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Bücherbummler

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Insgesamt 110 Bewertungen
Bewertung vom 19.03.2023
Flamingo
Elliott, Rachel

Flamingo


ausgezeichnet

Daniel Berrys Kindheit ist im wahrsten Sinne des Wortes bewegt. Regelmäßig sticht seine Mutter Eve blind eine Nadel in eine Karte und bestimmt so den neuen Aufenthaltsort für die nächsten Monate. Freundschaften, Verbundenheit, Wurzeln - all das kennt Daniel nicht. Doch das ändert sich, als Mutter und Sohn eines Tages in Norfolk die Nachbarn der Familie Marsh werden, die die beiden unter ihre Fittiche nehmen und in ihr Familienleben integrieren. Besonders im Vater Leslie findet Daniel endlich eine Bezugsperson, die ihm beibringt, was Zugehörigkeit bedeutet. Aber das Glück währt nicht lange, denn eines Tages geschieht etwas, was Eve dazu bringt, wieder einmal Hals über Kopf alles hinter sich zu lassen.

30 Jahre später lebt Daniel auf der Straße. Seine Freundin hat ihn verlassen, sein Vermieter hat ihm gekündigt, was aus Eve geworden ist, erfahren wir vorerst nicht. Daniel weiß nicht weiter. Bis ihm jener Ort einfällt, an dem er als Kind glücklich war. Ein Haus mit Flamingos im Garten. Das Haus der Familie Marsh.

“Flamingo” von Rachel Elliott gehört zu jenen Büchern, deren Besprechung ich schon seit Wochen vor mir herschiebe, weil ich einfach nicht viel dazu zu sagen habe. Das liegt nicht daran, dass es mir nicht gefallen hätte, denn, seien wir ehrlich, in dem Fall hätte ich einiges dazu zu sagen. “Flamingo” gehört eher zu jenen Büchern, die meinen persönlichen Geschmack getroffen, mich aber nicht völlig vom Hocker gerissen haben. Eine Art besinnliche Zufriedenheit sozusagen, die mit einem lapidaren “fand ich gut” zur Genüge umrissen ist.

Was ich in Fällen solcher hemmenden Einfallslosigkeit tue: Ich schaue mir Rezensionen von Lesern an, die das Buch schrecklich fanden, um entweder etwas zu finden, was ich dann tatsächlich doch noch bemängeln, oder aber zumindest verteidigen kann. Und siehe da, ich wurde fündig. Vorhersehbarkeit des Plots und verharmlosende Darstellung des Obdachlosenlebens lautet die Anklage. Meine innere Löwenmutter wird von diesen Vorwürfen nicht geweckt, denn ganz von der Hand zu weisen sind sie nicht. Aber für mich standen eher die Konstellationen, die zwischen den einzelnen Personen entstehen, im Mittelpunkt. Beziehungen, die sich aus den eigenen Bedürfnissen entwickeln, in ihrer Konsequenz aber oft auch Dritte betreffen und diese für ihr Leben prägen, wenn nicht sogar beschädigen. Das war für mich das eigentlich spannende Thema dieses Romans. Und das fand ich sehr gut umgesetzt. Vor allem dadurch, dass man als Leser mehr weiß, als die Charaktere selbst, sodass man die Entwicklung der Dinge sehr nah verfolgen kann, es zum anderen aber immer noch genug dem Leser Verborgenes gibt, um bei der weiteren Entwicklung mitzufiebern.

Inspiriert durch die Kritik anderer Leser ist mir dann auch doch noch ein eigener Kritikpunkt eingefallen. Teilen kann ich ihn hier leider nicht, denn das verbietet die Spoiler-Etikette. Aber ich kann zumindest verraten, dass er meinen Gesamteindruck nicht geschmälert hat. Oder man könnte sogar sagen: Es ist erstaunlich, dass er meinen Gesamteindruck nicht geschmälert hat. Da ist es anderen Büchern mit einem ähnlichen Manko schon schlechter ergangen. Bei Elliott bin ich jedenfalls offen für weitere Bücher aus ihrer Feder. Ich würde mich auch über eine Fortsetzung zu “Flamingo” freuen, denn mit den Berrys und den Marshes würde ich gerne noch mehr Zeit verbringen. Leseempfehlung!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.03.2023
Welpentraining
Rütter, Martin

Welpentraining


sehr gut

Ich hatte bisher die Ehre und das Vergnügen, meine Wohnung und mein Leben mit sieben Individuen der Unterklasse Canis lupus familiaris teilen zu dürfen. Und alle sieben hatten eins gemeinsam: sie waren konsequent inkonsequent erzogen (allerdings waren nur zwei davon Welpen, weswegen ich in der Regel jede Schuld an etwaigem Fehlverhalten weit von mir weise und mir auch nicht zu schade bin, im Notfall mögliche Traumata ins Spiel zu bringen). Ich gehöre zu den Hundebesitzern, die, wenn ihr Hund zum Beispiel plötzlich über die Straße rennt, weil da gerade jemand langläuft, der eine Tasche mit Futterpotenzial bei sich trägt, etwas Sinniges sagt wie: “Liiiiiiiisa, was habe ich dir erklärt, als wir das letzte Mal über Straßenverkehr diskutiert haben? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich da die Sache mit rechts und links gucken ausführlich dargelegt habe.”

Worauf ich hinaus will: Mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von weit über 95 % liegt in kritischen Situationen das Problem beim Halter, nicht beim Tier. Gute Hundetrainer wissen das. Und Martin Rütter gehört seit fast drei Jahrzehnten zu den wohl bekanntesten und wohl auch zu einem der Besten unter ihnen. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat er sich mit seiner D.O.G.S-Methode, Fernsehsendungen, Bühnenprogrammen und Büchern eine breite Fangemeinde aufgebaut.

Wem es jetzt aber wirklich ausschließlich um die Erziehung seines Welpen geht, der wird sich von Rütters Buch mit dem Titel “Welpentraining” eventuell fehlgeleitet fühlen. Denn es ist viel mehr als das. Es handelt in einem Rundumschlag sämtliche Themen um das Thema Welpenanschaffung ab, von den Vorüberlegungen über das Aussuchen bis hin zur Erziehung. Ich fand das gut, wichtig und richtig so, aber für viele, die ihren Familienzuwachs schon Zuhause haben, spielt ein großer Teil des Buches keine Rolle mehr, und das sollte man vorher wissen.

Was mir an Rütter gefällt ist, dass er zwar seine Meinung vertritt, in Punkten, über die es auch andere Ansichten gibt, diese aber auch anspricht. Denn als Hundebesitzer muss man Entscheidungen treffen, die kontrovers diskutiert werden, sei es die Ernährung, Impfungen, Entwurmungen, aber auch gerade in den letzten Jahren die Frage der Kastration. Wo man vor nur wenigen Jahren grundsätzlich zu einer Kastration aller Hündinnen geraten hat, um Gebärmutterkrebs zu verhindern, zeigen neueste Studien, dass gerade die Kastration viele andere Krebsarten begünstigen kann. Es gibt einfach Fragen, auf die es DIE richtige Antwort nicht gibt. Und ein guter Ratgeber sollte auch nichts anderes behaupten.

Die Hörbuchversion wird übrigens von Peter Veit mit seiner angenehmen Stimme eingelesen. Ich möchte Herrn Rütter nicht zu nahe treten und kann es auch gar nicht beurteilen, aber in der Regel ist es immer eine gute Idee, einen Profi ranzulassen, anstelle des Autors. Ob sich ein Hörbuch allerdings für Interessierte in diesem Fall als praktisch erweist, ist wieder eine andere Frage. Sicherlich kann man sich damit schon einmal einen Überblick verschaffen, aber allen, die wirklich damit arbeiten wollen, würde ich raten, sich das Buch noch zusätzlich zu kaufen. Oder jede Menge Notizen zu machen.

Die Pandemie hat den Tierheimen ein neues, trauriges Phänomen gebracht: eine Überbelegung durch die sogenannten Corona-Hunde (wer hätte auch ahnen können, dass man eines Tages wieder ins Büro muss oder verreisen kann, und das mit einem Hund gar nicht so einfach ist?). Besonders deswegen wünsche ich “Welpentraining” viele Hörer. Und einen anderen Titel, damit es möglichst VOR dem Welpenkauf gelesen wird. Und ich wünsche allen, die sich für einen jungen Vierbeiner entscheiden(ältere Exemplare sind übrigens auch ganz toll und suchen in Massen ein neues Zuhause), ganz viel Freude in dieser etwas anstrengenden, aber auch faszinierenden Zeit.

Bewertung vom 26.02.2023
Das dritte Licht
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Es ist nach einer Sonntagsmesse, dass der Vater seine kleine Tochter bei entfernten Verwandten abliefert. Die Mutter ist wieder schwanger, die Zahl der zu stopfenden Mäuler groß. Sie könnten das Kind so lange behalten, wie sie wollten, sagt der Vater zum Abschied. Und natürlich für ihren Unterhalt Arbeiten verrichten lassen. Aber das Mädchen erwartet etwas ganz anderes, Liebe und Fürsorge, wie sie sie nie kennengelernt hat. Doch hinter der Wärme scheint eine tiefe Traurigkeit das neue Zuhause zu füllen. Und das Mädchen begreift, wie flüchtig das Glück sein kann.

Als vor ein oder zwei Jahren Claire Keegans “Small Things Like These” in der Bücherwelt eine Welle der Begeisterung auslöste, war ich nicht unter den Feiernden. Ich habe durchaus schöne Ansätze gesehen, aber für mein Gefühl war die Geschichte zu verschwommen, zu unausgeglichen. Zum einen lag das daran, dass mein inneres Kino sie nicht in der Zeit ansiedeln konnte, in der sie tatsächlich spielte. Meine Kopfbilder hinkten um Jahrzehnte hinterher und ich war jedes Mal verwirrt, wenn ein moderner Gegenstand auftauchte. Eine Anpassung ist mir trotz dieser deutlichen Zeitzeugen nicht gelungen. Der weitaus schwerwiegendere Punkt war aber, dass die Gewichtung, die Keegan ihren zentralen Themen zugeordnet hat, für mich überhaupt keinen Sinn ergaben. Letztendlich empfand ich alles zu unausgegoren und unbefriedigend.

Das war bei “Das dritte Licht” anders. Diese Erzählung ist eine kleine Kostbarkeit der ganz eigenen Art. Keegan gelingt es in bewundernswerter Weise, die Ambivalenz zwischen Zerbrechlichkeit und Beständigkeit des Glücks in unser aller Leben auf allen Ebenen auszudrücken. Wie zugegebener Weise auch schon in “Small Things Like These” mit Bill Furlong, erschafft sie auch dieses Mal einen ganz eigenen Schlag von Mensch, den ich, aus Ermangelung eines besseren Begriffs, keeganesk nennen müsste. Ihre Charaktere haben eine Güte und Herzenswärme, die gerade aus ihrer Trauer und Armut geboren zu sein scheint, und durch ihre ungekünstelte Art bewegt.

Ich lese generell Bücher, die in Irland spielen, gerne und gehöre zu den vielen, auf die dieses Land einen großen Zauber auswirkt. Keegan transportiert einen vielleicht nicht direkt vor Ort, aber sie erschafft eine Atmosphäre jenseits der physischen Sinne. Man kann darüber streiten, ob sie es nicht auch ein wenig darauf anlegt, ihre Leserschaft zu (be-)rühren. Man kann sich aber auch einfach (be-)rühren lassen (und dann eine leicht kitschige Rezension verfassen). Ich jedenfalls bin froh, dass ich dieser Autorin noch eine Chance gegeben habe. Leseempfehlung!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.02.2023
Eine gemeinsame Sache
Tyler, Anne

Eine gemeinsame Sache


sehr gut

Familien, so erklärt uns Anne Tyler in ihrem Roman “Eine gemeinsame Sache” (“French Braids” im Original), sind wie französische Zöpfe. Wenn man sie auflöst, hinterlassen sie Wellen im Haar. Eine Metapher, die durchaus ihre Schwachstellen hat, aber die Grundaussage ist klar: unsere Familien prägen in der Regel unser Leben für den Rest unseres Daseins. Drücken uns sozusagen ihren Stempel auf.

Und so ist es natürlich auch in der Familie Garretts, die erstmal aus den Eltern Mercy und Robin und ihren drei Kindern Alice, Lily und David besteht. Über die Handlung lässt sich nicht allzu viel sagen. Wir befinden uns in Baltimore im Jahre 1959 und begleiten von dort aus die Garrettsens durch Tiefen und Höhen und Jahrzehnte. Das klingt vielleicht nicht nach sonderlich viel Nervenkitzel, ist aber durchaus interessant. Denn Familiengeschichten schreiben, das kann Anne Tyler.

Ich habe mehrmals gelesen, dass viele Tyler-Fans von “Eine gemeinsame Sache” enttäuscht waren. Dass sie die Figuren farblos fanden, sich gelangweilt haben. Ich kann das nur teilweise nachvollziehen. Die Stärken dieses Romans liegen eindeutig bei dem Elternpaar Mercy und Robin. Die Beleuchtung einer Ehe, in der der eine Teil die altbewährten Strukturen beibehalten will, der andere aber das Bedürfnis hat, aus ihnen auszubrechen und eine ganz eigene Freiheit zu gewinnen, fand ich sehr gut umgesetzt. Im Laufe des Buches kann man allerdings das Gefühl kriegen, dass Tyler etwas die Luft ausgegangen ist. Die Geschichten der Kinder und Enkelkinder werden immer eiliger, fast schon etwas lieblos, abgehandelt. Da hätte ich mir entweder mehr Länge und Tiefgang oder einen früheren Abschluss gewünscht.

Der Argon Verlag hat mit Dagmar Bittner als Sprecherin eine gute Wahl getroffen. Es macht Spaß, ihr dabei zuzuhören, wie sie den einzelnen Personen Leben einhaucht. Und dabei auch deren Entwicklung im Laufe der Geschichte berücksichtigt. Ihr zuzuhören war ein echtes Vergnügen.

Zusammengefasst gibt es aus meiner Warte also ein paar kleinere Einschränkungen, aber im Großen und Ganzen finde ich “Eine gemeinsame Sache” durchaus gelungen und hörens- und/oder lesenswert. Also: Hörempfehlung!

Bewertung vom 16.02.2023
Der Magier im Kreml
Empoli, Giuliano da

Der Magier im Kreml


sehr gut

Seit rund einem Jahr schießt die Zahl der Romane und Sachbücher, die sich mit der Ukraine und/oder Russland beschäftigen, in die Höhe. Verwunderlich ist das nicht. Der Krieg ist näher und medialer, als wir es gewohnt sind. Und der Durchschnittsmensch kennt gerne die Fakten der Lage, um sie einordnen, aber vor allem, um die Zukunft einschätzen zu können. Putin macht uns das nicht leicht. Hochgradig intelligent soll er sein, ein verkappter Zar, der sich nur zurückholt, was Russland zusteht, ein Irrer, der nichts zu verlieren hat, ein Todkranker, der notfalls auch den Rest der Menschheit mit in die Hölle reißen will. Oder auch alles zusammen. Oder doch gar nichts davon?

Der Essayist Giuliano da Empoli hat mit seinem Debütroman “Der Magier im Kreml” einen ausgesprochen intelligenten Weg gefunden, Putin und sein Umfeld zu beleuchten. Dafür erschafft er den fiktiven Charakter Wadim Baranow und setzt ihn als Putins Berater mitten ins Zentrum der russischen Staatsmacht. Aus seinem Blick verfolgen wir die Entwicklung des Landes von Jelzins Ende, über das Sinken der “Kursk”, die Olympischen Spiele in Sochi bis zur Annektierung der Krim und den ersten Kämpfen im Donbass. Ruhig und reflektiert erzählt Baranow, denn er ist mittlerweile aus dem Staatsdienst zurückgetreten. Seine Werte haben sich verändert, sein Blick ist wohl nicht noch schärfer, aber distanzierter geworden.

Wer jetzt ganz große Unterhaltung erwartet, muss ein wenig umdenken. Man merkt da Empoli seinen essayistischen Hintergrund an. Handlung ist eher rar gestreut, dafür überwiegen Gedanken zur Vergangenheit Russlands, dem Wesen der berühmten russischen Seele, aber auch über Intrigen, Macht und Krieg. Natürlich kann man im Prinzip nie einen Mann die Mentalität eines ganzen Volkes erklären lassen. Aber da Empoli macht deutlich, wie sehr jede Macht den Rest der Welt nach ihren eigenen Werten misst. Wie alle Staaten Mittel und Wege kennen, ihre Bevölkerung zu manipulieren, um ihre Interessen durchzusetzen.

“Der Magier im Kreml” wurde 2022 mit dem Grand Prix du roman der Académie française und verfehlte den Prix Goncourt 2022 nur ganz knapp nach vierzehn unentschiedenen Abstimmungsrunden, nach denen der Präsident der Académie die Angelegenheit zugunsten der Mitstreiterin Brigitte Gireaud entschied. Natürlich kann auch da Empoli in allerletzter Instanz nur spekulieren, was im Kreml wirklich vor sich geht, aber dem Literaturmarkt kann man nur mehr Bücher wünschen, die eine solche Qualität und Tiefgründigkeit bei einem so schweren Thema, bei dem es eben ganz und gar nicht nur um Russland geht, erreichen. Zusätzlich bietet der Roman auch einen guten Ausgangspunkt und Anreiz, sich über einzelne Ereignisse und wichtige Personen weiter zu informieren. Leseempfehlung!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.02.2023
Ein simpler Eingriff
Inokai, Yael

Ein simpler Eingriff


ausgezeichnet

Trotz oder gerade wegen ihrer schweren Kindheit im Schatten eines despotischen Vaters ist Meret mit ganzem Herzen Krankenschwester. Ihr ist der Kontakt zu den Patienten wichtig, sich Zeit für sie zu nehmen, ihnen Halt zu geben. Deswegen zögert sie auch nicht, als ihr eine Stelle im Team eines Arztes angeboten wird, der einen neuen Eingriff direkt am Gehirn vornimmt. Einen Eingriff, der Frauen von ihren psychischen Leiden befreien soll.
Erst als Meret ihrer neuen Zimmernachbarin, die so ganz anders ist, als sie, emotional und körperlich näher kommt, bekommt ihre Glaubenswelt erste Risse. Bis sie schließlich vor einer Entscheidung steht, die ihr gesamtes Lebenskonstrukt zum Einsturz bringen kann.

“Ein simpler Eingriff” von Yael Inokai beginnt sehr vielversprechend. Zum einen fesselt einen das immer aktuelle Thema der Pflegekräfte in der ewigen Zerrissenheit zwischen den Anforderungen, die an sie gestellt werden, ihrer eigentlichen Berufung, für die Patienten da zu sein, und der Belastung, das, was sie täglich sehen müssen, zu verarbeiten. Zum anderen sind da aber auch die zwar hypothetischeren, deswegen aber nicht weniger spannenden Fragen des “simplen Eingriffes”. Was darf die Medizin? Wie kann zwischen Risiko und Nutzen abgewogen werden? Und vor allem: welche Art von “psychischen Problemen” sind tatsächlich welche und was ist einfach ein Aspekt der Persönlichkeit? Mit diesem Setting und ihrer Sprache hatte mich Inokai sofort.

Aber leider nicht lange. Was so gut beginnt, kippt in dem Moment, in dem Merets Beziehung zu ihrer Mitbewohnerin beginnt. Es ist, als höre man urplötzlich eine komplett andere Geschichte. Das wäre akzeptabel, wenn sich beide Stränge harmonisch verknüpfen würden. Tun sie aber nicht, zumindest nicht harmonisch. Stattdessen stehen sie sich plump gegenüber und fahren das Hörvergnügen auf einer Skala von 10 von einer stabilen 9 auf eine wenig attraktive 3 runter. Sehr, sehr schade.

Zur Einlesung durch Lisa Hrdina kann ich gar nicht so viel sagen, weder positives noch negatives. Ganz passend käme der Sache wohl am nächsten.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass “Ein simpler Eingriff” auf der Longlist für den Deutschen Hörbuchpreis 2023 steht, und zwar in der Kategorie “Beste Unterhaltung”. Ich kann nur davon ausgehen, dass mit Unterhaltung hier nicht locker und flockig gemeint ist, denn das würde der Geschichte wirklich nicht gerecht werden.

Zusammengefasst ist “Ein simpler Eingriff” für mich ein Roman, der viel Potenzial hat und dessen Beginn ich fast schon geliebt habe, der, aber im Verlauf immer nur schwächer wird und sich bedauerlicherweise auch nicht durch ein faszinierendes Ende selbst rettet. Und da ich es merkwürdig fände, nur die ersten Kapitel eines Hörbuches zu hypen, muss eine Leseempfehlung hier wohl leider entfallen.

Bewertung vom 12.02.2023
Wolkenkuckucksland
Doerr, Anthony

Wolkenkuckucksland


sehr gut

Anthony Doerr hat sich viel vorgenommen mit seinem jüngsten Roman “Wolkenkuckucksland”. Einen “Lobgesang auf Bücher” wollte er nach eigenen Aussagen schaffen. Die Idee, dafür über Kinder, die in verschiedenen Jahrhunderten aufwachsen, aber alle in dieser prägenden Phase von demselben Buch berührt werden, zu erzählen, ist erstmal nicht schlecht. Aber gelingt die Umsetzung?

Für mich ehrlich gesagt nur bedingt. Keine Frage, man kann wunderbar in Doerrs Welten eintauchen. Hat sozusagen History, Coming-of-Age und Sci-Fi in einem. Und, da man als Leser ebenfalls das Buchfragment, das alle Protagonisten lesen, vorgesetzt bekommt, wird man selbst auch ein Teil der Geschichte… ein kleines Detail, dass ich besonders clever fand.

Aber am Ende fand ich das Projekt doch ein wenig zu ehrgeizig, war mir alles zu konstruiert und gewollt. Ich denke, man hätte viel mehr daraus machen können, indem man die Zusammenhänge überraschender gestaltet hätte. Oder auch einzelne Aspekte mehr herausgearbeitet. Okay, genau genommen hätte ich, wäre es nach mir gegangen, nur den Teil, der in der Gegenwart spielt, beibehalten. Aus dem Teil, der in der Zukunft angesiedelt ist, hätte ich ein eigenes Buch mit einem anderen Schwerpunkt gemacht, und den Teil, der im 15. Jahrhundert spielt, in den Müll geworfen. Aber ich wurde nicht gefragt. Zur Erleichterung einiger Leser, wie ich vermute.

Und dann ist da noch Doerrs Schreibstil, an dem ich mich schon bei “Alles Licht, das wir nicht sehen” und “Memory Wall” gestoßen habe. Da schwingt immer etwas mit, was dem ganzen eine luftigere und blumigere Note gibt, als ich angemessen finde. Ich habe bei ihm immer das Gefühl, dass er mich rühren will. Und in meiner Eigenschaft als Leser schätze ich es nicht, wenn ich manipuliert werden soll. Schon gar nicht, wenn ich es merke.

Doch genug gemeckert, ich mache mir um “Wolkenkuckucksland” gar keine Sorgen. Ich habe den Roman bei weitem nicht so ungern gelesen, wie es jetzt vielleicht klingt. Er ist auf jeden Fall ein Buch, das einen an fremde Orte und in ferne Zeiten entführt. Und das ist schon viel wert. Hinzu kommt die Shortlist des National Book Awards, die Longlist der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction und die Nominierung bei den Goodreads Choice Awards 2021. Und natürlich die schöne Ausgabe des Beck Verlages.

Bewertung vom 29.01.2023
Das Porzellanzimmer
Sahota, Sunjeev

Das Porzellanzimmer


gut

Punjab, Indien, 1929. Mehar ist 15, als sie verheiratet wird. Mit wem genau, weiß sie nicht. Drei Söhne hat ihre neue Schwiegermutter, alle drei werden am gleichen Tag mit ihrer jeweiligen Braut verheiratet. Von da an leben die drei jungen Ehefrauen zusammen im sogenannten Porzellanzimmer. Ihren Männern begegnen sie nur alle paar Nächte in einem stockdunklen Extraraum, um ihrer Hauptpflicht, der Zeugung eines Sohnes, nachzukommen.
Doch Mehar beobachtet das, was sie bei der täglichen Verrichtung ihrer häuslichen Aufgaben unter der Verschleierung hindurch sehen kann, genau. Und ist sich schließlich sicher, zu wissen, welcher der Brüder ihr Mann ist. Als sie ihren Irrtum bemerkt, ist es bereits zu spät.

70 Jahre später. Mehars Urenkel ist in England aufgewachsen und in den Drogenmissbrauch abgerutscht. Er fliegt nach Indien, um auf der verlassenen Farm seiner Vorfahren einen Weg aus seiner Sucht zu suchen. Und findet das Porzellanzimmer.

“Das Porzellanzimmer” von Sunjeev Sahota war 2021 auf der Booker Prize Longlist. Warum, ist mir nicht ganz klar. Es sei denn, konsequent durchgezogene Mittelmäßigkeit ist seit Neuestem ein preiswürdiges Kriterium. Da der Roman auf der Familiengeschichte Sahotas basieren soll, sind mir die Hände ein wenig gebunden, wenn es darum geht zu spekulieren, wie glaubwürdig das Ganze ist. Die Frage nach der Erzählwürdigkeit bleibt allerdings bestehen. Und da tue ich mich etwas schwer. Mehars Geschichte ist nicht uninteressant. Den Erzählstrang um ihren Urenkel fand ich hingegen, trotz seines thematischen Potenzials, dermaßen nichtssagend und fade, dass er den Gesamteindruck deutlich nach unten gezogen hat.

Was den Stil angeht, kommt mir als Erstes das Wort “gefällig” in den Sinn. Eindeutig keine literarische Entdeckung, manchmal war es mir auch zu nah am Kitsch, aber letztendlich ist “gefällig” durchaus angenehm zu lesen. Da möchte ich jetzt gar nicht zu viel meckern.

Worüber ich aber meckern möchte, ist die verblüffende Farblosigkeit der Charaktere. Keine einzige Figur im ganzen Buch ist für mich in irgendeiner positiven Weise hervorgestochen. Am ehesten vielleicht noch Schwiegermama Mai, aber ihre Rolle ist zu klein, um wirklich etwas wettzumachen. Wie man über alle Hindernisse hinweg verliebt und dabei gleichzeitig so komplett gar nicht überzeugend sein kann, wie Mehar, wie man einen kalten Drogenentzug so darstellen kann, als wäre er nichts weiter, als eine leichte Magenverstimmung, das sind für mich die großen Rätsel dieses Romans.

Alles in allem ist “Das Porzellanzimmer” für mich ein Buch der Kategorie “Kann man lesen, muss man aber nicht.”. Es liest sich gut und zügig, es macht durchaus auch Freude, in eine andere Zeit und Kultur einzutauchen, aber wirklich mitnehmen tue ich zumindest nichts. Es soll aber nicht unterschlagen werden, dass der Roman im Allgemeinen mehr Anklang gefunden hat, als ich hier in der Lage bin, zusammenzukratzen. Und, es sei noch mal erinnert, es hat eine Booker Prize Nominierung. Diese rätselhafte Booker Prize Nominierung…

Bewertung vom 17.01.2023
Trottel
Faktor, Jan

Trottel


sehr gut

In meiner Eigenschaft als Rezensentin bin ich in gewisser Weise spießig. Der Aufbau meiner Besprechungen lässt sich leicht schematisch darstellen und an erster Stelle steht mit einer Zuverlässigkeit von 99 % eine Inhaltsangabe. Heute nicht. Aus dem einfachen Grund, dass ich keine Ahnung habe, worum es in diesem Buch zentral gehen sollte. Ein paar Fakten konnte ich allerdings herausfiltern, die da wären:
1. Der Erzähler wächst in Prag auf.
2. Der Erzähler zieht nach Ost-Berlin und heiratet anscheinend und bekommt einen Sohn.
3. Tragischerweise verliert der Erzähler seinen Sohn durch Suizid.
Wer darüber hinaus Informationen der inhaltlichen Art wünscht, muss sich diese selbst besorgen. Ich bitte darum, diesen Umstand zu entschuldigen.

Es gibt Bücher, die polarisieren. Jan Faktors “Trottel” hat es geschafft, mich in mir selbst in mehrere Lager aufzuspalten. Am einen Ende der Gefühlsskala finden wir den Teil, der frenetisch einen Jan-Faktor-Fan-Wimpel schwingt und bei jeder originellen Satz- und/oder Wortschöpfung vor Begeisterung hyperventiliert. Am entgegengesetzten Ende verdreht der Gegenpol die Augen, gähnt herzhaft und verlangt zum wiederholten Male einen sofortigen Abbruch dieser Zumutung eines Romans. Und in der Mitte steht die ratlose und verwirrte Rezensentin, der sich fragt, wer eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen ist, über Bücher schreiben zu wollen/können.

Chronologisch betrachtet lief mein Leseerlebnis wie folgt ab:
1. Aufblühendes Entzücken
2. Schnelleintretende Skepsis (jemand, der mir erklärt, ein ausgemachter Trottel zu sein, kommt mir ähnlich suspekt vor wie jemand, der behauptet, immens humorvoll oder unerwartet sensibel zu sein)
3. Übersättigung
4. Verwirrung
5. Langeweile
6. Abbruchgedanken
7. Umschwung auf (und hier kommen wir zu einem vorgezogenen Geständnis:) die Hörbuchversion als letzte Chance, eine Art entspannte Abarbeitung nebenbei.
8. Begeisterung. Basteln eines zweiten Fan-Wimpels mit dem Namen Stefan Kaminski darauf. Grandios, dieser Sprecher, einfach nur grandios!
9. Übersättigung
10. Abbruchgedanken
11. Nachdenklichkeit
12. Einsichten (begrenzte)
13. Versöhnung.

Jan Faktors Umgang mit der Sprache ist einzigartig. Vielleicht sogar genial. Aber genial auf eine wohlgesinnte Art, oder darauf ausgelegt, seine unschuldigen Leser in den Wahnsinn zu treiben? Zu fordern, wenn man es positiver formulieren möchte? Leicht macht er es einem jedenfalls nicht. Der Erzähler selbst stellt das Geschriebene metaphorisch gerne einer Achterbahnfahrt gleich. Als betroffener Leser kann ich da nur müde lächeln. Es sei denn, wir reden von einer Achterbahn, die permanent entgleist. Faktor stürmt so häufig von der Hauptbühne, um sich in Seitengassen durchzuschlagen, dass selbst ein Marcel Proust die Augenbrauen skeptisch hochziehen würde. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: ich war dieser Tour de Force nicht gewachsen. Es muss ja nicht gleich gefällig sein, aber wenn jemand mir als Leser etwas mitteilen möchte, weiß ich es zu schätzen, wenn er ab und an nachschaut, ob ich noch dabei bin. Noch dabei sein kann. So ist mir von dem Werk einiges entgangen, weil ich gerade meine müden Füße wahlweise in die Moldau oder Spree halten und wieder zu Atem kommen musste.

Faktor schafft es, gleichzeitig zu hetzen und so gut wie nicht von der Stelle zu kommen. Das, was ich letztendlich aus dem Roman mitnehmen werde, die Auseinandersetzung des Protagonisten mit der Krankheit und dem Suizid seines Sohnes, entfaltet sich nur langsam. Und braucht noch länger, um beim Rezipienten anzukommen. Die Diskrepanz zwischen dem amüsant chaotischen Stil und dem Alptraum des Geschehens ist erstmal befremdlich. Aber wer, bitteschön, bestimmt, wie Trauer richtig ausgedrückt wird? Ich jedenfalls, die ich mir sicher war, dieses Buch entweder abzubrechen oder in der Luft zu verreißen, fühle mich am Ende auf besondere Weise berührt. Vielleicht sogar belohnt. Und am Rande bemerkt: Faktor ist der erste Autor, dem ich seine Fußnoten verzeihe.

Ob das hier geschriebene jetzt eine Leseempfehlung sein soll oder nicht? Ich weiß es einfach nicht. Das kommt darauf an. Vielleicht. Oder besser nicht. Womöglich aber doch. Letztendlich kann ich allen Unentschlossenen nur eines sagen: Die Lektüre dieses Romans kann alles sein, Vergnügen, Erhellung, Gleichgültigkeit, Arbeit, Frust, Langeweile… Aber auf jeden Fall ist sie ein Erlebnis.

Shortlist Deutscher Buchpreis 2022