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Moe

Bewertungen

Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 27.05.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


ausgezeichnet

Geschichte in den schillerndsten Farben

„Es gibt eine große, wenig beachtete Geschichte hinter dem Überleben der ältesten Klassiker: Es ist die Geschichte all der anonymen Menschen, die es schafften, aus Leidenschaft ein zerbrechliches Vermächtnis von Wörtern zu bewahren, es ist die Geschichte ihrer sagenhaften Treue zu diesen Büchern.“ (S. 606)

Sachbücher sind leider oft als trocken und langweilig verschrien, solange man nicht selber gerade für das besprochene Thema brennt. Dass das anders geht, dürfte die Autorin mit diesem Werk allen Skeptikern beweisen. Man stelle sich einen Vortrag eines Dozierenden vor, der nicht nur ganz viel Expertise besitzt, sondern vor allem für das von ihm präsentierte Thema brennt – und diese Leidenschaft mit noch mehr Leidenschaft den Zuhörenden zu vermitteln vermag. Wir alle kennen Filme, in denen ein (neuer) Lehrer das Klassenzimmer betritt, die schlafenden Schüler mit monumentalen Reden und ungewöhnlichen Lehrmethoden wachrüttelt und diese sich plötzlich für etwas zu interessieren beginnen, das sie vorher stöhnend über sich ergehen ließen. Nun, Vallejos Methoden sind nicht allzu ungewöhnlich (sie lässt Geschichte lebendig werden und spinnt immer wieder einen Bogen zur Gegenwart), aber dieser oft portraitierte Erweckungsmoment kam mir beim Lesen in den Sinn.

Zugegeben, ich war schon vorher sehr an Geschichte, Literatur und der Entstehungsgeschichte von Büchern und Sprachen interessiert. Dennoch möchte ich behaupten, dass die Autorin es vermag, fesselnd zu erzählen, ohne in irgendeiner Art und Weise reißerisch zu sein. Sie erbaut vor unseren Augen die Bibliothek von Alexandria, nur um sie wieder in Trümmern zerfallen zu lassen. Sie verdeutlicht, dass das obsessive Sammeln von Gegenständen kein Phänomen unserer Neuzeit ist, sondern dass Bibliotheken ohne Besessenheit vermutlich niemals entstanden wären. Sie führt uns durch zahlreiche Kriege, denen das Medium Buch ausgesetzt war. Und daraus resultierend: Sie illustriert, wieso das Buch unsterblich ist. Und das, obwohl aufgrund von Massenproduktionen jährlich unfassbar viele Bücher im Millionenbereich vernichtet werden (bezogen auf Spanien, aber mit Deutschland wird es sich ähnlich verhalten).

Wer sich also gern auf eine Reise ins alte Alexandria begeben mag, Büchermenschen beim heutzutage sehr verschrienen Hamstern begleiten möchte und eine höchst interessante Autorin kennenlernen möchte, die mit Inbrunst, Leidenschaft und sehr viel Expertise erzählt, der ist mit diesem Buch sicher sehr gut beraten.

Bewertung vom 14.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


gut

„Es ging nicht darum zu wissen, wer Mélanie Claux war. Es ging darum zu wissen, was diese Epoche tolerierte, ermutigte und glorifizierte. Und darum zuzugeben, dass Leute, die sich, wie sie selbst, in dieser Epoche nicht mehr ohne Erstaunen oder Empörung bewegen konnten, unangepasst, gestrig, ja reaktionäre waren.“ (S. 202)

Die Kinder sind Könige. Sie sind schützenswert, kostbar und eine Quelle der Inspiration. So ließe sich der Titel interpretieren. Aber Kinder sind auch bewundernswert. Sie stecken an mit ihrer Unbedarftheit, ihrer Neugier und ihrer Lebensfreude. Ja sie verleiten geradezu dazu, dass man sie auf ein Podest hebt und zur Schau stellt. Sich mit ihnen schmückt. Wir leben in einer Zeit, in der nichts einfacher ist, als sein Privatleben in die Öffentlichkeit zu tragen. Ganz gleich wie uninteressant, wie wenig talentiert man ist. Es bedarf einer Kamera und einer Internetverbindung, um sich zu inszenieren und auf sich aufmerksam zu machen. Beides also Hürden, die so gut wie jeder hier lebende lächerlich leicht überwinden kann.
Was aber, wenn das Privatleben, das es doch eigentlich unbedingt zu schützen gilt, von einem anderen Raum überlagert wird, in welchen wir uns freiwillig und bereitwillig begeben und die Grenzen immer weiter verschwimmen?
Das könnte sich leicht wie der Aufhänger einer Dystopie lesen, wäre es nicht längst Alltag.

Delphine de Vigan nimmt sich in ihrem 2022 erschienen Werk eben dieser Grenzverschiebung an und geht sehr unversöhnlich, nicht aber gerade subtil unserer Epoche an den Kragen.
Sie beschreibt dabei ein Extremszenario. Eines, in dem Kinder instrumentalisiert und als Werbepüppchen versklavt werden. Bereitwillig von den eigenen Eltern, die ihr Leben auf Plattformen dokumentieren und mit den größtmöglich effektiven Mitteln an eine kaufwillige Zuschauerschaft tragen. Das Wort „Extremszenario“ bezieht sich hier allerdings nicht auf eine ausgeklügelte und überspitzte Idee der Autorin, sondern einfach auf eine Erhöhung unseres tatsächlichen digitalen Alltags, denn es gibt diese Eltern, die ihre vermeintlich heile Familie dem Internet präsentieren, ihre Kinder permanent filmen und suggerieren, sie wuchsen in einer rosaroten Zuckerwattenwelt des Konsum auf, seien überglücklich damit und ließen sich gerne immerzu beim Aufwachsen begleiten, zuschauen und bewerten.

Dabei zeichnet die Autrin hier zwei Gegenentwürfe. Auf der einen Seite Mélanie, die sich ein Videotagebuchimperium mit ihrer Familie erschaffen hat und deren Tochter verschwindet.
Auf der anderen Seite ist da Clara, eine Ermittlerin, die zurückgezogen und allein lebt, ihre Privatsphäre schätzt und das Internet eher zu professionellen Zwecken nutzt, sich nicht in dieser Welt zerstreut und versucht, das vermisste Mädchen ausfindig zu machen. Sie blickt empört auf dieses Leben des Scheins, das sich die Filmerfamilie geschaffen hat und dekonstruiert die Blase und die Illusion, in der all das Kreierte stattfindet.

Anfangs hatte ich das Gefühl, Clara, die Ermittlerin, repräsentiere den Leser, der auf dieses eigentlich nicht tolerierbare Konstrukt blickt, aber dadurch, dass sie sich freiwillig fast völlig abseits der digitalen Pfade bewegt und wir mittlerweile in einer Welt leben, die vieles hinnehmt und nach Sensation und Zerstreuung giert, ist sie vermutlich eher der mit erhobenem Zeigefinger in der Ecke stehende Pädagoge, der uns den Spiegel vorhält, aber auch sehr unversöhnlich dabei ist. Sie ist vermutlich eine der wenigen in unserem Zeitalter. Vielleicht ist sie Delphine de Vigan selber, die absolut übersättigt und reizüberflutet ist und voller Empörung auf unsere Gesellschaft blickt. Ganz und gar nicht zu Unrecht allerdings.

„Seit einiger Zeit hat sie das Gefühl, in unglaublicher Zurückgezogenheit in einem weltabgewandten Winkel zu leben, am Rande dieser mit künstlicher Liebe und echtem Hass gesättigten angeblichen sozialen Netze, am Rande dieses mit Selfies und lapidaren Sätzen vollgestopften World Wide Web der Illusionen,

Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Nachdem mich Joachim B. Schmidt in seinem Vorgänger „Kallmann“ bereits vorallem mit der Inszenierung seiner Charaktere und rauen, aber atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen begeistern konnte, war ich gespannt, was noch so aus seiner Feder tropfen würde.

Thematisch begibt er sich in ganz andere Gefilde. Aufgrund des Vorgängers hatte ich ihn als talentierten Krimiautoren abgespeichert, aber mit „Tell“ beweist er, dass das viel zu kurz gedacht ist, denn es scheint, dass nicht der Kriminalfall an sich sein Steckenpferd ist, sondern die Figuren, die, aus welchen Gründen auch immer, darin verwickelt sind. Statt in Island sind wir jetzt in der Schweiz. Nicht in der Gegenwart, sondern grob im Mittelalter. Also sollte man die beiden Werke nicht miteinander vergleichen? Ich denke schon. Denn die anfangs beschriebene Charakterzeichnung ist brillant und das Motiv ähnlich. Denn es geht um Recht. Und auch hier überlässt es der Autor dem Leser, in den Graustufen dazwischen zu wandeln. Er heroisiert nicht, wertet aber auch nicht ab.

Die Saga um Wilhelm Tell war mir ein Begriff, aber alles was ich darunter abgespeichert hatte waren die Stichworte Schiller, Pfeil und Bogen und Apfel, der von irgendjemandes Kopf geschossen wird. Nun habe ich, auch nachdem ich das Buch schon zwei Wochen ausgelesen habe, immernoch ein sehr plastisches Bild zu dieser Saga im Kopf. Ein Vater, der sich schikaniert und gedemütigt und seine Familie in Gefahr sieht, kämpft um so etwas wie Gerechtigkeit. Definitiv Stoff für eine (Helden-) Saga, obwohl ich noch einmal betonen möchte, dass ich Tell nicht als Held inszeniert sehe.

Was hier sicherlich zu sehr viel Spannung beiträgt, ist die Kürze der Kapitel. Was allerdings heutzutage in Thrillern zu einem beliebten Stilmittel verkommen ist, nutzt der Autor aber meiner Meinung nach nicht inflationär und nicht um des baren Schockes willen und um die Leser an sein Werk zu fesseln. Liest man sich die Anpreisungen für das Buch durch, so könnte man durchaus den Eindruck bekommen, es handele sich um einen Actionthriller, der sich von Cliffhanger zu Cliffhanger hangelt. So habe ich das Buch absolut nicht empfunden. Es ist sicherlich kurzweilig und eine Spannung zieht sich durch die Seiten, die sich zum Ende hin verdichtet. Aber der Autor verliert nie seine Figuren aus den Augen und baut Szenen ein, die reine Schockelemente darstellen oder das Tempo anziehen. Hätte er noch mehr mit seinen Charakteren gespielt und die Familie Tell noch tiefer beleuchtet, wäre ich dankbar gewesen. Was sicherlich für die Fähigkeit von Herrn Schmidt spricht, seinen Protagonisten Leben einzuhauchen. Und sie mit Eigenheiten, Witz und Charme zu versehen.

Insgesamt habe ich auch dieses Buch des Autoren unglaublich gerne gelesen. Und dass sowohl die Figuren, als auch die Szenerie mir weiterhin lebhaft im Gedächtnis sind, spricht denke ich dafür, dass der Autor mal wieder ein substanziell gutes Buch geschrieben hat.

Bewertung vom 13.02.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


sehr gut

Heldengeschichten gibt es viele. Doch was, wenn der Held nur aus Versehen so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, macht es die Konsequenz weniger wert?

Michael Hartung, ein in jeder Hinsicht durchschnittlich bis schlecht dastehender Videothekenbetreiber wird plötzlich der Protagonist eines Ostmärchens, in welchem er sein Leben in Gefahr brachte, um seiner Angebeteten ein Leben im Westen zu ermöglichen, ohne sich selber zu erretten. Ein Widerstandskämpfer, der sich gegen das Stasi-Regime stellte und Wochen der Inhaftierung und Folter ertragen musste, nur um dann zu verstummen und niemanden von seiner Heldentat wissen zu lassen. Scheinbar. Denn dass diese Errettung die Folgen eines Unfalls waren, seine Angebetete nie in dem Zug gesessen hat, der versehentlich in den Westen umgeleitet wurde und Michael Hartung nicht ansatzweise gegen das Regime aufbegehrt hat, verkauft sich nicht so gut. Doch als ein Journalist diese Geschichte aufbläst und als ein heroisches Ostmärchen vermarktet, kann sich unser Held der Anerkennung nicht länger entziehen und lässt sich ein auf ein Leben im Ruhm.

Mit sehr viel Leichtigkeit und Humor erzählt Maxim Leo die Geschichte eines Protagonisten, der sich zwischen den Stühlen befindet. Ost und West, Held und Durchschnittsbürger, einsamer Junggeselle und geliebter Vater und Freund. Gestern der erfolglose Videothekenbesitzer, dessen Highlight es war, alte Kinderfilme zu sehen und sich (leichtfertig viel) Alkohol zu genehmigen. Nun ein gefeierter Star, der etwas symbolisieren soll, was die Leute in ihm sehen wollen und deshalb von ganz oberster Instanz instrumentalisiert wird. Ein Mann, der aus der DDR stammt und sich nun von Westdeutschen zu einer Edelfigur formen lassen muss, um etwas zu präsentieren, was er nicht ist. Eine herrlich komische Ironie.

Der Autor gibt interessante Denkanstöße in Bezug auf die leider immer noch bestehende emotionale und mentale Trennung zwischen Ost und West und geht mit beiden Seiten gleichzeitig liebevoll aber auch kritisch ins Gericht. Dabei aber immer mit einer Prise Humor. Tatsächlich versteckt sich zwischen der ganzen Leichtigkeit viel Wahrheit, die mir auch, als jemand mit sehr wenig Berührungspunkten mit der Thematik, einige neue Perspektiven eröffnet hat.

Ein Ostmärchen, das keines ist. Und die Erkenntnis, dass wir überhaupt keine Märchen brauchen, um unsere Einigung zelebrieren zu können.

Bewertung vom 13.09.2021
Was bleibt, wenn wir sterben
Brown, Louise

Was bleibt, wenn wir sterben


weniger gut

Der Tod ist eine fundamentale Sache, die unser Leben bestimmt. Und dennoch wird versucht, ihn aus dem Leben zu verbannen, zumindest gedanklich. Dabei ist er unausweichlich und hat das Potenzial das Leben unserer Liebsten komplett auf den Kopf zu stellen. Wäre es da nicht viel ratsamer, ihn nicht als unseren Endgegner zu betrachten, sondern ihn willkommen zu heißen und auch den Trost anzuerkennen, den er mit sich bringen kann?

Louise Brown meint: Ja! Und diese Erkenntnis schöpft sie aus zweierlei: Zum einen aus ihrer Erfahrung als Trauerrednerin, zum anderen als Kind von Eltern, die diesen letzten Schritt bereits gegangen sind. Es handelt sich hier also um ein sehr persönliches Buch, emotional und wertend geschrieben, die Gedanken einer Frau, die für sich beschlossen hat, den Tod zu akzeptieren und gleichzeitig das Leben zu zelebrieren. Auch das ihrer Klienten und deren Verstorbenen.

Wenn man sich auf die dunklen Pfade des Lebens begibt und sich gleichzeitig konfrontieren, aber auch trösten lassen will, dann ist das Buch vermutlich geeignet. Für mich als jemanden, der sich schon sehr intensiv mit den Themen Tod/alternativen Bestattungsmöglichkeiten/Trauerarbeit befasst hat, bot mir dieses Buch leider nichts Neues und gestaltete sich somit als wenig interessant. Ich kann mir aber dennoch vorstellen, dass es als eher oberflächliche und persönlich-emotionale Betrachtung und Erfahrungsbericht durchaus reizvoll sein kann, wenn man nicht gerade selbst in der Trauer versunken ist und sich hierauf einlassen kann.

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Bewertung vom 08.08.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

„Junge mit schwarzem Hahn“ ist genau was? - ein Drama, ein historischer Roman; der Anbeginn der Kriminalistik, magischer Realismus? Eine klare Antwort auf die Frage wird man nicht finden und genau das macht die Mischung so würzig. Paart man dieses Mosaik dann noch mit einem bildreichen Schreibstil, der in mir dieselbe Stimmung hervorgerufen hat, wie beispielsweise ein Süskind es vermag, dann hat man diesen Roman. Sehr knappe Kapitel tun ihr Übriges, um das Buch wie im Flug vergehen zu lassen.

Ein guter Indikator für einen für mich besonderen und atmosphärischen Stil bietet die Tatsache, dass ich während der Lektüre nach weiteren Werken des Autors recherchiere. In diesem Fall ergab meine Recherche, dass es sich um einen Debutroman handelt. Umso erstaunlicher, wenn man die Qualität des Geschriebenen bedenkt. Denn nicht nur ist die Sprache sehr eigen, auch die Figuren, vor allem unser titelgebender Junge Martin, sind sehr stark gezeichnet und bleiben im Gedächtnis; und wenn ich es so bedenke, dann stützt diese Tatsache vermutlich meine Süskind Assoziation, hat er doch auch ein ausgesprochen großes Talent dafür, Situationen und Figuren eindrücklich und nachhaltig zu verschriftlichen.

Wozu ich ebenso starke Empfindungen hatte, ohne dies werten zu wollen, war das Weltbild, das hier vorherrscht, denn es ist durch und durch negativ und Martin das konträre, fast schon religiöse Glanzstück. Ich habe meine persönliche Deutung hierfür gefunden und durchaus insgesamt an der ganzen Konzeption und Aussage dieser Geschichte meine Freude gehabt, kann mir aber vorstellen, dass dieses Buch seine Leser selbst sucht und nicht jeden ansprechen möchte. Umso erfreulicher für mich, dass ich einer dieser Leser sein durfte, und auch das nächste Buch der Autorin wird deshalb ganz sicher von mir gelesen werden.

Bewertung vom 15.02.2021
Der Klang der Wälder
Miyashita, Natsu

Der Klang der Wälder


ausgezeichnet

„Der Klang der Wälder“ (aus dem japanischen übersetzt von Sabine Mangold) ist ein Buch, das durch seine feinen und nuancierten Zwischentöne besticht, ein Buch, das nicht durch eine aufgeregte Handlung überzeugt, sondern gezielt seine Perspektive auf die Schönheit dieser Welt richtet und jenen huldigt, die diese zu erkennen vermögen.

„Wie schön wäre es, wenn ich Klavier spielen könnte, um all die wundervollen Dinge wie Wald und Nacht ausdrücken zu können.“ (S. 14)

Wir begleiten den jungen Tomura, einst ein unscheinbarer Junge, der sich selbst als wenig spektakulär und besonders ansieht, bis er eine Begegnung mit einem Klavierstimmer hat, die seinen Blick auf die Welt fortan verändern soll. Tomura verliebt sich in den Klang, den der Stimmer während seiner Arbeit mit dem Instrument hervorbringt, es bringt etwas in ihm zum Schwingen, wessen er sich nie bewusst war. Die Melodien versetzen ihn gedanklich in die heimatlichen Wälder, mit denen er so vertraut ist. Lassen ihn die kühle Luft atmen, das Moos unter seinen Füßen spüren, das Rauschen der Bäume erahnen. Tomura wird vereinnahmt von diesem Gefühl. Er lernt, die Schönheit zu erkennen, die ihm fortan als ständiger Begleiter zur Seite steht und sein Leben erfüllt.

Und hier nähern wir uns auch der Essenz des Buches. Tomura, gefangen von der entfachten Leidenschaft, lässt sich zum Klavierstimmer ausbilden, ohne je Erfahrungen mit Musik gesammelt zu haben. Seine Herkunft spielt eine wesentliche Rolle, er wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf, in welchen die schönen Künste nie eine Rolle spielten, sondern ein sehr pragmatisches und arbeitsintensives Leben vorgelebt wurde. Diese Herkunft ist es wohl auch, die ihn immer wieder an sich zweifeln lässt, an seinem Talent für den Beruf. Wir sind die ganze Zeit nah bei unserer Hauptfigur, sie hält uns trotzdem aber immer auch auf Distanz. Eine große Dramaturgie darf man hier nicht erwarten, sondern eine sehr unaufgeregte Reise eines jungen Mannes, der erkennt, dass es nicht unbedingt Erfahrungen und Talent bedarf, sondern einer großen Portion Leidenschaft, um sehr gut in dem zu sein, was er liebt.

Ein kleines, sanftes Büchlein für ruhige und gemächliche Stunden für alle Leser, die leise Zwischentöne und das Schöne in der Welt genießen.

Bewertung vom 20.09.2020
Der Winter des Bären
Hargrave, Kiran Millwood

Der Winter des Bären


ausgezeichnet

Frisch ausgelesen habe ich die Geschichte und ich bin immer noch verzaubert von der Art und Weise, wie die Autorin uns mit auf den Weg genommen hat. Meine Bedenken, dass sich das Buch zu kindlich lesen könnte, hatten sich beim Durchsehen der Leseprobe bereits zerschlagen. Schon hier war mir klar, dass sich zwischen den Buchdeckeln eine tiefgründige und wundervoll übersetzte Erzählung verbergen würde.

Das Buch bietet für alle Zielgruppen gleichermaßen etwas: Eine Geschichte von jungen Heldinnen, die sich gegen eine dunkle Macht beweisen müssen und all das in eine winterlich kalte Atmosphäre gehüllt. Familie, Zusammenhalt, (Selbst-) Vertrauen, Stärke, eingebettet in eine Geschichte, die man auf verschiedene Arten deuten kann, aber nicht muss.

Das Buch hat zwar eine eher kalte und leicht düstere Atmosphäre, dennoch ist es nicht bedrückend oder gar im eigentlichen Sinne gruselig. Zwar gibt es eine leicht erschreckende Szene, diese wird aber nicht detailliert beschrieben und dadurch abgemildert. Die eigentliche Düsternis ergibt sich aus dem Setting, da hier immer Winter herrscht, und durch die Abwesenheit der Eltern sowie die damit einhergehende Traurigkeit. Das Innenleben der Figuren vermochte die Autorin sehr gut zu porträtieren, ohne aber die Handlung aus den Augen zu verlieren.

Wunderschön beschrieben dagegen war die Beziehung zu den Schlittenhunden, die hier, vor allem für unsere Protagonistin Mila, mehr als nur "Hilfsmittel" sind; sie sind Familie und werden dementsprechend behandelt.
Positiv hervorheben muss ich noch den Antagonisten, den Bären, oder, wie oben beschrieben, die dunkle Macht. Denn wir haben es hier mit einer zu bezwingenden Gefahr zu tun, die sehr nachvollziehbar ist und Gründe für ihr Handeln liefert, die auf emotionaler Ebene wirklich verständlich sind (und auch hier bieten sich wieder schöne Deutungsmöglichkeiten).

Wenn man die Hauptzielgruppe bedenkt, ist es zudem naheliegend, weshalb die Autorin das entsprechende Ende gewählt hat, auch wenn es nicht komplett "happy" ist im Sinne von: alles läuft komplett reibungslos und sie leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Im Übrigen kommen auch bibliophile Menschen hier vollkommen auf ihre Kosten.
Der Insel Verlag hat das wunderschön gestaltete Cover nicht nur aus dem Original übernommen, sondern es mit Goldprägungen versehen, die wahnsinnig gut zur Geschichte passen. Außerdem sind sowohl Vorsatzpapier und Kapitelanfänge liebevoll gestaltet und illustrieren das Erzählte ganz wunderbar. Durch die komplette Geschichte ziehen sich auf jeder Seite Fäden, die uns bis ans Ende begleiten und auch hier wieder ein schöner Zusatz zum Erzählten.

Insgesamt bin ich schlichtweg angetan von "Der Winter des Bären", und das, obwohl ich nicht annähernd zur eigentlichen Zielgruppe gehöre, dennoch aber ein Faible für atmosphärisch und gut erzählte, metapherreiche Geschichten habe.

Bewertung vom 26.07.2020
Ein Sonntag mit Elena
Geda, Fabio

Ein Sonntag mit Elena


gut

"Er war siebenundsechzig Jahre alt und seit acht Monaten Witwer, in denen ihm klar geworden war, den Dringlichkeiten in seinem Leben mehr Aufmerksamkeit gewidmet zu haben als den Wichtigkeiten; doch daran konnte er nun nicht mehr viel ändern, außer sich und seinen Kindern zu beweisen, dass er in der ihm verbleibenden Zeit das eine bewusster vom anderen zu unterscheiden vermochte." (S. 9)

"Ein Sonntag mit Elena" ist eines dieser Bücher, das man sich an einem gemütlichen Nachmittag schnappt, um sich locker flockig unterhalten zu lassen und vielleicht den ein oder anderen rührenden Moment zu erleben. Das Buch hat keine großen Erwartungen an den Leser, fordert ihn nicht, hinterlässt aber auch nicht sonderlich viel Substanz. Ein Buch, das ein paar Stunden nett unterhält (nicht jedoch ohne das ein oder andere Mal immer am Kitsch zu kratzen), das man vermutlich aber auch schnell wieder vergisst. Solche Bücher wollen einem nicht wehtun und sie tun genau das, was man in dieser Zeit gerade braucht; nämlich nette Unterhaltung, ein paar Kalender-Weisheiten und Figuren, denen wir den einen oder anderen holprigen Dialog verzeihen, weil sie doch irgendwie "begleitenswert" sind (vorallem unsere Hauptfigur).

Bewertung vom 30.04.2020
Pandatage
Gould-Bourn, James

Pandatage


gut

James Gould-Bourn wurde beworben mit "der neue Nick Hornby", eine Aussage, die sich ganz schön weit aus dem Fenster lehnt. Und natürlich, die Parallelen sind da; beide Autoren sind Engländer, beide vermischen Tragik und Komik und beide haben einen Roman über eine außergewöhnliche Vater-Sohn Beziehung geschrieben.
Doch wo Hornby die Balance zwischen Tragik und Komik meist perfekt trifft, sich weder auf das eine, noch auf das andere zu stark verlässt, findet Gould-Bourn die Mitte oft nicht, wirkt viel zu bemüht.

Die Geschichte ist aber nicht schlecht, sie hat einige tolle Momente und ließ mich einige Male schmunzeln. Wäre der Autor dabei nicht oft ins Albere abgedriftet und hätte ein besseres Gespür für wohl portionierte Häppchen Humor, dann hätte mir die Geschichte wohl auch um einiges besser gefallen. Denn das Potential ist da. Gelingt es ihm jetzt noch, sich nicht an Klischeebildern übermäßig zu bedienen, sondern mehr eigene Ideen einfließen zu lassen, dann schreitet er eventuell irgendwann Richtung Hornby (falls das überhaupt seine Intention ist und nicht ein zu Unrecht aufgedrückter Stempel).

Insgesamt betrachtet fand ich die Geschichte okay; sie hat einige Fehler, macht aber auch einiges originell und richtig.