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digitus
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Schwäbische Alb

Bewertungen

Insgesamt 22 Bewertungen
Bewertung vom 01.12.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Filmreif - kalter Krieg hautnah erlebt

Das Buch von Ben Macintyre erzählt eine wahre Spionagegeschichte, die schon auf den ersten Seiten wie ein Achtionthriller daherkommt.

Leserinnen und Leser erhalten Einblicke in den KGB und lernen die Lebensgeschichten von Menschen kennen, die in dieser Welt leben.

Wir lernen Oleg Gordijewski kennen, der die Tätigkeit im KGB praktisch in die Wiege gelegt bekommt, weil bereits sein Vater Agent im sowjetischen Geheimdienst war. Er legt eine mustergültige Karriere hin, auch wenn er - getriggert durch das hautnahe Miterleben des Mauerbaus in Berlin - immer eine gewisse innere Distanz zum System der Sowjetunion hält.

Und so wird er schließlich Doppelagent und findet sich in der Folge zwischen den Geheimdiensten Russlands, der USA und Großbritannien wieder.

Gordijewski ist eine reale Figur der Zeitgeschichte und so bewegt sich das Buch von Ben Macintyre zwischen Sachbuch und Roman, ist - wie der Guardian laut einem Hinweis auf dem Cover schrieb - ein "Non-Fiction-Thriller".

Der schriftstellerischen Kunst des Autors (und der gelungenen Übersetzung) ist zu verdanken, dass das Buch von Anfang bis Ende flüssig, ja geradezu "süffig" zu lesen ist.

Absoluter Geschenktipp für Menschen, die sich für Spionage-Thriller begeistern können!

Bewertung vom 14.11.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


ausgezeichnet

Sich Geschichte erarbeiten - Familienerbe in Polen

Der 1985 geborene und in Brooklyn, New York lebende Journalist Menachem Kaiser macht sich auf in eine Reise in die Vergangenheit seiner Familie, insbesondere des acht Jahre vor seiner Geburt verstorbenen Großvaters.

Das Cover mit der am Henkel aufgehängten mit Gebrauchsspuren versehenen Email-Tasse vor grünem Hintergrund hat mich sofort angesprochen.

Irgendwie gerät der Autor auch eher zufällig in seine Familiengeschichte hinein, weil er 2010 beruflich im Baltikum zu tun hatte und auf der Rückreise einen Halt in Krakau einlegte.

Und damit beginnt eine lange Geschichte des Eintauchens in die Geschichte seines Großvaters, die viel mit dem Judentum und mit dem Holocaust zu tun hat und schließlich in die bizarr anmutende Suche nach einem Schatz auf einem Dachboden mündet.

Nicht immer leicht zu lesen, aber ungemein interessant und durch die persönliche Schilderung des Autors mitreißend.

Bewertung vom 30.10.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Friedemann Karig schätze ich als wachen und pointierten Journalisten, deswegen war ich auf dieses Buch sehr gespannt. Schon die Leseprobe zog mich in den Bann.

Karig stellt eine Frau an der Grenze von Wahrheit und Lüge dar. Auf nichts von dem, was sie erzählt, scheint man sich verlassen zu können.

Und letztlich wird das Erlogene wahr und Lüge so zur Prophetie.

Die Geschichte ist die Erzählung dieser Frau, die sich in einer abgeschiedenen Privatklinik in psychotherapeutische Behandlung begibt. Letztlich scheint das Berichtete Teil der Therapiegespräche zu sein, aber auch da ist nie ganz klar, was Gedankengespinst und was Realität ist.

Die Therapeutin schwankt zwischen Skepsis und Hingerissensein und muss schließlich feststellen, dass sie auch bereits Teil der Geschichte ist.

Toll geschrieben, eine mitreißende Geschichte von Wahrheit und Lüge, von Macht und Ausgeliefertsein. Leseempfehlung!

Bewertung vom 27.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Sterben ist wie ein verlorener Zahn

Das Cover ist eines von denen, die ich gerne als Plakat zum an-die-Wand-hängen hätte: Bunte Farben, die erst beim zweiten Blick das Motiv freigeben.

Das Buch hat mich gleich mit den ersten Sätzen gefangen genommen: Es wird das Bild der verstorbenen Großmutter gezeichnet, die nicht besonders groß aber offenbar stets präsent war.

Im zweiten Kapitel werden dann drei Frauen vorgestellt; Tanja, Nina und Lena.

Und diese Frauen begegnen uns in den weiteren Episoden schlaglichtartig wieder: beim Zubereiten eines Radieschensalats, beim Schlangestehen nach Eiern.

Es sind wortgewaltige Puzzlesteine, die sich zu einem Ganzen fügen.

Der Krieg ist allgegenwärtig, eine der stärksten Episoden handelt von einer Klinik, in der Kriegsamputierte Prothesen angepasst bekommen.

Und immer wieder wird der Alltag im real existierenden Sozialismus geschildert: Armut und Kargheit verbunden mit innerem Reichtum.

Ein leises und unspektakuläres Buch gerade damit aber mächtig und bewegend. Lesetipp.

Bewertung vom 12.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

Rassismus, Wut und Gewalt

Das Buch nimmt Bezug auf historische Ereignisse im Jahr 1971 in Boston. Im Vorwort ist von massiven Unruhen die Rede, angesichts derer der Autor berichtet, "noch nie im Leben solche Angst gehabt" zu haben.

Damit ist der Ton gesetzt: Es geht um Rassismus, Armut, Wut, Angst und Gewalt. Die Sprache nimmt uns mit in eine Gesellschaft, die gefangen ist in ihrer Starrheit und Brutalität.

Wir begleiten Mary Pat Fennessy, Nachfahrin irischer Einwanderer, deren 17jährige Tochter Julia, von allen lediglich Jules genannt, eines Nachts nicht nach Hause kommt.

Mary Pat beginnt Nachforschungen anzustellen, recherchiert die Ereignisse der Nacht, die ihre Tochter nicht überlebt hat.

Nachdem sie bereits einen Sohn durch eine Überdosis Drogen verloren hat, ist ihre Trauer und Wut grenzenlos.

Mary Pat startet ihren ganz eigenen Rachefeldzug und geht dabei nicht zimperlich vor.

Die Sprache von Dennis Lehane nimmt gefangen, immer sachlich beobachtend, teilweise fast journalistisch anmutend. Die Hauptperson wird in der Schilderung des Autors wunderbar plastisch.

Mit den Gewaltschilderungen ist es keine Lektüre für zartbesaitete Leser:innen, aber dennoch ein bereicherndes horizonterweiterndes Buch.

Die Übersetzung von Malte Krutsch erscheint stimmig und übermittelt die streckenweise poetische Sprache gut.

Ärgerlich ist lediglich, dass der Verlag den Originaltitel "Small Mercies" (kleine Barmherzigkeiten) in ein plakatives "Sekunden der Gnade" verwandelt hat.

Bewertung vom 29.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Verwunschene Hamptons

Das Titelbild und der eher schlichte Titel haben mich sofort angesprochen: "Die Einladung" und eine offene Hand ...

Wir lernen Alex kennen, die als "Gesellschafterin" (ich liebe dieses altertümliche Wort) für ihren Lebensunterhalt sorgt und dabei vielen Männern sehr nahe kommt, aber doch auch immer auf dem Absprung ist. Die Bestätigung, die sie sucht findet sie nicht und kann dieses Leben nur durch Medikamentenmissbrauch aushalten.

Alles scheint in der Schwebe zwischen Nähe und Distanz.

Und sie hinterlässt mit Lügen und Diebstählen eine Spur der Verwüstung, der sie nur durch ständige Ortswechsel entkommen kann.

Mit dem letzten Partner scheint sie dann doch so etwas wie ein Glück gefunden zu haben ... oder eben auch nicht.

Das ist spannend geschrieben, Alex tut einem irgendwie leid in ihrer Suche nach einem eigenen Stückchen High-Society und mit den vielen Sprüngen und Abgründen.

Und natürlich kann es kein Happy End geben. Emma Cline findet aber dennoch einen Schluss, der mich als Leser zwar verstört aber nicht unzufrieden zurück lässt

Bewertung vom 27.06.2023
Zwischen Himmel und Erde
Rodrigues Fowler, Yara

Zwischen Himmel und Erde


sehr gut

Poesie und Prosa

Die ersten Seiten des Buches der britsch-brasilianischen Schriftstellerin Yara Rodrigues Fowler sind eine Herausforderung. Erst ein paar Worte von Sappho. Dann ein Prolog mit drei Gedichten (?!), die ebenso sperrig wie kryptisch sind und erarbeitet werden müssen.

Da ist das erste Kapitel, das mit "MILE END I (2016)" überschrieben ist, schon fast eine Erlösung: Ein flüssiger Text, der (wie im Klappentext) Ereignisse des Jahres 2016 auflistet und damit den Lesenden abholt und gewissermaßen den Rahmen aufspannt. Mel lernt ihre neue Mitbewohnerin Catarina kennen. Es ist ein Beschnuppern, Taxieren, das wunderbar beschrieben ist.

Das plastische Zeichnen von Personen und Situationen zieht sich durch die gut 500 Seiten des Buches.

Dennoch hat Yara Rodrigues Fowler einen etwas experimentell anmutenden Schreibstil, der die Lektüre teilweise etwas schwierig macht: Es gibt nur abschnittsweise richtigen Fließtext, manches wirkt abgehackt im Sinne von Wort- und Satzfetzen. Wörtliche Rede ist nicht als solche gekennzeichnet. Einzelne Kapitel wirken fast essayistisch.

Maria Meinel hat als Übersetzerin ganze Arbeit geleistet. Warum der Verlag für die deutsche Übersetzung aus dem Originaltitel "There are more things" das geflügelte Wort zu "Zwischen Himmel und Erde" fortführt, ist sein Geheimnis. Ich hätte "Mehr Dinge zwischen Himmel und Erde" schlüssiger gefunden.

Die Autorin und das Buch machen es den Leser:innen also nicht ganz leicht. Es ist ein Kunstwerk, das mit Sprache und Typografie spielt. Der Roman wird nicht jedem und jeder gefallen. Ich fand das Leseerlebnis anregend und spannend, empfehle aber tatsächlich die Leseprobe, um herauszufinden, ob einem der Stil der Autorin liegt.

Bewertung vom 07.06.2023
Das Restaurant der verlorenen Rezepte / Die Food Detectives von Kyoto Bd.1
Kashiwai, Hisashi

Das Restaurant der verlorenen Rezepte / Die Food Detectives von Kyoto Bd.1


ausgezeichnet

Auf der Spur des einzigartigen Geschmacks

Hisahi Kashiwai nimmt in "Das Restaurant der verlorenen Rezepte" seine Leserinnen und Leser mit in die Kultur Japans aber insbesondere in die Geheimnisse der japanischen Küche.

Der Roman besteht aus sechs Kapiteln, die jeweils einem Gericht gewidmet sind. Dabei ist mit "Spaghetti Napolitan" auch ein europäisches Essen. Die Personen - insbesondere die beiden Hauptpersonen - sind liebevoll gezeichnet.

An Nagare Kamogawa und seine Tochter Koishi wenden sich Menschen, die auf der Suche nach Gerichten sind, die sie einmal gegessen haben und mit denen sie bestimmte Gefühle oder Erinnerungen verbinden.

Das Restaurant "Kamogawa Shokudō" ist weniger eine Gaststätte als vielmehr eine Detektei, die kunstvoll Zutaten und Zubereitungsarten herausfindet um dem optimalen Geschmack eines Gerichts so nahe wie möglich zu kommen.

Das Buch ist wohltuendes Slow Food für Liebhaberinnen und Liebhaber asiatischer Kultur und japanischen Essens. Man muss sich aber auf die Geschichten einlassen, nur dann erschließt sich der volle Genuss - genau wie bei den Gerichten, die im "Kamogawa Shokudō" zubereitet werden.

Bewertung vom 15.05.2023
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


weniger gut

Verspricht mehr als es hält ...

Das Buchcover mit den kräftigen Farben passt perfekt zu einer Geschichte aus der Karibik und würde mich in der Buchhandlung zum Buch greifen und darin schmökern lassen.

Das Buch beginnt im ersten Kapitel mit einer apokalyptisch anmutenden sagenhaften Geschichte, die Catherine ihrer Enkeltochter Yejide erzählt.

Das zweite Kapitel schickt die Lesenden in das Trinidad der Jetztzeit, wo Emmanuel Darwin sich um einen Job bewirbt und als Totengräber auf dem Friedhof "Fidelis" eingestellt wird.

Das hat mich anfangs schon mitgerissen, dann aber ist das Buch für mich falsch abgebogen und wird zu einer Geschichte, die mit Magie und Totenbeschwörung ins teilweise Skurrile und Verängstigende abgleitet.

Auch die im Klappentext angekündigte 'literarische unmittelbare und bezaubernde Liebesgeschichte' findet erst im letzten Drittel des Buches statt. Die Schilderungen davor haben unnötige Längen.

Ich habe immer wieder den Impuls gehabt, das Buch zur Seite zu legen, wollte aber dann doch wissen, ob die Autorin mit ihrer Geschichte noch die Kurve bekommt. Hat sie für mich aber leider nicht :(

Vielleicht hätte ich mehr Einführung in die Spiritualität der Karibik gebraucht, die das Buch nicht liefert. Auch mit der oben genannten (und schon faszinierenden) Sagengeschichte lässt die Autorin ihre Leserinnen und Leser alleine. Andererseits sollte ein Buch für sich stehen können.

Mich hat das Buch nach der letzten Seite mit dem schalen Gefühl zurück gelassen, dass ich meine Zeit vergeudet habe ... schade!

Bewertung vom 02.05.2023
Samuels Buch
Finzi, Samuel

Samuels Buch


ausgezeichnet

Portrait des Schauspielers als Kind in Bulgarien

Wenn Schauspielstars meinen, nun auch noch schriftstellerisch tätig sein zu müssen, darf man skeptisch sein. Es gibt neben gelungenen Werken auch viele Bücher, die mit dem Namen der Stars locken aber deren Lektüre in Zeitverschwendung ausartet.

Finzis charakteristisches Gesicht kennt jede Fernsehzuschauerin und jeder Fernsehzuschauer. Es ist dem Verlag hoch anzurechnen, dass er eben nicht mit diesem unverkennbaren Gesicht auf dem Frontcover Werbung für das Buch macht.

Auch der Buchtitel ist unspekatakulär "Samuels Buch" ... ja, klar ...

Deswegen war ich eher abwartend als ich die ersten Seiten des Buchs gelesen habe.

Aber was ist das für eine wunderbare bildhafte Erzählsprache, wie liebevoll zeichnet Finzi die beschriebenen Figuren wie den Großvater, den wir beim Rasieren beobachten.

Finzi flicht zudem die politischen Verhältnisse in Bulgarien während der Zeit seiner Kindheit ein, und auch das passiert en passant im Plauderton aber ohne jede Beiläufigkeit.

Ich tauche ein in die Welt in einem Land, das ich nicht kenne und dass es so auch nicht mehr gibt.

Und Finzi erzählt wunderbar kurzweilig von seiner Familie und seinen Freunden, vom Urlaub am Schwarzen Meer und davon, wie er glücklicherweise nach einem Missgeschick nicht das Augenlicht verlor.

Schließlich beginnt seine Geschichte mit der Schauspielerei, die immer auch eine Auseinandersetzung mit dem politischen System der damaligen Zeit ist.

Alles wunderbar lässig und mit einem liebevollen Blick für das Beobachtete. Ein lesenswertes Buch, nach dessen Lektüre man hofft, mehr von Samuel Finzi lesen zu dürfen.