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BPLaufs
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Saarbrücken

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Insgesamt 22 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2015
Goethes letzte Reise
Damm, Sigrid

Goethes letzte Reise


weniger gut

Natürlich ist der Titel »Goethes letzte Reise« mehrdeutig: die reale Fahrt mit seinen beiden Enkeln nach Ilmenau im August 1831, letzte Gedankenreisen und auch die Reise in den Tod am 22.3.1832 werden beschrieben. Immer nah an den Quellen erfährt man Wissenswertes (auch manches Uninteressante) über die äußeren Ereignisse und die innere Gedankenwelt Goethes anhand seiner Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, aber auch aus Erzählungen von Zeitzeugen, welche die Autorin akribisch ausgewertet hat. Die 350 Seiten enthalten viele Abschweifungen (Streit der Vulkanisten gegen Neptunisten), überflüssige Einsprengsel (wer das Gedicht "Über allen Wipfeln ist Ruh'" verballhornte) und Rückblicke, welche die eigentliche Darstellung unnötig verzögern. Gestört und ermüdet haben mich die vielen suggestiven Fragesätze, welche die Zitate auflockern sollen, aber den Text unnötig aufblähen: (z.B. "Goethes junge Mitreisende, die Kinder seines Sohnes, sind sie ihm auch ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und einer ihm durch sein hohes Alter verschlossenen Zukunft? Ist ihre heitere Gegenwart die Brücke, über die er gehen und den gegenwärtigen Augenblick genießen kann?" (171))
Hätte sich Damm das mit wenigen präzisen Strichen aufscheinende Portrait Goethes von Wharhol auf dem Buchcover zum Vorbild genommen, dann wäre statt eines ausufernden Gemäldes wohl eine klarer konturierte und spannendere Zeichnung der letzten Lebenswochen Goethes entstanden.

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Bewertung vom 07.09.2015
Friedrich
Wolf, Norbert

Friedrich


weniger gut

In fünf Kapiteln und einer Chronologie versucht der Autor, uns den wichtigsten Maler der deutschen Romantik nahe zu bringen. Dem wie beim Taschen-Verlag üblich mit Farbabbildungen üppig ausgestatteten Band gelingt dies nur unzureichend. Das liegt vor allem an der distanzierten Haltung des Verfassers seinem Gegenstand gegenüber: man spürt weder Enthusiasmus noch kritischen Widerspruchsgeist. Wolf referiert bevorzugt Meinungen und Stimmen anderer, ohne selbst eine klare Position zu beziehen: die einen sagen so, die anderen so und wieder andere schlagen einen Mittelweg vor (S.10-12). Statt den Betrachter dabei zu unterstützen, ein Bild zunächst einmal zu »lesen«, die formalen Qualitäten zu beschreiben, Material, Technik und Aufbau eines Werkes zu analysieren, das Neue, Ungewohnte und Innovative von Friedrichs Malweise herauszuarbeiten, wird häufig und vorschnell spekuliert, paraphrasiert und gesucht, wo sich angeblich "tiefer liegende Symbolschichten verbergen" (S.62) oder welche Person aus Friedrichs Umfeld auf einem Gemälde dargestellt sein könnte. Da mag der Felsen die Unerschütterlichkeit des Glaubens symbolisieren (35); der Nebel als Sinnbild der Gottesferne oder der Melancholie dienen, ob man ihn auch als Todessymbol interpretieren dürfe, sei fraglich; in am Weg liegenden Felsblöcken könne man Symbole des Glaubens (51) erkennen. Solche Sätze beleben das Vorurteil, die Kunstgeschichte ergehe sich im Ungefähren und produziere lediglich beliebige, noch dazu höchst spekulative Meinungen.
Natürlich findet man auch viele nützliche Informationen, eine konzise Verortung des Werks von CD Friedrich in der kunstgeschichtlichen Entwicklung sucht man allerdings vergebens. Der Bildband endet mit dem enttäuschenden Diktum: "Die Geschichte dessen, was Friedrichs Kunst dem 19. und 20. Jahrhundert über oberflächliche Romantizismen hinaus zu geben hatte, müsste … erst noch geschrieben werden." (93) Genau zu dieser Frage hätte man sich zumindest einigen Aufschluss erwartet.

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Bewertung vom 03.09.2015
Briefwechsel 1930-1940
Benjamin, Walter;Adorno, Gretel

Briefwechsel 1930-1940


ausgezeichnet

Es ist nicht selbstverständlich, Briefe fremder Menschen zu lesen, zumal wenn sie teilweise nach dem Wunsch der Verfasser nach Empfang sofort hätten vernichtet werden sollen. Mehrere Briefe von Gretel Karplus, die 1937 Adorno heiratete und dessen Namen annahm, hat Benjamin also gegen ihren Willen bewahrt und konnten so in den vorliegenden Band aufgenommen werden. Als Leser ist man einerseits glücklich, von dem genialen und von den Nazis in den Suizid getriebenen Walter Benjamin auch sehr Persönliches zu erfahren, andererseits kann auch der Abstand von 70-80 Jahren nicht darüber täuschen, dass die gnadenlose Zurschaustellung auch prekärer Lebenslagen und delikater Beziehungen im Leser voyeuristische Neugier hervorzulocken vermag. Trotz dieser Ambivalenz überwiegt jedoch der Eindruck einer ungeheuren Intensität, mit welcher in diesen dramatischen Jahren von 1930-40 zwischen dem 10 Jahre älteren Benjamin und der promovierten Chemikerin und Firmenleiterin lebenswichtige Informationen, Hoffnungen und Ängste ausgetauscht werden. Eine Beziehung, die zwischen Freundschaft, unverhohlen-verborgener Liebe (»Dein Brief hat mich in eine wilde Sehnsucht nach Dir versetzt« Nr.149) und Eifersucht changiert und mit scharfzüngiger Kritik (an G. Scholem etwa in Nr.110) sowie konzertierter Heimlichtuerei gegenüber Anderen nicht zimperlich ist. Deprimierend erkennt der Leser, wie für das Genie Benjamin seine Arbeits- und Lebensbedingungen zunehmend desaströs verengen, seine schon früher beklagten depressiven Tendenzen durch die äußere Bedrohung in den Suizid münden und Gretel ihn, für den »Rettung« eine wichtige philosophische Kategorie blieb, tragischerweise nicht vor der Katastrophe bewahren konnte.

In einer Zeit, die bald keine klassischen Briefschreiber mehr kennen wird, empfehle ich besonders jüngeren Menschen die Lektüre dieses mit ausreichenden Anmerkungen zum Verständnis und wenigen Fotos versehenen Briefwechsels, in den beide Korrespondenten ihr »Bestes« gelegt haben und den ich für den eindrücklichsten und wichtigsten aus dem intellektuellen Milieu der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts halte.

P.S. Eine preiswerte Taschenbuchausgabe würde den Leserkreis gewiss erweitern.

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Bewertung vom 01.09.2015
Gewalt des Gewordenen
Matz, Wolfgang

Gewalt des Gewordenen


ausgezeichnet

Stifter war mir immer als der typische Biedermann-Dichter erschienen, so daß ich durch das wohlwollende Interesse etwa von W. Benjamin oder WG Sebald an diesem böhmisch-österreichischen Erzähler irritiert wurde. Was entdeckten sie an dem reaktionären und stockkonservativen Autor, der zudem Erzählungen schrieb, die schon durch ihre Titel eher Langweile verströmen: »Bunte Steine«, »Der Waldsteig«, »Nachkommenschaft« usw. Die Schullektüre der »Brigitta« hatte auch nicht dazu motiviert, Stifter später nochmals zu lesen. Da hilft das kleine Buch von W. Matz mit seinen kurzen 10 Kapiteln mit Überschriften wie »Schuld«, »Reue«, »Riss« allerdings ungemein. Das Vorurteil vom tumben Konservativen, der die Revolution von 1848 als Anlass zum Rückzug in die traditionelle Welt des Feudalismus nahm, läßt sich nach der Lektüre nicht aufrechterhalten. Im Gegenteil kann Matz zeigen, dass Stifter sich zwar in die Literatur zurückzog, aber ein Sensorium für die Risse und Brüche der nachrevolutionären Zeit besass und dieses in die Form einer besonderen dichterischen Sprache ausprägte, für die wiederum der heutige Leser zunächst sensibilisiert werden muss. Der Melancholiker Stifter war von Angst durchtränkt, seine Welt war voller Gefahr, er lebte "in Feindesland" und verkürzte zuletzt sein trostloses Leiden durch eine suizidale Handlung. Wenn man auf diese Weise aufmerksam gemacht Texte von Stifter (erneut) liest, wird nicht nur der Literaturwissenschaftler interessiertes Gefallen an dessen Schilderungen finden, die ansonsten eher nach Waldidylle und rückwärts gewandter Utopie klingen. So zeigt uns Matz, daß ein Blick unter die Oberfläche lohnt, auch wenn 150 Jahre alte Texte auf den ersten Blick völlig durch Mehltau verstaubt erscheinen.

Bewertung vom 23.08.2015
Eine Zukunft
Bizot, Véronique

Eine Zukunft


sehr gut

Zum Inhalt des Buches hat Frau Bopp in ihrer Rezension in der FAZ schon genug verraten. In der hübschen Gondel der Seilbahn, die den Umschlag des kleinen Buches ziert, hätte der Erzähler als Kind sitzen sollen, wenn der Pfarrer ihn und seinen Bruder nicht glücklicherweise Sekunden vorher daran gehindert hätte. Ansonsten wird viel gestorben und verschwunden in diesem kleinen Roman, der in herrlich lakonisch-ironischer Sprache daherkommt. Die 2-3stündige Lektüre wird nicht bedauern, wer Sinn für hintergründig-groteske Familiengeschichten hat. Die Autorin lässt uns trotz der tristen, verschneiten, eiskalten Landschaft, in welcher der Erzähler 3 Tage verbringt, nicht resignativ zurück. Sie läßt im Gegenteil uns und den Protagonisten hoffen, dass trotz der tragischen Vergangenheit und der bedrohlichen Gegenwart »eine Zukunft« zu gewinnen ist.

Bewertung vom 13.08.2015
Frauen um Goethe
Seele, Astrid

Frauen um Goethe


sehr gut

Normalerweise erscheinen in der Reihe "rowohlts monographien" Einzelportraits berühmter Menschen. In diesem Band werden 9 Frauen beschrieben, die durch Goethe zu Nachruhm gekommen sind. Die Darstellung der Frauen ist angenehm unprätentiös, ohne waghalsige Mutmaßungen und nah an den Quellen verfasst. Der mit Verweisen und vielen Abbildungen aufgelockerte Text von 160 Seiten ist sehr viel besser geeignet, z.B. jungen Menschen Goethe und seine Zeit näher zu bringen als dickleibige und einzig auf den Genius fokussierte Biografien. Denn die Autorin beleuchtet erfreulicherweise (wenn auch knapp und nur sofern Zeugnisse vorliegen) die Lebensgeschichten der neun Frauen, die ansonsten zumeist im Schatten der Geschichte entschwunden sind. Man vermisst allenfalls eine Skizze seiner Schwester Cornelia und seiner Mutter Katharina Elisabeth, die schließlich und unbedingt zu den »Frauen um Goethe« zu zählen sind, die auch oftmals im Text erwähnt werden, ohne dass sich der Leser allerdings ein Bild der beiden Persönlichkeiten machen könnte. Für alle, die nicht nur das Werk, sondern auch die Person Goethes und seine erotische Entwicklung interessiert, eine kurzweilige Lektüre.

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Bewertung vom 04.08.2015
Ein Säulenheiliger ohne Säule
Stölzel, Thomas

Ein Säulenheiliger ohne Säule


weniger gut

Das Buch beschreibt reale und bibliophile Begegnungen mit Emile Cioran (1911-1994). Als Einleitung liest man die Schilderung eines wohl halb zufälligen Zusammentreffens mit dem in Rumänien geborenen Philosophen und Schriftsteller, der seit 1937 in Frankreich, zuletzt in Paris lebte. Ciorans Ausdrucksform war vornehmlich der skeptische und ironische Aphorismus; philosophische Systeme waren ihm zuwider. Er strebte eher danach, den Leser zu irritieren; Verständnis sei für ihn das Schlimmste gewesen, was einem Autor widerfahren könnte. Stölzel findet viele Zitate und Anekdoten, die Ciorans grundstürzende Widersprüchlichkeit illustrieren; er wird als ein »Held des Schwankens«, ein »Fanatiker ohne Credo«, als intelligenter Provokateur tituliert. Cioran ist nicht zu fassen, er ist seinem eigenen Glauben treu und untreu zugleich.
Zwar versucht Stölzel seine Eindrücke unter den vier Kapitelüberschriften »Skepsis als Gewißheit«, »Ausgerenkte Gewißheiten«, »Vervielfältigter Sinn« und »Säulenheiliger ohne Säule« zu ordnen; aber da es angesichts des unerbittlichen Skeptizismus des »Feuerkopfes« Cioran nichts zu systematisieren gibt, bescheidet sich Stölzel ebenfalls mit geistreichen Pointen und Gedankensplittern, der Benennung von Paradoxien und vielen Fragesätzen; was zwar den Text eingängig lesbar macht, jedoch nicht unbedingt zur Klärung beiträgt. Cioran, Pessimist und Possenreißer, changierte zwischen Mythos und Mode, seine ironische Skepsis mündete zuweilen im Kitsch. Er war ein intellektueller Hofnarr des 20. Jahrhunderts. 

Man kann Stölzel nicht vorwerfen, daß er sich umstandslos seinem Gesprächspartner angleicht, zumal er dessen Egomanie, Wortschäumerei und Größenwahn despektierlich erwähnt. Aber was soll man von Cioran lernen, wenn man auch noch seine frühe Affinität zur faschistischen Ideologie und seine erschreckende Misogynie bedenkt? Eine kritische Reflexion über die Gründe für Ciorans intellektuelle Entwicklung und seine anti-ideologische Attitüde hätten dem Essay-Band jedenfalls gut getan. Die Lektüre von Stölzels »Versuch« erspart immerhin, sich noch eingehender mit Cioran zu beschäftigen; Zyniker gibt es in unserer Gesellschaft bereits genug, man muss nicht noch Wasser auf ihre Mühlen leiten.

Bewertung vom 02.08.2015
Über die Verborgenheit der Gesundheit
Gadamer, Hans-Georg

Über die Verborgenheit der Gesundheit


sehr gut

Warum sollte man die in diesem Band gedruckten Vorträge und Aufsätze aus dem letzten Jahrhundert lesen? Der erste Aufsatz stammt aus dem Jahr 1971, der jüngste titelgebende von 1991; zumal sie nicht von einem Mediziner, sondern von einem Philosophen stammen; wenn auch einem der wichtigsten und einflussreichsten des 20. Jahrhundert.
Jedoch: man spitze einmal in einer Runde (nicht nur) älterer Menschen die Ohren, um überzeugt zu werden, dass die Sorge um die eigene Gesundheit ein dominierendes Gesprächsthema und "ein Urphänomen des Menschseins" darstellt.
 Gadamer entfaltet den Gedanken, daß Gesundheit ein paradoxes Phänomen ist: sie ist uns entzogen, nicht ständig bewußt, sondern wir setzen sie selbstvergessen voraus bis zu dem Punkt, an dem eine Krankheit uns ereilt. Erst die Störung des Wohlbefindens, der mit Angst verbundene Einbruch ins selbstverständliche Alltagsleben, bringt die Verborgenheit der Gesundheit ans Licht. Zwar ist Interesse an der Aufhellung dessen, was in der Arzt-Patient-Beziehung immer schon vorausgesetzt ist, sinnvoll, dagegen sind philosophische Vorkenntnisse für die Lektüre nicht erforderlich. Gadamer richtet sich an Ärzte, Patienten und Laien, die wissen wollen, wie Medizin und Technik in unser Leben hineinragen und ob es Grenzen der Machbarkeit gibt.

Vor allem sollte man keinen Ratgeber zu Gesundheitsfragen erwarten, obwohl der Autor 102 Jahre alt wurde, mit 90 Jahren und wachem Geist noch Vorträge in freier Rede lediglich mit Hilfe eines Spickzettels hielt und daher prädisponiert gewesen wäre, uns sein Geheimnis für ein langes Leben bei mentaler Gesundheit mitzuteilen. Dabei hatte er keine wirklich robuste Konstitution und erkrankte noch im erwachsenen Alter an Kinderlähmung. Gadamer weiß also nicht nur als Philosoph, worüber er spricht, wenn er etwa die »Heilkunst« verteidigt und daran erinnert, das Medizin mehr ist als nur die technische Anwendung naturwissenschaftlichen Wissens: namentlich »Heilen« statt nur »Machen«. 

Es geht in den 13 Beiträgen dieses Taschenbuches um die nicht hinterfragte Basis der Medizin, die der Autor an zentralen Begriffen wie »Körper und Leib«, »Behandlung und Gespräch«, »Leben und Seele« aufzuschliessen versucht. Man liest diese erhellenden Gedanken mit Gewinn, da Gadamer die Gabe besitzt, in verständlichen Sätzen anschaulich zu machen, was es an der Begegnung von Arzt und Patient oder an der simplen Frage "Na, wo fehlt's denn" zu verstehen gilt. 


Bewertung vom 28.07.2015
Im Zwielicht
Hoffmann, Rainer

Im Zwielicht


sehr gut

Es gibt wohl kein Kunstwerk, zu dem im Laufe der Jahrhunderte mehr Interpretationen erschienen sind als zu Albrecht Dürers Kupferstich »Melencolia I« von 1514. Wenn nun nach exakt 500 Jahren ein weiterer Deutungsversuch erscheint, so darf man gespannt sein, was dieser dem Erkenntnisstand hinzufügen kann; immerhin hat sich die Elite der Kunstgeschichte (Justi, Wölfflin, Panofsky et al.) an diesem Werk abgearbeitet. Der Autor versucht, Zugang zu dem immer noch in vielen Aspekten rätselhaft gebliebenen Denkbild nicht wie üblich über die dominierende geflügelte Hauptfigur, sondern über den Putto zu gewinnen. Dieser Weg erscheint legitim, zumal die wohlgenährt pausbäckige Figur mit den Stummelflügeln zwar selten das eingehende Interesse der Betrachter gefunden hat, aber ohne Zweifel von Dürer durch seine Position im Goldenen Schnitt des Stiches exponiert und zentral plaziert wurde. Während der Putto bisher überwiegend als die aktive Gegenfigur (»schreibend, kritzelnd, emsig«) zur geflügelten Melancholie stilisiert wurde, kann Hoffmann durch seine akribische Beschreibung plausibel zeigen, dass der Putto mit seinem verfinsterten Blick (facies nigra) eher als ein Putto melancholicus zu interpretieren ist. Und über die Beobachtung des Stillstands, der Ereignislosigkeit und der unaufklärbaren Lichtverhältnisse im Dürerblatt kommt Hoffmann zum Ergebnis, dass die Szenerie der »Melencolia I« mit dem Begriff "Im Zwielicht" am aufschlussreichsten beschrieben ist.
Indem er zuletzt seine Deutung (3. Kap.) der allegorischen Melencolia mit theoretischen Schriften des wohl zeitweilig von Schwermut geplagten Künstlers Dürer parallelisiert, erweist sich dem Autor der meisterhafte Stich nicht als Personifikation eines melancholischen Temperaments, sondern als Ausdruck einer ambivalenten Erfahrung, einer existenziellen Grenzerfahrung: zur absoluten Wahrheit kann der Mensch aufgrund seiner Endlichkeit trotz allen Wissens und Könnens nicht gelangen. Zwar hatte auch Panofsky bereits diese melancholische Verzweiflung in dem Kupferstich gelesen, aber Hoffmann möchte auf die lichte Seite (»wo Schatten ist, da ist auch Licht«), die sich vor allem im "hellen, offenen, ... und gedankenvoll nach innen gerichteten Blick" der Melencolia zeige, mehr Aufmerksamkeit lenken. 

Die Studie wendet sich zunächst (auch sprachlich) an Dürerspezialisten und Kunsthistoriker, wie bereits das Übergewicht an Fußnoten plus Bibliografie von 100 Seiten deutlich macht, aber auch der am Phänomen der Melancholie allgemein Interessierte wird von der Lektüre angeregt, selbst wenn er nicht jeder Assoziation des Autors folgen wird.
 Das Buch ist sorgfältig ediert, u.a. mit hilfreichen Detailansichten angereichert und eine Ausfaltseite erlaubt bei der Lektüre stets einen gleichzeitigen Blick auf den Stich.