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Irisblatt

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Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 03.03.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


sehr gut

Kasachstan ist auch in Mühlheide
Während des zweiten Weltkriegs wird die Familie Ambacher - wie so viele deutschstämmige Familien - von der Roten Armee aus Galizien (Ukraine) nach Sibirien verschleppt. Schon der Weg dorthin ist gefährlich, Kälte und Hunger sind groß, nicht alle überleben. Wir lernen die endlose Weite der kasachischen Steppe, das Leben der Zivilgefangenen unter sowjetischer Aufsicht aus der Sicht des 10-jährigen Josef Ambacher kennen. Es geht ums Überleben; die deutsche Sprache darf nicht gesprochen werden, Misstrauen herrscht unter den aus unterschiedlichen Teilen der Sowjetunion Verschleppten. Die Sorge, selbst bei kleineren „Vergehen“ in den nahe gelegenen Gulag abtransportiert zu werden, ist allgegenwärtig. Josef sammelt russische, kasachische und deutsche Wörter, findet einen guten Freund unter den etwas abseits lebenden Kasachen und erhält Einblicke in eine fremde Kultur.
Janesch erzählt in ruhigem Ton, fängt durch ausdrucksstarke Szenen, die oft durch Kleinigkeiten berühren, die Atmosphäre dieses Orts im Nirgendwo ein und gewährt Einblicke in das dortige Leben.
Etwa zehn Jahre später dürfen die Ambachers und andere Zivilgefangenen nach Deutschland ausreisen. Sie gelten als „Rückkehrer“, ein absurder Begriff angesichts der Tatsache, dass viele der Verschleppten bereits viele Generationen zuvor Deutschland verlassen haben.
In Mühlheide am südlichen Rand der Lüneburger Heide entsteht in den 1950er Jahren eine Siedlung von „Sibiriendeutschen“, in den 1990ern kommen weitere, einst nach Sibirien verschleppte Familien nach Mühlheide, zunächst argwöhnisch beäugt von den Alteingesessenen.
Janesch erzählt zwei Zeitebenen parallel. Im Zentrum stehen Josef mit seinen Erlebnissen als Kind in Kasachstan und seine Tochter Leila als Kind in Mühlheide etwa fünfzig Jahre später. Die Zeitwechsel sind fließend, kündigen sich durch kleine Verbindungen, Ähnlichkeiten oder Assoziationen an. Da ist z.B. die Erinnerung an ein Unwetter oder an einen Gegenstand, durch die der Text äußerst geschmeidig in die andere Zeit gleitet. Diese Übergänge haben mir ausgesprochen gut gefallen.
Obwohl Leila ganz anders aufwächst, lassen sich Gemeinsamkeiten zur Kindheit ihres Vaters feststellen - dazu gehören Ausgrenzungserfahrungen, Fremdheitsgefühle, die Suche nach Heimat und Identität, aber auch die Themen Schuld, Mitschuld und Vergebung, die beide in unterschiedlichen Situationen beschäftigen. Eine weitere Parallele liegt in einer wunderbaren Freundschaft, die sowohl Josef als auch Leila erleben.
Sibir hat mich inhaltlich bereichert. Mir war überhaupt nicht klar, dass es sogenannte Zivilgefangene gab, die später wieder „zurück“ nach Deutschland geholt wurden. Auch die Verknüpfungen der beiden Kindheiten hat mir gut gefallen. Lediglich Leilas Teil hätte ich mir an einigen Stellen etwas straffer gewünscht. Sehr deutlich zeigen sich im Mühlheider Teil die Traumatisierungen des erwachsenen Josef in bestimmten Situationen. Auch Leila muss mit dem manchmal merkwürdigen Verhalten ihres Vaters und diesem Erbe umgehen. Wie bei allen Verschleppten sind die kasachische Erfahrung und dadurch entstandene Ängste ein Teil der Identität, die nicht einfach abgestreift werden kann.
Doch nun schwindet Josefs Erinnerung - er ist an Demenz erkrankt. Ein dritter Zeitsprung bildet die gelungene Rahmenhandlung des Romans. Gleich zu Beginn von „Sibir“ besucht die erwachsene Leila ihren Vater, versucht seine Geschichte, die Geschichte ihrer Familie zu erinnern und aufzuschreiben. Am Ende des Romans bleibt nur noch eine wichtige Sache zu erledigen. Der Schluss ist perfekt und hat mich stark berührt.

Bewertung vom 19.02.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Trifft ins Herz
Eine dreiköpfige Familie zieht kurz vor Weihnachten auf eine einsame Insel. Für die Eltern scheint es eine Flucht aus ihrem bisherigen Leben zu sein, für den 10-jährigen, sensiblen Hans ein Abenteuer und die Chance, endlich die ihn ärgernden Nachbarskinder hinter sich zu lassen. Hans streift durch die Insel, beobachtet genau, lernt sie immer besser kennen und lieben. Sogar sein Herzenswunsch nach einem eigenen Hund erfüllt sich als plötzlich ein herrenloser Mudi auf der Insel auftaucht und die beiden unzertrennlich werden. Nur seinen besten Freund Kalle vermisst Hans. Doch sein Leben als „Inselkönig“ nimmt ein Ende als Hans zurück zur Schule muss und schließlich in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche eingewiesen wird. Bei allen Grausamkeiten und Widrigkeiten, denen er im Leben ausgesetzt ist, trägt er die Insel, seinen Freund Kalle und seinen Hund Bull im Herzen und schöpft daraus Kraft.
Vieles in diesem nur etwa 170 Seiten umfassenden Buch bleibt vage und wir erfahren kaum etwas über die Lebensumstände der Familie und ihre Beweggründe auf die Insel zu ziehen. Zeitlich setzt die Geschichte wohl in den 1960er Jahren ein, der Handlungsort scheint in der DDR zu liegen.
Das außergewöhnliche an diesem Text ist die poetische, verdichtete, bildhafte Sprache, durch die eine intensive Atmosphäre und Raum für eigene Gedanke geschaffen wird. Es ist eine stille Geschichte voller Melancholie, wunderschönen Naturbeobachtungen, wenigen glücklichen und vielen bitteren und traurigen Momenten. Dabei sind wir nah bei Hans, der mit Situationen zurechtkommen muss, ohne verstehen zu können, warum ihm das alles widerfährt. Hans, der in einem sprachlosen, kommunikationsgestörten Elternhaus aufwächst, wird nie lernen unter seinesgleichen zu leben. Dafür findet er einen Zugang zur Insel, zur Natur, die von intensiver Schönheit ist und ihn glücklich macht. Beim Lesen schwankte ich zwischen Mitleid für Hans und einer Bewunderung für seine Stärke, seine Resilienz, seine Empathiefähigkeit allen Umständen zum Trotz.
Doch was ist „Der Inselmann“ eigentlich? Handelt es sich um eine hochpoetische, verdichtete, „traurig-schöne“ oder „schön-traurige“ Erzählung, ein im Realen verankertes Märchen oder ein zeitloses gesellschaftskritisches Stück, das Individualität, Einzelgänger- bzw. Außenseitertum verhandelt und kollektive Maßnahmen zur Umerziehung anprangert? Sicherlich finden sich alle diese Lesarten im Text.
Sprache und Aufbau sind gelungen. Ich habe mich sehr gerne auf die sprachlichen Bilder eingelassen, war immer wieder tief berührt und getroffen von der Wucht und Schönheit der Worte. Auf emotionaler Ebene hat mich das Buch ins Herz getroffen, durchgeschüttelt, traurig und wütend, aber auch angerührt und zufrieden gemacht. Sogar glückliche Momente gab es im überwiegend bedrückenden Setting. Geschichte, Erzählweise, Atmosphäre und Emotionalität sind so außergewöhnlich, dass ich den "Inselmann" wohl nicht vergessen werde. Für mich ist das Romandebüt von Dirk Gieselmann eine kleine, hochpoetische, literarische Kostbarkeit.
Ich empfehle aufgrund des Schreibstils allerdings vor der Lektüre die Leseprobe.

Bewertung vom 18.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


sehr gut

„Blutige Hände wäscht man in kaltem Wasser, nicht mit frischem Blut“ (S. 264)
Der als Komponist und Gitarrist bekannte Autor Marc Sinan thematisiert in seinem Debütroman „Gleißendes Licht“ den Völkermord an den Armeniern und die Auswirkungen, die die fehlende Aufarbeitung und Entschuldigung seitens der türkischen Regierung bis heute hat.
Kaan wächst in einem Vorort in München auf. Er ist (ebenso wie der Autor) der musikalisch talentierte Sohn eines deutschen Vaters und einer türkischen Mutter mit armenischen Wurzeln mütterlicherseits.
Regelmäßig besucht er seine Großeltern am Schwarzen Meer, die unter Atatürk zunächst zu Wohlstand kamen und schließlich das meiste wieder verloren.
Die Geschichte wird in zahlreichen Zeitsprüngen erzählt. In einem äußerst beklemmenden, an Grauen kaum zu überbietenden, hervorragend geschriebenen ersten Kapitel treffen wir im Jahr 1915 auf den 15-jährigen Großvater Kaans als dieser von Soldaten für einen Spezialauftrag angeworben wird. Es folgen Episoden aus Kaans Zeit als Kind, Jugendlichen und Erwachsenen, mehrmals unterbrochen von Rückblicken, in denen das Leben seiner Großeltern geschildert wird.
Was so eindringlich begann, entpuppte sich für mich bald zu einem sperrigen, zwiegespaltenen Lesevergnügen, das zum einen der sprunghaften Erzählweise, zum anderen dem zwar talentierten, aber zugleich nervigen, äußerst egozentrischen, in Selbstmitleid suhlenden, suizidgefährdeten, seiner Freundin gegenüber übergriffigen Protagonisten Kaan geschuldet war. Doch Stück für Stück zeigte sich, dass Kaan unter einem noch unerkannten Trauma leidet, das seinen Ursprung in der erschütternden Lebensgeschichte seiner Großmutter Vahide hat, die als armenische Waise dem Völkermord nur knapp entging. Aufgenommen von einer muslimischen Familie bekam sie einen neuen Namen und wurde fortan als gläubige Muslima erzogen. Ihr späterer Ehemann, Kaans Großvater, konnte durch die Vertreibung armenischer Familien günstig Land erwerben und dadurch erfolgreich Haselnüsse anbauen und vermarkten.
Interessant und schwierig wird der Text durch surreale Szenen, Gedankenspiele, Traumsequenzen, Rache- und Gewaltphantasien, die sich gegen die repressive Politik in der Türkei und seinen nie namentlich erwähnten Präsidenten richten.
Zentral für den Roman ist außerdem der barbarische Tepegöz-Mythos, der für Kaans Großvater Antworten auf alle Fragen des Lebens bereithält. Hier lassen sich im Sieg der Gläubigen (Muslime) gegen die Ungläubigen (u.a. christliche Armenier) Verbindungen zum Völkermord, aber auch zur gegenwärtigen Situation in der Türkei ziehen. Eine kritische Sichtweise auf den Mythos wird Kaan von seiner Großmutter aufgezeigt, die ihn beschwört diesen anders zu sehen: „Es ist eine Geschichte über nichtsnutzige Männer, über Strafe und Rache und Hass und einen gottlosen Gott. (…) Sie feiern den Sieg der Gläubigen gegen die Ungläubigen. Die Geschichte von Tepegöz zeigt dir, warum der Schmerz in diesem Land kein Ende nimmt“ (S. 184 + 186).
Sie fleht Kaan an, Rache für sie zu üben, dafür aber eine andere Form als die der Gewalt zu finden.
„Singe Lieder, erzähle Geschichten, erfinde Rituale, wüte, räche, quäle, zerstöre, verletze, töte in diesen Geschichten, lass ab und vergib in der Wirklichkeit. Und dann: Verbrenne deine Angst. Deine Seele braucht Heilung. Sie liegt nicht in der Tat. Vertraue mir: Nur das Licht ist ein guter Ort“ (S. 195).
Im Text ist die Verzweiflung des Protagonisten spürbar, erlittenes Unrecht sichtbar zu machen, einen gangbaren Weg zu finden, seine Großmutter und all die Ermordeten und Vertriebenen zu rächen und sich und seine Tochter vom Trauma zu erlösen. Doch geht es ohne Gewalt, wenn Täter schlicht leugnen, dass ein Verbrechen überhaupt stattgefunden hat?
Letztendlich ist der Text getragen von der Hoffnung, dass in der Türkei der Stolz, sich Türke zu nennen irgendwann einmal ersetzt werden möge durch den Stolz, sich einen Menschen zu nennen (vgl. S. 264).
Gleißendes Licht ist ein äußerst vielschichtiger Roman, der aufgrund der surrealen Versatzstücke, den lyrischen Einschüben und Songtexten, den mythologischen, historischen und politischen Bezügen sowie den zahlreichen Zeitsprüngen keinen leichten Zugang bietet. Konzentriertes, genaues Lesen ist ebenso erforderlich wie ein Einlassen auf die eigenwillige Textkomposition, die sprachlich und thematisch auf sehr unterschiedliche Art und Weise berührt. Insgesamt ist Marc Sinan ein außergewöhnlicher, streckenweise sehr bewegender Debütroman zu einem wichtigen Thema gelungen, der durch die explizite Darstellung einiger gewalttätiger Szenen nichts für zartbesaitete ist.

Bewertung vom 14.01.2023
Knochensuppe (Band 1)
Kim, Youngtak

Knochensuppe (Band 1)


sehr gut

Mysteriös, faszinierend und rätselhaft
Wir befinden uns im Jahr 2064. Der im Waisenhaus aufgewachsene Lee Uhwan ist Mitte 40 und arbeitet, seit er denken kann, in einer kleinen, stinkenden Garküche als Gehilfe. Diese befindet sich in der Küstenstadt Buhsan im unteren Viertel, dort - wo bereits zweimal ein Tsunami alles verwüstete und nur die Ärmsten ihre Häuser und Geschäfte wieder aufbauten.
Traditionelle Nutztiere sind längst Geschichte, der Fleischbedarf wird durch „das Ding“ gedeckt, eine seltsame Mischung unterschiedlicher Tiere mit Rindergeschmack. Lee Uhwans Chef gerät ins Schwärmen, wenn er von der Knochensuppe erzählt, die er vor vielen Jahrzehnten kosten durfte. Er sehnt sich nach deren Geschmack und würde eine solche Suppe gerne in seinem Laden anbieten. Doch sämtliche Versuche des Kochs scheitern, so dass schließlich Lee Uhwan auf eine gefährliche Zeitreise ins Jahr 2019 geschickt wird. Er soll dort die Zubereitung dieser köstlichen Suppe erlernen und mit dem Rezept zurückkehren.
Fasziniert habe ich diese mysteriöse, sehr abgedrehte, immer wieder überraschende Geschichte gelesen, in der es mehrere Handlungsstränge und wechselnde Erzählperspektiven gibt. Es ist nicht immer leicht der Geschichte zu folgen, weil Kim Young-Tak in sehr kurzen Kapiteln neue Personen auftauchen lässt, Fährten legt und allerlei merkwürdige Ereignisse unaufgeregt, aber trotzdem sehr anschaulich und einprägsam erzählt. Da taucht plötzlich ein unbekannter Toter mit einem Mikrochip im Kopf und einer unerklärlichen Verletzung auf, diverse Gangsterbanden und Jugendcliquen sind unterwegs. Es kommt zu mysteriösen Unfällen und Löchern in Häusern; auch Organhandel scheint eine Rolle zu spielen. Außerdem trifft Lee Uhwan auf Menschen, die in ihm eine Achterbahn der Gefühle auslösen.
Der südkoreanische Autor Kim Young-Tak hat ein spannendes Setting für seine Geschichte gefunden, die ich mir gut verfilmt vorstellen kann. Dass er als Filmregisseur und Drehbuchautor arbeitet, merkt man an den zahlreichen kurzen, prägnanten Szenenwechseln, bei denen ich oftmals das Gefühl hatte, einer Kamerafahrt zu folgen. Sprachlich war die Geschichte, die eine schräge Mischung aus Science-Fiction-, Krimi- und Mystery-Elementen mit einigen dezent gruseligen Szenen ist, für mich durchwachsen. Es gibt schön formulierte, philosphische Gedanken, authentisch wirkende Dialoge, aber immer wieder auch sehr einfache Sätze, in denen mich vor allem die Nomenwiederholungen gestört haben. Trotzdem konnte mich dieser ungewöhnliche erste Teil, der mit perfekt gesetzten Cliffhangern endet, fesseln und gut unterhalten. Ich freue mich auf den zweiten Band von Knochensuppe, der im Mai 2023 erscheinen wird und hoffentlich Licht in den einen oder anderen Zusammenhang bringen wird. Übersetzt wurde Knochensuppe aus dem Koreanischen von Manfred Selzer.

Bewertung vom 31.12.2022
Fern vom Licht des Himmels
Thompson, Tade

Fern vom Licht des Himmels


sehr gut

Rasanter Weltraum-Sci-Fi-Krimi
„Fern vom Licht des Himmels“ heißt der neueste Roman des Schriftstellers Tade Thompson, der in London geboren, in Nigeria aufgewachsen und zum Studium nach Großbritannien zurückgekehrt ist. Ich habe ihn durch die bereits erschienen ersten zwei Bände der Wormwood-Trilogie „Rosewater“ in diesem Jahr kennen und schätzen gelernt.

Michelle „Shell“ Campion, Tochter eines berühmten Astronauten, der seit seiner letzten Mission im Weltraum als verschollenen gilt, erhält unmittelbar nach Abschluss ihrer Ausbildung den ersten großen Auftrag. Sie soll Siedler von der Erde zur Weltraumkolonie Bloodroot bringen. Das dafür vorgesehene Raumschiff „Ragtime“ wird von einer künstlichen Intelligenz gesteuert, so dass Shells Position eher symbolischer Natur ist. Sie muss keinerlei Aufgaben bewältigen, sondern lediglich an Bord sein, weil die Gesetzte die Anwesenheit eines menschlichen Captain vorschreiben. 10 Jahre lang soll die Reise dauern, die sie und die Passagiere schlafend in Kapseln verbringen werden.

Als Shell planmäßig aus ihrem Kryoschlaf erwacht, stellt sie fest, dass 31 Passagiere aus ihren Kapseln verschwunden sind, die KI alles andere als zurechnungsfähig ist und ein Wolf durch das Schiff streift. Ein abgesendeter Notruf lässt zunächst den Ermittler Rasheed Fin und seinen Partner Salvo, einen Androiden, herbeieilen. Kurze Zeit später erreichen noch der Gouverneur der nahe gelegenen Lagos-Raumstation und seine Tochter die Ragtime.

Gemeinsam versuchen sie zu ergründen, was geschehen ist und wer dahintersteckt. Als immer mehr Systeme ausfallen, sich unvorhergesehene Zwischenfälle häufen, ist nicht nur das Leben der Ermittler, des Gouverneurs und seiner Tochter, sondern auch das von Shell und den andern Passagieren in Gefahr.

Fern vom Licht des Himmels entwickelt von Anfang an einen großen Lesesog. Der Roman steckt voller schräger, verrückter Einfälle und unvorhergesehener Wendungen, denen ich gerne gefolgt bin. Auch die Figurenzeichnung, die sehr unterschiedlichen Charaktere, mochte ich gerne. Ab der Mitte klären sich viele Fragen dadurch, dass geschichtliche Hintergründe und die Täterperspektive einfließen. Hier geht das für Thompson so typische sprunghafte, rasante Erzähltempo zuweilen auf Kosten der Ausführlichkeit und Tiefe. Dass so viele Themen nur kurz angesprochen wurden, fand ich persönlich schade.

Dennoch ist Fern vom Licht des Himmels ein unterhaltsamer, spannender, actiongeladener, einfallsreicher Weltraumkrimi mit Pageturnerqualität und Tade Thompson ein Autor mit ganz eigenem Stil, auf dessen weitere Werke ich mich freue.

Bewertung vom 11.12.2022
Bohnen, Linsen und Co
Melchior, Marie;Hastoft, Betina

Bohnen, Linsen und Co


ausgezeichnet

Einfach, raffiniert, alltagstauglich
Ich war sehr neugierig auf das Buch, da ich Hülsenfrüchte in unterschiedlichen Varianten sehr gerne esse.
Es gibt Rezepte, die jeweils sechs unterschiedlichen Hülsenfrucht-Kategorien zugeordnet sind: Kichererbsen, Linsen, Bohnen, Frische Erbsen, Frische Bohnen und Kakaobohnen. Gerade die letzte Kategorie war für mich überraschend, hätte ich Kakaobohnen zunächst gar nicht in einem Kochbuch über Hülsenfrüchte vermutet. Neben überwiegend vegetarischen Rezepten gibt es auch Gerichte mit Fleisch und Fisch.
Das Buch beinhaltet sowohl klassische Rezepte wie Hummus, Falafel, Minestrone, Erbsenrisotto, Dal und Linsensuppe als auch ungewöhnliche Kreationen wie „Bohnen-Pommes“, Tomatensuppe mit Kichererbsen, Zitronenkuchen mit Bohnen, Carpaccio von Roter Bete mit Kakao-Balsamico, Bohnenquiche, Pesto aus dicken Bohnen, Reispapierrollen mit Linsen, Banananmuffins mit Linsen, Spicy Karibikfisch mit Kakaonibs und Lammkeule mit „Schokoladensauce“.
Gerade die Rezepte mit Kakaonibs haben mir ausgesprochen gut gefallen. Schnell ist ein Kakao-Balsamico selbst angesetzt, der einige Stunden bis mehrer Tage ziehen muss, bis er sein volles Aroma entfaltet. Eine Offenbarung war auch die Soße mit Kakaonibs aus dem Rezept „Spicy Karibikfisch“, die ich ohne Fisch, dafür mit Tofu und Gemüse, zubereitet habe. Einige Rezepte beinhalten die sehr aromatischen Salzzitronen, die ich bisher nur wenige Male gegessen habe, die ich persönlich aber äußerst lecker finde. Wer keine teuren Salzzitronen in der Delikatess-Abteilung kaufen möchte, erfährt im Kochbuch, wie man Salzzitronen selbst herstellen kann. Die grüne Linsensuppe wird kurz vor dem Servieren noch mit Currybutter aromatisiert und mit gerösteten Kürbiskernen garniert. Diese Idee ist einfach, zugleich so aromatisch, dass ich sicherlich in Zukunft auch anderen Gerichten mit etwas in Butter angeschmolzenem Currypulver den letzte Pfiff verleihen werde.
Bei aller Kreativität ist dieses Buch bodenständig in der Handhabung und dem Aufwand. Vieles lässt sich innerhalb von 30-40 Minuten auf den Tisch bringen. Der Aufbau ist übersichtlich und die schönen Fotografien machen Lust, die Gerichte nachzukochen. Schön wäre es gewesen, neben der Liste der Zutaten noch eine Zeitangabe zu haben, die die Orientierung bezüglich des Arbeitsaufwandes bzw. der Zubereitungsdauer erleichtert. Beim Zitronenkuchen hätte ich mir bezüglich des Butter-Zucker-Gusses detailliertere Arbeitsschritte gewünscht. Erst durch Recherche fand ich heraus, dass dieser Guss besser im Wasserbad angerührt wird. Außerdem hätte ich mich über den Hinweis gefreut, dass der Guss erst auf dem abgekühlten Kuchen aufgetragen werden sollte. Sei’s drum - beim nächsten Mal weiß ich das.
Dieses Kochbuch bietet eine Fülle an schmackhaften Gerichten, die bei uns nun häufiger auf dem Tisch landen werden. Es ist eine Bereicherung, über die ich mich sehr freue und ein Kochbuch, das ich allen, die Hülsenfrüchte mögen, uneingeschränkt empfehlen kann.

Bewertung vom 11.12.2022
Zweckfreie Kuchenanwendungen
Jo-Ann, Yeoh

Zweckfreie Kuchenanwendungen


ausgezeichnet

Literarischer Leckerbissen
„Zweckfreie Kuchenanwendungen“ heißt der wunderbare, warmherzige Debütroman der Autorin Yeoh Jo-Ann, der in Singapur ein großer Erfolg war.
Im Mittelpunkt steht Sukhin, ein 35-jähriger Lehrer für englische Literatur, ein verschrobener, eigenbrötlerischer Charakter, der soziale Kontakte meidet, unbeholfen im Umgang mit anderen Menschen ist und am liebsten Zeit alleine mit seinen Büchern verbringt. Regelmäßig besucht er seine Eltern, um dort beim Abstauben der zahlreichen Kartons zu helfen, die seit 30 Jahren akribisch gesammelt werden, um bei einem möglichen Umzug bereit zu stehen. Zum Leidwesen der Eltern ist Sukhin trotz seines fortgeschrittenen Alters noch nicht verheiratet, eine potentielle Ehefrau nicht in Sichtweite. Sukhins einziger Freund, ein Kollege, geht ihm mit seiner direkten und bestimmenden Art oft gehörig auf die Nerven, bringt ihn mehr als einmal an seine Grenzen und aus seinem üblichen Trott heraus.
Als die Fakultätsparty für das chinesische Neujahrsfest ansteht, erhält Sukhin die Aufgabe, die Dekoration zu besorgen. Er fährt dafür nach Chinatown und stolpert mit vollen Tüten beladen über die „Pappkarton-Wohnung“ einer obdachlosen Frau, die sich als alte Freundin entpuppt. Es ist Jinn, mit der er vor vielen Jahren zusammen war, und die ganz plötzlich aus seinem Leben verschwand.
Aufgewühlt und irritiert fragt sich Sukhin, warum Jinn auf der Straße gelandet, was in ihrem Leben geschehen ist. Er fängt an, sie zu besuchen, Kuchen für sie zu backen - vorsichtig und langsam beginnt ein zarter Annäherungsprozess.
Besonders wird der Roman durch seine sehr poetischen, zunächst rätselhaften, melancholischen Einschübe, in denen Episoden aus dem Leben von einer nicht näher bezeichneten Frau und einem Mann erzählt werden, die in unmittelbaren Zusammenhang zu Sukhins und Jinns Leben zu stehen scheinen. Die sonst eher leichtfüßig, mit einem feinen Humor durchsetzte Geschichte, wird dadurch spannend, mysteriös und zu einem literarischen Leckerbissen.
Die Autorin spricht zahlreiche Tabus bzw. Verbote an, die für die Gesellschaft in Singapur gelten. Dazu gehören Homosexualität ebenso wie Obdachlosigkeit, deren Existenz verleugnet wird, oder auch das Entsorgen von Abfall auf die Straße, was mit hohen Strafen geahndet wird. Weitere zentrale Themen sind das Konsumverhalten, die Verschwendung von Lebensmitteln und das Entsorgen von Gegenständen, die durchaus noch funktionstüchtig sind bzw. repariert werden könnten. Auch Formen des sozialen Zusammenlebens, die Bedeutung von Ehe, Familie, Freundschaft und Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen werden hinterfragt.
All das durchzieht die Geschichte wie die feinen Aromen eines gelungen Kuchens, in dem jede Zutat perfekt abgestimmt ist.
Es war eine Freude diesen Roman zu lesen, in dem viel gekocht, gebacken und gegessen wird. Ich habe großen Appetit auf ein weiteres Buch der Autorin bekommen.

Bewertung vom 07.11.2022
Hund, Wolf, Schakal
Karim Khani, Behzad

Hund, Wolf, Schakal


ausgezeichnet

Ein großartiges Debüt mit einem eigenen Sound
Jamshid, Intellektueller und überzeugter Kommunist, kämpft während der iranischen Revolution gegen das Shah-Regime für Freiheit und Demokratie. Doch der Machtwechsel bringt nicht die ersehnte Freiheit, sondern ebenfalls Unterdrückung, Folter und Tod für diejenigen, die die Entwicklung zu einem islamistischen Staat nicht mittragen wollen. Jamshids Frau wird erst eingesperrt, gefoltert und schließlich hingerichtet. Dem Familienvater bleibt nichts anderes übrig als mit seinen Söhnen Saam und Nima zu fliehen. Die drei landen in Berlin Neukölln, versuchen dort irgendwie zurechtzukommen. Jamshid arbeitet als Taxifahrer und bemerkt, wie ihm vor allem sein ältester Sohn über die Jahre hinweg immer mehr entgleitet, er „immer mehr zum Minenfeld wurde“ (S. 75). Es fehlen ihm die Kraft und die Möglichkeiten, diesem Prozess irgendetwas entgegenzusetzen.

Behzad Karim Khani schreibt über das Aufwachsen in in einer harten Welt, die ihren ganz eigenen Gesetzen folgt.

„Hier umarmten und erschlugen sie einander beiläufig. Ohne Ursache. Ohne Wirkung“ (S. 47). Saam schlittert über seine Bekanntschaft mit Heydar, einem libanesischen Schulkameraden, der ständig irgendwelche Geschäfte am Laufen hat und im Viertel bereits als Jugendlicher Respekt und Ansehen genießt, zunächst eher widerwillig auf die schiefe Bahn. Er lernt, sich körperlich durchzusetzen, beteiligt sich an kriminellen Aktionen, gibt sich nach außen hart, obwohl auch er Angst hat, in brenzligen Situationen einen Kloß im Hals verspürt, das alles eigentlich nicht will, aber in diesem Umfeld kaum anders kann.

„Ein Spiel, das einfach nur ein Spiel blieb, befand sich nicht im Rahmen des Vorstellbaren. Spaß in Kombination mit Respekt gab es nicht. Immer hatte alles mit diesen Millimetern der Machtverschiebung zu tun“ (S. 60). Auch Saams jüngerer Bruder Nima erlebt die Härte der Straße, gerät aber nicht wie Saam in eine Abwärtsspirale der Gewalttätigkeit und Kriminalität. Früh begeistert er sich für das Skateboardfahren, findet einen Freund, der seine Leidenschaft teilt und verbringt nach der Schule viel Zeit auf dem Board. Er begnügt sich mit kleineren Delikten und lernt, als er sich in eine Schulkameradin verliebt, die für ihn sehr fremde Welt eines deutschen Akademikerhaushaltes kennen. Trotzdem bleibt auch er letztendlich in der „Parallelwelt“ Neukölln stecken.

„Hund, Wolf, Schakal“ ist eines meiner Jahreshighlights. Ich liebe die Sprache des Autors. Auf fast jeder Seite musste ich kurz innehalten, weil mich die Sätze mitten ins Herz, oft auch in die Magengrube getroffen haben und ich von der feinen Beobachtungsgabe des Autors ergriffen war. Kurz und präzise findet Behzad Karim Khani ausdrucksstarke Bilder für diese harte Welt und der in ihr verlorenen Protagonisten. Seine Art zu schreiben überwindet Distanz: Ich habe mich Saam, Nima, aber auch Jamshid nah gefühlt, habe die Welt ein Stück weit durch ihre Augen gesehen. Der Autor beschönigt nichts, tastet aber nie an der Würde seiner Hauptfiguren. Bei aller Tragik und Brutalität gibt es im Roman neben zarten und schönen Szenen auch sehr witzige Passagen und Gedanken, die mich schmunzeln, manchmal auch laut auflachen ließen. Gerade letzteres passiert mir fast nie in Romanen. Auch Elemente des magischen Realismus haben Eingang in den Roman gefunden. Der Autor verwendet diese sparsam; die Wirkung ist dabei umso kraftvoller und gerade die Figurenzeichnung von Saam erreicht dadurch eine große Tiefe.

„Hund, Wolf, Schakal“ hat mich bewegt, in seiner Glaubwürdigkeit überzeugt, sprachlich und inhaltlich begeistert. Gerne würde ich 10 Sterne für dieses beeindruckende, großartige Debüt vergeben.

Bewertung vom 21.10.2022
Haie in Zeiten von Erlösern
Washburn, Kawai Strong

Haie in Zeiten von Erlösern


ausgezeichnet

Familien- und Geschwisterbande jenseits aller Südsee-Romantik
Südseeromantik gibt es in „Haie in Zeiten von Erlösern“ nur für die Haole, die Weißen, die sich den Luxus dieser einzigartigen, unglaublich schönen Natur leisten können. Für die indigene Bevölkerung ist Hawai ein mythischer, magischer Ort, aber auch ein Ort, an dem es schwer ist, Arbeit zu finden und einen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die Geschwister Dean, Nainoa und Kaui leben mit ihren Eltern ein sehr einfaches, entbehrungsreiches Leben in Honokaʻa auf Big Island/Hawai. Als die Zuckerrohrplantage geschlossen wird, versiegen die ohnehin spärlichen Einkünfte. Zunächst versuchen Augie (der Vater) und Malia (die Mutter) sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten; aber das Geld reicht nicht, so dass die Familie schweren Herzens auf die Insel Oʻahu/Hawai in die Stadt Kalihi, nahe Honolulu, ziehen muss. Kurz vor dem geplanten Umzug ereignet sich ein folgenreicher Zwischenfall. Der siebenjährige Nainoa stürzt während eines Ausflugs von einem Schiff ins Meer. Die Rettungsversuche gestalten sich schwierig, Haie nähern sich, umkreisen ihn; der größte Hai nimmt Nainoa schließlich in sein Maul und transportiert ihn zurück zum Schiff. Nainoa wird gerettet - für die Eltern ein unmissverständliches Zeichen der Götter, dass Nainoa von den ´aumakua, den Seelengeistern, gesegnet und zu größerem auserwählt wurde. Schon bald zeigen sich bei Nainoa außergewöhnliche Fähigkeiten. Er spürt eine eigentümliche Kraft in sich und ist in der Lage Krankheiten und Verletzungen von Körpern zu lokalisieren und innerhalb kürzester Zeit zu heilen bzw. Heilungsprozesse anzustoßen. Schnell sprechen sich Nainoas Fähigkeiten herum, die Menschen bitten um Audienz, geben großzügig Spenden, so dass die Familie zum ersten Mal in ihrem Leben finanziell abgesichert ist. Doch manchmal scheitert Nainoa; irgendwann wird dem Jungen alles zu viel und die Hilfesuchenden werden mit dem Hinweis, ihr Sohn benötige eine Pause, wieder weggeschickt. Erneut reicht das Geld kaum zum Leben, aber Nainoa bleibt das „Wunderkind“ der Familie. Mit Leichtigkeit erhält er ein Stipendium für eine der renommiertesten Schulen, erzielt überall Bestnoten. Obwohl auch seine jüngere Schwester Kaui dort eines der wenigen Stipendien erhält, steht sie zeitlebens im Schatten ihres Bruders. Auch Dean, der Älteste, kämpft um Anerkennung: schulisch kann er mit seinen Geschwistern nicht mithalten, scheitert immer wieder an der Aufnahmeprüfung, hat dafür aber ein großes Talent für Basketball, macht dort zunächst Karriere.

Kawai Strong Washburn konzentriert sich auf die Lebenswege der einzelnen Geschwister, die alle Hawai verlassen, um in den USA zu studieren bzw. zu arbeiten. Alle sind auf der Suche, wirken verloren und einsam. Nainoa versucht seine Gabe zu verstehen, kommt damit nicht klar, hat niemanden, der begreift, was wirklich in ihm vorgeht. Kaui und Dean versuchen beide auf ihre Weise die Last des „übermächtigen“ Bruders abzuschütteln, neben dem sie von ihren Eltern einfach nicht gesehen werden. Sehr bedrückend und intensiv zeigt der Autor wie alle drei wütend und verloren durchs Leben stolpern, wie die Familie weiterhin versucht auch über die Distanz den Kontakt aufrechtzuerhalten und dabei schon längst einen „echten“ Zugang zueinander verloren hat. Wir begleiten die einzelnen Familienmitglieder über einen Zeitraum von 14 Jahren (1995 - 2009). Jede:r erhält eigene Kapitel, die mit dem jeweiligen Namen und der Jahreszahl gekennzeichnet sind. Meist kommen Nainoa, Dean oder Kaui zu Wort, zwischendurch auch die Mutter Malia. Vater Augies Perspektive erhalten wir nur im abschließenden Kapitel.

Für mich steht in diesem Roman eindeutig die Geschwisterbeziehung im Vordergrund und die Frage, welche Auswirkungen unbewusste Bevorzugung eines einzelnen auf das System Familie haben können. Es geht aber auch um Wurzeln, Entwurzelung und die Kraft, die Menschen aus einer Besinnung auf ihre Herkunft sowie Tätigkeiten ziehen können, die sie begeistern, in denen sie vollkommen aufgehen. Hawai lässt keinen der Geschwister los, alle kehren zeitweilig zurück, fühlen sich von der alten, mythengesättigten Natur angezogen. Kaui gelangt durch Hula-Tänze an einen „Kraftort“ in ihrem Inneren, Nainoa empfindet ähnliches beim Spiel auf der Ukulele und Dean, wenn er in einen Flow beim Basketballspiel gelangt. Aber es ist schwer, diese kurzen kraftvollen Momente nachhaltig in den Alltag zu integrieren. Der Roman ist auch ein Buch über das Scheitern und Weitermachen.

Kawai Strong Washburns Sprache kommt von der Straße, ist oftmals derb, dann wieder zart poetisch. Ich konnte mich der Intensität des Textes kaum entziehen und habe dieses tief traurige Debüt voller hoffnungsvoller Momente verschlungen.

Bewertung vom 21.10.2022
Tristania
Kurtto, Marianna

Tristania


ausgezeichnet

Unter der Oberfläche
Die kleine Vulkaninsel Tristan da Cunha ist eine der entlegensten bewohnten Insel der Welt. Die wenigen Einwohner leben von der Fischerei und Guano, einer begehrten Handelsware, die sie auf den nahgelegenen Vogelinseln sammeln. Nicht allzu häufig ankern Schiffe an der schroffen südatlantischen Küste, ungünstige Winde erschweren manchmal ein Anlegen. Fremde Schiffe sind eine überlebensnotwendige Abwechslung, bringen Lebensmittel und andere nützliche Dinge zum Tausch.

Die finnische Autorin Marianna Kurtto hat diese karge Insel als Ort ihres Romans „Tristania“ gewählt. Die Ereignisse kreisen um wenige Personen und lassen sich zeitlich von den späten 1950er Jahren bis Mitte der 1960er Jahre einordnen. Eine wichtige Rolle spielt Lars, der einzige Bewohner, den es weit hinaus in die Welt zieht. Er ist oft monatelang unterwegs, bringt seinem Sohn Jon Bücher und Süßigkeiten von seinen Reisen mit. Irgendwann ist er länger als üblich verschwunden, hat sich mit einer neuen Frau in England eingerichtet. Das Leben seiner Frau Lise und seines Sohnes sind geprägt durch die Abwesenheit des Ehemanns und Vaters. In unmittelbarer Nachbarschaft von Lise und John leben Martha (Jons Lehrerin) und ihr Mann Bert, deren Ehe kinderlos geblieben ist, sowie Lises Freundin Elide mit ihrem Ehemann Paul und ihren zahlreichen Kindern.

Kurtto schreibt in einer bildreichen, lyrisch-poetischen Sprache. Sie erschafft eine melancholische Atmosphäre, lässt uns Stück für Stück an den Handlungen, Gedanken und der Gefühlswelt der Protagonist:innen teilhaben. Schon bald ist klar, dass es unter der Oberfläche brodelt, tiefe Verletzungen und traumatische Ereignisse stattgefunden haben müssen. Kurtto platziert Andeutungen sehr geschickt, führt uns in die Irre, lässt manches nur erahnen. Bilder wollen entschlüsselt werden, die Sichtweisen auf einzelne Personen verändern sich während des Lesens, nichts ist so, wie es zunächst scheint. 1961 kommt es zur Katastrophe: Der Vulkan bricht aus, nicht alle können evakuiert werden, einige Menschen werden vermisst. Lars, der von dem Unglück in der Zeitung erfährt, macht sich auf den Weg, in der Hoffnung, seine Angehörigen zu treffen ….

Kurtto erzählt eine tragische Geschichte von Sehnsucht, Versäumnissen, Fehlern, Schuld und Heimat. Die Sprache ist zutiefst poetisch, fast schon lyrisch und vermittelt eine sehr besondere, schwermütige Atmosphäre, in der ich mich regelrecht verfangen habe. Abseits des Mainstream ist „Tristania“ eine anspruchsvolle, literarische Perle, die mir sowohl inhaltlich als auch sprachlich in Erinnerung bleiben wird. Ich hoffe sehr, dass weitere Werke der Autorin ins Deutsche übersetzt werden. Die hier vorliegende Übersetzung von Stefan Moster ist übrigens eine Meisterleistung.