an anderen Stellen setzt die Autorin auf kräftige schwarz-weiße Kontraste; ein differenzierteres Bild hätte mir besser gefallen.
Maddalena hatte sich eine Ausbildung zur Hebamme am Klinikum Innsbruck erkämpft und wandert nun, viele Jahre später dorthin zurück. Auf diesem Weg erfahren wir Stück ihr Stück ihre Lebensgeschichte. Sehr schön und geschmeidig gelingt es der Autorin aber, Maddalenas Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, bis sich die beiden Zeitebenen schließlich verbinden und der eigentliche Sinn der Wanderung deutlich wird. Zugleich nutzt die Autorin die Gelegenheit, die Entmündigung der Frauen durch eine männlich dominierte Medizin oder auch, sehr deutlich, die oft prekäre Lage der weggegebenen Kinder darzustellen.
Die Geschichte der Maddalena fließt ruhig vor sich hin, so wie sie beim Wandern ihre Füße bedächtig einen vor den anderen setzt. Die Liebe der Autorin zu ihrer Herkunft zeigt sich nicht nur in den ladinischen Zitaten, sondern auch in den schönen Naturbeschreibungen des Buchenheimer Tals und der Dolomiten. Es bleibt allerdings unklar, wieso der Schriftsatz auf die üblichen Kennzeichen der wörtlichen Rede verzichtet und damit den Lesefluss immer wieder erschwert bzw. unterbricht.
Ein ladinisches Glossar beschließt den Text. Ein kleiner Ausblick auf das Leben der historischen Maddalena hätte den Roman sehr schön abgerundet!

Bewertung vom 07.11.2024
Einfach mal Wild
Kintrup, Martin

Einfach mal Wild


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Wir wohnen auf dem Lande und essen immer wieder Wild – und ich koche gerne und ambitioniert. Ein strenger Blick auf ein neues Kochbuch ist also garantiert 😊! Kintrups Kochbuch gefällt mir allein schon optisch mit dem jagdgrünen Cover und dem stilisierten röhrenden Hirsch. Und der Inhalt?
Die Rezepte kümmern sich um alle hiesigen Wildarten, vom Hirsch angefangen bis zur Wildtaube. Jede Rezeptseite ist übersichtlich aufgebaut: auf einer Seite das Rezept, gegenüber ein anschauliches und appetitanregendes Bild. Jedes Rezept enthält oben einen kleinen Info-Kasten über die Anzahl der Portionen, die Arbeitszeit und die komplette Zubereitungszeit. Das Rezept selber ist eindeutig beschrieben, und es orientiert sich erfreulicherweise an der Abfolge der Arbeitsschritte, sodass man nichts übersehen kann. Einfach der Reihe nach abarbeiten! Dazu wird, wenn nötig, die Kerntemperatur angegeben Ich habe drei Rezepte und eine der Füllungen nachgekocht und kann bestätigen: es kann nichts schiefgehen! Und last but not least: geschmeckt hat es auch noch.
Was mir sehr gut gefällt: Kintrup kümmert sich auch um die Reste, roh oder schon gegart, und setzt hier traditionelle Rezepte z. B. aus der Hack-Küche um.
Über die reinen Wildgerichte hinaus bietet das Buch auch zusätzliche Rezepte für Beilagen, die man problemlos in andere Menus integrieren kann. Sehr schön, gerade für Anfänger, sind auch die Seiten mit Rezepten für Würzbutter, Marinaden, Suppeneinlagen und dergleichen „Nebenwerk“.
Das Kochbuch richtet sich sichtlich an Anfänger und will die Hemmschwelle vor der Wildküche beseitigen. Das dürfte ihm gelingen!
Fazit: eine Fülle an Kochideen, klare und überwiegend einfach Rezepte, tolle Bilder.

Bewertung vom 25.10.2024
Von Norden rollt ein Donner
Thielemann, Markus

Von Norden rollt ein Donner


sehr gut

Jannes, 19, ist Schäfer. Seine Familie betreibt seit Generationen einen Schäferhof in der Lüneburger Heide. Romantische Vorstellungen eines naturverbundenen und idyllischen Lebens lässt der Autor jedoch gar nicht erst aufkommen. Der Leser trifft auf ein eher düsteres Szenario. Der Hof liegt nämlich in der Hörweite eines Truppenübungsplatzes der Bundeswehr und in der Nähe des ehemaligen KZs Bergen-Belsen. Die düstere Anfangsstimmung wird verstärkt durch den Donner eines aufziehenden Gewitters.

Auf dem Hof leben mehrere Generationen ein eher bescheidenes, vergnügungsarmes Leben, das von täglicher Sorge um die Tiere und harter Arbeit in der Natur gekennzeichnet ist. Die Familie hat finanzielle Probleme und lädt daher zu Hofführungen ein, auch das Fernsehen ist zu Gast, dennoch nehmen die finanziellen Probleme nicht ab.

Eine neue Bedrohung taucht zunehmend stärker auf: der Wolf ist zurück. Mit der Romantisierung des Wolfes habe ich persönlich noch nie viel anfangen können, weil ich die Klagen der Viehbauern in meiner Heimat im Ohr habe. Auch Jannes‘ Familie befindet sich in dem Spagat zwischen den Naturschützern, die die Auswilderung der Wölfe unterstützen, und den Bauern, die Einbußen an ihrer Herde zu verkraften haben und diese Bedrohung ihrer Existenz ohne die Unterstützung der Politik meistern müssen.

Sehr schön konterkariert der Autor die tägliche Arbeit der Familie mit den Vorstellungen der städtischen Besucher, die das Leben mit den Tieren in der Natur als Idylle wahrnehmen. Der Autor gönnt seinem Leser zwar sehr schöne Beschreibungen der kargen Südheide, aber von Anfang stellt er klar, dass die Idylle trügt. Mit jeder Heideromantik a la Hermann Löns und mit jeder Verklärung von Traditionen, von Heimat und Natur räumt der Autor gründlichst auf.

Sehr gut gefallen hat mir auch, wie der Autor die Übernahme der aufgelassenen Höfe durch völkisch angehauchte Siedler beschreibt: eine Bewegung, die nicht nur in der Lüneburger Heide zu beobachten ist. Und beobachtet werden sollte. Mit dem Namen „Röder“ leistet sich Thielemann ebenfalls einen zwar versteckten, aber eindeutigen Verweis. Röder ist der nicht nur der Name eines rechtsextremen Zeitgenossen namens Manfred Röder, sondern der Name verweist auch auf den üblen Nazi-Richter gleichen Namens, der u. a. Dietrich Bonhoeffer in den Tod schickte, der aber in allen Ehren und mit einer schönen staatlichen Pension sein Leben beschließen durfte. Die Wahl des Namens ist sicherlich beabsichtigt. Ein kleiner, aber effektvoller Hinweis auf den gefährlichen braunen Sumpf, der nach wie vor unter einer friedlichen Oberfläche lauert.

Schleichend kommt eine weitere Bedrohung auf Jannes zu, die wie die Wölfe auch zunächst unsichtbar ist, sich aber zunehmend konkretisiert. Jannes wird von unklaren Ängsten und schließlich auch Visionen gequält, und seine Ängste verbinden sich schließlich mit Ereignissen rund um das Frauen-KZ Bergen-Belsen, um die in der Familie eine Mauer des Schweigens errichtet worden war. Hier fragt man sich als Leser allerdings, ob die Aufdeckung dieser verdrängten Ereignisse nicht auch ohne Jannes‘ Visionen möglich gewesen wäre; das Ende des Romans wirkt dadurch recht überzogen.

Trotz dieser Einschränkung besticht Thielemanns grundlegende Idee: unter einer zur Idylle erklärten Oberfläche bewegen sich dunkle und auch grausame Mächte, denen er Autor die Metapher des Wolfes zuordnet. Dieses Böse ist nicht greifbar und wird nie konkret gesichtet, aber es ist präsent und kann jederzeit hervorbrechen.

Fazit: Ein lesenswerter, bildstarker Roman über die Zusammenhänge der individuellen Geschichte mit der Zeitgeschichte, um Verdrängung und um das, was Heimat eigentlich ist.

Bewertung vom 24.10.2024
Tokio Express
Matsumoto, Seicho

Tokio Express


ausgezeichnet

An einem bei Liebespaaren beliebten Strand werden zwei Leichen gefunden, nebeneinander liegend und beide mit Zyankali vergiftet: Ganz klar: ein Doppelselbstmord aus Liebe. Nur dem örtlichen Kommissar Torigai fällt eine kleine Unstimmigkeit auf, die ihm keine Ruhe lässt. Weil beide Toten aus Tokio stammen, wird auch die dortige Polizei eingeschaltet, und hier ist es der Kommissar Mihara, der ähnlich wie Torigai an die Theorie des Selbstmords nicht recht glauben will. Immerhin ist der männliche Tote der Untergebene eines Ministerialbeamten, gegen den gerade wegen Korruption ermittelt wird.

Entscheidend für den Gang der Ermittlungen ist die Pünktlichkeit der Züge. Wären die Züge nicht auf die Minute pünktlich, würde der Plot nicht funktionieren. Es ist nämlich ein kleines Zeitfenster von nur vier Minuten, das die Ermittlungen in Gang setzt. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, sie sind wie in jedem old-school-Krimi mit viel Gedankenarbeit und logischem Denken verbunden. Mihara hat dennoch immer wieder das Gefühl, an eine unüberwindliche Mauer zu stoßen, weil seine Vermutungen nicht stimmen oder seine Prämissen unzutreffend waren. Der Autor lässt seinen Leser an den Überlegungen teilnehmen; allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht jeden der vielen Zugpläne aus dem Kursbuch gedanklich begleitet habe. Umso mehr muss man die Findigkeit des Autors und seiner Ermittler bewundern, die aus den vielen rätselhaften Fakten schließlich die Wahrheit herausfiltern. Ein komplizierter Fall!

Die sachlich-nüchterne Art des Erzählens mag nicht jedem Leser liegen. Matsumoto verschont seine Leser mit Emotionen und mit Ausbrüchen welcher Art auch immer. Seine Figuren verhalten sich dementsprechend, sie gehen stets höflich und respektvoll miteinander um – wie wohltuend! In aller Ruhe geht die Handlung voran, bis sich schließlich die komplizierten Zusammenhänge klären.

Der Krimi erschien erstmals 1958 unter dem Titel „Spiel mit dem Fahrplan“ und wurde vom Kampa Verlag neu herausgegeben.

Nach wie vor sehr lesenswert!
4,5

Bewertung vom 20.10.2024
Zitronen (eBook, ePUB)
Fritsch, Valerie

Zitronen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Es ist eine düstere Welt, in die der Leser versetzt wird. Ein kleines Dorf, abweisend, jeder der Bewohner lebt für sich, es gibt keine Gemeinschaft, und „der eine schlägt seinen Hund, der anderen seine Frau“. In diesem Dorf lebt die Familie Drach, abgelegen, in einem windschiefen und ungepflegten Haus – und in diesem Haus geht es noch düsterer zu als außerhalb. August Drach, der Protagonist, erlebt dort eine Kindheit, die an Düsterkeit und Einsamkeit schwer zu überbieten ist.

Der Vater ist ein unzufriedener Choleriker, der seine Familie tyrannisiert und seinen kleinen Sohn mit unberechenbarer Gewalt und täglichen Demütigungen klein hält, während seine Frau Lilly sich in Traumwelten flüchtet. Sie erwacht aber förmlich zum Leben, wenn sie das geprügelte und hilfsbedürftige Kind umsorgen kann. Als der Vater verschwindet, sorgt sie selber dafür, den Sohn krank zu halten und umsorgen zu können. Nach außen ist sie die fürsorgliche und aufopfernde Mutter, in Wirklichkeit aber führt sie den kränklichen Zustand des Kindes selber gezielt mit Gift und Medikamenten herbei. Sie leidet am sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, das der Autorin offensichtlich vertraut ist und das sie mit Präzision und subtiler Beobachtung schildert.

Diese Gleichzeitigkeit von Grausamkeit und Fürsorge, von Gewalt und Zärtlichkeit erzählt die Autorin in einer nüchternen und distanzierten Sprache, die die erzählten Handlungen noch beklemmender macht. Sie verzichtet auf jede Dramatik, jede Larmoyanz, sie ergreift niemals Partei, sondern sie erzählt in einem fast chronikhaft anmutenden Stil, der durch beeindruckende Metaphern aufgebrochen wird. Dabei lässt sie die Erzählung langsam vorangehen und widmet sich jeder ihrer Figuren mit analytischer Genauigkeit, sodass bedrückende Bilder von Menschen entstehen, die in den „Verkarstungen“ ihrer Seele gefangen sind.

Einziger Lichtblick im buchstäblichen Sinn sind die Zitronen: ein leuchtender Fleck in der dunklen Geschichte. Die Autorin flicht das Symbol der Zitrone immer wieder ein, nie aufdringlich, aber immer aussagestark. Eine besondere Bedeutung kommt dem Symbol zu, als sie von einem Urlaub erzählt in dem Land, wo die Zitronen blühn. Lilly stehen ihre Gifte nicht zur Verfügung, und August blüht auf, er lebt. Das Bild der Zitronen, die „wie Sterne am dunklen Himmel standen“, begleitet ihn sein Leben. Allerdings auch die Säure bzw. die Bitterkeit dieses ambivalenten Symbols.

Fazit: Ein dunkler Roman über einen Menschen, dem es nicht gelingt, sich aus seinen anerzogenen Mustern zu lösen.
4,5/5*

Bewertung vom 19.10.2024
Der Steinacker
Jansson, Tove

Der Steinacker


ausgezeichnet

Jonas, ein pensionierter Journalist, soll im Ruhestand eine Biografie über Y schreiben. Jonas mag Y nicht, er bezeichnet ihn als „Dreckskerl“, weil er unachtsam mit der Sprache umgegangen sei und sie für billige und sentimentale Themen missbraucht habe. Für Jonas dagegen kann ein Wort eine Waffe sein, es kann Spuren hinterlassen, aber er muss erleben, dass sich seine Worte im Lauf seiner Berufsjahre abgenutzt haben.

Seine Töchter erkennen seine Situation und laden ihn in ihr gemietetes Sommerhaus auf einer Schäre ein. Jonas wohnt direkt am Wasser, aber die Probleme mit Y bleiben bestehen. Aber im Unterschied zu früher lernt er hier die Freundlichkeit seiner Mitmenschen kennen. Da ist der Nachbar, der ihm Alkohol besorgt und ihm das Angeln als Stresslöser anbietet, oder der Nachbarsjunge, der ihm seinen Aufsatz vorliest. Vor allem sind seine Töchter da, die es ihm das fehlende Familienleben in ihrer Kindheit nicht nachtragen.

In der Nähe des Sommerhauses befindet sich ein Steinacker, eine lokale Sehenswürdigkeit, und an diesem Steinacker arbeitet Jonas sich nun ab. Er empfindet den Steinacker, einen unfruchtbaren und abweisenden Ort, als Bild für sein Leben und sein Scheitern: konkret für sein Scheitern beim Schreiben der Biographie und erst recht für sein Scheitern als Ehemann und Vater, das ihm nun deutlich wird. Das Bewegen der Steine macht ihm seine Vereinzelung deutlich, aber setzt auch eine Veränderung in ihm in Gang.

Tove Janssons Sprache hat die Eigenschaften, die Jonas ersehnt: sie ist klar und eindeutig, auf das Wesentliche beschränkt und gerade deswegen so ausdrucksstark. Die Autorin beobachtet ihre Mitmenschen und deren Verhalten sehr genau, aber ihr Blick ist in diesem kleinen Roman wieder der neugierige, eher versöhnliche Blick auf einen Mitmenschen, der nicht unbedingt ein Sympathieträger ist. Sie wertet nicht und verurteilt auch nicht, so wie es auch Jonas‘ Töchter nicht tun. „Wir haben Zeit“, sagt eine der Töchter, und diese Zeit gibt die Autorin auch ihrer Figur, um ihre Vergangenheit zu klären und die familiäre Gemeinschaft zuzulassen.