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gst
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pirna

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Insgesamt 205 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

Ergebnis einer schwierigen Kindheit

Philipp, seit frühester Jugend Außenseiter, wurde schon in der Kindheit schnell wütend. Er hatte nie Freunde, bis Faina in seine Klasse kam und neben ihm platziert wurde. Sie, rothaarig wie er, war mit ihren Eltern aus der Ukraine gekommen und fand keinen anderen Anschluss. Ebenso wie er hatte sie es nicht leicht in ihrer disfunktionalen Familie, die verzweifelt viele Bräuche aus der alten Heimat aufrecht zu erhalten suchte. Die mehr oder weniger unbeabsichtigt begonnene Freundschaft zwischen Philipp und Faina wurde immer enger und hielt über Jahre.

„Ich war immer die Klügere, die Fleißigere, die Begabtere“, resümiert Faina als Erwachsene. Dankbar stellt sie fest, dass er sie noch nie im Stich gelassen hat. So steht sie nach einer längeren Trennung schwanger und mittellos vor seiner Tür. Für ihn kein Problem. Er hält zu ihr und hilft, so gut es ihm möglich ist.
Während in den ersten beiden Teilen des Buches Philipp und Faina nacheinander aus ihrer Sicht die Sachlage schildern, schaltet sich im dritten Teil, in dem es um das Zusammenleben der beiden geht, auch eine neutrale Erzählerin ein. Das ermöglichte mir als Leserin das Verhältnis der beiden zueinander mit Abstand zu betrachten und die Überforderung beider zu erkennen.
Am Ende habe ich das Buch schockiert zugeschlagen. Das Markenzeichen der Autorin sind toxische Beziehungen von Menschen, die eine schwierige Kindheit hatten. Sie schafft es, den Lesern und Leserinnen die Vergangenheit ihrer Protagonisten so nahe zu bringen, dass man unweigerlich Verständnis für sie aufbringt – auch wenn man nicht alle Verhaltensweisen gut findet. Sie lässt uns an deren Kämpfen teilhaben und mitleiden, wenn Träume zerplatzen. Ihr Schreibstil ist einfühlsam und es fällt ihr nicht schwer, nach und nach Spannung aufzubauen.

Lana Lux wurde 1986 in der Ukrainischen Sowjetunion geboren und kam als Zehnjährige nach Deutschland, wo sie die deutsche Sprache lernte, Abitur machte und studierte. Seit 2010 lebt die Schriftstellerin jüdischer Herkunft mit Ehemann und Tochter in Berlin. Geordnete Verhältnisse ihr dritter Roman.

Fazit: Ein lesenswertes Psychogramm, das ich kaum aus der Hand legen konnte und das mich tief beeindruckt zurückgelassen hat.

Bewertung vom 10.01.2024
Dieses schöne Leben
Brammer, Mikki

Dieses schöne Leben


ausgezeichnet

Die Sterbe-Duala

Clover war 5 Jahre alt, als ihre Eltern von einer Chinareise nicht mehr zurückkamen und ihr Großvater sie zu sich nach New York holte. Er kümmerte sich liebevoll um seine Enkelin, die sich zur Einzelgängerin entwickelte. Als junge Frau reiste sie viel und befand sich gerade in Kambodscha, als er starb. Sie quälte sich, dass sie ihn allein gelassen hatte und wurde, wieder zu Hause, zur Sterbebegleiterin, um wenigstens anderen in deren letzten Stunden die Einsamkeit zu ersparen.
Inzwischen ist sie Mitte Dreißig und lebt allein in der Wohnung ihres Großvaters. Kontakte pflegt sie einzig mit einem alten Nachbarn, der auch ihren Opa kannte. Und sie besucht Treffen mit Menschen, in denen es um Todeserfahrungen geht. In einer neuen Nachbarin findet sie ihre erste Freundin, die ihr hilft, sich selbst besser kennenzulernen. Auch Claudia, ihre derzeitige Klientin, versucht sie ins Leben zu stoßen: „Lass die besten Dinge des Lebens nicht an dir vorbeiziehen, weil du dich zu sehr vor dem Unbekannten fürchtest.“
Nach und nach beginnt Clover, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, anstatt sich nur mit Büchern zu beschäftigen.

Mikki Brammer ist eine australische Schriftstellerin mit Sitz in New York City. Sie verbrachte ihre Kindheit in Tasmanien und lebte in verschiedenen Teilen Australiens sowie in Frankreich und Spanien. Dieses schöne Leben ist ihr erster auf Deutsch erschienener Roman.

Er ist in gut lesbarer, eingängiger Sprache geschrieben und bereitet das schwere Thema locker auf. Er enthält so manche Lebensweisheiten und Tipps, an was man denken sollte, um den Hinterbliebenen den Abschied nicht noch schwerer zu machen. Trotzdem hat mich das Buch nicht erreicht. Es war mir zu profan und hat mich an einen leichten Liebesroman erinnert.
Fazit: Nicht schlecht, aber nicht das, was ich mir erhofft hatte.

Bewertung vom 14.12.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


ausgezeichnet

Über Anpassung, Freundschaft und Trauer

Katha, 14 Jahre alt, hat es nicht leicht in ihrem jungen Leben. Nachdem sich die Eltern getrennt haben, kümmert sie sich um die kleine Schwester, während ihre Mutter in der Trauer um das zerbrochene Glück versinkt. Katha versucht, es allen recht zu machen, das Leid aller zu mitzutragen. Erst die Mutter einer Freundin erkennt ihren wahren Kern und nimmt sich ihrer an. Sie prägt das Mädchen, hilft ihr, die Welt ein wenig zu verstehen. Obwohl diese tiefe Freundschaft nur ein Jahr hält, beeinflussen die Erinnerungen Katha für den Rest ihres Lebens.

Für mich ist das der beste Coming-of-Age-Roman, den ich je gehört habe. Katha erzählt von sich selbst, weshalb ihre Beweggründe sehr deutlich hervortreten. Ihre Einsamkeit und die Liebe zu ihrer kleinen Schwester Nadine sind nachvollziehbar, ebenso wie die Trauer, die den zweiten Teil des Buches trägt. Hier muss man genau zuhören, um zu begreifen, was in der Jugendlichen vor sich geht. Nicht jede Episode ist gleich verständlich, weder für das Mädchen, noch für die LeserInnen/ZuhörerInnen. Hier kann man/frau regelrecht im Chaos versinken. Im dritten Teil, der 14 Jahre später spielt, wird dann deutlich, wie sehr die Freundschaft zu Sophies Mutter Kathas Leben beeinflusst hat.


Eigentlich mag ich die Coming-ofAge-Stories nicht so gerne, fühle mich als Großmutter zu alt dafür. Aber diese Geschichte hat mich einfach umgehauen. Das liegt an der Reflektiertheit, mit der hier vorgegangen wird und an der poetischen Sprache der Autorin, die Jodi Ahlborn als Sprecherin wunderbar umsetzt. Mir gefällt, wie Angelica Kata und ihre Freundinnen auffängt, sich in sie hineinversetzt und ihnen in ihrem Chaos ein Stück Heimat bietet – egal, was die Nachbarn davon halten. Sehr gut umgesetzt ist Kathas Trauer nach Angelicas Verschwinden. Schließlich hat sie ihr mehr Zuneigung entgegengebracht, als die eigenen Mutter in der Lage dazu war; was Kathas weiteres Leben sehr prägte.


Sina Scherzant ist 1991geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen. Die studierte Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin kennt sich aus mit Lärmempfindlichkeit in der Nachbarschaft und mit gesellschaftlichen Missständen, wie sie zusammen mit Marius Notter bewies, der u.a. für Spiegel Online arbeitete. Sie hat hier ein Debüt hingelegt, das mir tief unter die Haut ging und mich als Großmutter zum Nachdenken über die Zeit angeregt hat, die wir anderen schenken.

Bewertung vom 18.09.2023
Vom Himmel die Sterne
Walls, Jeannette

Vom Himmel die Sterne


ausgezeichnet

Eine starke Frau

Als ich den Namen Jeannette Walls las wusste ich: Dieses Buch will ich lesen! Ihr Erstlingswerk „Schloss aus Glas“ hat mir seinerzeit so gut gefallen, dass ich mich an den autobiografischen Inhalt noch heute erinnern kann. Nun hat die US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin also ihren vierten Roman herausgebracht. Ein Werk, das sich sehr gut lesen lässt. Trotz der vielen Sterbefälle sprüht es nur so von Lebensfreude.

Sallie will das schnellste Mädchen der Welt werden. Ihr Vater, von allen nur „der Duke“ genannt, unterstützt sie darin. Bis ein Unfall geschieht und er sie auf Geheiß der Stiefmutter wegschickt. Schnell wird klar, dass alle nach seiner Pfeife tanzen, er keinen Widerspruch gelten lässt. Die Ich-Erzählerin Sallie kommt ganz nach ihm und führt nach seinem Tod das Familienunternehmen ganz in seinem Sinn weiter.
Es wird viel gestorben in diesem Buch, doch das Schicksal zeigt sich auch von seiner guten Seite. Sallie entpuppt sich als echte Kincaid. Als geborene Führungspersönlichkeit setzt sie sich vehement für die von ihr abhängigen Menschen ein. In ihren Augen werden im Claiborne County Gesetze nicht gebrochen (es geht um die Prohibition), zum Überleben braucht es eben nur andere Gesetze.
Auch wenn viele Menschen in ihrer Umgebung meinen, ihr Leben wäre einfacher, wenn sie verheiratet wäre, wehrt sich die selbstbewusste junge Frau gegen die Ehe. Zu sehr ist sie von den schwierigen Verhältnissen in ihrer Familie geprägt: „Wie Knöpfe, die zwar nicht zusammenpassen, aber die Bluse geschlossen halten“ (Seite 416).

Jeanette Walls wurde am 21.April 1960 in Arizona geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie zwanzig Jahre lang als Journalistin in New York City und Long Island. Sie schrieb Gesellschaftskolumnen und moderierte dreimal wöchentlich eine Live-Sendung im Morgenfernsehen. Seit 2007 arbeitet sie hauptberuflich als Autorin, nachdem sie mit ihrem Erstlingswerk „Schloss aus Glas“, der 2017 verfilmt wurde, international bekannt geworden war. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Virginia.

Der vorliegende Roman ist einer eingänglichen Sprache geschrieben. Die 56 Kapitel in fünf Teilen wurden von realen Personen und Ereignissen inspiriert. Als Leser bekommt man einen guten Einblick in das Amerika kurz vor und nach 1930.
Mich hat dieses Buch gut unterhalten. Vor allem die Lebensfreude der jungen Sallie hat mir sehr gefallen. Sie zeigte sich als Frau, die sich nicht so schnell unterkriegen lässt, sondern immer wieder eine Möglichkeit zum Weitermachen findet.

Bewertung vom 11.09.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


weniger gut

Nabelschau
Eigentlich hört es sich gut an, einmal aus dem System auszusteigen, weil wir festgestellt haben, wie süchtig uns die digitalen Medien machen. Wer wünscht sich nicht ab und zu, ein wenig gemäßigter mit dem „Stoff“ umzugehen?

Wer dieses Buch aufschlägt, erkennt sich selbst und ist bestimmt davon überzeugt, nicht ganz so süchtig wie die Ich-Erzählerin zu sein. Während sie versucht, ihre Präsenz im Netz völlig zu löschen, treten so manche Probleme auf:

„Erst in meinem digitalen Erinnerungsprozess fiel mir auf, wie komplex es teilweise sein konnte, Inhalte verschwinden zu lassen. Meinen eigenen Content zu löschen war überwiegend einfach, solange ich die Passwörter zu den jeweiligen Accounts herausfinden konnte und mich an die E-Mail-Adressen erinnerte.“

Wenn man das Buch liest, wundert man sich, wie viel Zeit Mila in den sozialen Medien und auf diversen Internetforen verbracht hat. Da stellt sich dann die Frage, ob sie überhaupt noch Zeit für ihre Arbeit aufbringen konnte. Doch erst jetzt, während sie sich aus der digitalen Welt zurückzieht, gibt sie ihre Arbeit auf und stellt sich darauf ein, in nächster Zeit von ALG I zu leben. Dafür streamt sie jetzt alle möglichen Dokumentationen.

„Seit ich nicht mehr ins Fitnessstudio ging und alle Events mied, von denen ich überhaupt etwas mitbekam, erschienen mir die Tage wie Aufnahmen in Super Slow-Motion, 8k Ultra HD.“

Ich fand es schrecklich langweilig, sie in jeder Minute ihres Tagesablaufs begleiten zu müssen. Vor allem, da sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen wusste, sondern sich mit alten DVDs auf ihrer Couch räkelte. Nicht einmal ihr Hang zu alten, technisch längst überholten Abspielgeräten konnte mich während der Lektüre aufheitern. Ganz im Gegenteil: ich fand es schrecklich zu lesen, wie ihre Panik, irgendwo fotografiert zu werden, sie immer weiter in die Einsamkeit trieb. Durch ihren Ausstieg schnitt sie sich selbst von der Welt ab. Die fehlenden Informationen darüber, was in der Welt los ist, machten sie so ängstlich, dass sie am liebsten einen Aluhut aufgesetzt hätte.


Für mich hatte dieses durchaus zeitgemäße Buch keinen Mehrwert. Was interessiert mich, was sie sich wo für Essen bestellt? Oder dass sie die Emails von ihrer Oma oder ihrem Bruder erst nach drei Wochen öffnet? Zwar konnte ich hier und da auflachen, aber das alleine machte das Buch für mich nicht lesenswert. Die Ziellosigkeit und das nichts mit sich anfangen können, nervten mich nur.

Fazit: Zeitverschwendung!

Bewertung vom 08.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Hommage auf die Großmutter

Ebenso bunt wie das Cover sind die einzelnen Erzählungen dieses Debüts. Hervorheben möchte ich die ausgewählte Sprache der Autorin, die mich sehr angesprochen hat. Obwohl ich anfangs noch nicht sah, wie sich die einzelnen Geschichten ergänzen, fühlte ich mich richtig wohl in diesem Buch. Anfangs half mir der Klappentext, Zusammenhänge zu erstellen, doch bald fand ich mich auch ohne ihn zurecht.

„Es gibt eine Zeit, wo die Dinge einem groß vorkommen, dann werden sie klein und schließlich wieder groß, wenn die Knie einem die Langsamkeit aufzwingen, die man früher belächelt hat“ (Seite 38)

Nina, Waljas Großmutter, ist ein harte Frau. Wie sie so geworden ist, was sie erlebt hat, dem nähert sich die Enkelin in diesem Buch an. Doch auch andere Familienmitglieder haben einen Ehrenplatz bekommen. Viele Beschreibungen sind aus dem Leben gegriffen. Bei manchen konnte ich nur zustimmend nicken, andere dagegen fand ich ausgesprochen erheiternd, wie zum Beispiel den über das sozialistische Schlangestehen, das mit einer Ausbeute von 90 Eiern endete. Das Büchlein enthält auch viele Informationen, zum Beispiel, mit welchen Hilfsmitteln die Menschen die Inflation in Russland nach dem Mauerfall überlebten.

„Auf dem kleinen Markt an der Ecke stehen Ärzte und Rechtsanwälte und verkaufen Kleidung und Geschirr, und jede Mahlzeit wird zu einer Rechenleistung.“ (Seite 105)


Valery Tscheplanova wurde an 7.März 1980 in Kasan in der Sowjetunion geboren, wo sie bis zu ihrem achten Lebensjahr aufwuchs. Danach kam sie mit ihrer Mutter nach Deutschland. Die Liebe zur Sprache führte sie ins Theaterfach und an diverse Bühnen. Sie intonierte auch Hörspiele und Hörbücher (unter anderem Thomas Hettches “Herzfaden“). „Das Pferd im Brunnen“ ist ihr erstes Buch. Die Lektüre habe ich sehr genossen. Jede einzelne der Kurzgeschichte ist rund und aussagekräftig und das sich ergebende Bild zum Schluss sehr stimmig.

Fazit: Das Pferd im Brunnen ist eine weitere leuchtende Perle auf der Kette meiner Lieblingsbücher.

Bewertung vom 05.08.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


sehr gut

Heimkehr

Alena Schröders zweiter Roman hat mir – vor allem zu Beginn – sehr gefallen. Es gelingt ihr gut, das Leben im schwäbischen Dorf darzustellen. Hier ist nicht das eigene Leben wichtig, sondern das, was „die Leut“ denken.

Kein Wunder also, dass Silvia, das Mädchen aus gutem Haus, eines Tages das Weite suchte. Doch das Leben mit einem unehelichen Kind in einer Berliner Kommune ruft nach mehr Ordnung und Beständigkeit, weshalb sie in die heimatliche Enge zurückkehrt und merkt, dass sich dort im Laufe der Jahre nicht viel verändert hat. Die Mutter schafft es nach wie vor kaum, ihre Emotionen zu zeigen. Auch kann sie nicht verstehen, wie Silvia mit ihrem Kind umgeht.

Silvia dagegen will Hannah gegen alle Einwände eine liebevollere Erziehung angedeihen lassen. Die Erinnerungen an ihre Tante Betty, die so ganz anders war als ihre sonstigen Verwandten, helfen ihr dabei, zu sich selbst zu stehen.


Mich hat das Buch, das so authentisch wirkt, teilweise amüsiert und vor allem gut unterhalten. Es zeigt, wie die Menschen an Konventionen gebunden sind und wie schwer es ist, sich von diesen zu lösen.

Der Roman spielt auf zwei Ebenen. Er beginnt kurz nach dem zweiten Weltkrieg und lässt uns an Evelyns Träumen teilhaben, die sich allerdings mit der Geburt der heiß ersehnten Tochter zerschlagen. Silvias Kindheit ist nicht das Gelbe vom Ei, weder für die Mutter, noch für die Tochter. Die Gefühle der Protagonisten sind dabei nachvollziehbar dargestellt. Auch der Zeitgeist wird deutlich. Abwechselnd kommen wir nach 1989, das Jahr, in dem Silvia nach Hause zurückkehrt und das mit dem Mauerfall endet.

Leider hat die Autorin das letzte Drittel des Buches etwas überfrachtet. Schön, dass sie an die deutsch-deutsche Geschichte erinnert, doch all das, was sie beschreibt, hätte auch in einem anderen Jahr stattfinden können.


Für mich war es der zweite Roman von Alena Schröder. Erst die am Ende des Buches abgedruckte Leseprobe zu „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“, ihrem ersten Roman, weckte die Erinnerung daran, dass schon damals das gleiche Personal Bezüge zur deutschen Geschichte herstellte. So könnte man „Bei euch ist es immer so unheimlich still“ als Ergänzung zum Erstgenannten sehen, obwohl es sich ganz unabhängig davon lesen lässt und wunderbar unterhält.

Bewertung vom 16.07.2023
Die Affäre Alaska Sanders (eBook, ePUB)
Dicker, Joël

Die Affäre Alaska Sanders (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ich weiß, was du getan hast

Neun Jahre ist es her, dass ich Joel Dickers Buch „Der Fall Harry Quebert“ las. Es hatte mich damals sehr beeindruckt, weshalb ich es mir nicht nehmen ließ, auch dieses Anschluss-Buch zu inhalieren.

Ich wurde nicht enttäuscht, denn der Autor schafft es spielend, Spannung aufzubauen, indem er in den mysteriösen Mordfall viele unerwartete Wendungen einbaute. Weder Freundschaft noch die Liebe in all ihren Facetten kommen zu kurz.

Wir reisen mit dem Auto quer durch Nordamerika und lernen die unterschiedlichsten Menschen kennen. Immer wieder tauchen Erinnerungen auf, die die Vergangenheit des fiktiven Autors Markus Goldman beleuchten und deutlich machen, wie viel ihm Harry Quebert, sein ehemaliger Literaturprofessor immer noch bedeutet.

Zusammen mit Perry Gahalowood, einem außergewöhnlichen Polizisten, rollt Goldman einen alten Mordfall auf. Damals verschwand ein schönes junges Mädchen, das an einer Tankstelle arbeitet. Gahalowood, der „einer Wüstenfrucht ähnelte: stachlig, geschützt von einer dicken Schale, aber mit süßem Fruchtfleisch und einem weichen Kern“ hatte bei den Ermittlungen seinen Kompagnon verloren. Nun stellt sich die Frage, ob der eingesperrte Mann der tatsächliche Mörder war.


Bei diesem Buch gönnte ich mir e-book und Hörbuch. Wobei ich die geschriebenen Worte angenehmer fand. Trotz der angenehmen Stimme von Torben Kessler minderten mir die vielen Wendungen in diesem Fall den Hörgenuss. Die Kapitelüberschriften auf den geschriebenen Seiten dagegen machen deutlich, wo und zu welcher Zeit man sich gerade befindet.

Bewertung vom 15.07.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Von Schlangen, Zecken und Kusswanzen

Das ist das ideale Buch für diesen heißen Sommer. Da wird einem die Klimaveränderung vor Augen geführt und wie sie sich auf uns Menschen und die Tierwelt auswirkt.


Der Autor beginnt ganz gemächlich, stellt uns in den ersten Kapiteln die Familie vor, die uns durch den Roman begleitet. Auch wenn Tochter Cat etwas dekadent ist, macht es Spaß über sie zu lesen. Die Worte, die T.C.Boyle einsetzt, rufen so manchen Lacher hervor. Mutter Ottilie bemüht sich redlich, der Umwelt keinen weiteren Schaden anzutun. Statt Fleisch werden nun Grillen zubereitet, was Sohn Cooper zu verdanken ist. Er und seine Freundin sind Entomologen (Insektenforscher); ein Beruf, der nicht so gefahrlos ist, wie Ahnungslose glauben könnten.

Während über Florida wegen des nicht enden wollenden Regens ein Modergeruch hängt, wissen sich die Menschen rund um Santa Barbara vor Hitze nicht zu retten ...


T.C.Boyle versteht es, seine Leser zu unterhalten. Jedes Kapital endet mit einem Cliffhanger und das nächste wirft die Leser unmittelbar in die nächste Katastrophe. Die Menschen trinken sich ihre Welt schön, und „das Einzige, was zählt, ist das Image“ (Seite 288). Auch wenn die hier beschriebene Welt nicht der meinen entspricht, habe ich das Buch sehr gern gelesen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.06.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


weniger gut

Wenn das Erwachsenwerden schwer fällt

Siegfried heißt der Stiefvater der namenlosen Ich-Erzählerin. Von ihm erhofft sie sich Hilfe in ihrer ausweglos erscheinenden Situation: als Schriftstellerin hat sie den Vorschuss auf ihr nächstes Buch bereits verbraucht und immer noch keine Idee, worüber sie schreiben soll. Auch Alex, ihr Partner und Vater ihrer Tochter verdient so gut wie nichts. Nun hatte Siegfried einen Herzinfarkt und meldet sich nicht, was sie vollends durcheinander bringt. Das verursacht in ihrem Kopf ein Sirenengeheul, weshalb sie beschließt, in die Psychiatrie zu gehen.

In Rückblicken erzählt sie von Hilde, Siegfrieds Mutter, wo sie als Kind einen längeren Besuch absolvierte. Auch über ihre Mutter resümiert sie und die inzwischen geschiedene Ehe zwischen ihrer Mutter und dem Stiefvater.

Warum das Buch Siegfried heißt, hat sich mir nicht erschlossen. Vom Stiefvater wird zwar erzählt, doch das Chaos in ihrer Beziehung zu Alex und die Charakterisierung von Hilde nimmt einen weitaus größeren Rahmen ein.


Antonia Baum, 1984 in Borken geboren, ist Journalistin, Schriftstellerin und Mutter. Sie befindet sich also in einer ähnlichen Situation wie ihre Protagonistin. Man glaubt ihr die beschriebene Überforderung, wenn sich das Geschirr in der Küche stapelt, sie die Gedanken an all das, was zu erledigen ist, niederdrücken. Trotzdem hat mir ihr neuester Roman nicht gefallen.


So, wie sie erzählt, hatte ich den Eindruck, dass ihre Protagonistin die Grausamkeiten aus ihrer Kindheit nie als solche wahrgenommen hat. Auch als Erwachsene reflektiert sie nicht, lässt sich ausschließlich von ihren Gefühlen leiten, anstatt Lehren daraus zu ziehen und sich anders zu verhalten, als seinerzeit ihre Mutter, die aussah, „wie die Frauen aus den Zeitschriften, die sie las, und deswegen viel im Badezimmer war.“ Ihre eigene Partnerschaft hat in meinen Augen etwas von Hörigkeit. Alex, dessen Herkunftsfamilie in einem völlig anderen Milieu lebt, ist davon ebenso geprägt, wie sie von Siegfried, der immer etepetete aussah.

Nachdem ich das Buch, dessen Chaos mich nicht erreichte, schließen konnte, war ich regelrecht erleichtert. Zwar ließ es sich teilweise sehr flüssig lesen, doch muss ich feststellen, dass das Thema „überforderte Frau und verkorkste Kindheit“, das zur Zeit sehr häufig in der Literatur zu finden ist, wenig anspricht.