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digitus
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Schwäbische Alb

Bewertungen

Insgesamt 25 Bewertungen
Bewertung vom 03.03.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Nirgends dazugehören

Ein Zufall führte dazu, dass ich unmittelbar vor "Mutternichts" das Buch "Eine Frau" der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux gelesen habe.

Auch da geht es der Ich-Erzählerin um eine Annäherung an die eigene gerade verstorbene Mutter. Das Buch von Annie Ernaux, an das ich - wegen des Nobelpreises - hohe Erwartungen hatte, fand ich erstaunlich belanglos.

Ganz anders das ähnlich schmale Bändchen mit dem Debüt der 1969 in Bozen geborenen Christine Vescoli, die sich auch auf die Reise macht, sich die Lebensgeschichte ihrer Mutter zu erarbeiten. Was war dieses "Mutternichts", dieses Geheimnis, was hat die Mutter verborgen?

Die Mutter habe ihr ihr Nichts hinterlassen, schreibt die Ich-Erzählerin: "existente Inexistenz".

Die Wortgewalt von Christine Vescoli macht es mir als Leser nicht leicht, in das Buch hineinzufinden, die Sprache der Autorin will gleichfalls erarbeitet werden.

Dann aber nimmt sie einen gefangen und lässt einen eintauchen in die Welt von Urgroßmutter, Großmutter und Mutter. Die Mutter, die weggegeben und mit acht Jahren "Dirn" auf einem anderen Bauernhof wurde. Somit gehörte sie nirgends dazu, weder zur Herkunftsfamilie, die ihr immer mehr entrückt noch zum neuen Umfeld.

Manche Schilderungen sind in ihrer Intensität kaum auszuhalten, dennoch ist "Mutternichts" ein unbedingt lesenswertes Buch - keine leichte Kost aber gewinnbringend im Sinne einer Horizonterweiterung.

Bewertung vom 19.02.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


weniger gut

Die Realität hinter der Realität

Mich hat das Buch etwas ratlos zurück gelassen. Es ist flüssig zu lesen, aber es ist schwer, den vielen Rückblenden zu folgen und die Bezüge zum Hier und Jetzt herzustellen.

Georg erhält eine skurrile SMS seines Vaters, die er so deutet, dass dieser eine Affäre hat und mit ihr eine Urlaubsreise antreten will.

Georg, der gerade auf der Hochzeit seines besten Freundes in Kroatien ist, bricht überstürzt auf, um seinen Vater zu stellen.

Dabei entdeckt er im Sinnieren während der Fahrt weitere Ungereimtheiten: ist sein Vater ein Agent, ist er schwer krank, hat er noch eine zweite Familie?

Sind das alles Hirngespinste oder ist es Realität?

Wie gesagt: Flüssig zu lesen, aber irgendwie fehlt mir die Pointe. Ich habe das Buch gelesen, aber weiß nicht so recht, was es sein soll: Möchtegern-Road-Movie mit einem Hauch Coming-of-Age?

Nichts halbes und nichts ganzes. Schade irgendwie.

Bewertung vom 12.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


sehr gut

Zueinander hin ...

Wie großartig beginnt dieser Roman: Zwei Menschen, die sich durch die Fenster ihrer Wohnungen beobachten ohne zu bemerken, dass sie sich wechselnd gegenseitig beobachten. Und das so feinsinnig, gleichermaßen zurückhaltend und wortgewaltig beschrieben, dass es mich als Leser sofort gefangen nimmt.

In den weiteren Kapiteln lernen wir die Figuren dann genauer kennen: Jack Baker, einen Fotografen und Elisabeth Augustine, die ein Konzert im "Empty Bottle" besucht, weil sie herausgefunden hat, dass jener Fotograf, den sie heimlich beobachtet, dort Fotos macht.

Letztlich heiraten sie und wollen eine moderne Ehe führen. Und dabei stehen ihnen immer wieder Erfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte und Strukturen aus den Herkunftsfamilien im Weg. Das alles ist mit großer Intensität und Sympathie für die Figuren erzählt.

Keine leichte Kost für nebenher. Dennoch (trotz oder gerade wegen der gut 700 Seiten) ein abwechslungsreicher und lohnender Lesestoff.

Bewertung vom 01.12.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Filmreif - kalter Krieg hautnah erlebt

Das Buch von Ben Macintyre erzählt eine wahre Spionagegeschichte, die schon auf den ersten Seiten wie ein Achtionthriller daherkommt.

Leserinnen und Leser erhalten Einblicke in den KGB und lernen die Lebensgeschichten von Menschen kennen, die in dieser Welt leben.

Wir lernen Oleg Gordijewski kennen, der die Tätigkeit im KGB praktisch in die Wiege gelegt bekommt, weil bereits sein Vater Agent im sowjetischen Geheimdienst war. Er legt eine mustergültige Karriere hin, auch wenn er - getriggert durch das hautnahe Miterleben des Mauerbaus in Berlin - immer eine gewisse innere Distanz zum System der Sowjetunion hält.

Und so wird er schließlich Doppelagent und findet sich in der Folge zwischen den Geheimdiensten Russlands, der USA und Großbritannien wieder.

Gordijewski ist eine reale Figur der Zeitgeschichte und so bewegt sich das Buch von Ben Macintyre zwischen Sachbuch und Roman, ist - wie der Guardian laut einem Hinweis auf dem Cover schrieb - ein "Non-Fiction-Thriller".

Der schriftstellerischen Kunst des Autors (und der gelungenen Übersetzung) ist zu verdanken, dass das Buch von Anfang bis Ende flüssig, ja geradezu "süffig" zu lesen ist.

Absoluter Geschenktipp für Menschen, die sich für Spionage-Thriller begeistern können!

Bewertung vom 14.11.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


ausgezeichnet

Sich Geschichte erarbeiten - Familienerbe in Polen

Der 1985 geborene und in Brooklyn, New York lebende Journalist Menachem Kaiser macht sich auf in eine Reise in die Vergangenheit seiner Familie, insbesondere des acht Jahre vor seiner Geburt verstorbenen Großvaters.

Das Cover mit der am Henkel aufgehängten mit Gebrauchsspuren versehenen Email-Tasse vor grünem Hintergrund hat mich sofort angesprochen.

Irgendwie gerät der Autor auch eher zufällig in seine Familiengeschichte hinein, weil er 2010 beruflich im Baltikum zu tun hatte und auf der Rückreise einen Halt in Krakau einlegte.

Und damit beginnt eine lange Geschichte des Eintauchens in die Geschichte seines Großvaters, die viel mit dem Judentum und mit dem Holocaust zu tun hat und schließlich in die bizarr anmutende Suche nach einem Schatz auf einem Dachboden mündet.

Nicht immer leicht zu lesen, aber ungemein interessant und durch die persönliche Schilderung des Autors mitreißend.

Bewertung vom 30.10.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Friedemann Karig schätze ich als wachen und pointierten Journalisten, deswegen war ich auf dieses Buch sehr gespannt. Schon die Leseprobe zog mich in den Bann.

Karig stellt eine Frau an der Grenze von Wahrheit und Lüge dar. Auf nichts von dem, was sie erzählt, scheint man sich verlassen zu können.

Und letztlich wird das Erlogene wahr und Lüge so zur Prophetie.

Die Geschichte ist die Erzählung dieser Frau, die sich in einer abgeschiedenen Privatklinik in psychotherapeutische Behandlung begibt. Letztlich scheint das Berichtete Teil der Therapiegespräche zu sein, aber auch da ist nie ganz klar, was Gedankengespinst und was Realität ist.

Die Therapeutin schwankt zwischen Skepsis und Hingerissensein und muss schließlich feststellen, dass sie auch bereits Teil der Geschichte ist.

Toll geschrieben, eine mitreißende Geschichte von Wahrheit und Lüge, von Macht und Ausgeliefertsein. Leseempfehlung!

Bewertung vom 27.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Sterben ist wie ein verlorener Zahn

Das Cover ist eines von denen, die ich gerne als Plakat zum an-die-Wand-hängen hätte: Bunte Farben, die erst beim zweiten Blick das Motiv freigeben.

Das Buch hat mich gleich mit den ersten Sätzen gefangen genommen: Es wird das Bild der verstorbenen Großmutter gezeichnet, die nicht besonders groß aber offenbar stets präsent war.

Im zweiten Kapitel werden dann drei Frauen vorgestellt; Tanja, Nina und Lena.

Und diese Frauen begegnen uns in den weiteren Episoden schlaglichtartig wieder: beim Zubereiten eines Radieschensalats, beim Schlangestehen nach Eiern.

Es sind wortgewaltige Puzzlesteine, die sich zu einem Ganzen fügen.

Der Krieg ist allgegenwärtig, eine der stärksten Episoden handelt von einer Klinik, in der Kriegsamputierte Prothesen angepasst bekommen.

Und immer wieder wird der Alltag im real existierenden Sozialismus geschildert: Armut und Kargheit verbunden mit innerem Reichtum.

Ein leises und unspektakuläres Buch gerade damit aber mächtig und bewegend. Lesetipp.

Bewertung vom 12.08.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

Rassismus, Wut und Gewalt

Das Buch nimmt Bezug auf historische Ereignisse im Jahr 1971 in Boston. Im Vorwort ist von massiven Unruhen die Rede, angesichts derer der Autor berichtet, "noch nie im Leben solche Angst gehabt" zu haben.

Damit ist der Ton gesetzt: Es geht um Rassismus, Armut, Wut, Angst und Gewalt. Die Sprache nimmt uns mit in eine Gesellschaft, die gefangen ist in ihrer Starrheit und Brutalität.

Wir begleiten Mary Pat Fennessy, Nachfahrin irischer Einwanderer, deren 17jährige Tochter Julia, von allen lediglich Jules genannt, eines Nachts nicht nach Hause kommt.

Mary Pat beginnt Nachforschungen anzustellen, recherchiert die Ereignisse der Nacht, die ihre Tochter nicht überlebt hat.

Nachdem sie bereits einen Sohn durch eine Überdosis Drogen verloren hat, ist ihre Trauer und Wut grenzenlos.

Mary Pat startet ihren ganz eigenen Rachefeldzug und geht dabei nicht zimperlich vor.

Die Sprache von Dennis Lehane nimmt gefangen, immer sachlich beobachtend, teilweise fast journalistisch anmutend. Die Hauptperson wird in der Schilderung des Autors wunderbar plastisch.

Mit den Gewaltschilderungen ist es keine Lektüre für zartbesaitete Leser:innen, aber dennoch ein bereicherndes horizonterweiterndes Buch.

Die Übersetzung von Malte Krutsch erscheint stimmig und übermittelt die streckenweise poetische Sprache gut.

Ärgerlich ist lediglich, dass der Verlag den Originaltitel "Small Mercies" (kleine Barmherzigkeiten) in ein plakatives "Sekunden der Gnade" verwandelt hat.

Bewertung vom 29.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Verwunschene Hamptons

Das Titelbild und der eher schlichte Titel haben mich sofort angesprochen: "Die Einladung" und eine offene Hand ...

Wir lernen Alex kennen, die als "Gesellschafterin" (ich liebe dieses altertümliche Wort) für ihren Lebensunterhalt sorgt und dabei vielen Männern sehr nahe kommt, aber doch auch immer auf dem Absprung ist. Die Bestätigung, die sie sucht findet sie nicht und kann dieses Leben nur durch Medikamentenmissbrauch aushalten.

Alles scheint in der Schwebe zwischen Nähe und Distanz.

Und sie hinterlässt mit Lügen und Diebstählen eine Spur der Verwüstung, der sie nur durch ständige Ortswechsel entkommen kann.

Mit dem letzten Partner scheint sie dann doch so etwas wie ein Glück gefunden zu haben ... oder eben auch nicht.

Das ist spannend geschrieben, Alex tut einem irgendwie leid in ihrer Suche nach einem eigenen Stückchen High-Society und mit den vielen Sprüngen und Abgründen.

Und natürlich kann es kein Happy End geben. Emma Cline findet aber dennoch einen Schluss, der mich als Leser zwar verstört aber nicht unzufrieden zurück lässt

Bewertung vom 27.06.2023
Zwischen Himmel und Erde
Rodrigues Fowler, Yara

Zwischen Himmel und Erde


sehr gut

Poesie und Prosa

Die ersten Seiten des Buches der britsch-brasilianischen Schriftstellerin Yara Rodrigues Fowler sind eine Herausforderung. Erst ein paar Worte von Sappho. Dann ein Prolog mit drei Gedichten (?!), die ebenso sperrig wie kryptisch sind und erarbeitet werden müssen.

Da ist das erste Kapitel, das mit "MILE END I (2016)" überschrieben ist, schon fast eine Erlösung: Ein flüssiger Text, der (wie im Klappentext) Ereignisse des Jahres 2016 auflistet und damit den Lesenden abholt und gewissermaßen den Rahmen aufspannt. Mel lernt ihre neue Mitbewohnerin Catarina kennen. Es ist ein Beschnuppern, Taxieren, das wunderbar beschrieben ist.

Das plastische Zeichnen von Personen und Situationen zieht sich durch die gut 500 Seiten des Buches.

Dennoch hat Yara Rodrigues Fowler einen etwas experimentell anmutenden Schreibstil, der die Lektüre teilweise etwas schwierig macht: Es gibt nur abschnittsweise richtigen Fließtext, manches wirkt abgehackt im Sinne von Wort- und Satzfetzen. Wörtliche Rede ist nicht als solche gekennzeichnet. Einzelne Kapitel wirken fast essayistisch.

Maria Meinel hat als Übersetzerin ganze Arbeit geleistet. Warum der Verlag für die deutsche Übersetzung aus dem Originaltitel "There are more things" das geflügelte Wort zu "Zwischen Himmel und Erde" fortführt, ist sein Geheimnis. Ich hätte "Mehr Dinge zwischen Himmel und Erde" schlüssiger gefunden.

Die Autorin und das Buch machen es den Leser:innen also nicht ganz leicht. Es ist ein Kunstwerk, das mit Sprache und Typografie spielt. Der Roman wird nicht jedem und jeder gefallen. Ich fand das Leseerlebnis anregend und spannend, empfehle aber tatsächlich die Leseprobe, um herauszufinden, ob einem der Stil der Autorin liegt.