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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 12.02.2023
Wolkenkuckucksland
Doerr, Anthony

Wolkenkuckucksland


sehr gut

Anthony Doerr hat sich viel vorgenommen mit seinem jüngsten Roman “Wolkenkuckucksland”. Einen “Lobgesang auf Bücher” wollte er nach eigenen Aussagen schaffen. Die Idee, dafür über Kinder, die in verschiedenen Jahrhunderten aufwachsen, aber alle in dieser prägenden Phase von demselben Buch berührt werden, zu erzählen, ist erstmal nicht schlecht. Aber gelingt die Umsetzung?

Für mich ehrlich gesagt nur bedingt. Keine Frage, man kann wunderbar in Doerrs Welten eintauchen. Hat sozusagen History, Coming-of-Age und Sci-Fi in einem. Und, da man als Leser ebenfalls das Buchfragment, das alle Protagonisten lesen, vorgesetzt bekommt, wird man selbst auch ein Teil der Geschichte… ein kleines Detail, dass ich besonders clever fand.

Aber am Ende fand ich das Projekt doch ein wenig zu ehrgeizig, war mir alles zu konstruiert und gewollt. Ich denke, man hätte viel mehr daraus machen können, indem man die Zusammenhänge überraschender gestaltet hätte. Oder auch einzelne Aspekte mehr herausgearbeitet. Okay, genau genommen hätte ich, wäre es nach mir gegangen, nur den Teil, der in der Gegenwart spielt, beibehalten. Aus dem Teil, der in der Zukunft angesiedelt ist, hätte ich ein eigenes Buch mit einem anderen Schwerpunkt gemacht, und den Teil, der im 15. Jahrhundert spielt, in den Müll geworfen. Aber ich wurde nicht gefragt. Zur Erleichterung einiger Leser, wie ich vermute.

Und dann ist da noch Doerrs Schreibstil, an dem ich mich schon bei “Alles Licht, das wir nicht sehen” und “Memory Wall” gestoßen habe. Da schwingt immer etwas mit, was dem ganzen eine luftigere und blumigere Note gibt, als ich angemessen finde. Ich habe bei ihm immer das Gefühl, dass er mich rühren will. Und in meiner Eigenschaft als Leser schätze ich es nicht, wenn ich manipuliert werden soll. Schon gar nicht, wenn ich es merke.

Doch genug gemeckert, ich mache mir um “Wolkenkuckucksland” gar keine Sorgen. Ich habe den Roman bei weitem nicht so ungern gelesen, wie es jetzt vielleicht klingt. Er ist auf jeden Fall ein Buch, das einen an fremde Orte und in ferne Zeiten entführt. Und das ist schon viel wert. Hinzu kommt die Shortlist des National Book Awards, die Longlist der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction und die Nominierung bei den Goodreads Choice Awards 2021. Und natürlich die schöne Ausgabe des Beck Verlages.

Bewertung vom 06.02.2023
Zur See
Hansen, Dörte

Zur See


ausgezeichnet

Das Leben auf der Nordseeinsel hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert. Kaum jemand lebt noch von der Fischerei, der Tourismus bestimmt das Inselleben. Für die Besucher vom Festland spielen die Inselbewohner ihre Rollen, werfen sich in ihre Trachten und bieten eine Fassade, hinter der die Traditionen der Vorfahren schon lange zerfallen. Denn dem Wandel der beruflichen Grundlage folgt der Wandel der Familienstruktur, ein Infragestellen althergebrachter Selbstverständlichkeiten und nicht zuletzt eine Neuorientierung, der nicht jeder gewachsen ist.

Dörte Hansen ist eine, wenn nicht DIE Meisterin der norddeutschen Atmosphäre. Wie keine andere lässt sie vor unserem inneren Auge die Welt aufleben, die die meisten von uns höchstens aus dem Urlaub kennen. Und das, erfreulicherweise, ohne jede Touristen-Romantik. Sie führt uns hinter die Kulissen unserer Urlaubsidylle, ohne ihr aber das zu nehmen, was uns daran so fasziniert. Vielleicht, weil sie den wahren Kern so genau trifft. Weil sie Menschen und Landschaft die Tiefe gibt, die hinter der oberflächlichen Kargheit verborgen ist. Weil sie (Ur-)Sehnsüchte anspricht, die von der Realität unberührt bleiben.

Manchmal sind es gerade die Bücher, die einen am tiefsten berührt haben, über die man am wenigsten schreiben kann. So geht es mir mit “Zur See”. Das Leseerlebnis war zu persönlich, als dass ich es teilen könnte (und wohl auch nicht wollte, wenn ich könnte). Das Buch ist für mich ein Schatz, den nur jeder für sich selbst bergen kann.

Ein paar Wörter noch zur Hörbuchversion: Nina Hoss ist für ihre Interpretation des Buches auf der Longlist des Deutschen Hörbuchpreises 2023. Ehrlich gesagt ist sie für mich als Vorleserin weder positiv noch negativ besonders hervorgestochen. Aber vielleicht liegt auch gerade da ihre Stärke, dass sie dem Roman eine Form gibt, dem Hörer aber auch genug Spielraum lässt, seine eigene Welt zu gestalten.

Hansen hat mich also (wieder einmal) entlarvt. Ja, auch ich bin eine Touristenromantikerin, die in Entzücken gerät, wenn ein alter Seebär seinen Tee mit Kandiszucker trinkt, ein Pfeifchen schmaucht und, mit gezücktem Akkordeon, ein Fischerlied brummt. “Zur See” hat mir aber auch die andere Seite der Medaille vor Augen geführt. Dieser Roman ist ein Kleinod. Und eine seebärisch große Leseempfehlung dringend erforderlich.

Bewertung vom 29.01.2023
Das Porzellanzimmer
Sahota, Sunjeev

Das Porzellanzimmer


gut

Punjab, Indien, 1929. Mehar ist 15, als sie verheiratet wird. Mit wem genau, weiß sie nicht. Drei Söhne hat ihre neue Schwiegermutter, alle drei werden am gleichen Tag mit ihrer jeweiligen Braut verheiratet. Von da an leben die drei jungen Ehefrauen zusammen im sogenannten Porzellanzimmer. Ihren Männern begegnen sie nur alle paar Nächte in einem stockdunklen Extraraum, um ihrer Hauptpflicht, der Zeugung eines Sohnes, nachzukommen.
Doch Mehar beobachtet das, was sie bei der täglichen Verrichtung ihrer häuslichen Aufgaben unter der Verschleierung hindurch sehen kann, genau. Und ist sich schließlich sicher, zu wissen, welcher der Brüder ihr Mann ist. Als sie ihren Irrtum bemerkt, ist es bereits zu spät.

70 Jahre später. Mehars Urenkel ist in England aufgewachsen und in den Drogenmissbrauch abgerutscht. Er fliegt nach Indien, um auf der verlassenen Farm seiner Vorfahren einen Weg aus seiner Sucht zu suchen. Und findet das Porzellanzimmer.

“Das Porzellanzimmer” von Sunjeev Sahota war 2021 auf der Booker Prize Longlist. Warum, ist mir nicht ganz klar. Es sei denn, konsequent durchgezogene Mittelmäßigkeit ist seit Neuestem ein preiswürdiges Kriterium. Da der Roman auf der Familiengeschichte Sahotas basieren soll, sind mir die Hände ein wenig gebunden, wenn es darum geht zu spekulieren, wie glaubwürdig das Ganze ist. Die Frage nach der Erzählwürdigkeit bleibt allerdings bestehen. Und da tue ich mich etwas schwer. Mehars Geschichte ist nicht uninteressant. Den Erzählstrang um ihren Urenkel fand ich hingegen, trotz seines thematischen Potenzials, dermaßen nichtssagend und fade, dass er den Gesamteindruck deutlich nach unten gezogen hat.

Was den Stil angeht, kommt mir als Erstes das Wort “gefällig” in den Sinn. Eindeutig keine literarische Entdeckung, manchmal war es mir auch zu nah am Kitsch, aber letztendlich ist “gefällig” durchaus angenehm zu lesen. Da möchte ich jetzt gar nicht zu viel meckern.

Worüber ich aber meckern möchte, ist die verblüffende Farblosigkeit der Charaktere. Keine einzige Figur im ganzen Buch ist für mich in irgendeiner positiven Weise hervorgestochen. Am ehesten vielleicht noch Schwiegermama Mai, aber ihre Rolle ist zu klein, um wirklich etwas wettzumachen. Wie man über alle Hindernisse hinweg verliebt und dabei gleichzeitig so komplett gar nicht überzeugend sein kann, wie Mehar, wie man einen kalten Drogenentzug so darstellen kann, als wäre er nichts weiter, als eine leichte Magenverstimmung, das sind für mich die großen Rätsel dieses Romans.

Alles in allem ist “Das Porzellanzimmer” für mich ein Buch der Kategorie “Kann man lesen, muss man aber nicht.”. Es liest sich gut und zügig, es macht durchaus auch Freude, in eine andere Zeit und Kultur einzutauchen, aber wirklich mitnehmen tue ich zumindest nichts. Es soll aber nicht unterschlagen werden, dass der Roman im Allgemeinen mehr Anklang gefunden hat, als ich hier in der Lage bin, zusammenzukratzen. Und, es sei noch mal erinnert, es hat eine Booker Prize Nominierung. Diese rätselhafte Booker Prize Nominierung…

Bewertung vom 17.01.2023
Trottel
Faktor, Jan

Trottel


sehr gut

In meiner Eigenschaft als Rezensentin bin ich in gewisser Weise spießig. Der Aufbau meiner Besprechungen lässt sich leicht schematisch darstellen und an erster Stelle steht mit einer Zuverlässigkeit von 99 % eine Inhaltsangabe. Heute nicht. Aus dem einfachen Grund, dass ich keine Ahnung habe, worum es in diesem Buch zentral gehen sollte. Ein paar Fakten konnte ich allerdings herausfiltern, die da wären:
1. Der Erzähler wächst in Prag auf.
2. Der Erzähler zieht nach Ost-Berlin und heiratet anscheinend und bekommt einen Sohn.
3. Tragischerweise verliert der Erzähler seinen Sohn durch Suizid.
Wer darüber hinaus Informationen der inhaltlichen Art wünscht, muss sich diese selbst besorgen. Ich bitte darum, diesen Umstand zu entschuldigen.

Es gibt Bücher, die polarisieren. Jan Faktors “Trottel” hat es geschafft, mich in mir selbst in mehrere Lager aufzuspalten. Am einen Ende der Gefühlsskala finden wir den Teil, der frenetisch einen Jan-Faktor-Fan-Wimpel schwingt und bei jeder originellen Satz- und/oder Wortschöpfung vor Begeisterung hyperventiliert. Am entgegengesetzten Ende verdreht der Gegenpol die Augen, gähnt herzhaft und verlangt zum wiederholten Male einen sofortigen Abbruch dieser Zumutung eines Romans. Und in der Mitte steht die ratlose und verwirrte Rezensentin, der sich fragt, wer eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen ist, über Bücher schreiben zu wollen/können.

Chronologisch betrachtet lief mein Leseerlebnis wie folgt ab:
1. Aufblühendes Entzücken
2. Schnelleintretende Skepsis (jemand, der mir erklärt, ein ausgemachter Trottel zu sein, kommt mir ähnlich suspekt vor wie jemand, der behauptet, immens humorvoll oder unerwartet sensibel zu sein)
3. Übersättigung
4. Verwirrung
5. Langeweile
6. Abbruchgedanken
7. Umschwung auf (und hier kommen wir zu einem vorgezogenen Geständnis:) die Hörbuchversion als letzte Chance, eine Art entspannte Abarbeitung nebenbei.
8. Begeisterung. Basteln eines zweiten Fan-Wimpels mit dem Namen Stefan Kaminski darauf. Grandios, dieser Sprecher, einfach nur grandios!
9. Übersättigung
10. Abbruchgedanken
11. Nachdenklichkeit
12. Einsichten (begrenzte)
13. Versöhnung.

Jan Faktors Umgang mit der Sprache ist einzigartig. Vielleicht sogar genial. Aber genial auf eine wohlgesinnte Art, oder darauf ausgelegt, seine unschuldigen Leser in den Wahnsinn zu treiben? Zu fordern, wenn man es positiver formulieren möchte? Leicht macht er es einem jedenfalls nicht. Der Erzähler selbst stellt das Geschriebene metaphorisch gerne einer Achterbahnfahrt gleich. Als betroffener Leser kann ich da nur müde lächeln. Es sei denn, wir reden von einer Achterbahn, die permanent entgleist. Faktor stürmt so häufig von der Hauptbühne, um sich in Seitengassen durchzuschlagen, dass selbst ein Marcel Proust die Augenbrauen skeptisch hochziehen würde. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: ich war dieser Tour de Force nicht gewachsen. Es muss ja nicht gleich gefällig sein, aber wenn jemand mir als Leser etwas mitteilen möchte, weiß ich es zu schätzen, wenn er ab und an nachschaut, ob ich noch dabei bin. Noch dabei sein kann. So ist mir von dem Werk einiges entgangen, weil ich gerade meine müden Füße wahlweise in die Moldau oder Spree halten und wieder zu Atem kommen musste.

Faktor schafft es, gleichzeitig zu hetzen und so gut wie nicht von der Stelle zu kommen. Das, was ich letztendlich aus dem Roman mitnehmen werde, die Auseinandersetzung des Protagonisten mit der Krankheit und dem Suizid seines Sohnes, entfaltet sich nur langsam. Und braucht noch länger, um beim Rezipienten anzukommen. Die Diskrepanz zwischen dem amüsant chaotischen Stil und dem Alptraum des Geschehens ist erstmal befremdlich. Aber wer, bitteschön, bestimmt, wie Trauer richtig ausgedrückt wird? Ich jedenfalls, die ich mir sicher war, dieses Buch entweder abzubrechen oder in der Luft zu verreißen, fühle mich am Ende auf besondere Weise berührt. Vielleicht sogar belohnt. Und am Rande bemerkt: Faktor ist der erste Autor, dem ich seine Fußnoten verzeihe.

Ob das hier geschriebene jetzt eine Leseempfehlung sein soll oder nicht? Ich weiß es einfach nicht. Das kommt darauf an. Vielleicht. Oder besser nicht. Womöglich aber doch. Letztendlich kann ich allen Unentschlossenen nur eines sagen: Die Lektüre dieses Romans kann alles sein, Vergnügen, Erhellung, Gleichgültigkeit, Arbeit, Frust, Langeweile… Aber auf jeden Fall ist sie ein Erlebnis.

Shortlist Deutscher Buchpreis 2022

Bewertung vom 14.01.2023
Jahre mit Martha (MP3-Download)
Kordi?, Martin

Jahre mit Martha (MP3-Download)


sehr gut

Željko, Sohn einer Migrantenfamilie aus Bosnien-Herzegowina, ist 15, als er die 25 Jahre ältere Arbeitgeberin seiner Mutter kennenlernt. Martha stammt aus einer Welt, die alles enthält, was Željko in seiner vermisst: Wohlstand, Bildung, aber vor allem Souveränität. Auch Martha, die nicht nur verheiratet, sondern auch Mutter ist, fühlt sich von dem Jungen angezogen, hält aber Abstand. Erst als Željko Student ist, beginnt die Affäre der beiden richtig, eine ungewöhnliche Beziehung, die aus der Norm fällt, aber beiden zu geben mag, was ihnen fehlt.

Geschichten über Beziehungen mit einem Altersunterschied von 25 Jahren sind kritisch, besonders, wenn ein Teil des Paares besonders jung ist. Sie sind außerdem noch einmal befremdlicher - Emanzipation hin oder her - wenn die Frau der ältere Part ist. Die Konstellation ist riskant, der Grat schmal. Der Autor kann schnell in entweder unerträglichen Kitsch oder psychologische Untiefen mit hohem “Cringe-Faktor” abrutschen. Martin Kordić passiert das in seinem zweiten Roman “Jahre mit Martha” nicht. Kordić bleibt nüchtern, lässt die Banalität, die jeder Liebesbeziehung in der Realität anhaftet, durchschimmern, verzichtet auf den großen Herzschmerz und Gefühlszermürbungen seiner Protagonisten. Das ist ausgesprochen angenehm und schenkt dem Roman einiges an Gewicht.

Dadurch, dass wir das Geschehen aus der Sicht Željkos hören, bleibt Marthas Seite weitestgehend ein schwarzer Fleck. Trotzdem ist sie es, die die Fäden in der Hand hat, die bestimmt, was wann und wo passiert. Oder eben nicht. Auch sie und Željko nutzen einen schmalen Spielraum, in dem die Grenzen zwischen Gefühlen und Bedürfnissen, zwischen Zuneigung, Zweckgemeinschaft und Ausnutzung verwischen.

Aber der Roman ist mehr als nur die Geschichte eines jungen Mannes, der sich in eine um einiges ältere Frau verliebt. Er ist vor allem die eines Menschen, der nach Heimat und Zugehörigkeit sucht. In diesem Sinne ist Martha eher die Verkörperung dessen, was Željko in seinem Leben anstrebt, als die Frau, mit der er dieses teilen möchte. Und dadurch der Roman vielschichtiger, als man auf den ersten Blick meint.

Komplett überzeugen konnte mich “Jahre mit Martha” aber letztendlich nicht. Was mir als Erstes auffiel, war, dass meine inneren Bilder nicht mit der Zeit übereingestimmt haben, in der der Roman tatsächlich spielt. Ob ich unbewusst von dem Cover beeinflusst wurde oder ob es an der Sprache lag, kann ich im Nachhinein nicht sagen. Ich befand mich jedenfalls durchgehend in den 1940er oder 50er Jahren und war verwirrt über den fortschrittlichen Zustand der verwendeten Technik.

Wesentlicher ist aber, dass es mir nicht gelang, einen wirklichen Zugang zu Željko und Martha zu finden. So stabil und dramaturgisch korrekt aufgebaut der Roman auch sein mag, mitgerissen wurde ich nicht.

Dafür bekommt die Hörbuchversion mit Julian Mehne als Sprecher einen eindeutigen Zugewinn. Er ist ein überzeugender Željko, der einen souverän durch die Geschichte führt.

Zusammengefasst hat mich an “Jahre mit Martha” der klare Stil mehr überzeugt, als der Inhalt. Er gehört zu den Romanen, die ich vor allem mit dem Kopf gelesen habe, weil er mich innerlich nicht ganz erreicht hat. Durchaus lesenswert, aber für mich keines der ganz großen Leseerlebnisse.

Bewertung vom 03.01.2023
Was man von hier aus sehen kann
Leky, Mariana

Was man von hier aus sehen kann


ausgezeichnet

Immer wenn Luises Großmutter Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand in ihrem Dorf. Ist es wieder soweit, lässt es sich nicht vermeiden, dass sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, den Alltag lahmlegt und die Bewohner dazu bewegt, mit ihrem Leben aufzuräumen, Geheimnisse zu gestehen und zu wagen, was sie sich vorher nicht getraut hätten (oder es zumindest anzudenken). Doch dann greift der Tod eines Tages dort zu, wo keiner damit gerechnet hätte.

Ich habe mich Hals über Kopf in “Was man von hier aus sehen kann” von Mariana Leky verliebt. Zum einen lag das an ihrem wunderbaren Stil. Dem feinen und intelligenten Humor, der charmant und gleichzeitig tiefsinnig ist, und sich vor allem nicht abnutzt, wie es oft passiert, wenn Autoren sich an einem eigenen Ton versuchen. Den frischen Metaphern, die so ungewohnt und trotzdem treffend sind. Der Sprache, die frisch und aufregend ist, und trotzdem vertraut und klar wirkt.

Aber auch den wundervollen Protagonisten, die Leky entstehen lässt. Von eigentlich jeder Realitätsnähe widersprechen, und doch so echt und greifbar sind, wie liebgewonnene Bekannte. Figuren von der Art, die man am Ende persönlich zu kennen meint.

Und Sandra Hüller als Sprecherin rundet das Gesamtbild wunderbar ab. Eigentlich bin ich der politisch unkorrekten Ansicht, dass Männer die besseren Hörbuchsprecher sind, aber besser als Hüller hätte man es nicht machen können. Ihre Interpretation spiegelt Lekys Sprache, als würde beides von jeher zusammengehören.

Würde man mich mit vorgehaltener Waffe zwingen, etwas über diesen Roman zu sagen, dass nicht nach einem leicht angeheiterten Teenager klingt, könnte ich höchstens anmerken, dass “Was man von hier aus sehen kann” kein Buch ist, dass einem im tiefsten trifft und Welten bewegt. Muss es aber auch nicht. Es sind nicht immer nur die umwälzenden Dramen, die wir in uns bewahren. Ganz große Lese-/Hörempfehlung!

Bewertung vom 30.12.2022
Porträt einer Ehe
O'Farrell, Maggie

Porträt einer Ehe


gut

Eigentlich ist ihre Schwester Maria de’ Medici, die Alfonso d’Este als Gattin versprochen ist. Doch als diese unerwartet stirbt, muss Lucrezia ihren Platz einnehmen, um die Bande zwischen Florenz und Ferrara zu stärken. Gerade 13 Jahre alt ist sie da. 15, als sie schließlich, nach einem längeren Auslandsaufenthalt ihres Mannes, Ferrara als Herzogin betritt. Als Tochter ihrer Zeit und ihres Standes meint sie zu wissen, was von ihr erwartet wird, muss aber schnell feststellen, dass sie für Alfonso nur einen Zweck erfüllen soll: die Sicherung seiner Machtposition durch die Geburt eines männlichen Erbens. Anders als ihr Vater Cosimo de’ Medici hat Alfonso keinerlei Interesse daran, seiner Frau irgendeine Rolle jenseits der der zukünftigen Mutter zuzugestehen, nicht einmal als seine Vertraute. Und Lucrezia begreift schnell, dass ihr Mann mehrere Gesichter hat. Und dunkle Seiten, die auch für sie zu einer Gefahr werden können.

Frei heraus gesagt: “Porträt einer Ehe” von Maggie O’Farrell hat meine Erwartungen nicht erfüllt. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich ihren Roman “Hamnet” gelesen habe und so beeindruckt war, dass ich unbedingt mehr von dieser Autorin lesen wollte. “Porträt einer Ehe” habe ich leider als ungleich blasser, stellenweise fast banal empfunden.

Ich kann nicht beurteilen, ob auch die Übersetzung für mein Empfinden eine Rolle gespielt hat. “Hamnet” habe ich im Original gelesen und es ist durchaus möglich, dass mein Sprachgefühl in einer Sprache, die nicht meine ist, gröber ausfällt. Ich folglich weniger empfindlich auf Klang und Fluss reagiere. Aber den wirklichen Schwachpunkt sehe ich vor allem in der Gestaltung der Figur Lucrezias. Farblos und undefiniert fällt mir dazu als Erstes ein.. Undefiniert über den Rahmen hinaus, der für ein junges Mädchen aufgrund seines Mangels an Lebenserfahrung zu erwarten ist. Es war ein wenig, als wäre O’Farrell sich nicht sicher gewesen, wie sie diesen Charakter anlegen soll. Freiheitsliebend und stark, oder doch eher ihrer Situation ergeben und schüchtern. Mir ist durchaus klar, dass eine Person beides vereinen kann, aber gerade das fand ich nicht gelungen.


Trotzdem gelingt es O’Farrell zu vermitteln, was es für eine junge Frau zu Lucrezias Zeit bedeutet hat, in erster Linie ein Unterpfand der politischen Schachzüge ihres Vaters zu sein. Einer Situation gerecht werden zu müssen, für die sie viel zu jung ist. Die ihr, auch unabhängig vom Alter, nie hätte zugemutet werden dürfen. O’Farrell nimmt sich ihre historischen Freiheiten, aber sie übertritt die Linie zur Unglaubwürdigkeit nie. Na ja, fast nie…

“Porträt einer Ehe” ist kein schlechtes Buch, ich habe es durchaus mit Interesse gelesen. Aber am Ende hat es dem direkten Vergleich mit dem atmosphärisch und psychologisch so dichtem “Hamnet” nicht standhalten können. Ich würde niemanden davon abraten, es zu lesen, aber mein Urteilsspruch geht leider eher in Richtung Prädikat “Kann man lesen, muss man aber nicht”.

Bewertung vom 28.12.2022
Brief an meinen Vater
Roulet, Daniel de

Brief an meinen Vater


sehr gut

97 Jahre alt ist Daniels Mutter, als sie beschließt, ihrem Leben mit “EXIT”, einem Verein für Sterbehilfe, ein Ende zu setzen. Schwer ist es geworden, die Schmerzen lassen sich auch mit Morphium nicht mehr kontrollieren, Aussicht auf Besserung gibt es keine. Zwei Wochen sind es bis zu dem Termin. Zwei Wochen, in denen Daniel seinem schon sechs Jahre früher verstorbenem Vater einen Brief schreibt. Einen Brief, in dem er über seine Mutter spricht, aber auch über die Vergangenheit, Glaubensfragen und natürlich den Tod.

Wie soll man einen Brief besprechen? Wäre “Brief an meinen Vater” von Daniel de Roulet ein Roman, dann würde ich mich jetzt versucht fühlen einzuwenden, dass mir das ganze Szenarium nicht glaubwürdig erscheint. Dass ich nicht wüsste, warum ein Sohn, der in wenigen Tagen für immer Abschied von seiner Mutter nehmen muss, seinem Vater schreibt. Und in diesen Briefen auch keine konkret fokussierten Fragen angeht. Themen, die in der Situation kaum relevant scheinen, anschneidet. Sie, fast halbherzig, dreht und wendet und wieder fallen lässt. Was will uns der Autor denn damit denn bitte schön sagen, würde ich fragen, und dabei ein klein wenig ungehalten dreinblicken.

Aber “Brief an meinen Vater” ist kein Roman. Hier hat sich ein Sohn, der zufällig auch noch Schriftsteller ist, hingesetzt, und die Verbindung zu seinem Vater, einem Pastor, gesucht, um seine Gedanken zu ordnen, oder vielleicht auch einfach nur loszuwerden. Seine Art, große Themen wie Sterben, Tod und Religion zu behandeln. Und damit bin ich all meiner Einwände entledigt. Realität kann ich nicht kritisieren, Realität ist, was sie ist, wie sie ist.

Aber muss man mit einem so persönlichen Schreiben wirklich an die Öffentlichkeit gehen? Daniel de Roulet scheint generell nicht abgeneigt, seine privateren Seiten mit der Welt zu teilen. So soll er auch einen Brandanschlag auf eine Villa Axel Springers verübt und sich in einer publizierten Schrift dazu bekannt haben - klugerweise erst, als die Tat verjährt war. Was ich aber an “Brief an meinen Vater” sehr angenehm fand, ist, dass das Buch nichts voyeuristisches an sich hatte. Weder hat man als Leser das Gefühl, in einen Bereich einzudringen, der eigentlich zu privat ist, noch hat der Autor sich oder seine Familie so weit entblößt, dass es einem Ausschlachten der Situation auch nur annähernd nah kam. Wie de Roulet diese feine Balance zwischen tiefem Einblick und respektvollem Abstand gehalten hat, fand ich beeindruckend.

“Brief an meinen Vater” ist ein dünnes Büchlein mit großem Inhalt. Ein Büchlein, das wegen seiner Thematik nicht immer einfach zu ertragen ist. Allgemeingültige Antworten und Erkenntnisse liefert es keine, kann es keine liefern. Aber Aspekte, die für jeden von uns von Relevanz sind, und eine unmittelbare persönliche Nähe, die auch kostbar ist. Und damit erklärt sich womöglich, warum es herausgegeben wurde. Und sollte.

Bewertung vom 26.12.2022
Stella Maris
McCarthy, Cormac

Stella Maris


ausgezeichnet

Wisconsin 1972. Die gerade erst 20-jährige Alicia, eine geniale Mathematikerin, weist sich selbst in die psychiatrische Klinik “Stella Maris” ein. Sie sei, so erklärt sie, auf der Flucht. Auf der Flucht vor Ärzten, die sie überreden wollen, die Maschinen abzustellen, die ihren Bruder Bobby am Leben halten. Alicia ist nicht zum ersten Mal in einer psychosomatischen Einrichtung. Ihre Diagnose: paranoide Schizophrenie. Die Gespräche, die sie mit ihrem Therapeuten führt, offenbaren nicht nur ihr Genie, sondern auch einen Geist, der über die Grenzen dessen, was wir als gegeben betrachten, hinausblicken kann. Der in der Lage ist, Blickwinkel einzunehmen, die weitab der ausgetrampelten Pfade liegen.

"Stella Maris” ist mein zweiter Roman von Cormac McCarthy. Nach “The Road”, das so viel Begeisterung und den Pulitzer Preis eingeheimst, mich aber nur halb überzeugen konnte, war ich anfänglich eher misstrauisch, dann aber schnell vollauf begeistert. Und das, obwohl McCarthy gleich zwei Regeln bricht, die ich eigentlich essentiell für einen guten Roman finde: dass eine komplexe und möglichst stringente Geschichte erzählt wird und dass der Inhalt nicht zu weit über meinen eigenen Horizont hinauswächst. Was die Handlung betrifft, so konnte ich noch ein Auge zudrücken. Da das Buch komplett aus den Protokollen von Alicias Therapiesitzungen besteht, muss man sich das Geschehen zwar aus Momentaufnahmen zusammenklauben, aber es gibt genau genommen eins, auch wenn es nicht im Mittelpunkt steht. Intellektuell war ich allerdings über lange Strecken haushoch unterlegen. Doch auch das hat nicht gestört, denn Alicia ist eine so faszinierende Person, dass man ihr nur zu gerne folgt.

Und damit wären wir bei Regel Nr. 3, die McCarthy dann, zum Ausgleich sozusagen, mehr als erfüllt: interessante, vielschichtige und überzeugende Protagonisten. Es ist eigentlich nicht fair, zwei Bücher miteinander zu vergleichen, aber da mich gerade vor kurzem “Elizabeth Finch” von Julian Barnes so gar nicht überzeugen konnte und beide eine Frau mit akademischem Hintergrund im Fokus haben, komme ich nicht drumherum. McCarthys Alicia ist einfach alles, was Barnes’ Elizabeth eben nicht ist, aber sein soll. Alicia kann den Leser zu Gedanken führen, über die er noch nie zuvor nachgedacht hat, sie ist hochgradig originell, faszinierend, aber vor allem eines: glaubwürdig. Eine Bekanntschaft mit ihr ist auch jenseits des eigenen Verständnisses lohnend.

Ein weiterer Gewinn für jene, die das Glück haben, sich für die Hörbuchversion entschieden zu haben, ist der Sprecher. Vor gar nicht so langer Zeit hätte ich noch behauptet, dass mein persönliches Universum bester deutscher Sprecher - ich denke da an Stimmen wie Hans Paetsch, Gert Westphal und Peter Matić - leider komplett ausgestorben ist. Mit der Entdeckung Christian Brückners hat sich dieser Zustand glücklicherweise geändert. Wie Brückner “Stella Maris”, das mit seinem Dauerdialog bestimmt nicht einfach zu lesen ist, durch feinste Nuancen in der Stimme zu einem klar unterscheidbaren und spannenden Gespräch macht, ist schlicht großartig. Brückner gehört zu der Kategorie, bei der es sich lohnt, ein Hörbuch nicht nach Autor oder Titel auszusuchen, sondern nach Interpreten.

Für jene, die sich jetzt noch fragen sollten, ob sie vor “Stella Maris” erst noch McCarthys erstaunlicherweise viel schlechter bewertetes “Der Passagier” lesen müssen: nein, müssen sie nicht. An “Stella Maris” wird gerne #2 angehängt, aber laut Autor handelt es sich nicht um eine klassische Fortsetzung, sondern um ein “companion book”. Ich selbst kenne “Der Passagier” bisher nicht, hatte aber nie das Gefühl, nicht ausreichend informiert zu sein. Ich bin allerdings, da beide einander negieren sollen, schon neugierig. Und da Christian Brückner auch in dem Fall als Sprecher fungiert, werde ich mir sicher noch eine erweiterte und kompetentere Meinung aneignen. Eines gibt es aber jetzt schon: Meine große Hörempfehlung!

Bewertung vom 20.12.2022
Raben
Bugnyar, Thomas

Raben


sehr gut

Preusslers kleine Hexe hat einen, Diseneys Gundel Gaukeley auch. Der Gott Odin/Wotan konnte sich in einen verwandeln und besaß gleich zwei. Bei Edgar Allan Poe bringt ein dreisilbiges Exemplar eine unliebsame Botschaft, Hitchcock lässt ungeniert gleich einen ganzen Schwarm auf die arme Tipi Hedren los.

Raben haben bei uns Menschen keinen besonders guten Stand. Sie galten als Indikatoren für Hexen und als Todesboten, wir sprechen von Unglücksraben und Rabenmüttern. Das mag zum einen an ihrer Farbe liegen (tatsächlich ist es selbst in unserer Zeit für Tierheime noch schwerer, schwarze Katzen und Hunde zu vermittelt, als ihre helleren Leidensgenossen), an der für unsere Ohren nicht gerade lieblichen Stimme, aber vielleicht vor allem an ihrer Vorliebe für Kadaver. Stichwort: ausgehackte Augen.

Dass unsere Vorurteile größtenteils ungerecht oder zumindest Zeichen einer egozentrischen Anschauung sind, zeigt der österreichische Verhaltensforscher Thomas Bugnyar in seinem Buch “Raben - Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten”. Wobei ich den Titel etwas irreführend finde. Falls ein Geheimnis gelüftet wurde, habe ich es schlicht verpasst. Wie dem auch sei, interessant ist das Buch auf jeden Fall. Bugnyar bringt uns nicht nur die Tiere (vor allem Kolkraben) näher, sondern gibt uns auch einen Einblick in die Arbeit der Wissenschaftler. Wir erfahren, wie Fragen entstehen, wie diese Fragen angemessene Tests entwickelt werden und schließlich auch, wo der praktische Gewinn der aus dieser Arbeit gewonnenen Ergebnisse liegt.

Ich werde mir verkneifen, mich zu dem Thema “Haben wir Menschen das Recht, in das Leben von Tieren einzugreifen, nur weil wir sie erforschen wollen?” zu äußern, denn dann hätten wir ganz schnell eine Abhandlung mit erhobenem Zeigefinger anstelle einer Buchbesprechung. Bugnyar selbst gibt dieser Frage in seinem Buch viel Raum und bringt Argumente, die nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Positiv überrascht war ich auch, wie bemüht er und sein Team sind, den Eingriff in das Leben ihrer Raben so gering wie möglich zu halten. Respekt und Zuneigung für Tiere und Beruf lesen sich klar aus jeder Zeile heraus.

Ob man den literarischen Wert eines eher populärwissenschaftlichen Buches beurteilen möchte, kann jeder für sich entscheiden. Mir ist nur aufgefallen, dass die meisten Bücher aus diesem Bereich klingen, als hätte derselbe Autor sie verfasst. Leicht verständlich ist “Raben” jedenfalls, vielleicht sogar ein wenig zu sehr. Etwas mehr Tiefe hätte ich mir gewünscht. Aber für einen ersten Einblick in das Wesen dieser faszinierenden Vögel eignet sich “Raben”, auch durch seine schönen Bilder, hervorragend.

Nominiert für Wissenschaftsbuch des Jahres 2023