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Benutzername: 
Chris
Wohnort: 
Wuppertal

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Insgesamt 22 Bewertungen
Bewertung vom 19.11.2023
Die Bibliothek im Nebel
Meyer, Kai

Die Bibliothek im Nebel


ausgezeichnet

Mörderische Geschichte im Graphischen Viertel

Der Autor Kai Meyer beschreibt in „Die Bibliothek im Nebel“, erschienen bei Knaur, die Geschichte in großen Zeitabständen. Die 11-jährige Liette findet zurückgelassene Koffer, ein verschlossenes Buch und eine Mondsteinkette der Kalinins auf dem Dachboden des Hotels ihres Onkels an der Côte d’Azur, dann entdeckt sie die verlassene Villa der Eisenhuths ganz in der Nähe des Hotels. Dort gibt es diese geheimnisvolle Bibliothek. Liette will zeitlebens mehr darüber erfahren, auch weil sie die benachbarte Villa samt Bibliothek kaufen will. Sie bringt als erwachsene Frau den Ganoven Thomas Jansen dazu, mit ihr das Rätsel der Erben der Villa entschlüsseln zu wollen. Ich habe atemlos die Figuren begleitet. Ich kann mir alles gut vorstellen und mich in die Situationen sehr gut hineinversetzen. Je mehr ich lese, desto mehr fügen sich die Puzzleteile zusammen und neue Fragen drängen sich auf.

Der junge Bibliothekar Artur Kalinin erzählt als Ich-Erzähler davon, dass seine Cousine Ofeliya verschleppt und seine Tante und sein Onkel vermutlich getötet worden sind. Sie sind seine Familie, die ihn nach dem Tod seiner leiblichen Mutter aufgenommen haben. Es sind gefährliche Zeiten in St. Petersburg, während der Revolution. Nur mit der Hilfe seines Freundes Spiridon kann er mit ein paar Habseligkeiten und einem Manuskript auf ein Schiff entkommen und will seiner großen Liebe, der Malerin Mara, über die Ostsee nach Leipzig folgen, die allerdings einem anderen versprochen ist. Einem der Eisenhuth-Söhne. Die Eisenhuths aus Leipzig sind ebenfalls eine reiche Verlegerfamilie und haben ihre Urlaube wie die Kalinins an der französischen Mittelmeerküste verbracht. Arturs Ziel ist also das Graphische Viertel in Leipzig, von dem ihm Mara vorgeschwärmt hat. Aber es herrschen in Deutschland Krieg und Hunger.

Die raffiniert erzählte Geschichte in der Geschichte ist ein gut recherchiertes Zeitporträt und zugleich eine Hommage an die Buchdruckkunst - Heyms bedrückende Schattengedichte über den Untergang „Umbra vitae“ erschienen nicht 1917 bei Eisenhuths, sondern 1912 bei Rowohlt, aber in Leipzig. Die hochspannende und auch abgründige Geschichte folgt Liette und Thomas bei ihrer Recherche, die sie in die eine oder andere Gegend führt. Was oder wer ist der Schatten? Was will dieser vertuschen bzw. verhindern, das die beiden herausfinden können? Warum ist es nach so langer Zeit noch wichtig, Spuren zu verwischen? Das Buch ist eine unwiderstehliche Mischung aus Liebesroman, historischem Roman und abgründigem Krimi.

Alle möglichen Figuren wirken geheimnisvoll, wenn nicht gefährlich. Artur kommt mir vor, wie der arglose Neffe in Arsen und Spitzenhäubchen, der entdecken muss, dass seine geliebte Familie auf die eine oder andere Weise aus Mördern besteht. Ehrlich gesagt waren es dann doch zu viele Leichen für mich. Aber das ist sicher Geschmackssache. Alles in allem ein Buch, das einen bis zum Schluss stark fesselt und atemlos nach dem Ende fiebern lässt. Im letzten Kapitel tritt noch einmal Grigori auf, den Leser womöglich aus Meyers vorherigem Buch „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ kennen, am Ende kehrt man mit ihm ins heute historische Graphische Viertel zurück. Es beginnt damit schon die nächste Geschichte. Es schließt sich ein Kreislauf der unendlichen Geschichten und Märchen, die in der Buchstadt übersetzt, gesetzt, gedruckt, gebunden und verkauft wurden.

Bewertung vom 10.11.2023
Weiße Tränen
Schrocke, Kathrin

Weiße Tränen


ausgezeichnet

Jugendroman über Vorurteile, Freundschaft und Gemeinschaft

„Weiße Tränen“, der Roman der Autorin Kathrin Schrocke, erschienen im Mixtvision Verlag, hat mich sofort angesprochen. Auf dem Cover wächst eine Faust aus dem Wald und schiebt sich vor das Paar, das nur als Silhouette gezeigt wird: Ein Mädchen mit Kopftuch und ein Junge mit krausem Haar. Lenni und Serkans Schwester Elif finden erst spät im Buch zueinander, denn Lenni muss sich erst entscheiden, auf wessen Seite er steht. King Kong soll das neue Schulstück werden und ausgerechnet Serkan, Lennis bester Freund, der sehr gut singen und schauspielen kann, soll den Affen ohne Textpart mimen. Nicht nur, dass die Story King Kongs, der übergroßen "Monsterkreatur", die absolut nichts mit einem Menschen, aber auch nichts mit einem Gorilla zu tun hat, ein rassistischer Stoff ist, auch dass der Lehrer die Rolle mit einem talentierten Schüler und gleichzeitig dunkelhäutigen Jungen besetzen will, löst bei einigen der Schüler zurecht Empörung aus. Vor allem Benjamin, Lennis neuer schwarzer Mitschüler legt sich deswegen mit dem eigentlich beliebten Theater AG-Lehrer an.

Lenni steht von nun an immer wieder zwischen allen Stühlen, er kann es niemanden recht machen. Der erste Teil liest sich gut und baut die Spannung auf, wie sich der Konflikt zwischen Benjamin und dem Theater-Lehrer, der die Schüler unterschiedlich behandelt, entwickelt. Man kann sich in alle Figuren und Positionen gut hineindenken. Ich finde es gut, dass Lenni als Hauptfigur dazwischen steht. So kommt die Unsicherheit, die wir alle immer wieder verspüren können, gut heraus. Die Konflikte sind vorprogrammiert.

So wie das Buch beginnt, endet es. Der Kreis schließt sich und die Anfangsszene mit einer Urne im Wald wird aufgeklärt. Es gibt überraschende Wendungen und Enthüllungen. Als Leser muss man feststellen. dass Vorurteile schnell entstehen. Vieles ist am Ende anders als es scheint. Die Autorin nutzt die flüssig zu lesende Geschichte, um Fachwissen über Rassismus gekonnt einzubauen. Lenni wandelt sich im Laufe der Geschichte von einem angepassten zu einem eigenständig denkenden, reflektierenden Jungen.

Für mich war eine der Schlüsselszenen, als Lenni den Dienst für den kranken Assistenten seines Vaters, der Bestatter ist, antreten muss und seinem Vater helfen soll. Diese Nacht ist die Wendung im Buch, denn da wird klar, dass sie den Lehrer nicht kannten, fast nichts über ihn wussten und die Dinge auf einmal in einem etwas anderen Licht erscheinen. Das relativiert nicht dessen Verhalten, aber es macht klar, dass jeder Vorurteile hat und dass die wenigsten hinter die jeweiligen Fassaden gucken können. Wo hat man im Alltag selbst Vorurteile?

Die Geschichte klärt über Rassismus auf, lässt einen nachdenklich zurück. Schrocke gelingt ein Jugendroman mit Tiefgang.

Bewertung vom 05.11.2023
Der Geruch von Ruß und Rosen
Rabinowich, Julya

Der Geruch von Ruß und Rosen


ausgezeichnet

Buch über Flucht, Schmerz und starke Frauen

Madina teilt ihre Gefühle und Gedanken mit dem Leser, als wäre es ihr Tagebuch. Die Sprache hört sich an einigen Stellen sehr altklug an. Aber schließlich musste das Mädchen schnell erwachsen werden. Ihre Tante wirkt geheimnisvoll und bringt sie schließlich dazu, mit ihr ins Ungewisse aufzubrechen, um nach dem Vater zu suchen. Es wird spannend. Doch zunächst ist Madina gut angekommen, in ihrem neuen Zuhause. Sie ist mit ihrer Familie nach der Flucht sicher und geborgen bei einer Familie untergekommen. Sie ist umgeben von starken Frauen und ist auf dem Weg, selber eine zu werden, auch wenn es in ihrer Heimat nicht möglich gewesen wäre. Laura, die Tochter des Hauses, sieht sie als ihre beste Freundin an. Sie fahren sogar zusammen in den Urlaub. Es scheint, alles gut zu zu werden, zu sein.

Aber da ist eine weitere junge Frau, die im Flüchtlingsheim wohnt und bei dem Freund der Mutter von Laura im Café arbeitet. Sie spricht ihre Muttersprache und ist verbittert. Sie hat Schlimmes in ihrem gemeinsamen Heimatland, das nicht genannt wird, erlebt. Sie ist später geflohen. Madina lebt schon viel länger im neuen Land. Sie fühlt sich mittlerweile eher zum neuen Land zugehörig. Becca bringt Madina zum Grübeln. Und besonders eine Frage quält sie: Wo ist ihr Vater? Er ist in die Heimat zurückgekehrt. Wie ist es ihm ergangen? Es kommt kein Lebenszeichen. Das Buch ist in drei Teile geteilt. Im ersten Teil lernt man Madina, die Hauptfigur, kennen, auch wenn man die ersten beiden Bücher der Reihe nicht gelesen haben sollte. Der zweite Teil ist schon härtere Kost, den muss man erst einmal verdauen.

Madina und ihre Tante kehren zurück in die Heimat und finden alles zerstört vor, nicht nur die Häuser, auch die Seelen. Es wird sehr gut beschrieben, wie fremde Menschen einem teilweise näher stehen, als die eigenen Verwandten. Wie verschiedene Parteien eine Familie, ein Dorf spalten können. Wie Hass entstehen kann. Der Krieg ist nicht wirklich vorbei. Die Menschen sind immer noch untereinander verfeindet. Nur ein paar Menschen aus einer anderen Stadt wagen einen zarten Neuanfang in dem alten Dorf, haben aber mit den Menschen, die immer noch dort gewohnt haben, nichts zu tun. Es passiert etwas sehr Schlimmes, womit ich nicht gerechnet habe. Madina kann es nicht verhindern, aber ihr wird geholfen. Als sie zurückreist, beschreibt die Autorin den Gang durchs Fluggate wie eine Wiedergeburt. Sie ist durch das Erlebte, durch den Schmerz eine andere.

Madina hat einiges mitgemacht und kommt in anderer Besetzung wieder nach Hause, erträgt alles tapfer. Das Mädchen arbeitet das Erlebte auf, so weit das möglich ist und kämpft um ihre Familie. Am Ende lernt sie, ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren. Hut ab! Die Figur kommt einem nahe. Die Geschichte und die Figuren wirken sehr authentisch. Man merkt, dass die Autorin gut recherchiert hat. Hat das Buch nun meine Sicht auf Menschen, die durch Krieg und Konflikte geprägt worden sind, verändert? Ja und nein. Ich habe schon vieles gewusst bzw. geahnt, aber das Lesen hat meine Eindrücke doch nochmal sehr stark intensiviert und mich auch viele Handlungen noch besser nachvollziehen lassen. Wunderbar in Sprache verpackte, gewaltige Bilder und Figuren, die nicht mehr so leicht aus dem Kopf gehen. Es gibt sicher viele Romane, die das Thema Flucht zum Inhalt haben, dieser gehört zu den besonderen. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 24.10.2023
Sieben Farben Blau
Clawien, Claudia;Buttmann, Jonathan

Sieben Farben Blau


ausgezeichnet

Die Welt und die Ozeane als Zuhause betrachten

Faszinierend, wenn man alle Zelte abbricht. Dazu gehört ganz schön viel Mut. Den beweisen das Paar Claudia Clawien und Jonathan Buttmann aus Berlin, die sich nach einer Art Probezeit eine alte Segelyacht kaufen und einfach für ein Jahr dem Alltag den Rücken kehren. Daraus werden sage und schreibe sieben Jahre. Das Buch „Sieben Farben Blau“, das in dem Verlag Delius Klasing erschienen ist, bietet einen sehr lebendigen Bericht des großen Abenteuers. Ich weiß nicht, ob ich mich das trauen würde, aber das Buch habe ich trotzdem sehr gerne gelesen.

Die Kapitel sind kurz und knackig gehalten. Man kann sich immer alles vorstellen und die Eindrücke werden mit allen Sinnen beschrieben. In der Mitte gibt es einen Fototeil. Es wird nichts beschönigt, das Schöne gleitet nicht ins Kitschige ab. Herausforderungen müssen bewältigt werden, allerdings stoßen die beiden auf eine Menge Hindernisse. Das Boot muss immer wieder monatelang teuer repariert werden. Planänderungen werden von dem Paar begrüßt, auch wenn es stattdessen zwei Monate dauert, bis sie nach Panama weiter reisen können.

Auch der Humor fehlt nicht. Es macht Spaß, sich mit auf die Reise zu begeben. Es gibt ab und zu Tagebucheintragungen. Besonders hat mir die lebendige Schilderung der Stadt Havanna gefallen. Aber auch der anderen Gegenden und vor allem der Menschen, denen sie begegnen. Voller Neugierde und mit großer Offenheit lassen sich die beiden auf andere Kulturen ein. Als Leser ist man mitten drin im bunten Treiben. Der Funke der Begeisterung springt über und ich habe sofort gedacht, dass ich auch mal da und da hin muss.

Clawien und Buttmann experimentieren viel. Brot, Käse und Bier werden selber hergestellt. Viele Dinge vermisst man sicher, wenn man so lange unterwegs ist. Typische Essensgewohnheiten sind ja auch ein Stück Heimat. Die Segler geben einem einen guten Einblick in die Strapazen, aber auch die schönen Seiten einer solchen Reise. Der mitreißende Schreibstil ist kurzweilig und ich würde mir ein weiteres Buch wünschen, wenn die beiden in irgendeiner Form wieder auf Tour gehen. Ich kann das Buch nur jedem wärmstens empfehlen, denn es weitet sich damit der eigene Horizont. Vieles scheint auf einmal möglich.

Bewertung vom 01.09.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Über das eigene Zimmer und das Schreiben

Es ist ein Buch, das erst langsam seinen Sog entfaltet. Das Buch „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" von Doris Knecht ist im Hanser Verlag erschienen. Es besteht aus kurzen anekdotenhaften Kapiteln, die sich zu einem kompletten Bild zusammenfügen. Knecht zeigt das Leben einer heutigen alleinerziehenden Autorin, die sich nach dem Auszug der Kinder wieder ihr eigenes Reich schaffen muss, um wieder allein arbeiten und leben zu können. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an Situationen aus ihrem Leben: mit ihrem Hund, den Zwillingen, der Mutter und den vier Schwestern, die auch jeweils Zwillinge sind, den Freunden. Der Erzählstil ist sachlich und trotzdem witzig. Ich habe beim Lesen eine österreichische Stimme im Kopf, die erzählt, weil sich, selten zwar, typische Vokabeln in dem Text finden.

Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Emanzipation durchs Buch, vor allem geht es um das dafür unerlässliche Loslassen und das Einrichten eines eigenen Zimmers. Schon am Anfang des Buchs wird Virginia Woolf aus „Ein Zimmer für sich allein“ zitiert und bereits im 3. Kapitel namens „Solitude“ legt Doris Knecht ihrer Hauptfigur die Worte in den Mund, um den Zustand selbstgewählter Einsamkeit, die man zum Schreiben benötigt, zu beschreiben: „Eine Lebensform, die Rückzug erlaubt an einen Ort, an dem keine andere Person deinen Platz beansprucht. Rechte hat, Stille zerredet, Abläufe stört, Bedürfnisse und Ansprüche artikuliert.“

Sie lobt einen Jugendfreund: „Er las meine getippten Blätter mit ernstem Gesicht. Sein Gesicht machte das, was auf den Blättern stand, wichtig.“ Sie zeigt auf, welches Umfeld eine Autorin neben so einem Rückzugsort braucht. Sie wägt ab, was sie erzählen, preisgeben will. Sie befragt ihr Umfeld zu Ereignissen, beschreibt Fotos wie Annie Ernaux. Und sie listet Dinge zu einem bestimmten Thema auf. Das entspricht der Vorrecherche zum Schreibprozess, der sich auch immer aus Erinnerungsfetzen zusammensetzt.

Im Vergleich zu der Hauptfigur schneiden die von ihr beneideten Schwestern nicht gut ab, denn sie leben zwar in Häusern, aber von einem eigenen Zimmer ist nicht die Rede. Die Mutter der Protagonistin dagegen richtet ein Schreibzimmer im alten Kinderzimmer ein. Die karikaturistisch reduziert geratene Darstellung der Mutter wird in einem zweiten Kapitel relativiert. Das eine Kind will nicht im Buch erwähnt werden und kurzerhand wird dessen Geschlecht im Text geändert. Dem Leser wird so ganz nebenbei erklärt, wie man schreibt. Auch in dem Kapitel mit dem Titel „Konstrukt“ über die Protagonistin selbst, ist nicht klar, was wahr ist vom Erzählten. Und: was passt besser in die Geschichte hinein?

Der Roman ist eine gelungene Mischung aus Schriftstellerinnen-Alltag und Anleitung zur Emanzipation. Jeder Frau zu empfehlen, besonders schreibenden Frauen.

Bewertung vom 27.08.2023
Mann vom Meer
Weidermann, Volker

Mann vom Meer


ausgezeichnet

Thomas Mann, seine Mutter und das Meer

In dem Sachbuch „Mann vom Meer - Thomas Mann und die Liebe seines Lebens“, erschienen im KiWi Verlag, wirft der Autor Volker Weidermann einen besonderen Blick auf das Leben von Thomas Mann. Dessen Leben ist schon oft dokumentiert und interpretiert worden, aber diesmal ist es ein erstaunlich einfühlsamer Blick darauf. Weidermann beginnt auch nicht mit der Geburt von Mann selbst, sondern mit der Kindheit von Manns Mutter Julia. Sie ist als kleines Kind plötzlich Halbwaise geworden, denn ihre Mutter stirbt früh. Manns Mutter, von allen Dodo genannt, die zuvor behütet in einem idyllischen Ort Brasiliens aufgewachsen war, wird abrupt aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen und von ihrem Vater ins kalte Lübeck verpflanzt. Er lässt sie dort bei ihr unbekannten Verwandten und kehrt ohne sie nach Brasilien zurück.

Diesen Umstand der traumatisierten Mutter Manns nimmt Weidermann zum Anlass, die an den Sohn Thomas Mann weitergegebene Liebe zum Meer herzuleiten, denn das Meer war für die Mutter immer die Verbindung zur alten Heimat, die sie verlor. Weidermann stellt denn auch über das Werk Manns fest: „Das Meer ist der stille Held all seiner Bücher.“ Thomas Mann ist ein stilles, sensibles Kind, das viel schläft. Er ist Zeit seines Lebens immer gern am Meer, auch als erwachsener Mann. Es ist Balsam für seine geschundene Seele. Dort nimmt er sich schöpferische Auszeiten und erlaubt sich in den Ferien von der Ehefrau Katia tolerierte Liebeleien mit dem eigenen Geschlecht. Er fühlt sich am Meer freier als anderswo, nirgends sonst erlaubt er sich Extravaganzen in dem Maße.

Weidermann schreibt ein gut recherchiertes und unterhaltsames Buch über Thomas Mann und seine Eigenheiten und Zweifel, sein Arbeiten und Familienleben, seine Krisen und Erfolge. Über das strenge Aufrechterhalten seiner hart erarbeiteten makellosen Fassade. Er ist tief eingetaucht in das Gefühlsleben von Mann. Der Autor hat unzählige Briefe und Aufzeichnungen wie die Tagebücher studiert und erzählt die Geschichte eines Mannes, der leidet. Mann verzweifelt am Kriegsgeschehen und zeitweise an der Welt überhaupt. Er verarbeitet sein tieftrauriges Innenleben literarisch und verwandelt alles zu Prosa. In Kalifornien am Meer, wohin er in Kriegstagen noch rechtzeitig übersiedeln kann, um den Nazis zu entkommen, wird sein Empfinden heller.

Die Liebe zum Meer gibt Thomas Mann an seine jüngste Tochter weiter, die Meeresforscherin wird. Weidermann schafft es, auch Menschen ohne große Vorkenntnisse den großen Schriftsteller menschlich näher zu bringen. Empfehlenswerte Lektüre für alle, die mehr über Thomas Mann wissen wollen und, was ihn angetrieben hat.

Bewertung vom 26.08.2023
Jung und Unsichtbar
Avino, Federico

Jung und Unsichtbar


ausgezeichnet

Packendes Debüt im Brennpunktmilieu

In dem Roman „Jung und unsichtbar“ stellt der Autor Frederico Avino einen 13jährigen, der mit seiner Mutter am Stadtrand wohnt, in den Mittelpunkt. Der Ich-Erzähler blickt auf sein Leben zurück. Im Viertel sind sie eingekesselt von Autobahnen und an den Ecken stehen Alkoholkranke an den Trinkhallen. Die Geschichte spielt in Braunschweig, könnte aber auch überall woanders spielen. Die Mutter sucht sich die falschen Männer aus und aktuell ist sie mit dem gewalttätigen Onkel des Jungen zusammen. Durch die Verkettung unglücklicher Umstände passiert etwas sehr Schlimmes und zieht immer noch etwas Schlimmeres nach sich. Avino beschreibt oft erst die Momente danach und das ist noch viel einprägsamer, als wenn er das Blutspritzen beschreiben würde.

Avino baut die Spannung der Geschichte geschickt auf und steigert sie bald ins Unermessliche. Der Junge wird von einer Spirale der Gewalt mitgerissen, die für ihn zu groß und gewaltig ist. Aber er ist nicht allein. Glücklicherweise stehen dem Protagonisten mehrere Figuren zur Seite: ein zurückgebliebener, aber unerschrockener Nachbarsjunge, der so etwas wie ein Bruder ist, und zwei ältere Jugendliche aus dem Viertel, die schon im Gefängnis gesessen haben. Außerdem helfen auch noch ein verwöhntes Mädchen aus der Schule und eine ehemalige Lehrerin, dass der Sog des Strudels der Ereignisse den Jungen nicht ganz verschluckt.

Der Roman erinnert an Philippe Djians „Mörder“, in dem ein junger Mann unschuldig durch sein Umfeld in den Abgrund gezogen wird. Mitgefangen, mitgehangen. Avino stellt sich als vielversprechendes Talent heraus, von dem man gerne mehr lesen würde. Er entwickelt starke Figuren und hat Bilder für seine Story gefunden, die man als Leser so schnell nicht mehr vergisst. Schön arbeitet er den Kontrast zwischen arm und reich heraus, das soziale Gefälle und die damit oft verbundene Chancenlosigkeit. Das Ende ist bewegend und bleibt offen. Allerdings ist es mit einem guten Ausblick versehen. Man merkt, dass Avino als Filmautor arbeitet.

Die Jugendsprache ist anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, aber man findet sich schnell in der Sprachmelodie des Ich-Erzählers zurecht. Man fühlt und leidet mit den Figuren mit. Der wie ein Roadmovie geschriebene Roman nimmt einen mit auf eine abenteuerliche Flucht. Die Geschichte überrascht mit einer Tiefe, die man zu Beginn nicht erwartet hätte. Sehr empfehlenswert, aber nichts für schwache Nerven.

Bewertung vom 19.05.2023
Frankie
Gutsch, Jochen;Leo, Maxim

Frankie


ausgezeichnet

Ein kluges, philosophisches und mit großer Leichtigkeit erzähltes Buch

Eigentlich mag ich keine Katzenromane, diesmal liegt der Fall aber anders. Das Buch „Frankie“ von Jochen Gutsch und Maxim Leo, im Penguin Verlag erschienen, ist ein wunderbarer Roman über eine ganz besondere Freundschaft, nämlich zwischen einem Menschen und einem sprechenden Kater. Wobei der Kater ein ganz und gar eigenständiger Geselle ist. Und eigenwillig dazu. Frankie trifft Richard Gold zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Gold will ohne seine verstorbene Frau nicht mehr leben. In dem Moment, in dem er aus dem Leben scheiden will, betritt Frankie die Bühne. Er hält Gold von allem ab, animiert ihn wieder, am Leben teilzunehmen. Die Geschichte erinnert ein bisschen an die Känguru-Chroniken. Der Kater bringt so richtig Schwung in die Bude, würde Frankie jetzt vielleicht sagen.

Zuerst irritierte mich die Sprache, Frankie spricht zum Leser in einer Art Slang. Er ist halt ein Straßenkater. Aber dann, nach einer Weile empfand ich das als stimmig. Frankie schließt man sofort ins Herz. Ich mag das Buch sehr, die Figuren – Gold, Frankie, den Professor, den muskulösen Eichkater und auch den sentimentalen Dealer und natürlich Anna Komarowa. Solche Freunde sind in jedem Fall wünschenswert. Ich habe gelacht und hatte Tränen in den Augen, weil einige Stellen auch traurig sind. Ich habe alles mit durchlebt und teilweise auch jemandem daraus vorgelesen. Es hat mir in den vier Tagen, in denen ich das Buch gelesen habe, die Busfahrt zur Arbeit versüßt und die Abendstunden nach der Arbeit. Den beiden Autoren, die auch als Journalisten arbeiteten, ist ein kluges, philosophisches und mit großer Leichtigkeit erzähltes Buch gelungen, das ein gutes Gefühl hinterlässt, obwohl es kein Buch ist, das seicht ist oder leichte Kost verspricht.

Frankie wirbelt also das Leben von dem depressiven Gold gehörig durcheinander und das auf eine so schöne, lustige und rührende Weise, dass der Leser großen Anteil an beider Leben nimmt und etwas betrübt ist, weil die Geschichte über die Freundschaft, die Liebe und das Leben schon nach 187 Seiten endet. Allerdings ist das Ende offen gehalten. Ein ganz ungewöhnliches Buch, für das ich eindeutig die volle Punktzahl vergebe und hoffe, dass es weitere Geschichten mit Frankie geben wird. Das Buch des Jahres bis jetzt! Unbedingt lesen!

Bewertung vom 07.04.2023
Xanthippe (eBook, ePUB)
Kaiser, Maria Regina

Xanthippe (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ungewöhnliche Liebesgeschichte im alten Athen

Das Cover des Buches „Xanthippe. Schöne Braut des Sokrates“ von Maria Regina Kaiser, im Fischer Verlag erschienen, zeigt zwei, fast verdeckte, grafische Symbole. Sie stellen einen Fisch dar. Er "schwimmt" auf blauem Coverhintergrund. Vielleicht ein Hinweis auf die Persönlichkeit des Sokrates als Menschenfänger? Alle gehen in sein Netz, auch wenn er äußerlich nicht dem damals gängigen griechischen Ideal (schwarzhaarig und muskulös) entsprochen hat.

Der erste Teil des Buches beschreibt den Beginn einer bezaubernden Liebesgeschichte im alten Athen, die sich nur langsam entwickelt. Die Liebe zwischen einem jungen Mädchen und einem alten Herrn entspinnt sich mit Hilfe von Erinnerungen aus der Kindheit des Älteren und dessen Wissen, das natürlich die Jüngere beeindrucken muss. Aber auch durch eine gewisse Geborgenheit fühlt sich das kluge Mädchen Xanthippe - die Halbwaise wird vom alkoholkranken Vater und dem geliebten Zwillingsbruder, der an der Front von Syrakus kämpft, allein gelassen - zu Sokrates hingezogen. Irgendwie musste ich dabei an den Film "Harold und Maude" denken, in dem sich ebenfalls zwei unterschiedlich alte Menschen finden. Im Laufe der Zeit spielen auch die klassischen Verführungsfrüchte, Äpfel, eine Rolle in der leichtfüßig erzählten Geschichte. Kaiser spart nicht mit Fachwissen über die damalige Zeit und flechtet die Fakten geschickt in den Erzählfluss. Es macht Spaß, die Geschichte zu lesen und ich bin gespannt, wie sich das ungleiche Paar doch noch finden wird. Denn erst einmal ist die Familie aus mehreren Gründen gegen die ungleiche Verbindung.

Im zweiten Teil des Buches gibt es dramatische Wendungen und Verluste im Leben der jungen Xanthippe. Sie lernt auch ihren Jugendfreund neu kennen, der aus dem Kriegsgeschehen zurückgekehrt ist. Die junge Frau muss sich zwischen zwei Männern entscheiden, während sie auf eine Nebenbuhlerin besonderen Ausmaßes trifft. Ich fand das Ende überraschend und interessant gelöst. Durch die Lektüre habe ich sehr viel über die Zeit des Sokrates gelernt und trotzdem hat die Geschichte nicht an Spannung eingebüßt. Eine wunderbare Möglichkeit, wie es hätte sein können. Eine glaubwürdige Geschichte, mit viel Liebe zu geschichtlichen Details. Man merkt, dass die Autorin vom Fach ist. Dennoch ist das Lesen ein besonderes Vergnügen, denn sie besitzt die Gabe, alles vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Ich habe mich sehr gefreut, die lebenshungrige und wissensdurstige Xanthippe kennenlernen zu dürfen.

Schön, dass im Nachwort die wirklich existierenden Personen und vermuteten Verwandtschaftsverhältnisse genannt werden. Auch finde ich interessant, dass Kaiser beschreibt, warum sie sich bewusst gegen die andere mögliche Version entschieden hat. Myrto wird ja zuweilen als zweite Frau des Sokrates eingeordnet und nicht Xanthippe.

Ich kann das Taschenbuch nur jedem wärmstens ans Herz legen, der mehr über den Alltag, die Sitten und Gebräuche Athens während des Krieges gegen Syrakus wissen möchte.

Bewertung vom 26.03.2023
Mary & Claire
Orths, Markus

Mary & Claire


ausgezeichnet

Die Schicksalsnacht, in der Frankenstein entsteht

Markus Orths hat mit „Mary & Claire“ einen exzellent geschriebenen Roman, erschienen bei Hanser, vorgelegt. Er beschreibt darin vor allem die schicksalshafte Begegnung von vier jungen Schriftstellern, die tatsächlich stattgefunden hat. 1816, im Jahr ohne Sommer, fanden sich das Paar Mary Godwin und Percy Shelley sowie Marys Schwester Claire Clairmont und Lord Byron in einer Villa am Genfer See zusammen, wo in einer schicksalshaften Nacht der Anfang des Klassikers Frankenstein entstanden ist.

Mary und Claire sind Stiefschwestern, im Charakter sehr unterschiedlich. Dennoch verstehen sich die miteinander konkurrierenden Frauen. Sie schreiben beide und verlieben sich in den gleichen Mann: Percy Shelley, einen Literaten. Die drei sagen sich von dem Elternhaus los, von den herrschenden Konventionen. Sie reisen und leben zusammen, bis Claire sich in Lord Byron verliebt, obwohl sie ihn nicht persönlich kennt. Die Gesellschaft reagiert mit Ächtung auf das Trio.

Marys Stiefschwester Claire beginnt Byron zu schreiben, vergöttert ihn regelrecht. Und der Literaturstar Byron geht tatsächlich auf seinen Groupie ein. Aber der Dandy liebt auch Männer. Damals sind homosexuelle Beziehungen in England verboten, auch deshalb muss er sich im Ausland aufhalten. Das Publikum reizt das Verbotene und Anrüchige in dieser Zeit. Mir gefällt die Szene besonders, in der die Hotelgäste Ferngläser ausgehändigt bekommen, um zu Byrons Villa und dem Quartett, wenn es sich auf dem Balkon aufhält, herüberschauen zu können.

Claire vernichtet leider ihren Roman „Idiot“ in der Gewitternacht, in der sie alle Opium nehmen und sie eine Art Schreibwettbewerb abhalten. Claire fühlt sich klein neben dem großen Lord Byron. Wie die anderen zweifelt sie an sich und ihren Fähigkeiten zu schreiben. Eine sehr plastisch und fantastisch geschriebene Szene ist die am Brunnen, in den sie ihr Manuskript versenkt. Auch die erotische Szene mit Percy und Mary, die sich im Regen lieben und später Schnecken im Haar haben, finde ich stark.

Alle erleiden mehrere Schicksalsschläge und müssen den Tod ihnen Nahestehender verkraften. Interessant finde ich die Feststellung im Buch, dass es Einsamkeit sowie Leiderfahrung oder auch das Erleben tiefer Gefühle bedarf, um künstlerisch tätig sein zu können. Ich habe das Buch in kurzer Zeit gelesen. Es ist eine schöne Sprache, in die der Autor seine Version der Geschichte kleidet. Es entsteht alles vor dem inneren Auge. Markus Orths hat nicht nur einen Roman über die berühmten Literaten und deren Zeit verfasst, sondern auch eine Hommage ans Schreiben. Unbedingt lesen!