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Benutzername: 
Anne
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 39 Bewertungen
Bewertung vom 29.10.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


ausgezeichnet

Beeindruckender Roman über zwei ungewöhnliche Frauen! Lisbeth ist Floristin und hat die Grundausbildung der Bundeswehr kurz vor ihrem Abschluss abgebrochen. Dort traf und befreundete sie eine Frau, die über den Großteil des Romans nur als "die Kriegerin" bezeichnet wird. Während die Kriegerin als Soldatin in Krisengebieten eingesetzt ist, flieht Lisbeth vor ihrem Leben auf ein Kreuzfahrtschiff, auf dem sie wieder als Floristin arbeitet.

Beide Frauen tragen ganz unterschiedliche Traumata in sich und gehen auch ganz verschieden damit um. Leider wird auf dem Klappentext bereits Lisbeths größtes Trauma vorweggenommen, obwohl die Autorin es im Buch erst ziemlich spät erzählt.

Trotz der physischen Distanz bleiben sich die Frauen verbunden und treffen sich immer wieder in einer Hütte an der Ostsee. Auch dort fliehen sie genau wie in ihren Jobs vor der Realität.

Helene Bukowski zeichnet ein bewegendes Bild von zwei Frauen, die stark sein wollen und es auf ihre Art auch sind. Dabei nutzt die Autorin eine Ich-Erzählerin, die nur gegenüber Lisbeth allwissend ist. Über die Gedanken, Gefühle und Motivationen der Kriegerin erfahren wir nur, was sie tatsächlich ausspricht oder Lisbeth in ihren vielen Briefen schreibt. Dadurch entsteht beim Lesen viel mehr Nähe zu Lisbeth, während die Kriegerin verschlossener und mysteriöser wirkt. Helene Bukowski schafft so gekonnt ein Gefälle zwischen beiden Charakteren. Das Buch wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben!

Bewertung vom 11.09.2022
People Person
Carty-Williams, Candice

People Person


ausgezeichnet

Sie haben alle denselben Vater, könnten aber sonst kaum unterschiedlicher sein: Dimple, Nikisha, Danny, Lizzie und Prynce sind sich in ihrer Kindheit einmal begegnet und dann direkt wieder auseinandergedriftet. Miteinander anfangen konnten die fünf sehr unterschiedlichen Geschwister wenig. Erst als Erwachsene kommen sie gezwungenermaßen wieder zusammen. Alle fünf sind individuelle Charaktere mit teils bizarren Eigenarten und Unsicherheiten. Das sorgt für viele Kontroversen, wenn sie aufeinandertreffen. Gleichzeitig hat Candice Carty-Williams ihre fünf Protagonist:innen mit so klarem Profil gestaltet, dass sie lebendig werden und man das charmante und stürmische Familienchaos begeistert verfolgt.

Ohne zu viel zu verraten: Ziemlich zu Beginn des Buches passiert ein Unglück, das die fünf Geschwister unerwartet zusammenbringt. Sie versuchen das Problem gemeinsam zu lösen, verbringen dadurch viel Zeit zusammen und kommen sich menschlich näher. Das Problem selbst ist ziemlich klischeehaft und die Wendung wenig überraschend - ich finde aber, dass man darüber gut hinwegsehen kann, da das Problem nur der Auslöser für das Zusammentreffen der Geschwister ist und die Dynamik und Entwicklung der fünf im Mittelpunkt steht. Und die hat die Autrin hervorragend und glaubwürdig gezeichnet.

Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, da mir die deutsche Übersetzung der teils sehr umgangssprachlichen direkten Rede in der Leseprobe etwas steif vorkam. Im Englischen hatte das Buch einen sehr guten Fluss und konnte von Anfang an mitreißen.

Bewertung vom 06.06.2022
Die sieben Männer der Evelyn Hugo
Reid, Taylor Jenkins

Die sieben Männer der Evelyn Hugo


sehr gut

Monique und Evelyn könnten unterschiedlicher nicht sein: Monique ist eine wenig erfolgreiche Journalistin, frisch getrennt und orientierungslos in Privat- und Berufsleben. Evelyn ist eine weltberühmte Hollywood-Schauspielerin, die auf eine Jahrzehntelange erfolgreiche Karriere und sieben Ehen zurückblickt. Eine interessante Konstellation: Evelyn wählt die ihr scheinbar unbekannte Monique dazu aus, ihre Biografie zu schreiben und verbringt mit ihr viel Zeit, um über ihr Leben zu sprechen.

Die Szenen, in denen Evelyn über ihre Karriere und Beziehungen spricht, fließen locker und spritzig dahin. Wir durchleben mit der Hollywood-Legende die vielen emotionalen Auf und Abs ihres Lebens. Etwas anstrengend fand ich hingegen oft die Zwischenspiele in der Gegenwart, in der beide Frauen zusammensitzen. Monique wird als übertrieben eingeschüchtert und unsicher gezeichnet. Vermutlich soll das ihren Wandel zur selbstbewussten Autorin verdeutlichen, zu der sie nach und nach wird. Aber nach einer Weile fand ich ihr unterwürfiges Verhalten Evelyn gegenüber einfach nur unangenehm.

Der Roman lässt sich im Großen und Ganzen gut weglesen, hat nicht wahnsinnig viel Tiefgang, aber unterhält gut. Er erlaubt einen Blick hinter die glamouröse Fassade einer fiktiven Filmlegende und spricht einige wichtige Themen und deren Wandel in der Wahrnehmung über die Jahrzehnte hinweg an.

Bewertung vom 13.04.2022
New York und der Rest der Welt
Lebowitz, Fran

New York und der Rest der Welt


sehr gut

Fran Lebowitz schreibt in ihren kurzen Geschichten über viel Alltägliches und Banales, das erst durch ihren spritzigen und unverkennbaren Stil zu etwas Besonderem wird. Durch ihre persönliche Brille betrachtet und seziert sie ihre Begegnungen, Arbeitserlebnisse, Reisen und Alltagsbeobachtungen, wobei ihre Persönlichkeit aus jedem Wort strahlt. Ich kann mir ohne Probleme vorstellen, dass die Texte viel Aufmerksamkeit erregt haben und fast schon revolutionär waren, als sie in den USA in den 1970ern und 1980er erschienen sind. Auch wenn die Texte jetzt erstmals auf Deutsch erschienen sind, habe ich das Gefühl, dass die Autorin in den letzten Jahrzehnten so viele andere Künstler:innen inspiriert hat, dass der Zauber des Neuen hier nicht mehr so ganz zieht. Das ändert natürlich nichts daran, dass sie wahnsinnig gut beobachtet und beeindruckend stilsicher schreibt.

Bewertung vom 27.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Der Roman nimmt die Leser:innen mit in den (Alp-)Traum Social-Media-Ruhm: Er erzählt die Geschichte von Melanie und ihrer Bilderbuchfamilie aus Ehepaar und zwei Kindern, die ihr scheinbar perfektes Leben auf YouTube und Instagram ausleben. Mutter Melanie ist der Motor hinter der erfolgreichen Online-Präsenz, dabei ist sie regelrecht verblendet: Sie erkennt nicht, wie unglücklich ihre kleine Tochter ist und wie sie ihr Leben zerstört. Sie ist überzeugt, dass Kimmy - genau wie ihre Mutter - die Aufmerksameit liebt und süchtig nach der Liebe fremder Menschen ist. In diesem Glauben handelt Melanie auch: Sie lässt Merchandise mit den Namen ihrer Kinder entwickeln, organisiert ihnen Autogrammstunden und hält beinahe jede Minute filmisch fest, egal wie banal sie ist.
Alles kommt zum Stillstand, als die sechsjährige Kim entführt wird. Zwischen Gesellschaftskritik und Krimi erzählt "Die Kinder sind Könige" einerseits die Suche nach dem berühmten verschwundenen Mädchen und setzt sich andererseits mit der Auswirkung von Social Media und Berühmtheit auf die Gesellschaft und speziell auf Kinder auseinander.
Die Handlung erzählt Autorin Delphine de Vigan abwechselnd aus Perspektive der Mutter und der Polizistin Clara, die in dem Fall ermittelt. Die beiden ungefähr gleichaltrigen Frauen könnten kaum unterschiedlicher sein: Die eine hat die scheinbar perfekte Bilderbuchfamilie, Geld durch lukrative Werbedeals, Ruhm und Erfolg, die andere ist Single, kinderlos, blickt auf gescheiterte Beziehungen zurück und hat mit Social Media gar nichts am Hut. Aber Clara arbeitet sich mit Empathie und Dringlichkeit in die ihr fremde Welt des Internetruhms ein. Das zeigt die Autorin u.a. anhand von Protokollen, die Clara beispielsweise zu Insta-Storys oder YouTube-Videos der Familie erstellt. Die nüchternen Beschreibungen führen die Banalität und Absurdität des Ganzen perfekt vor Augen und schaffen einen eindringlichen Kontrast zu Melanie, die diesen Content mit voller Hingabe und Überzeugung entwickelt.
Nicht nur die Auflösung der Entführung, sondern auch das Ende des Buches hat mich überrascht. Die Autorin hat aktuelle Medienphänomene kritisch beleuchtet und gleichzeitig in eine spannende Geschichte verpackt. Empfehlenswert!

Bewertung vom 14.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


ausgezeichnet

Wir lernen die Protagonistin Fred, eigentlich Friederike Andermann, in Uruguay kennen. Sie sitzt auf einem scheinbar langweiligen Posten als Botschafterin, der sich plötzlich in einen diplomatischen Alptraum verwandelt. Dieses kurze Vorspiel in Südamerika dient vor allem dazu, die Charaktere zu etablieren und ein erstes Gefühl für die Diplomatin zu bekommen. Sie ist eine starke Frau in einem von Männern dominierten Bereich. Ihre einst großen Träume haben sich mit den Jahren in Ernüchterung aufgelöst und die Autorin Lucy Fricke bringt die Gedanken und Erlebnisse der Ich-Erzählerin mit feiner Ironie und einer Portion Zynismus zu Papier. Fred ist eine vielseitige Protagonistin und es macht Spaß, ihren anstrengenden Arbeitsalltag beim Lesen zu begleiten.

Der Großteil des Buches und der Handlung spielt schließlich in der Türkei, wohin Fred nach einem Zwischenspiel in Deutschland als Konsulin versetzt wird. Hier wird die Geschichte hochaktuell, denn es geht unter anderem um deutsche Journalisten und Menschenrechtler, die zu Unrecht im türkischen Gefängnis sitzen. Fred und der deutsche Botschafter bemühen sich darum, sie auf diplomatischem Wege zu befreien. Das ist enervierend, erfordert viel Fingerspitzengefühl und Geduld. Die Autorin zeigt, wie kalt und berechnend Politik und Diplomatie sein können und schafft es doch immer wieder, feinen schwarzen Humor mit der Handlung zu verweben.

Bewertung vom 06.02.2022
Misfits
Coel, Michaela

Misfits


ausgezeichnet

Kern dieses Buchs ist das Redemanuskript eines Vortrags, den Michaela Coel auf einer wichtigen Veranstaltung der britischen TV-Branche gehalten hat. Darin hinterfragt sie ihren Weg von einer Kindheit in Armut über ihr Schauspielstudium bis hin zu ihrem ersten großen Erfolg: "Chewing Gum", eine TV-Serie, die sie als Autorin und Schauspielerin entwickelte. Ihre einzelnen Erlebnisse und Schritte setzt sie in einen größeren Kontext und spricht so u.a. über Erfolg und strukturellen Rassismus. In klarer, präziser Sprache schreibt sie anschaulich über das Leben als Misfit - also als Außenseiterin oder Person, die nicht dazu gehört und mit entsprechenden Herausforderungen zu kämpfen hat. Bis sie bei ihrer TV-Show plötzlich einen ganz neuen Einfluss hat und merkt, dass sie sich plötzlich für andere stark machen und etwas bewirken kann. Der eindrucksvolle Vortrag ist eingerahmt von kurzen, lebendigen Erzählungen aus der Zeit, in der die Autorin die Rede geschrieben hat, und wie sie nachgewirkt hat.

Bewertung vom 02.01.2022
Auf Basidis Dach
Ameziane, Mona

Auf Basidis Dach


ausgezeichnet

Mona Ameziane erzählt so anschaulich von Marokko, ihrer Familie und ihren Erlebnissen zwischen ihren beiden Heimatländern, dass man die Szenen bildlich vor Augen hat, den Minztee riecht und die Geräuschkulisse der Medina von Fes im Ohr klingt. Man spürt beim Lesen stark, wie sehr die Autorin Marokko liebt, aber wie zwiegespalten sie mit ihren beiden Heimaten oft in ihrem Leben war. Die Themenbreite ist dabei riesig und reicht von großen Themen wie Religion bis hin zu sehr persönlichen Momenten mit ihren Großeltern. Sympathisch fand ich, dass Mona zugibt, dass es ihr manchmal schwerfällt, Marokko nicht durch die Klischeebrille zu betrachten - ihr ist bewusst, dass das Land viele Probleme hat, aber gleichzeitig ist es für sie ein wichtiges Stück Heimat, dem sie warme Gefühle entgegenbringt. Ein Hin-und-Hergerissensein, das sie anschaulich beschreibt.

Zwar ist "Auf Basidis Dach" ein Sachbuch, es ist jedoch sehr erzählerisch geschrieben und lässt sich in einem Fluss lesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.11.2021
Schwarzes Herz
Kuhnke, Jasmina

Schwarzes Herz


ausgezeichnet

Knallhart und ungeschönt erzählt Jasmina Kuhnke die Geschichte einer Schwarzen, namenlosen Frau, die in Deutschland mit Rassismus und Sexismus aufwächst und die ständige Herabwürdigung und Diskriminierung irgendwann so verinnerlicht, dass sie ohne jegliches Selbstwertgefühl in eine scheinbar ausweglosen Situation gelangt: Mit zwei Kindern und ohne abgeschlossene Berufsausbildung lebt sie mit ihrem gewalttätigen Partner zusammen. Mit viel Kraft kämpft sie sich selbst aus dieser Lage.

Die Geschichte springt atemlos zwischen verschiedenen Altersstufen der Protagonistin hin und her, sodass sich nach und nach ein immer komplexeres und erschreckenderes Bild ihrer Erlebnisse und Erfahrungen aufbaut. So führt das Buch direkt vor Augen, welche krassen Auswirkungen die ständige Diskriminierung hat. Besonders erschreckend ist das Verhalten derer, die eigentlich helfen und fördern sollen. Da ist beispielsweise der Sportlehrer, der die Protagonistin trotz herausragender Leistungen schlechter bewertet, weil er irgendwas von der unterschiedlichen Anatomie Schwarzer und Weißer Menschen schwurbelt. Oder die Krankenschwester, die sich weigert, ihren Job zu machen und der Protagonistin zu helfen, weil sie nach eigener Aussage Schwarze Menschen nicht gerne anfasse.

Die Autorin zeigt klug, anschaulich und schonungslos, jedoch ohne dabei auf die Tränendrüse zu drücken, wie die Protagonistin unter struktureller Diskriminierung leidet und welche Kraft es kostet, damit umzugehen und sich aus der Opferrolle zu befreien. Besonders Menschen, die solche Erfahrungen im Alltag (zum Glück) selbst nicht machen müssen, profitieren von der Lektüre und erhalten wichtige und schockierende Einblicke. Das Buch sensibilisiert und sollte möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden, z.B. in der Schule. Dort sollte es Pflichtlektüre werden.

Bewertung vom 17.09.2021
Heimatsterben
Höflich, Sarah

Heimatsterben


ausgezeichnet

Schon jetzt DAS Buch 2021 für mich! Ein Buch, das nicht aktueller hätte sein können: Im Jahr 2023 stehen nach einer gescheiterten Regierung Neuwahlen in Deutschland an. Die eher linke Journalistin Hanna lässt sich von ihrem charismatischen Schwager Felix dazu überreden, weit hinten auf der Landesliste seiner neurechten Partei zu kandidieren und ihn zu beraten. Die Partei fährt bei der Wahl einen riesigen Sieg ein und Hanna sitzt plötzlich unerwartet im Bundestag. Nur langsam erkennt sie, worauf sie sich eingelassen hat.

In "Heimatsterben" geht es um Politisches genauso wie im Persönliches - die Autorin verwebt gekonnt beide Ebenen zu einer fesselnden und faszinierenden Geschichte. Sie schreibt schnörkellos, aber eindringlich, sodass der Roman zum Pageturner wird. An vielen Stellen wirkt er erschreckend realistisch, sodass er gerade so kurz vor der Bundestagswahl ein eindringliches Plädoyer für die Demokratie liefert.

Am Anfang waren die verwobenen Familienstrukturen der vielen Generationen etwas verwirrend, aber der abgebildete Stammbaum half, die Verwandschaftsbeziehungen zu entwirren.

Insgesamt ein höchst empfehlenswerter Roman!