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Moe

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Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 13.02.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


sehr gut

Heldengeschichten gibt es viele. Doch was, wenn der Held nur aus Versehen so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, macht es die Konsequenz weniger wert?

Michael Hartung, ein in jeder Hinsicht durchschnittlich bis schlecht dastehender Videothekenbetreiber wird plötzlich der Protagonist eines Ostmärchens, in welchem er sein Leben in Gefahr brachte, um seiner Angebeteten ein Leben im Westen zu ermöglichen, ohne sich selber zu erretten. Ein Widerstandskämpfer, der sich gegen das Stasi-Regime stellte und Wochen der Inhaftierung und Folter ertragen musste, nur um dann zu verstummen und niemanden von seiner Heldentat wissen zu lassen. Scheinbar. Denn dass diese Errettung die Folgen eines Unfalls waren, seine Angebetete nie in dem Zug gesessen hat, der versehentlich in den Westen umgeleitet wurde und Michael Hartung nicht ansatzweise gegen das Regime aufbegehrt hat, verkauft sich nicht so gut. Doch als ein Journalist diese Geschichte aufbläst und als ein heroisches Ostmärchen vermarktet, kann sich unser Held der Anerkennung nicht länger entziehen und lässt sich ein auf ein Leben im Ruhm.

Mit sehr viel Leichtigkeit und Humor erzählt Maxim Leo die Geschichte eines Protagonisten, der sich zwischen den Stühlen befindet. Ost und West, Held und Durchschnittsbürger, einsamer Junggeselle und geliebter Vater und Freund. Gestern der erfolglose Videothekenbesitzer, dessen Highlight es war, alte Kinderfilme zu sehen und sich (leichtfertig viel) Alkohol zu genehmigen. Nun ein gefeierter Star, der etwas symbolisieren soll, was die Leute in ihm sehen wollen und deshalb von ganz oberster Instanz instrumentalisiert wird. Ein Mann, der aus der DDR stammt und sich nun von Westdeutschen zu einer Edelfigur formen lassen muss, um etwas zu präsentieren, was er nicht ist. Eine herrlich komische Ironie.

Der Autor gibt interessante Denkanstöße in Bezug auf die leider immer noch bestehende emotionale und mentale Trennung zwischen Ost und West und geht mit beiden Seiten gleichzeitig liebevoll aber auch kritisch ins Gericht. Dabei aber immer mit einer Prise Humor. Tatsächlich versteckt sich zwischen der ganzen Leichtigkeit viel Wahrheit, die mir auch, als jemand mit sehr wenig Berührungspunkten mit der Thematik, einige neue Perspektiven eröffnet hat.

Ein Ostmärchen, das keines ist. Und die Erkenntnis, dass wir überhaupt keine Märchen brauchen, um unsere Einigung zelebrieren zu können.

Bewertung vom 13.09.2021
Was bleibt, wenn wir sterben
Brown, Louise

Was bleibt, wenn wir sterben


weniger gut

Der Tod ist eine fundamentale Sache, die unser Leben bestimmt. Und dennoch wird versucht, ihn aus dem Leben zu verbannen, zumindest gedanklich. Dabei ist er unausweichlich und hat das Potenzial das Leben unserer Liebsten komplett auf den Kopf zu stellen. Wäre es da nicht viel ratsamer, ihn nicht als unseren Endgegner zu betrachten, sondern ihn willkommen zu heißen und auch den Trost anzuerkennen, den er mit sich bringen kann?

Louise Brown meint: Ja! Und diese Erkenntnis schöpft sie aus zweierlei: Zum einen aus ihrer Erfahrung als Trauerrednerin, zum anderen als Kind von Eltern, die diesen letzten Schritt bereits gegangen sind. Es handelt sich hier also um ein sehr persönliches Buch, emotional und wertend geschrieben, die Gedanken einer Frau, die für sich beschlossen hat, den Tod zu akzeptieren und gleichzeitig das Leben zu zelebrieren. Auch das ihrer Klienten und deren Verstorbenen.

Wenn man sich auf die dunklen Pfade des Lebens begibt und sich gleichzeitig konfrontieren, aber auch trösten lassen will, dann ist das Buch vermutlich geeignet. Für mich als jemanden, der sich schon sehr intensiv mit den Themen Tod/alternativen Bestattungsmöglichkeiten/Trauerarbeit befasst hat, bot mir dieses Buch leider nichts Neues und gestaltete sich somit als wenig interessant. Ich kann mir aber dennoch vorstellen, dass es als eher oberflächliche und persönlich-emotionale Betrachtung und Erfahrungsbericht durchaus reizvoll sein kann, wenn man nicht gerade selbst in der Trauer versunken ist und sich hierauf einlassen kann.

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Bewertung vom 08.08.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

„Junge mit schwarzem Hahn“ ist genau was? - ein Drama, ein historischer Roman; der Anbeginn der Kriminalistik, magischer Realismus? Eine klare Antwort auf die Frage wird man nicht finden und genau das macht die Mischung so würzig. Paart man dieses Mosaik dann noch mit einem bildreichen Schreibstil, der in mir dieselbe Stimmung hervorgerufen hat, wie beispielsweise ein Süskind es vermag, dann hat man diesen Roman. Sehr knappe Kapitel tun ihr Übriges, um das Buch wie im Flug vergehen zu lassen.

Ein guter Indikator für einen für mich besonderen und atmosphärischen Stil bietet die Tatsache, dass ich während der Lektüre nach weiteren Werken des Autors recherchiere. In diesem Fall ergab meine Recherche, dass es sich um einen Debutroman handelt. Umso erstaunlicher, wenn man die Qualität des Geschriebenen bedenkt. Denn nicht nur ist die Sprache sehr eigen, auch die Figuren, vor allem unser titelgebender Junge Martin, sind sehr stark gezeichnet und bleiben im Gedächtnis; und wenn ich es so bedenke, dann stützt diese Tatsache vermutlich meine Süskind Assoziation, hat er doch auch ein ausgesprochen großes Talent dafür, Situationen und Figuren eindrücklich und nachhaltig zu verschriftlichen.

Wozu ich ebenso starke Empfindungen hatte, ohne dies werten zu wollen, war das Weltbild, das hier vorherrscht, denn es ist durch und durch negativ und Martin das konträre, fast schon religiöse Glanzstück. Ich habe meine persönliche Deutung hierfür gefunden und durchaus insgesamt an der ganzen Konzeption und Aussage dieser Geschichte meine Freude gehabt, kann mir aber vorstellen, dass dieses Buch seine Leser selbst sucht und nicht jeden ansprechen möchte. Umso erfreulicher für mich, dass ich einer dieser Leser sein durfte, und auch das nächste Buch der Autorin wird deshalb ganz sicher von mir gelesen werden.

Bewertung vom 15.02.2021
Der Klang der Wälder
Miyashita, Natsu

Der Klang der Wälder


ausgezeichnet

„Der Klang der Wälder“ (aus dem japanischen übersetzt von Sabine Mangold) ist ein Buch, das durch seine feinen und nuancierten Zwischentöne besticht, ein Buch, das nicht durch eine aufgeregte Handlung überzeugt, sondern gezielt seine Perspektive auf die Schönheit dieser Welt richtet und jenen huldigt, die diese zu erkennen vermögen.

„Wie schön wäre es, wenn ich Klavier spielen könnte, um all die wundervollen Dinge wie Wald und Nacht ausdrücken zu können.“ (S. 14)

Wir begleiten den jungen Tomura, einst ein unscheinbarer Junge, der sich selbst als wenig spektakulär und besonders ansieht, bis er eine Begegnung mit einem Klavierstimmer hat, die seinen Blick auf die Welt fortan verändern soll. Tomura verliebt sich in den Klang, den der Stimmer während seiner Arbeit mit dem Instrument hervorbringt, es bringt etwas in ihm zum Schwingen, wessen er sich nie bewusst war. Die Melodien versetzen ihn gedanklich in die heimatlichen Wälder, mit denen er so vertraut ist. Lassen ihn die kühle Luft atmen, das Moos unter seinen Füßen spüren, das Rauschen der Bäume erahnen. Tomura wird vereinnahmt von diesem Gefühl. Er lernt, die Schönheit zu erkennen, die ihm fortan als ständiger Begleiter zur Seite steht und sein Leben erfüllt.

Und hier nähern wir uns auch der Essenz des Buches. Tomura, gefangen von der entfachten Leidenschaft, lässt sich zum Klavierstimmer ausbilden, ohne je Erfahrungen mit Musik gesammelt zu haben. Seine Herkunft spielt eine wesentliche Rolle, er wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf, in welchen die schönen Künste nie eine Rolle spielten, sondern ein sehr pragmatisches und arbeitsintensives Leben vorgelebt wurde. Diese Herkunft ist es wohl auch, die ihn immer wieder an sich zweifeln lässt, an seinem Talent für den Beruf. Wir sind die ganze Zeit nah bei unserer Hauptfigur, sie hält uns trotzdem aber immer auch auf Distanz. Eine große Dramaturgie darf man hier nicht erwarten, sondern eine sehr unaufgeregte Reise eines jungen Mannes, der erkennt, dass es nicht unbedingt Erfahrungen und Talent bedarf, sondern einer großen Portion Leidenschaft, um sehr gut in dem zu sein, was er liebt.

Ein kleines, sanftes Büchlein für ruhige und gemächliche Stunden für alle Leser, die leise Zwischentöne und das Schöne in der Welt genießen.

Bewertung vom 20.09.2020
Der Winter des Bären
Hargrave, Kiran Millwood

Der Winter des Bären


ausgezeichnet

Frisch ausgelesen habe ich die Geschichte und ich bin immer noch verzaubert von der Art und Weise, wie die Autorin uns mit auf den Weg genommen hat. Meine Bedenken, dass sich das Buch zu kindlich lesen könnte, hatten sich beim Durchsehen der Leseprobe bereits zerschlagen. Schon hier war mir klar, dass sich zwischen den Buchdeckeln eine tiefgründige und wundervoll übersetzte Erzählung verbergen würde.

Das Buch bietet für alle Zielgruppen gleichermaßen etwas: Eine Geschichte von jungen Heldinnen, die sich gegen eine dunkle Macht beweisen müssen und all das in eine winterlich kalte Atmosphäre gehüllt. Familie, Zusammenhalt, (Selbst-) Vertrauen, Stärke, eingebettet in eine Geschichte, die man auf verschiedene Arten deuten kann, aber nicht muss.

Das Buch hat zwar eine eher kalte und leicht düstere Atmosphäre, dennoch ist es nicht bedrückend oder gar im eigentlichen Sinne gruselig. Zwar gibt es eine leicht erschreckende Szene, diese wird aber nicht detailliert beschrieben und dadurch abgemildert. Die eigentliche Düsternis ergibt sich aus dem Setting, da hier immer Winter herrscht, und durch die Abwesenheit der Eltern sowie die damit einhergehende Traurigkeit. Das Innenleben der Figuren vermochte die Autorin sehr gut zu porträtieren, ohne aber die Handlung aus den Augen zu verlieren.

Wunderschön beschrieben dagegen war die Beziehung zu den Schlittenhunden, die hier, vor allem für unsere Protagonistin Mila, mehr als nur "Hilfsmittel" sind; sie sind Familie und werden dementsprechend behandelt.
Positiv hervorheben muss ich noch den Antagonisten, den Bären, oder, wie oben beschrieben, die dunkle Macht. Denn wir haben es hier mit einer zu bezwingenden Gefahr zu tun, die sehr nachvollziehbar ist und Gründe für ihr Handeln liefert, die auf emotionaler Ebene wirklich verständlich sind (und auch hier bieten sich wieder schöne Deutungsmöglichkeiten).

Wenn man die Hauptzielgruppe bedenkt, ist es zudem naheliegend, weshalb die Autorin das entsprechende Ende gewählt hat, auch wenn es nicht komplett "happy" ist im Sinne von: alles läuft komplett reibungslos und sie leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Im Übrigen kommen auch bibliophile Menschen hier vollkommen auf ihre Kosten.
Der Insel Verlag hat das wunderschön gestaltete Cover nicht nur aus dem Original übernommen, sondern es mit Goldprägungen versehen, die wahnsinnig gut zur Geschichte passen. Außerdem sind sowohl Vorsatzpapier und Kapitelanfänge liebevoll gestaltet und illustrieren das Erzählte ganz wunderbar. Durch die komplette Geschichte ziehen sich auf jeder Seite Fäden, die uns bis ans Ende begleiten und auch hier wieder ein schöner Zusatz zum Erzählten.

Insgesamt bin ich schlichtweg angetan von "Der Winter des Bären", und das, obwohl ich nicht annähernd zur eigentlichen Zielgruppe gehöre, dennoch aber ein Faible für atmosphärisch und gut erzählte, metapherreiche Geschichten habe.

Bewertung vom 26.07.2020
Ein Sonntag mit Elena
Geda, Fabio

Ein Sonntag mit Elena


gut

"Er war siebenundsechzig Jahre alt und seit acht Monaten Witwer, in denen ihm klar geworden war, den Dringlichkeiten in seinem Leben mehr Aufmerksamkeit gewidmet zu haben als den Wichtigkeiten; doch daran konnte er nun nicht mehr viel ändern, außer sich und seinen Kindern zu beweisen, dass er in der ihm verbleibenden Zeit das eine bewusster vom anderen zu unterscheiden vermochte." (S. 9)

"Ein Sonntag mit Elena" ist eines dieser Bücher, das man sich an einem gemütlichen Nachmittag schnappt, um sich locker flockig unterhalten zu lassen und vielleicht den ein oder anderen rührenden Moment zu erleben. Das Buch hat keine großen Erwartungen an den Leser, fordert ihn nicht, hinterlässt aber auch nicht sonderlich viel Substanz. Ein Buch, das ein paar Stunden nett unterhält (nicht jedoch ohne das ein oder andere Mal immer am Kitsch zu kratzen), das man vermutlich aber auch schnell wieder vergisst. Solche Bücher wollen einem nicht wehtun und sie tun genau das, was man in dieser Zeit gerade braucht; nämlich nette Unterhaltung, ein paar Kalender-Weisheiten und Figuren, denen wir den einen oder anderen holprigen Dialog verzeihen, weil sie doch irgendwie "begleitenswert" sind (vorallem unsere Hauptfigur).

Bewertung vom 30.04.2020
Pandatage
Gould-Bourn, James

Pandatage


gut

James Gould-Bourn wurde beworben mit "der neue Nick Hornby", eine Aussage, die sich ganz schön weit aus dem Fenster lehnt. Und natürlich, die Parallelen sind da; beide Autoren sind Engländer, beide vermischen Tragik und Komik und beide haben einen Roman über eine außergewöhnliche Vater-Sohn Beziehung geschrieben.
Doch wo Hornby die Balance zwischen Tragik und Komik meist perfekt trifft, sich weder auf das eine, noch auf das andere zu stark verlässt, findet Gould-Bourn die Mitte oft nicht, wirkt viel zu bemüht.

Die Geschichte ist aber nicht schlecht, sie hat einige tolle Momente und ließ mich einige Male schmunzeln. Wäre der Autor dabei nicht oft ins Albere abgedriftet und hätte ein besseres Gespür für wohl portionierte Häppchen Humor, dann hätte mir die Geschichte wohl auch um einiges besser gefallen. Denn das Potential ist da. Gelingt es ihm jetzt noch, sich nicht an Klischeebildern übermäßig zu bedienen, sondern mehr eigene Ideen einfließen zu lassen, dann schreitet er eventuell irgendwann Richtung Hornby (falls das überhaupt seine Intention ist und nicht ein zu Unrecht aufgedrückter Stempel).

Insgesamt betrachtet fand ich die Geschichte okay; sie hat einige Fehler, macht aber auch einiges originell und richtig.

Bewertung vom 30.03.2020
Alfie und der Clownfisch
Bell, Davina

Alfie und der Clownfisch


ausgezeichnet

Schüchternheit oder die Angst vor uns unbekannten Situationen ist längst kein Thema, das nur Kinder betrifft. Wir alle möchten uns sicher manchmal einfach die Decke über den Kopf ziehen und die Welt ausschließen, geborgen und sicher in unserem Kokon.
So geht es auch Alfie. Neue Situationen bereiten ihm solch eine Furcht, das er sie lieber meidet. Szenen vor dem Bevorstehenden ereilen ihn in seinen Träumen und er hat das Gefühl, eine unheimliche Last stemmen zu müssen. Bis er erkennt, dass es okay ist, Angst zu haben und man sich manchmal etwas trauen muss, um Dinge erleben zu können.

Was mir unglaublich an der Geschichte gefiel ist die Tatsache, dass die Autorin aus ihrem Jungen keinen strahlenden Ritter macht, der die Zähne zusammenbeißt und Wundertaten vollbringt. Alfie ist schüchtern und das ist absolut in Ordnung, er muss nicht erst zu einem Superhelden mutieren, nur um seine Entwicklung zu rechtfertigen. Die Autorin akzeptiert ihren Helden genau so wie er ist und lässt ihn von sich aus erkennen, dass es manchmal ein Fünkchen Mut braucht für das Leben. Und dass das schon heldenhaft genug ist.

Begleitet wird die Geschichte von Bildern, die schlichtweg bezaubernd sind. Die Illustratorin beschränkt sich auf eine kleine, aber sehr wirkungsvolle Farbpalette, die jedes Bild zum Leuchten bringt. Vorallem wenn wir uns in Alfies Träumen, seiner Fantasie und seiner Wahrnehmung auf bestimmte Dinge befinden, wird aus minimalistisch gehaltenen Bildern eine farbenprächtige und doch trotz spärlich eingesetzter Farben wahnsinnig bunte Kulisse. All das zusammen macht dieses Bilderbuch zu etwas absolut Besonderem. Das merkt man spätestens, wenn man das Buch in der Hand hält, denn die Details entfalten sich erst in echt so richtig.

Bewertung vom 01.03.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


ausgezeichnet

Delphine de Vigan ist eine begnadete Autorin, das hat sie schon regelmäßig in der Vergangenheit bewiesen. In "Dankbarkeiten" zeigt sie erneut, dass es sich absolut lohnt, sie zu lesen!

"Sie heißt Michka. Eine alte Dame mit dem Habitus eines jungen Mädchens. Oder ein junges Mädchen, das versehentlich, durch ein böses Schicksal, alt geworden ist." (S. 13 - 14)

In ihrem Buch, das gerade einmal 176 Seiten umfasst und doch viel schwerer wiegt, geht es um eben jene Michka, die durch beginnenden Alzheimer gezwungen ist, ihren Lebensabend in einem Wohnheim zu verbringen und die Kontrolle über ihr Leben in die Hände Fremder zu legen.
Zwei, sowohl für die Geschichte, als auch für Michkas Leben wesentliche Charaktere sind ihre Ziehtochter, die sie regelmäßig besuchen kommt und der Logopäde, der sich sehr intensiv mit seiner Klientin auseinandersetzt.

In "Dankbarkeiten" geht es unter anderem um die Sprachlosigkeit, mit der wir früher oder später alle konfrontiert werden, ungesagte Wörter, ausgebliebene Worte, die den Adressat nie erreicht haben und unseren Körper vergiften. Aber die Autorin umreißt diese Thematik nicht plakativ, sie wirft nicht mit Lebensweisheiten um sich, sondern verpackt ihre Botschaft, von der ich denke, dass sie ihr sehr stark am Herzen liegt, in eine wunderbar charmante Geschichte. Sie nimmt ihre Figuren ernst, serviert uns aber auch die benötigte Prise Humor, um dem Ganzen die Schwere zu nehmen.
Vorallem die Dynamik zwischen Michka und dem Logopäden war eine ganz besondere, die die Geschichte auch in ganz besonderer Art und Weise vorantrieb.

Ich kann jedem, der sich mal in das noch überschaubare Werk der Autorin einlesen möchte, "Dankbarkeiten" sehr ans Herz legen. Kaum vorstellbar, dass man danach nicht das Bedürfnis verspürt, mehr von ihr zu lesen.

Bewertung vom 22.02.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


sehr gut

„Ich möchte Ihnen gerne eine unglaubliche Geschichte erzählen. Eigentlich keine Geschichte, sondern eine Biographie der Angst. Ich möchte Ihnen erzählen, wie das Grauen einen Menschen unvermittelt packt und sein ganzes Leben verändert.“ (S. 15)

Damit beginnt für den Protagonisten und uns Leser eine Reise zu eine der zahlreichen düsteren Episoden der sowjetischen Geschichte.

Die Ausgangssituation ist, dass Alex, unser alleinerziehender und verwitweter Protagonist, in ein neues Land und somit eine neue Wohnung zieht, in welcher er auf die an Alzheimer leidende Tatjana trifft und sich kurzerhand ihre Lebensgeschichte erzählen lässt.

Alex‘ Geschichte ist sehr kurz abgehandelt und im Grunde nicht wichtig für die eigentliche Geschichte, außer dass er ein anfangs eher unfreiwilliger Zuhörer ist und wir durch ihn Tatjanas Biographie erleben.
Tatjana, und das wird im Laufe immer klarer, ist eine sehr interessante Figur, die vorallem düstere Facetten eines ehemaligen Terrorregimes enthüllt, welches ohne dieses Wissen schon unvorstellbar grauenvoll war. Filipenko hält sich dabei nicht großartig mit Nebenhandlungen und unnötigen Beschreibungen auf, sondern kommt direkt zum Punkt. Der Stil ist sehr einfach gehalten und fordert den Leser nicht unbedingt heraus. Um ein Gefühl für die Schrecken jener Zeit zu transportieren, braucht er das aber auch nicht. Tatjanas Leben wird kurz und unverblümt abgehandelt, verliert aber keinesfalls an Intensität.

Die größte Grausamkeit ist dabei die Erkenntnis einer sowjetischen Bürgerin zur Zeit des Krieges, dass ihr Staat nichts für seine Leute übrig hat; sie im Gegenteil nur zu Kriegszwecken verheizt und zu einer hörigen Masse formt. Tatjana erlebt dies hautnah, als sie mitbekommt, dass sowjetische Kriegsgefangene in anderen Ländern als Deserteure verschrien werden; Spione, die sich dem Feind ergeben haben und nicht zu ihrem Land stehen. Gleiches gilt für die Angehörigen der in Kriegsgefangenschaft befindlichen Männer. Innerhalb des Buches wird klar, woher diese krude Vorstellung kommt: Ein linientreuer Sowjet würde sich laut Stalin eher selbst erschießen, als gefangen nehmen zu lassen.

„Stalins Experiment war geglückt – gefangen war der Mensch nicht länger in einem Anstaltsgebäude, sondern in seinem eigenen Schicksal.“ (S. 229)

Tatjana selber landet irgendwann im Arbeitslager, das Schicksal ihres Mannes ungewiss, ihre Tochter in einem sowjetischen Umerziehungsheim. Sie hat den festen Glauben, dass Gott sich vor ihr und ihren Erinnerungen fürchtet, weshalb er sie im Alter mit Alzheimer bestraft.

Alles in Allem kann ich das Buch durchaus empfehlen, es ist vielleicht nicht so literarisch wie viele andere Werke aus dem diogenes Verlag, aber es ist ein Mahnmal gegen das Vergessen und lässt Szenen und Geschehnisse aufleben, die im Gedächtnis bleiben.