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kkruse

Bewertungen

Insgesamt 19 Bewertungen
12
Bewertung vom 06.01.2024
Der späte Ruhm der Mrs. Quinn
Ford, Olivia

Der späte Ruhm der Mrs. Quinn


sehr gut

Mrs. Quinn kriegt’s gebacken

Eigentlich lese ich solche „Frauenromane“ eher selten, doch dieser Roman war für mich eine ganz nette Abwechslung. Liest sich flott weg, tut niemandem weh, sympathische Charaktere: locker-leichte Lektüre wie ein Sahnewölkchen. Interessiert hat mich der Roman wegen des Themas „Backen“ und das kommt wirklich nicht zu kurz. Die Kapitel sind mit Backrezepten betitelt, die Mrs. Quinn dann auch jeweils in die Tat umsetzt. Für sie sind die Gebäcke auch immer mit bestimmten Lebenserinnerungen verknüpft, sodass man in ihre Vita eintaucht. Sie hatte stets das Gefühl, nicht alle Ziele im Leben erreicht zu haben und fühlt eine Lücke wegen der sie meint, anderen nicht zu genügen. Nun will sie sich und ihre Träume durch die Teilnahme an der britischen Version des TV-Backduells „Das große Backen“ verwirklichen.
All das wird in einem sympathischen Ton erzählt, der sich leicht wegliest. Die Handlung ist zwar recht vorhersehbar und ohne Dramatik, aber die Autorin kann gut und interessant schreiben, sodass man am Ball bleibt und mehr über die liebenswürdige, alte Dame Mrs. Quinn erfahren möchte. Der Roman wälzt keine Probleme, kommt ohne Antagonisten aus und ist somit ein echter „Wolldeckenroman“ zum Entspannen. Dabei ist er aber wie gesagt auch nicht zu kitschig oder seicht, weswegen er selbst mir gefallen hat, die sich sonst eher abseits dieses Genres bewegt. Das typisch britische Flair war außerdem nach meinem Geschmack, ganz wie die vielen leckeren Backwerke! Und deswegen zum Schluss noch das größte Manko des Buches: es fehlen die Rezepte! Zu gerne hätte ich ein Backbuch zum Roman, um Mrs. Quinn nachzueifern… Denn soviel sei zum Ausgang der Geschichte verraten: Mrs. Quinn kriegt‘s gebacken.

Bewertung vom 11.10.2023
The Marmalade Diaries
Aitken, Ben

The Marmalade Diaries


ausgezeichnet

Bittersweet Old Lady Marmalade

Autor Ben Aitken sucht in London eine bezahlbare Wohnung und findet zur Untermiete eine Bleibe bei der alten Winnie. Doch dann kommt Corona und die beiden verbringen ihren Alltag enger miteinander, als sie zuvor gedacht hätten. Dabei lernen sie sich nicht nur gegenseitig kennen, sondern lernen auch voneinander und entwickeln so eine einzigartige Beziehung. In Form eines Tagebuchs berichtet Ben Aitken von seinen Erfahrungen in diesem Jahr mit Winnie auf warmherzige und unterhaltsame Weise, sodass „The Marmalade Diaries“ für mich ein „Wolldeckenroman“ in diesem Herbst war.
Vor allem hat das Buch von der einzigartigen Winnie gelebt! Die schlagfertige 85-Jährige musste in ihrem Leben so manchen Schlag verkraften, hat aber stets allem standgehalten und ist selbst in ihrem hohen Alter noch überraschend selbstständig und agil. Bestechend ist ihr trockener, britischer Humor, der mich so manches Mal zum Schmunzeln gebracht hat. Zudem hat sie zahlreiche Marotten, die der Autor liebevoll beschreibt, sodass ich die skurrile alte Dame gerne selbst kennengelernt hätte. Winnies Charakter lässt sich gut mit der Orangenmarmelade vergleichen, die sie gläserweise auf Vorrat kocht: bittersüß. Mit ihrer scharfen Zunge mag sie Leuten manchmal vor den Kopf stoßen, sie tut sich schwer, Gefühle offen zu zeigen, aber dennoch kümmert sie sich aufopferungsvoll um Familie und Freunde und pflegt Haus und Garten mit Hingabe.
Ben Aitkens beschreibt seine Erfahrungen mit Winnie warmherzig und lustig, doch wird an mancher Stelle auch nachdenklich, da Winnie ihn einiges über das Leben und zwischenmenschliche Beziehungen lehrt. Vor allem gegen Ende wird das Buch etwas trauriger und melancholischer, aber ich hatte nie das Gefühl, dass der Autor in diesen gedankenvolleren Passagen allzu philosophisch oder lebensklug daherkommt. Man merkt ihm seine Entwicklung, die das Zusammenleben mit Winnie bei ihm ausgelöst hat, im Laufe der Lektüre glaubhaft an und kann als Leser diesem Prozess nachvollziehen.
Man mag kritisieren können, dass in dem Roman nicht allzu viel passiert und es in diesem Art Tagebuch keine richtige Handlung gibt. Doch für mich passt der Stil des Buches zum Corona-Lockdown, denn zu dieser Zeit stand das Leben schließlich still und man war auf sein unmittelbares Umfeld beschränkt, sodass dort jedes Detail an Wichtigkeit gewonnen hat. Mich hat es gerührt, wie der Autor die kleinen Freuden des Alltags hervorhebt, auch wenn es andere Leser vielleicht langweilen mag, dass wiederholt das Abendessen mit Winnie die Highlights und scheinbar Hauptthema des Tages sind.
Auch sind die Symboliken und Metaphern, die der Autor verwendet nicht besonders raffiniert, wie das Feuer (sei es im Kamin oder des Lebens), dass am Brennen gehalten werden muss oder die bittersüße Marmelade, die die Beziehung zusammenklebt. Aber da Ben Aitken so auf der alltäglichen Ebenen bleibt und seine Leser nicht überfordert, war der Roman für mich sehr eingängig, hat sich flüssig und authentisch als Tagebuch eines jungen Mannes gelesen und war aufgrund des warmherzigen Tons ein „Wolldeckenroman“, in dem ich mich richtig wohlgefühlt habe. Besonders da ich den britischen Humor und die britische Kultur mag, war es ein Spaß, auf so unmittelbare Weise den Alltag einer alten englischen Dame und ihres jungen Mitbewohners kennenzulernen, auch wenn die Umstände ihres Zusammenlebens in so eine besondere Zeit gefallen sind.

Bewertung vom 23.09.2023
Als wir an Wunder glaubten
Bürster, Helga

Als wir an Wunder glaubten


ausgezeichnet

Irrlichtern im Moor: wunderbar atmosphärisch!

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein wunderbar atmosphärischer und spannend geschriebener Roman, der für mich aufgrund seiner geheimnisvollen Stimmung sehr gut in den Herbst passt. Ich habe mich direkt in die Nebel des Moores, der nicht nur über der Landschaft, sondern auch in den Köpfen der Protagonisten hängt, hineinversetzt gefühlt und quasi lesend im schwammigen Untergrund stecken geblieben, sodass ich mich kaum vom Buch wegreißen konnte.
Der Roman spielt wenige Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs im norddeutschen Moor, wo die Bewohner fast noch wie im Mittelalter in alten Hütten oft ohne Elektrizität, Heizung oder fließendem Wasser leben. Trotz allem meistern die Moorbewohner ihren Alltag, auch wenn sie nach den Wirren des Krieges versuchen, diese Zeit hinter sich zu lassen und sich der Moderne anzunähern. Doch aufgrund der Abgeschiedenheit der Gegend fällt das schwer und unerklärliche Vorfälle werden schnell mit Hexerei und anderem Aberglauben begründet. So kommt es, dass, als Josef traumatisiert aus dem Krieg zurückkehrt, ein Sündenbock unter den Moorbewohnern gesucht wird, der für Josef verändertes Verhalten verantwortlich gemacht werden kann. Schnell ist eine Schuldige ausfindig gemacht: Edith wird der Hexerei beschuldigt. Doch gerade diejenigen, die die Hexenjagd am meisten befeuern, haben sich während des Krieges und später selbst genug zu Schulden kommen lassen und versuchen dieses im Nebel des Moores und des Aberglaubens zu verschleiern.
Besonders überzeugt hat mich die Atmosphäre des Romans. Das Leben im Moor wird von der Autorin überzeugend dargestellt. Wie im 19. Jahrhundert oder gar wie im Mittelalter hausen die Bewohner in einfachen Katen, ohne Strom oder fließend Wasser, der Boden unter ihren Füßen ist schwammig und die Häuser sind schief und krumm, da sie sich organisch der wankenden Natur anpassen. Die Menschen führen also ein recht rückständiges Leben, sodass es verständlich wird, wenn sie Wunderheilern oder Aberglauben zum Opfer fallen. Im Laufe des Romans weitet sich dieser Aberglaube bis zum Wahn aus, sodass es möglich ist, hier einen Vergleich zur NS-Zeit zu ziehen, in der auch blind einer Ideologie gefolgt wurde und Sündenböcke gesucht wurden. Was dort der Antisemitismus war, ist nun der Hexenwahn. Der vermeintliche „Retter“ entpuppt sich als das eigentlich Böse und woran man glauben soll oder darf bleibt ungewiss. Der Autorin ist somit ein vielschichtiger Roman gelungen, der mir mehreren Bedeutungsebenen spielt und auf sich verschiedene Arten interpretieren lässt.
Auch sprachlich fand ich das „Als wir an Wunder glaubten“ gelungen. Es dominieren kurze, klare Sätze, die aber mit Bedeutung aufgeladen sind und einen zum tieferen Nachdenken bringen (z.B. „Ist Widerstand leisten mutig oder leichtsinnig?“). Jedes Wort sitzt, wo es soll und die klare, prägnante Sprache passt zu den nüchternen und pragmatischen Charakteren des Romans. Ohne viel Pathos, aber dennoch mit einem gewissen Augenzwinkern (z.B. wenn es um den Weltuntergang geht, den man ja auch nicht alle Tage erlebt…) schildert die Autorin das harte Leben der Moorbewohner. Besonders authentisch wird die Atmosphäre durch den Einsatz plattdeutscher Begriffe und Sätze, die einen beim Lesen noch einmal so richtig ins norddeutsche Moor hinüberführen.
Mich hat der Roman beim Lesen an Dörte Hansens Werke oder auch ein norddeutsches „Gesang der Flusskrebse“ erinnert. Bücher über die Nachkriegszeit gibt es sicher viele, aber hier ist vor allem der Handlungsort „Moor“ das Besondere, da er eine einzigartige, geheimnisvolle, bedrohliche Stimmung erschafft. Diese wird vor allem gegen Ende der Handlung verstärkt, wenn sich ein Gewitter zusammenbraut und man förmlich spürt, wie aufgeladen die Luft ist.
Mein Fazit also: Wunderbar atmosphärische! Ich bin äußerst gerne zwischen den Seiten im Irrlichtern Moor verloren gehen lassen!

Bewertung vom 17.09.2023
Ich, Sperling
Hynes, James

Ich, Sperling


gut

Coming-of-Age in der römischen Antike

„Ich, Sperling“ ist die Coming-of-Age-Geschichte eines namenlosen Erzählers, der in der römischen Antike im 4. Jahrhundert nach Christus in einem Bordell zwischen Prostituierten, Zuhältern und allerlei anderen zwielichtigen Gestalten aufwächst. Dabei wird er mit der brutalen Realität derer konfrontiert, die am Rande der Gesellschaft leben, und muss sich seinen Weg durchs Leben kämpfen.
Für mich persönlich ist das Buch hinter den Erwartungen zurückgeblieben, die die vielen lobenden Besprechungen geweckt haben. Sicherlich ist der Roman gut geschrieben und akkurat recherchiert, doch mit den Charakteren bin ich nicht richtig war geworden, da sie mir alle eher unsympathisch waren.
Erzählt wird aus der Sicht des Protagonisten, der sich abschnittsweise immer wieder im Stile der antiken Geschichtsschreibung an die Leser wendet und die Fiktionalität und Subjektivität seiner Berichte betont. Was wahr und was erdichtet ist, lässt er somit im Zweifel.
Und nicht nur der Erzählstil, auch das historische Setting wird im Roman authentisch geschildert. Man merkt, dass der Autor umfangreich recherchiert hat, um die historischen Fakten korrekt und atmosphärisch wiederzugeben und so durch viele Details sowie intertextuelle Bezüge zu antiken Schriftstellern seine Leserschaft glaubhaft in die römische Antike zu versetzen. Besonders gerne gelesen habe ich zum Beispiel die Marktszenen, denn was man über das Alltagsleben der normalen Leute in der römischen Provinz erfährt, ist wirklich interessant.
Doch wie gesagt konnten mich die Charaktere nicht voll überzeugen, da sie für mich wenig Identifikationspotenzial geboten haben und eher abstoßend wirkten. Der Roman spielt in einem Milieu am Rande der Gesellschaft und dementsprechend sind einige Szenen recht brutal oder pornografisch. Der Protagonist versucht in dieser „Schattengesellschaft“ seine Identität zu finden und sich im wahrsten Sinne des Wortes einen „Namen zu machen“. Diese Coming-of-Age-Geschichte ist auch der einzige Handlungsschwerpunkt, was mich aufgrund der fehlenden Verbindung zu den Personen trotz aller Faszination für die römische Antike dann gelangweilt hat.
Für wen ist das Buch also etwas? Vielleicht für Fans von Robert Harris, der Krimis, die in der römischen Antike spielen, schreibt. Zwar ist „Ich, Sperling“ kein Krimi, aber an zwielichtigen Gestalten mangelt es nicht. Auch Leser und Leserinnen, die sich für Themen wie Identität, „Coming-of-Age“ und Selbstbehauptung interessieren, dürfte der Roman ansprechen. Oft werden diese Themen in einem modernen Kontext behandelt, doch hier lernt man mal eine neue, ungewöhnliche Perspektive kennen. Obwohl der Roman in der Antike spielt, lassen sich die Probleme und Fragen auf die heutige Gesellschaft übertragen.

Bewertung vom 20.08.2023
Weil da war etwas im Wasser
Kieser, Luca

Weil da war etwas im Wasser


weniger gut

Erst Top, dann Flop

Der Roman „Weil da war etwas im Wasser“ gliedert sich in zwei Teile und als ich die ersten Seiten gelesen haben, war ich zunächst noch begeistert von dem außergewöhnlichen Debüt des Autors Luca Kieser. Er erzählt für einige Passagen aus der Perspektive der Arme eines Riesenkalmars, die miteinander, aber auch mit den LeserInnen, kommunizieren und ihre Sicht der Welt kundtun. Das ist vor allem interessant, wenn es um den Umgang der Menschen mit der Natur und besonders den im Wasser lebenden Geschöpfen geht und regt zu naturphilosophischen Überlegungen an. Auch die anderen Passagen aus dem ersten Teil des Romans, in denen es um Sanja, die ein Praktikum auf einem Frosttrawler absolviert, Dagmar, die als Geheimagentin in der Antarktis stationiert ist, und deren gemeinsame Rettung eines zufällig gefangenen Riesenkalmars geht, fand ich lesenswert und spannend.
Ich hätte mir gewünscht, dass es im zweiten Teil so weitergegangen wäre, doch die Erzählungen der Arme werden immer verwirrender, wirken teilweise zusammenhang- oder belanglos und schweifen oft komplett von der interessanten Betrachtung des Tintenfisches ab. Es wird der komplizierte Stammbaum der Familie Macke-Meyer rekonstruiert, der zwar das Rätsel löst, warum Sanja und Dagmar solch eine geheimnisvolle, tiefe Verbindung zu dem gefangenen Riesenkalmar verspüren, doch die vielen verschiedene Erzählstränge und Familienkonstellationen haben mich häufig verwirrt und ich konnte wenig Zusammenhang zum Thema des Romans herstellen. Durch intertextuelle und historische Bezüge z.B. zu Jules Verne oder der Entstehung des Films „Der weiße Hai“ wurde das Thema „Meer“ in gewissem Maße aufgegriffen, doch alles wirkte sehr beliebig. Der Autor versucht immer wieder herauszustellen, wie das Schicksal verschiedener Personen miteinander verknüpft ist, verliert sich aber in irrelevanten Details und lässt naturphilosophische Fragen im zweiten Teil gänzlich zurück. Das hat mich sehr enttäuscht und besonders die letzten Kapitel, in denen Luca Kieser scheinbar autofiktional sein Werk zu erklären versucht, haben mich irritiert und verärgert, dass ich mir die Bedeutung eines Romans lieber selber erschließe anstatt vom Autor selbst in so aufdringlicher Weise erklärt zu bekommen. Negativer Höhepunkt war für mich, als der Riesenkalmar, den ich in der ersten Hälfte des Buches eigentlich liebgewonnen hatte, zum Phallussymbol gemacht wird und der Autor seitenlang über sein Geschlechtsteil schreibt. Auch wenn ich nicht zart besaitet bin, hat mich das doch endgültig von „Weil da war etwas im Wasser“ entfremdet, auch wenn der Roman so viel versprechend und kreativ begonnen hat.

Bewertung vom 07.08.2023
Der Vorweiner
Bjerg, Bov

Der Vorweiner


weniger gut

Befremdlich
In „Der Vorweiner“ versetzt Bov Berg seine LeserInnen in eine dystopische Zukunft, die von den Auswirkungen des Klimawandels, Migrationsproblemen und einer ausufernden Dienstleistungsgesellschaft geprägt ist. Nach der Leseprobe hatte ich mich auf eine unterhaltsam geschriebene, satirische Reflexion unserer politischen und sozialen Gegenwart gefreut, doch ich muss sagen, dass ich leider durch den sehr befremdlichen Stil und die teils unverständliche Handlung enttäuscht worden bin.
Obwohl ich den Autor Bov Berg und seine Bücher (besonders „Auerhaus“) mag und ich wirklich versucht habe, mich auf den experimentellen Stil in „Der Vorweiner“ einzulassen, bin ich mit dem Roman nicht war geworden. Während ich die ersten Kapitel noch ganz gerne gelesen habe, da das Buch so ungewöhnlich ist und ich Spaß an der rätselhaften Handlung hatte, hat die Lesefreude im Laufe der Lektüre immer mehr abgenommen. Vieles an der Handlung war für mich unverständlich und mir ist nicht klar geworden, was der Autor den LeserInnen eigentlich sagen will wie z.B. das immer wieder eingeschobene „Gottesauge“, das von der eigentlichen Handlung wie in einem Filmschnitt in eine andere Handlung überblendet oder das Thema der Regression/Wiedergeburt (hier will ich nicht mehr verraten, um nichts an der Handlung vorwegzunehmen).
Auch die Gesellschaft und die Charaktere, die Berg in seinem Roman entwirft, fand ich sehr befremdlich. Ich musste etwas an T.C. Boyles aktuellen Bestseller „Blue Skies“ denken, in dem auch eine vom Klimawandel geprägte Zukunftsdystopie als Setting dient. Doch anders als bei Boyle ist in der „Vorweiner“ wenig realistisch und überzeichnet unsere Gegenwart aufs Extremste, sodass alles sehr futuristisch und bizarr wirkt. Dazu haben mich die Charaktere fast schon abgestoßen, da sie kaum wie richtige Menschen, sondern eher humanoid wirken und kein Identifikationspotenzial für mich hatten. Ihre Gedanken und Handlungsweisen haben mich sehr irritiert und einige Passagen im Roman waren richtig ekelhaft wie eine „Sexszene“ mit Ananasringen oder die Schlachtung eines Schweines, das sein Leben leider (und dass sage ich als Vegetarierin!) nicht zur Herstellung von Wurst lassen musste.
Sollte Bov Berg solch eine befremdliche Gesellschaftsform und Zukunftsdystopie entworfen haben, um uns eindringlich vor den Konsequenzen unseres gegenwärtigen Handelns im sozialen, politischen und ökologischen Kontext zu warnen und uns davor abzuschrecken, ist ihm das auf alle Fälle gelungen.
Stilistisch ist „Der Vorweiner“ wie gesagt ebenfalls gewöhnungsbedürftig. Es dominieren kurze Hauptsätze und der Autor verwendet zahlreiche Neologismen und Alliterationen, die seiner Sprache zwar einen gewissen Rhythmus verleihen, aber auf die Dauer einfach zu viel sind. Der Roman erinnert dabei stellenweise an konstruieret Werbetexte, die den ausufernden Dienstleistungscharakter der dargestellten Gesellschaft wiederspiegeln, da selbst das literarische Schreiben zum reinen, anbiedernden Broterwerb verkommt. Für mich war das zuletzt äußerst anstrengend zu lesen, da der Text dadurch sehr verkünstelt wirkt. Die Neologismen haben mich noch mehr vom Text entfremdet, sodass ich mich trotz aller Bemühungen, mich auf das Buch einzulassen, keinen rechten Zugang gefunden haben. Mir ist unklar geblieben, was der Autor letzten Endes eigentlich aussagen will. Kennzeichnend schien mir zu sein, dass in Bergs Zukunftsdystopie keine Empathie mehr mit Menschen und Umwelt zu herrschen scheint und er uns vor so einer Zukunft warnen will und „Der Vorweiner“ sicher eine Persiflage auf Klimakrise, Migrationspolitik und Dienstleistungsgesellschaft sein soll. Doch der Autor hat einen so befremdliche Art der Darstellung genutzt, dass ich lieber andere Romane empfehlen würde, um über diese Themen literarisch zu reflektieren.

Bewertung vom 04.08.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


sehr gut

Stille Wasser sind tief
Wie in Alena Schröders erstem Roman geht es auch in ihrem zweiten Werk „Bei euch ist es immer so unheimlich still“ um generationenübergreifende Familiengeheimnisse, unausgesprochene Konflikte und die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern.
Die Romanhandlung spielt auf zwei Zeitebenen. Zum einen ist da Silvia Borowski, die vor einigen Jahren ihre spießige schwäbische Heimat verlassen und einen alternativen Lebensstil gepflegt hat. Nun kehrt sie 1989 überraschend mit ihrer neugeborenen Tochter Hannah nach Hause zurück, da sie nicht recht weiß, wie es für sie weitergehen soll und Unterstützung bei ihrer Mutter Evelyn zu finden hofft. Doch unausgesprochene Konflikte erschweren die Beziehung zwischen den beiden und Silvia versucht hinter die Geheimnisse zu kommen, die schon lange das Familienleben belasten.
Die andere Zeitebene spielt in den 50er-70er Jahren und beleuchtet die Vergangenheit der Familie Borowski. Evelyn könnte als junge Ehefrau und Mutter glücklich sein, doch sie sehnt sich danach, sich als Ärztin zu verwirklichen und nicht nur als Hausfrau am Herd zu stehen. Ihre Schwägerin Betti führt dagegen ein eher unangepasstes Leben, kümmert sich wenig um das Gerede anderer Leute und ist für Silvia eine größere Vertrauensperson als ihre Mutter. Somit ist Konfliktpotenzial innerhalb der Familie vorhanden und wie beide Handlungsstränge am Ende ineinandergreifen erzählt Alena Schröder auf emotionale, teils erschütternde Weise.
Beim Lesen hat mich der Roman oft bedrückt und traurig gestimmt, da alle Charaktere irgendwie unzufrieden sind und mit ihrem Leben hadern. Es herrscht vor allem in der ersten Hälfte eine melancholische, fast schon hoffnungslose Stimmung und einzig Silvia scheint trotz ihrer nicht ganz einfachen Lebenssituation die Welt etwas positiver zu sehen. Vor allem ihre kleine Tochter Hannah ist ein Lichtblick, der Glück in Silvias aber auch Evelyns Leben bringt. Obwohl der Roman sehr emotional ist, ist Alena Schröders Schreibstil dennoch nicht kitschig-sentimental. Sie schreibt flüssig und verfasst die Gedankengänge der Charaktere in einem authentischen Ton. Wörtliche Rede gibt es passend zur Thematik des Romans eher wenig. Die LeserInnen lernen die Figuren vor allem durch die Innenperspektive kennen, wenn diese in Gedanken versunken ihre Probleme reflektieren. Gerade weil man dadurch so nah an den Charakteren ist, schafft es die Autorin, die LeserInnen emotional mitzunehmen.
Allerdings fand ich manchmal das Verhalten oder die Reaktionen der Charaktere unlogisch. Zum Beispiel wurde mir Silvia zu schnell wieder in ihrem Heimatdorf Ildingen willkommen geheißen, von der Mutter ins Haus aufgenommen und von den alten Schulfreunden und Bekannten eingeladen. Nachdem Silvia jahrelang verschwunden war, hätte ich da mehr Skepsis oder Nachfragen erwartet. Ebenso fragwürdig ist in der zweiten Hälfte des Romans das Auftauchen des Charakters Georg. Er spielt zwar bei der Zuspitzung der Konflikte eine entscheidende Rolle, aber die Art, wie er eingeführt wird, dabei alle anderen Personen so rasch um den Finger wickelt und wie Silvia und Georg am Ende wieder zufällig aufeinandertreffen, war für mich doch etwas unglaubwürdig.
Außerdem wurde das kleinbürgerliche Leben in Ildingen sehr stereotyp dargestellt. Dies wurde zu oft mit typischen Klischees betont, sodass diese am Ende redundant wirkten. Auch mit weniger Beschreibungen der engen, spießigen Atmosphäre der schwäbischen Kleinstadt, hätte die Autorin die Stimmung des Ortes einfangen können ohne ständig ähnliche Stereotype zu wiederholen.
Nichtsdestotrotz hat mir alles in allem der Roman gut gefallen. Vor allem nach etwa er Hälfte der Lektüre wurde es durch überraschende Wendungen richtig spannend und man wollte hinter die Familiengeheimnisse kommen. Alena Schröder verknüpft in ihrer Geschichte dabei zahlreiche Themen wie z.B. Selbstverwirklichung und -ermächtigung von Frauen, Homosexualität, Flucht aus dem bürgerlichen Leben, Emanzipation von den Erwartungen anderer Leute oder Mutterschaft. Treibend bei all diesen konfliktträchtigen Themen ist die Diskrepanz zwischen der scheinbar perfekten Fassade und den im Stillen dahinter verborgenen Wahrheiten, die manchmal wahre Abgründe sind. Dass solche Geheimnisse aber ausgesprochen werden sollten, da sie sonst ganze Leben und Beziehungen zerstören können, zeigt die Familiengeschichte der Borowskis hier in eindringlicher Weise.

Bewertung vom 16.07.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


ausgezeichnet

„Sylter Welle“, der erste Roman des Autors, Musiker und Podcasters Max Richard Leßmann, ist eine autobiografisch inspirierte Familiengeschichte mit sowohl liebevollen, als auch schmerzhaften Erinnerungen. Wie die Wellen der Nordsee bewegt sich das Leben zwischen Aufs und Abs: manchmal schwimmt man obenauf, manchmal reißt einen die Strömung mit. Diese Erfahrungen machen auch der Autor und seine Familie und trotz aller Verluste und Widrigkeiten steht Oma Lore als Matriarchin wie ein Fels in der Brandung und trotzt jedem Sturm.
Erzählt wird all dies von Max Richard Leßmann in einem lockeren, ironischen und lakonischen Stil, der erkennen lässt, dass er als Podcaster und Instagramer aktiv ist. Wie im Plauderton mit einem alten Freund berichtet er unterhaltsame Episoden aus der Familienhistorie sowie vom gegenwärtigen Urlaub mit Oma Lore und Opa Ludwig auf Sylt. Dadurch hat der Roman keine stringente Handlung, sondern reiht eher assoziativ verschiedene Szenen aneinander, sodass der Erzählfluss auch der titelgebenden Wellenbewegung entspricht.
Die Erzählzeit erstreckt sich über drei Tage, die der Enkel mit seinen Großeltern auf Sylt verbringt. Allerdings wird dort kein „Schicki-Micki“-Urlaub gemacht: der Enkel muss, um Geld zu sparen, auf dem Boden des Hotelzimmers schlafen und Kaffee und Kuchen wird nur „To Go“ am Strand auf den Knien verspeist. Solche Widersprüche ziehen sich durch den gesamten Roman. Schon nach den ersten Seiten wird trotz des lustigen Erzähltons deutlich, dass es bei Weitem nicht nur heitere Momente im Familienleben gab und gibt, sondern dass auch manche Schicksalsschläge verkraftet werden mussten. Welche das sind, wird im Laufe des Buches teils sehr überraschend enthüllt, wodurch immer deutlicher wird, dass das Leben helle und dunkle Seiten hat und es wie in Wellen auf und ab geht.
Weitere Beispiele, die diese Widersprüchlichkeiten des Lebens im Roman widerspiegeln, sind das universell von Opa Ludwig gebrauchte Schimpf- und Kosewort „Lerge“ aus dem Niederschlesischen, das sowohl abwertend als auch liebevoll gemeint sein kann. Oma Lores selbstangebaute Kartoffeln ernähren die ganze Familie und sind Leibspeise des Opas, haben aber unappetitliche schwarze Augen, die ungenießbar sind. Wohl am besten symbolisieren für mich Oma Lores saure Apfelringe, zu denen Erzähler Max eine Hassliebe hegt, das paradoxe Leben. Obwohl er sie nicht wirklich mag, gehören sie doch untrennbar zum Urlaub mit den Großeltern für ihn dazu und besonders mag er die saure Süßigkeit, wenn sie in der geöffneten Tüte steinhart geworden ist. Dieses passt wiederum genau zur Charakterisierung von Oma Lore selbst, die von außen hart und rau wie die Nordsee wirkt, aber im Inneren unter ihrer „Teflonschicht“ ein weicheres Herz verbirgt. Zwar kann sie ihre Emotionen selten offen zeigen, aber seit Jahren kümmert sie sich unerschütterlich um das Familienwohl und zeigt so indirekt ihre Zuneigung. So deckt sie Enkel Max nachts auf dem Hotelzimmerfußboden noch liebevoll mit einem zusätzlichen Handtuch zu - allerdings mit einem rauem Froteehandtuch. Trotzdem weiß der Enkel die Geste seiner Oma zu schätzen.
Am Ende des Urlaubs überwiegt für den Erzähler immer mehr das Nachdenken über Abschied und Vergänglichkeit. Er schärft das Bewusstsein dafür, dass alles sein Ende hat, aber dennoch wird es nicht allzu melancholisch. Dass man an den Widersprüchen des Lebens und den Schicksalsschlägen nicht verzweifeln muss, beweist schließlich Oma Lore, die sich stets wie ein Fels in der Brandung allen Herausforderungen entgegengestellt hat und nicht untergegangen ist.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, vor allem aufgrund des unterhaltsamen Erzählstils und der versteckten Symbolik. So hat das Buch eine zusätzliche Tiefe bekommen, die ich so im ersten Moment von dem Autor nicht erwartet hätte. Er trifft für mich das richtige Mittelmaß zwischen Unterhaltung und Reflexion und hat „Sylter Welle“ so zu einer kurzweiligen, aber dennoch zum Nachdenken anregenden Sommerlektüre gemacht.

Bewertung vom 25.04.2023
Unsichtbar
Moreno, Eloy

Unsichtbar


ausgezeichnet

„Unsichtbar“ ist ein unglaublich bewegender Roman zum Thema Mobbing, der jugendliche und auch ältere Leser eindringlich darauf aufmerksam macht, die Augen nicht vor diesem Problem zu verschließen, sondern ein geschärftes Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie man helfend einschreiten kann und sollte. Anhand der Leidensgeschichte des namenlosen Protagonisten in diesem Buch erfährt man als Leser unmittelbar, was es für Konsequenzen für die Mobbingopfer haben kann, wenn solche Unterstützung fehlt, was mich bei der Lektüre sehr mitgenommen hat. Aufgrund der Wichtigkeit und Aktualität des Themas Mobbing halte ich „Unsichtbar“ für eine wichtige Lektüre, die auch in Schulen gelesen werden sollte.
Wie gesagt, ist der Protagonist dieses Romans namenslos, wodurch seine Geschichte leicht übertragbar auf andere Personen ist. Er ist ein relativ normaler Teenager, interessiert sich zwar sehr für Mathe und ist eher ein „Nerd“ als der coolste Typ der Schule, aber trotz allem hat er gute Freunde, kommt mit seinen Mitschülern gut zurecht und lebt in einer Durchschnittsfamilie mit Vater, Mutter und kleiner Schwester. Doch eines Tages lässt er einen Mitschüler nicht bei einem Mathetest abgucken, woraufhin das Drama seinen Anfang nimmt. Aus Rache wird der Protagonist fortan von dem vermeintlich „starken“ Mitschüler und seinen Freunden gemobbt. Die Demütigungen werden immer schlimmer und offensichtlicher, doch anstatt zu helfen, verschließen die besten Freunde des Mobbingopfers, Lehrer, Mitschüler und Familie die Augen vor der Wahrheit und schreiten aus verschiedenen Gründen nicht ein: sei es Selbstschutz aus Angst, selbst Opfer zu werden, sei es Mitläufertum oder sei es einfach Ignoranz. Um mit seinem Leid fertig zu werden und zu verstehen, warum er so allein gelassen wird, flüchtet sich der Protagonist in eine fiktive Welt, in der zum Superhelden wird und in seinen „Superkräften“ eine Erklärung für seine schreckliche Lage findet. So wird er zum Helden, der eigentlich keiner sein wollte…
Während der Protagonist namenslos bleibt, sind alle anderen Charaktere namentlich bekannt und multiperspektivisch wird von verschiedenen Positionen aus über die Mobbingsituation berichtet. Dabei erzählt aber nur das Opfer selbst aus der ersten Person, alle anderen Figuren lässt der Autor in der dritten Person auftreten. So ist man als Leser besonders nah am Opfer und nimmt unmittelbar an seinem Leid teil. Es ist erschreckend, wie leicht jemand in diese Rolle fallen kann und welche Dynamik die Demütigungen entwickeln. Der Autor schildert alles sehr plausibel und bringt den Lesern durch kurze, emotionale Sätze die Erfahrungen der Charaktere äußerst nah. Mich hat der Roman bestürzt, weil er so authentisch ist und auch, weil er alle Seiten – Opfer, Täter, Mitläufer – zu Wort kommen lässt, wodurch ich mich permanent fragen musste, ob ich eingeschritten wäre oder mich auch von der Gruppendynamik hätte mitreißen lassen. Man entwickelt Verständnis für alle involvierten Charaktere, versteht ihre Beweggründe, aber dennoch leidet man mit dem Protagonisten mit. Aufgrund dieser reflektierten, multiperspektivischen Herangehensweise des Autors sollte das Roman in Schulen diskutiert werden, da das Thema Mobbing nicht unter den Tisch gekehrt werden darf, wie durch die Lektüre allzu deutlich wird!
Ob es am Ende des Buches noch einen echten Held oder eine echte Heldin gibt, der oder die dem Mobbing ein Ende setzt, will ich hier nicht verraten. Der namenlose Superheld der Geschichte wäre sicher lieber keiner geworden und hätte sein normales Teenagerleben weitergelebt. „Unsichtbar“ ist jedenfalls ein Appell an jeden von uns, zum Helden zu werden, wenn es die Situation erfordert, indem man Mobbing und anderen Schikanen ein Ende setzt. Und dafür braucht es nicht einmal übernatürliche Kräfte, sondern nur ein bisschen (Helden-)Mut!

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