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Buecherbriefe

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Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 18.07.2023
Isaac und das Ei
Palmer, Bobby

Isaac und das Ei


ausgezeichnet

Trauer und Verlustbewältigung sind höchst sensible und individuelle Bereiche, die stark von eigenen Erfahrungen geprägt sind. Für einen Autor handelt es sich daher auch um ein höchst undankbares Motiv: Geht er allzu sehr in die Tiefe, dann wird es ihm nie gelingen, die Erwartungen aller Leser zu treffen, gleichzeitig droht ihm im umgekehrten Fall schnell der Vorwurf der Oberflächlichkeit.

Ein unwiderstehliches Duo

Bobby Palmer entscheidet sich - ob bewusst oder unbewusst - für einen recht eleganten Weg und stellt den Bewältigungsprozess von Isaac stellvertretend anhand Isaacs Beziehung zum Ei dar.
So wie eine Freundschaft ihre Höhen und Tiefen hat, so verläuft auch der Heilungsprozess nicht immer geradlinig (Ich weiß, der Vergleich hinkt ganz schön …). Und auch wenn wir nicht jeden Schritt von Isaac mitverfolgen (kleiner Zeitsprünge sind ein gern genutztes Mittel), so kann man doch an dem Verhältnis der außergewöhnlichen Wohngemeinschaft ablesen, wie es um Isaacs Zustand bestellt ist.

Wir bekommen hautnah mit, wie sich die beiden unterschiedlichen Charaktere einander nähern, nach einigen Missverständnissen Freunde werden, miteinander hadern und sich dann wieder vertragen. Wie es sich für eine gute Buddy Geschichte gehört, erleben wir mit den beiden brenzlige Abenteuer, lachen über kleinere und größere Missgeschicke und verdrücken das eine oder andere Mal durchaus eine Träne. Spielerisch gelingt es uns Lesern dabei, eine starke Bindung zu beiden Figuren aufzubauen.

Glücklicherweise verzichtet der Autor dabei auf oberlehrerhafte oder sachbuchartige Darstellungen, wie man mit diesem Thema umgehen müsse. Natürlich erhalten wir exemplarisch – gerne auch detaillierte und intensive – Einblicke in Isaacs Innenleben, doch diese halten sich zum Glück in Grenzen. In den meisten Fällen hält der Autor den gebotenen Abstand zum Thema ein und beschränkt sich wie schon erwähnt auf eine Art passive Darstellung.

Ich habe mich übrigens dazu entschlossen, zum Ei selbst möglichst wenig Worte zu verlieren. Nicht nur weil ich kaum Worte dafür finde, auch würde jede tiefergehende Beschreibung unweigerlich wesentliche Teile der Handlung vorwegnehmen.

Die Beziehung zwischen Isaac und dem Ei gehört ohne Frage zum Herzstück dieses Romans – jedoch stellen sie nicht die einzigen Figuren dar, die den Roman bevölkern.

Ebenfalls eine große Rolle spielt Isaacs tote Frau Mary, der wir in zahlreichen Rückblenden begegnen. Palmer nimmt uns dabei mit von der ersten Begegnung zwischen ihr und Isaac bis hin zu ihrem tragischen Tod. Auch wenn der Verlauf dieses Handlungsstrangs wenig originell und ein Stück weit vorhersehbar erscheint, so fügt er immerhin eine weitere emotionale Komponente hinzu.

Kaum der Rede wert erscheinen hingegen Charaktere wie Marys Mutter oder Isaacs Schwester – der Roman hätte nichts verloren, wenn sie fehlen würden.

Alles in allem geht Palmer sehr souverän mit diesem Thema um – gerade für einen Debütroman eine beachtliche Leistung.

Leider merkt man seinem Stil den Erstling an. Palmer neigt nämlich zu ellenlangen Sätzen und ist fest dazu entschlossen, bis zum bitteren Ende daran festzuhalten. Egal ob es sich um actionreiche, humorvolle oder nachdenkliche Szenen handelt – regelmäßig begegnen uns zeilenlange Bandwurmsätze, die es zu überwinden gilt.

Auch fehlt es den Dialogen ein Stück weit an Esprit – weite Teile des Humors zehren von der absurden Situationskomik. Das ist besonders schade, da ein Ei natürlich einiges an Potential geboten hätte.

Was bleibt?

Isaac und das Ei von Bobby Palmer stellt ein insgesamt überraschend gelungenes Debüt dar. Der Autor geht mit der sensiblen Thematik angemessen und souverän um – angesichts eines Eis als Hauptfigur sicherlich kein leichtes Unterfangen.

Überzeugen konnte mich dabei vor allem die herzerwärmende Beziehung zwischen Isaac und dem Ei und die Herangehensweise des Autors.

Stilistisch besitzt der Autor noch so einige Schwächen. So neigt er an den unpassendsten Stellen zu einem viel zu langen Satzbau. Darüber hinaus wirkt die Geschichte an einigen Stellen nicht wirklich durchdacht. Gerade das Ende scheint im letzten Moment noch einige kurzfristige Änderungen erfahren zu haben, die der Aufbau so nicht hergibt.

Aber letztlich fallen diese Punkte nicht so sehr ins Gewicht, als dass sie die Geschichte verderben würden. Wer dieser Thematik etwas abgewinnen kann und ein kurzweiliges Buch zum Lachen und Weinen sucht, wird hier sicherlich fündig! Ein Meisterwerk darf man allerdings nicht erwarten.

Bewertung vom 06.05.2023
Die Sirenen des Titan
Vonnegut, Kurt

Die Sirenen des Titan


sehr gut

Klassiker des Genres

Kurt Vonnegut zählt zu den zahlreichen hierzulande vernachlässigten amerikanischen Schriftstellern – insbesondere, wenn Autoren das Science-Fiction-Label anhaftet, kann man der Verlagsbranche eine gewisse Zurückhaltung unterstellen.
Immerhin ist in den letzten Jahren einiges an Bewegung in die Sache gekommen: Gleich mehrere Ausgaben des Schlachthof 5 und der nun vorliegende Band geben Anlass zur Hoffnung auf mehr, sollten die Absatzzahlen den Erwartungen entsprechen.

Vonnegut, dessen Familie deutsche Wurzeln hat, meldete sich 1943 freiwillig für den zweiten Weltkrieg. Dort geriet er in Kriegsgefangenschaft und erlebte unter anderem die Luftangriffe auf Dresden. Diese Erlebnisse waren einige Jahre später auch Gegenstand und Grundlage des bereits erwähnten Schlachthof 5.

Nach seiner Rückkehr sollte es nicht lange dauern, bis er sich als Schriftsteller versuchte. Die Sirenen des Titan waren dabei 1959 seine zweite Romanveröffentlichung. Allerdings sollte es noch viele Jahre dauern, bis er in die oberste Riege der Schriftstellerei aufstieg und erst der Erfolg von Schlachthof 5 ermöglichte eine deutsche Übersetzung seiner anderen Werke. Nichtsdestotrotz erfreut sich dieser Band nach wie vor großer Beliebtheit – zumindest in Amerika.

Falsche Erwartungshaltung

Wenn ich die bisherigen Reaktionen auf Vonneguts Werke überblicke, dann sehe ich in Deutschland nur wenige Jubelstürme und viele eher ernüchternde Beschreibungen. Und ich muss gestehen, dass ich nach dem ersten Drittel auch eher letzterer Gruppe angehörte.
Das Problem ist, dass eine Vonnegut Leseerfahrung schon von vornherein mit vielen verschiedenen Emotionen aufgeladen ist. Selbst wenn man noch nie einen Vonnegut gelesen hat, kennt man seine Werke. Der Name Vonnegut steht auf einer Ebene mit Lem, Strugatzki oder Asimov und die Blöße diesen Schriftsteller nicht zu mögen möchte man sich nur Ungerne geben. Angesichts dieser immens hohen Erwartungshaltung ist es nahezu unmöglich, nicht enttäuscht zu werden – schließlich erwartet man ja schon ein Werk vergleichbar mit Tolkien oder Tolstoi.

Komplexe Botschaften – einfache Sprache

Gleich zu Beginn wird uns jedoch klar, dass wir es nicht mit einem solchen epischen Werk zu tun haben: Vonnegut pflegt einen sehr schlichten und beinahe schon minimalistischen Schreibstil, der ein Stück weit an Hemingway erinnert und mit den spitzen Bemerkungen eines Mark Twain garniert ist – vielleicht sogar ein Stück weit an Douglas Adams, der sich stark von Vonneguts Werken inspirieren ließ.

Es ist schon erstaunlich mit was für einer Nüchternheit Vonnegut grundlegend brutale Ereignisse wie Hinrichtungen, Kriege, Morde, Vergewaltigungen oder Gewalt in jeglicher Form beschreibt und den Leser gleichzeitig mit seinem schwarzen Humor immer wieder zum Lachen bringt. Gerade die nüchternen Beschreibungen von Gewalt und Brutalität erinnern ein Stück weit an Erich Maria Remarque, der ebenfalls eine ähnlich journalistische Herangehensweise wählte um die Schrecken seiner Kriegserfahrungen zu verarbeiten.

Ähnliche Erfahrungen machen wir auch mit der Thematik des Romans. Der Plot selbst und die wechselnden Hauptfiguren sind beinahe schon unwichtig. Stattdessen wählt Vonnegut recht kontroverse Themen als Leitmotive seines Romans aus, unter anderem die Möglichkeit des freien Willens, religiöse Gruppierungen und Führerkulte. Wer jetzt allerdings tiefgreifende Auseinandersetzungen erwartet, wird auch hier enttäuscht.

Ob wir einen freien Willen haben oder nicht, wie kritisch Religionen betrachtet werden müssen und was Heldenverehrung aus Menschen macht sind zwar interessante Themen und den einen oder anderen wichtigen Gedanken verarbeitet der Autor auch. Das eigentliche Leitmotiv und die eigentliche Keimzelle gibt er allerdings bereits auf der ersten Seite aus: “Heutzutage weiß jeder, wie man den Sinn des Lebens in sich selbst findet. Aber dieses Glück war der Menschheit nicht immer beschieden (…)“.
Und mehr als die ersten zwei Seiten braucht man eigentlich nicht, um den ganzen Roman zu verstehen – und das ist gut so. Manchmal muss man hinter die glitzernden Fassaden blicken und wie so oft sind es die einfachen Botschaften, die entscheidend sind.

Fazit

Die Sirenen des Titan von Kurt Vonnegut stellt eine lohnenswerte Leseerfahrung dar, sofern man bereit ist die eigene Erwartungshaltung anzupassen. Bei Vonnegut erwartet den Leser keine komplexe Sprache mit einer umfangreichen Hintergrundwelt. Stattdessen trifft eine einfache und klare Sprache auf einfache Botschaften – und das ist möglicherweise der einzig richtige Weg mit komplexen Themen umzugehen.

Bewertung vom 22.04.2023
Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde
Hoffmann, E. T. A.

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde


ausgezeichnet

E.T.A. Hoffmann gehört ohne Frage zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern der Romantik, und – noch zutreffender – zu den ersten (bekannten) deutschen Fantasy/Phantastik-Autoren. Dabei erschien es zunächst unwahrscheinlich, dass aus ihm einmal ein Schriftsteller werden würde. In jungen Jahren folgte er den Ruf der Familie und studierte - durchaus erfolgreich - Rechtswissenschaften. Doch auch während dieser Ochsentour konnte er sich der aufkeimenden allgemeinen Begeisterung für die Romantik nicht verschließen und widmete sich schließlich – mit bescheidenem Erfolg - sogar selbst dem geschriebenen Wort.

Hoffmanns Arbeit – er sollte vermeintliche Feinde des Staates beurteilen – war führenden Kräften im Laufe der Zeit zunehmend ein Dorn im Auge. Das Problem: Hoffmann war zu weich und ließ oft genug vermeintliche Staatsfeinde davonkommen. In einer Zeit, in der der Tagebucheintrag „mordfaul“ eines jungen Studenten ein unwiderlegliches Zeichen für einen Mörder sein konnte, war das natürlich zu wenig.

Dieser Zeit widmete Hoffmann in seinem Meister Floh sogar zwei ganze Kapitel und verunglimpfte damit mehr oder weniger offen den Ministerialdirektor im Polizeiministerium, Karl Albert von Kamptz. Dieser ließ das Manuskript kurzerhand beschlagnahmen, die betreffenden Kapitel zensieren und dem Autor den Prozess machen. Dessen Ausgang erlebte Hoffmann jedoch nicht mehr, er verstarb einige Jahre später an den Folgen einer Atemlähmung. Die fehlenden Kapitel des Manuskripts sollten in diesem Jahrhundert nicht mehr erscheinen.

Diese auch als Knarrpanti-Szenen bekannten Episode sollten eine entscheidende Rolle für die spätere Bekanntheit dieses Romans spielen. Nicht nur, dass es sich um die mit Abstand stärksten Abschnitte der ganzen Erzählung handelt – besser kann man Machtgier und Bürokratieapparate nicht parodieren – eine bessere Publicity kann man sich für einen Roman nicht vorstellen.

(K)ein Fest für Freunde der deutschen Sprache

Handwerklich ist die Erzählung ein Kind seiner Zeit und geprägt durch schnörkelhafte und barocke Bandwurmsätze, die kein Ende zu finden scheinen. Für jeden Leser mit Freude an der deutschen Sprache ist dies sicherlich ein Fest, denn zweifellos kann man mit diesem Werk seinen Wortschatz gehörig erweitern.

Heutzutage wird so ein Stil ob seiner Seltenheit wohl ambivalente Gefühle hervorrufen: so selbstverständliche Dinge wie ein angepasstes Erzähltempo oder eine lebendige oder gar realistische Sprache wird man hier vergebens suchen, stattdessen steht die Sprache als Kunstform im Vordergrund. Das kann und darf man gut finden, muss man jedoch auch vorher berücksichtigen – darum empfehle ich jedem Leser eine kurze Stichprobe, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen.

Moderne Urban Fantasy

Im Grunde genommen handelt es sich bei dieser Erzählung um eine Urban Fantasy-Erzählung mit einem starken Märcheneinschlag und einem heute unüblichen Stil. Mehr als einmal verwischt Hoffmann die Grenzen zwischen Realität und Fantasie und lässt biederes Beamtentum auf Märchenfiguren treffen.

Seine besten Szenen hat dieser Roman dabei dann, wenn die Grenzen zwischen beiden Welten hauchdünn sind. So erhält Peregrinus von Meister Floh im Lauf der Handlung eine Apparatur, mit der er die Gedanken der Menschen hören kann. Dabei muss er feststellen, dass Gedanken und gesprochene Worte nicht zwangsläufig zusammenhängen – eine für ihn schwerwiegende, für uns Leser aber umso unterhaltsamere Erfahrung. Es ist auch kein Zufall, dass die besten Kapitel des Romans (die zensierten Abschnitte), damit zusammenfallen.

Das Problem: Besser als dort wird es nicht mehr. Hoffmann verliert sich in seiner Erzählung und fügt mit jedem neuen Kapitel Wendungen und Figuren hinzu, ohne das vorherige zu einem befriedigenden Ende zu führen. Wahllos eröffnet er Nebenschauplätze, die die Handlung überhaupt nicht voranbringen und so ist es kein Wunder, dass auch das Ende den Leser ein Stück weit unbefriedigt zurücklässt.

Hintergrund dessen ist, dass Hoffmann wohl beendete Kapitel direkt an seinen Verlag geschickt haben soll, ohne eine Kopie einzubehalten und damit die Handlung ohne Detailkenntnisse der vorherigen Abschnitte fortführen musste.

Fazit

Meister Floh von E.T.A. Hoffmann lässt mich als Leser zwiegespalten zurück. Während die Struktur- und Planlosigkeit des Autors im Laufe des Romans immer stärker ins Auge fällt und der Stil ohne Frage polarisiert, kann der Roman auch durch einige Aspekte begeistern.

So gibt es zahlreiche unterhaltsame wie auch geistreiche Abschnitte, die diese kleinen Fehler mehr als nur ausbügeln, man denke nur an die Kritik am Justiz-Apparat seiner Zeit oder die Gedanken-Maschine von Meister Floh. Wer also Klassikern und einem blumigen Schreibstil etwas abgewinnen kann, könnte mit diesem Werk hervorragend unterhalten werden.

Bewertung vom 01.04.2023
Hunger
Hamsun, Knut

Hunger


ausgezeichnet

Der schleichende Niedergang eines Mannes

Knut Hamsun lässt seinen namenlosen Ich-Erzähler durch das winterliche Kristiana irren und präsentiert uns rein äußerlich eine recht handlungsarme und sprachlich beinahe schon rohe Erzählung über den schleichenden Niedergang eines verzweifelten Mannes.

Schon bald nach Beginn der Handlung verliert er seine Wohnung und ist gezwungen, im Wald zu übernachten. Um seine knappe Börse aufzubessern, versucht er seinen knappen Besitz beim Pfandleiher zu versetzen: neben seiner Weste (immerhin nähert sich im Roman zu diesem Zeitpunkt bereits der Winter!) und seiner Matratze versucht er am Ende sogar verzweifelt die Knöpfe seines Mantels zu Geld zu machen.
In dem verzweifelten Versuch, seine Würde zu bewahren, sabotiert er sich dabei allerdings immer wieder selbst. Anstatt sich seinen Zustand einzugestehen, versucht er sich sogar noch eine überlegene Stellung anzudichten. So ist es ihm natürlich nicht möglich, um Geld zu betteln und wenn er doch auf diese Weise an Geld gelangt, versucht er es so schnell wie möglich loszuwerden.

Erhält er dann doch einmal Geld auf eine in seinen Augen angemessene Art und Weise, dann quartiert er sich umgehend in Zimmer ein, die er langfristig auf keinen Fall halten kann und gönnt sich Speisen, die angesichts seines Zustandes bald schon den gleichen Weg hinaus wie hineinnehmen. Aber auch dieses Geldes wird er bald überdrüssig und schwingt sich zum Wohltäter auf, der seine Reichtümer den Notleidenden verschenkt – nur um dann selbst wieder in dem tragischen Kreislauf aus Hunger und Geldnot zu landen.

Seinen Lebensunterhalt versucht er sich dabei als Autor drittklassiger Texte zu verdienen - körperliche Arbeit kommt aufgrund seiner schmalen Statur sowieso nicht infrage. Auch wenn es ihm tatsächlich mal gelingt, einen Text in einer Zeitschrift unterzubringen, wird schnell deutlich, dass Artikel schreiben (jedenfalls in seinem gegenwärtigen Zustand) keine langfristige Lösung darstellen kann: Mal versucht er es mit einer pseudo-philosophischen Abhandlung, ein anderes Mal sieht er sich als nächster großer Theaterautor, vergisst aber bei jeder neuen Szene vorherige wichtige Bestandteile.

Komödie oder Tragödie?

Die Geschichte bewegt sich dabei auf dem schmalen Grat zwischen Komödie und Tragödie und bedient oftmals beide Ebenen gleichzeitig.
Auch wenn ich nicht mit Astrid Lindgren gehen mag, die den Roman vornehmlich als Komödie begriff, so kann man vielen Szenen eine gewisse Komik nicht absprechen. Auf der anderen Seite gibt es Szenen, die uns selber den Magen verdrehen, beispielsweise wenn unser Protagonist nach tagelangem Hungern einen Knochen erbetteln kann, an dem noch Fleischreste hängen und den Inhalt einfach nicht im Magen behalten kann.

Doch woher kommt dann die Faszination für diesen Roman zustande?

Das liegt zum einen sicherlich daran, dass Knut Hamsun bis zum Schluss wichtige Punkte offenlässt. Ist unser Protagonist einfach nur hungrig oder tatsächlich wahnsinnig (geworden)? Sind die Begegnungen mit den anderen Figuren wirklich echt oder nur Teil seiner manischen Zustände? Diese Offenheit lässt jedenfalls genug Raum, um unterschiedlichste Meinungen vertreten zu können – also ein idealer Schauplatz für Kritiker, Professoren und (Hobby-)Psychologen gleichermaßen.
Zum anderen spricht die Handlung natürlich auch einen voyeuristischen Teil in uns an (RTL und Konsorten lassen grüßen) – gleichermaßen fasziniert wie angewidert beobachten wir den Niedergang des Protagonisten und laben uns an seinem Unglück. (s.o.)

Vorläufer des modernen Romans?

Kennzeichnend für diesen Roman ist die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms. Hamsuns vermischt dazu Gedanken, Beobachtungen und Monologe in scheinbar ungeordneter Reihenfolge zu einem großen Ganzen. Diese inneren Bewusstseinsinhalte stehen dabei in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen zeitlichen Abläufen. Wenige Sekunden der Handlung können also ganze Seiten des Romans einnehmen und den Leser in eine verworrene Gedankenwelt abtauchen lassen.

Gerade diese Verworrenheit, diese unablässigen Wechsel von manischen und klaren Gedanken und Handlungen lässt die Schilderungen des Hungerzustandes so realistisch erscheinen.
Mit dem Gebrauch dieser Technik sollte sich Hamsun als Pionier erweisen – eine ganze Reihe berühmter Autoren sollte sich später auf ihn als Vorbild und Inspiration berufen – so etwa Kafka, Joyce oder Woolf, um nur einige Beispiele zu nennen.

Fazit

Hunger von Knut Hamsun ist ein Roman, der den Leser sofort in den Bann zieht und auch nach der Lektüre noch nachhaltig beschäftigen wird.
Selten wurde das Hungern in literarischer Form so abstoßend und faszinierend zugleich dargestellt. Komik und Tragik gehen Hand in Hand und lassen den Leser ra(s)tlos zurück, unzählige Szenen brennen sich ein – ein Klassiker, der auf keinem Bücherregal fehlen darf!

Bewertung vom 20.03.2023
Die verborgene Geschichte des Tom Lynn
Wynne Jones, Diana

Die verborgene Geschichte des Tom Lynn


ausgezeichnet

Ich bin die Lektüre dieses Romans recht blauäugig angegangen und habe sie mit der Erwartungshaltung begonnen, ein klassisches Jugendbuch mit leichtem Fantasy Einschlag vor mir zu haben. Und gerade der Beginn des Romans schien diese Erwartungen zu bestätigen.

Jones erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Polly Whittacker und bedient sich dabei vornehmlich zahlreicher Rückblenden, die mit der zehnjährigen Polly beginnen und schließlich in der Gegenwart münden.
Die ersten Seiten sind dabei altersgerecht gestaltet und beschreiben die Welt aus der Sicht eines Kindes. Die Beschreibungen der Umwelt und der anderen Figuren erschöpft sich dabei in einer Reduzierung auf einfache äußerliche Aspekte und Gefühle (baumlang oder unheimlich sind dabei beliebte Beschreibungen). Auch strotzen die Briefe von Polly nur so vor Rechtschreib- und Grammatikfehlern.

Allerdings dauert es nicht lange, bis Diana Wynne Jones uns zeigt, was für eine Schriftstellerin in ihr steckt. Mit zunehmendem Alter und mit jeder gewonnenen Erfahrung ihrer Protagonistin werden Jones Beschreibungen immer ausgefeilter und differenzierter. Neben einer zunehmenden Sicherheit in Rechtschreibungs- und Grammatikfragen ist Polly auch dazu in der Lage, Menschen differenzierter betrachten zu können und so werden beispielsweise aus früher unheimlichen Figuren ganz gewöhnliche Figuren – und umgekehrt.
Dieser Prozess vollzieht sich dabei so lautlos und natürlich, dass dem Leser gar nicht bewusst ist, was für großartige schriftstellerische Fähigkeiten dafür von Nöten sind. Ganz großes Kino!

Trotz der kindlichen Protagonistin und dem zu Beginn noch recht einfachen Schreibstil ist dieser Roman nur bedingt als klassisches Jugendbuch geeignet.

Dies liegt zum einen daran, dass die Geschichte verwoben ist mit unzähligen literarischen und musikalischen Anspielungen, die weitestgehend ohne Erklärung bleiben und die sich der Leser erst selbst erschließen muss.
Des Weiteren bedarf auch das Verhältnis von Polly zu einigen Erwachsenen einer kritischen Betrachtung. Natürlich stellt sich zunächst einmal ein ungutes Gefühl ein, wenn ein junges Mädchen auf einen wildfremden Mann trifft und mit ihm eine Freundschaft beginnt, zumal sich beide des öfteren ohne weitere Aufsicht treffen – ein Umstand, der auch von einigen Figuren des Romans kritisch angesprochen wird.

Jedoch benimmt sich Tom Lynn zumindest in dieser Hinsicht vorbildlich und hält immer den gebotenen Abstand – nicht einmal andeutungsweise würde man auf die Idee kommen, ein wie auch immer geartetes sexuelles Interesse an ihr zu vermuten.

Kritischer ist der Aspekt, dass Tom mithilfe von Büchern Einfluss auf sie nimmt. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, legt er sein Schicksal in ihre Hände und versucht sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Dass dies letztlich nicht so stark ins Gewicht fällt, liegt daran, dass es sich bei Polly um eine starke und selbstständige Figur handelt. Entgegen des Titels des Romans handelt es sich bei dem Roman nämlich nicht um die Geschichte des Tom Lynn, sondern um die Geschichte der Polly Whittacker.

Im Grunde genommen handelt es sich um eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, in der Wynne Jones das Erwachsenwerden einer jungen Frau schildert. Allen Widrigkeiten und Einflussnahme Versuchen zum Trotz entwickelt sie sich zu einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit, die es gar nicht nötig hat, sich von einem Mann retten zu lassen oder das zu tun, was ihr manipulatives Umfeld von ihr verlangt. Dass ihr dies gelingt, ist dabei alles andere als selbstverständlich. Ihre Eltern sind alle andere als ein Vorzeigepaar. Während ihr Vater vor jeglicher Verantwortung flieht, beschränkt sich ihre Mutter darauf, ihrem Umfeld (inklusive Polly), die Schuld an ihrem (vermeintlichen) Unglück zu geben.

Letzten Endes ist es auch völlig bedeutungslos, ob Tom Lynn wirklich existiert oder nicht. Es geht nicht um die Geschehnisse des Romans selbst, sondern darum, was für eine Macht die eigene Vorstellungskraft hat und was für eine Bedeutung Geschichten in unser aller Leben haben. Jones zeigt auf, dass Literatur nicht nur Trost und einen Zufluchtsort bietet, sondern auch darüber hinaus die Stütze darstellt, mit deren Hilfe man sich aus jeder Lebenslage herausziehen kann.

Fazit
Die verborgene Geschichte des Tom Lynn von Diana Wynne Jones ist kein Buch für Kinder, dafür aber ein faszinierendes Buch über den Zauber der Kindheit, des Lesens und das Erwachsenwerden. Die vielen Anspielungen und der zu Beginn noch recht eigenwillige Schreibstil machen den Einstieg sicherlich nicht leicht. Wer sich darauf allerdings einlässt, wird mit einer großartigen Geschichte belohnt, die uns daran erinnert, warum wir Literatur lieben.

Bewertung vom 11.03.2023
Die Augen der Galaxis / Die Scherben der Erde Bd.2
Tchaikovsky, Adrian

Die Augen der Galaxis / Die Scherben der Erde Bd.2


sehr gut

Nach Jahren des Friedens sind die Architekten zurück! 80 Jahre nach ihrem plötzlichen Verschwinden fahren die mondgroßen Lebewesen mit ihrem zerstörerischen Werk fort und Formen ganze Planeten ohne Rücksicht auf die heimischen Lebensformen zu gigantische Skulpturen um.

Doch dieses Mal ist etwas anders: Boten Artefakte der Originatoren früher noch einen Schutz vor ihren Angriffen, so haben die Architekten dieses Mal einen Weg gefunden, diese zu überwinden. Damit ist keine Lebensform im gesamten Universum mehr vor ihnen sicher und die verschiedenen Völker sind dazu gezwungen zusammenzuarbeiten, um zu überleben. Doch sind sie wirklich dazu in der Lage, ihre Differenzen beiseitezulegen?

Schon der erste Band war überfrachtet mit zahlreichen Figuren, Ideen, Völkern, politischen Gruppierungen und zahllosen Action-Szenen, sodass es als Leser nicht leichtfiel, den Überblick zu behalten. Meine Befürchtung war nun, dass der Abstand (von zugegebenermaßen sehr kurzen vier Monaten) den Wiedereinstieg zusätzlich erschweren würde.

Tchaikovsky wirkt diesem Effekt glücklicherweise entgegen, indem er im ersten Drittel des Romans ein recht gemächliches Erzähltempo einschlägt und wir Leser zunächst (die notwendige) Zeit erhalten, um uns in dieser komplexen Welt zurechtzufinden.

Als überaus hilfreich erweisen sich dabei die vielen eingestreuten Erklärungen, sowie der Anhang, der die wichtigsten Begriffe kurz und bündig erklärt. Hinzu kommt noch die klare, von einfachen Satzkonstruktionen und vielen Dialogen geprägte Prosa des Autors. Angesichts der Weite und Komplexität von Tchaikovskys-Kosmos stellt es eine wahre Wohltat dar, zumindest in dieser Hinsicht vor keiner Herausforderung gestellt zu werden.

Positiv hervorheben möchte ich zudem, dass wir mit nur wenigen wirklich neuen Elementen und Charakteren konfrontiert werden. Stattdessen werden viele Aspekte des ersten Teils wieder aufgegriffen und weiterentwickelt.
Dieses Wissen ist auch bitter nötig, hilft es uns doch dabei zu verstehen, warum sich die verschiedenen Gruppierungen so unterschiedlich verhalten und welche Schwierigkeiten der Zusammenarbeit der Völker entgegenstehen. Das im ersten Band noch prägende und immer noch relevante Flüchtlingsthema wird dabei weitestgehend von politischen Ränkespielen verdrängt. Herrschte im ersten Band noch eine brüchige Solidarität ob des gemeinsamen Feindes, so wird nun deutlich, wie unterschiedlich die Vorstellungen zur Lösung des Architekten-Problems im Einzelnen aussehen.

Die Auswirkungen dieser Differenzen reichen dabei von einem generellen Misstrauen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Erschwert wird dieser Konflikt durch die fehlende Möglichkeit der Kommunikation. So gibt es zwar Dolmetscher, doch sind die Lebens- und Denkweisen so unterschiedlich, dass jede Übersetzung nur eine Annäherung an die Wahrheit darstellen kann. Die Folge ist, dass eine Zusammenarbeit so gut wie unmöglich ist und jedes Volk mehr oder weniger auf sich allein gestellt ist im Kampf gegen die Architekten.

Nirgendwo wird die unzureichende Kommunikationsfähigkeit deutlicher als bei den Nachforschungen von Idris. Ohne zu viel verraten zu wollen, gelingt es ihm in diesem Band, neue Erkenntnisse in Bezug auf den Unraum und die Architekten zu gewinnen. Jedoch ist es ihm unmöglich, diese Erkenntnisse adäquat in menschlichen Worten wiederzugeben (an diesen Stellen erinnert der Roman beinahe schon an Lovecrafts kosmisches Grauen), sodass jede Partei dieselben Informationen anders wahrnimmt und unterschiedliche Entscheidungen trifft.

Eine der großen Stärken des ersten Bandes war das hervorragende Figurenensemble und daran hat sich auch in diesem Band nichts geändert. Wir treffen auf die Überlebenden des ersten Bandes und insbesondere die Crew der Geiergott zaubert uns mit ihrer ruppigen und zugleich charmanten Art immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Erfreut kann man dabei feststellen, dass Tchaikovskys Figuren nicht stehen bleiben, sondern Entwicklungen durchlaufen.

Der zweite Band einer Trilogie stellt regelmäßig auch den schwächsten Band dar und Die Augen der Galaxis macht davon (scheinbar/hoffentlich) keine Ausnahme. Es liegt nun einmal in der Natur dieses Konzepts, dass ein Autor hier einen schwierigen Spagat wagen muss. Einerseits muss er den Leser bei Laune halten, andererseits darf er nicht den abschließenden Band obsolet machen.

Und hierin liegt auch das Problem: Zwar gewinnen wir durchaus einige Erkenntnisse über die Architekten, aber einer wirklichen Lösung des Konflikts nähern wir uns nicht an – vielmehr beschränkt sich Tchaikovsky darauf, uns mit wenigen Informationshäppchen abzuspeisen und die verschiedenen Kräfte für den entscheidenden Band zu positionieren.

Fazit: Die Augen der Galaxis von Adrian Tchaikovsky ist ein hervorragender Science-Fiction-Roman, der die Stärken des ersten Bandes ausbaut, aber auch an den typischen Schwächen eines Mittelbandes leidet. Wer vom ersten Band überzeugt war, wird hier dennoch seine Freude haben!

Bewertung vom 24.02.2023
Im Namen des Wolfes / Die Chroniken von Sova Bd.1
Swan, Richard

Im Namen des Wolfes / Die Chroniken von Sova Bd.1


ausgezeichnet

Das Kaiserreich Sova erschien einst unbezwingbar. Unzählige Eroberungsfeldzüge dehnten die Grenzen des Reiches immer weiter aus und erweiterten das Reich sowohl wirtschaftlich als auch kulturell um neue Facetten. Für Ordnung sorgen gleichermaßen respektierte wie gefürchtete umherziehende Richter die, ausgestattet mit kaiserlicher Autorität und magischen Fähigkeiten, Recht sprechen und vollziehen.

Richter Konrad Vonvalt bereist zusammen mit seiner Schreiberin Helena und seinem Vollstrecker Bressinger die jüngsten Außenbezirke des Reiches. Als sie in der Handelsstadt Galetal den Mord an einer Adligen untersuchen, ahnen sie noch nicht, dass sie einer Verschwörung auf der Spur sind, die das kaiserliche Reich bis an seine Grundfesten erschüttern soll …

Richard Swan entwirft mit dem Kaiserreich Sova eine düstere und dreckige Welt, die sich verschiedenster europäischer Epochen und Kulturkreise bedient. Die Handlung konzentriert sich auf die Außenbezirke des Kaiserreichs und dort zeigen sich die neuen Reichsbürger nicht gerade begeistert ob ihres neuen Status: Zwar profitieren sie wirtschaftlich von neuen Handelsrouten und dem stabilen Rechtssystem, doch längst nicht alle Bürger können am neuen Wohlstand teilhaben. Für zusätzliche Spannungen sorgen religiöse Fundamentalisten, die in den eroberten Gebieten die sovanische Staatsreligion mit Gewalt durchsetzen und die letzten Reste kultureller Identität beseitigen wollen.

Was mich persönlich am meisten überrascht hat, war die Wahl der Erzählperspektive. Wir erleben die Geschichte nämlich aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Helena. Diese hat sich im gehobenen Alter dazu entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen, und so erfahren wir bereits gleich zu Beginn, dass das Kaiserreich Sova letzten Endes untergehen wird. Der Einstieg erweist sich dabei als Herausforderung. Wir werden mit unzähligen Informationen zur Welt, dem allgegenwärtigen Justizsystem und den Protagonisten bombardiert und müssen diese erst einmal verarbeiten. Hinzu kommt, dass Swan zu einem langen, mit vielen Nebensätzen garnierten Satzbau neigt und auch in seinen Dialogen nur selten davon abweicht.

Haben wir uns dann aber mit der Welt und dem Erzählstil vertraut gemacht, dann erwartet uns im Grunde ein spannender Justiz-Krimi. In Swans Welt vereinen Richter nämlich die Rollen von Polizei, Staatsanwalt und Richter in einer Person und so begleiten wir Helena und Konrad bei ihren Ermittlungen hinsichtlich des oben erwähnten Mordfalles.

Die Ermittlungen machen einen nicht unerheblichen Teil des Romans aus und Richard Swan versteht es, den Fall mit zahlreichen Wendungen abwechslungsreich und spannend zu gestalten. Freunde der Justiz werden sich zudem an Prozessvorbereitungen und nächtelangen Recherchen erfreuen – aber keine Angst, nur in homöopathischen Dosen. Gewalt und Action sind dabei durchaus Bestandteile der Handlung, allerdings verwendet der Autor diese nur in wenigen Spitzen – dann allerdings auch mit voller Wucht.

Für den Roman erweist es sich dabei als Glücksgriff, dass er aus der Perspektive der jungen Helena erzählt wird. Diese Entscheidung gibt uns nämlich die Gelegenheit, einen Blick zwischen die verschiedenen Lager des Romans zu werfen: Ist das sovanische System überhaupt so gerecht, wie es sich für Konrad darstellt?
Ihre Reaktionen mögen dabei stellenweise zu emotional erscheinen, aber wer würde angesichts ihrer Hintergrundgeschichte nicht so oder so ähnlich reagieren? Hinzu kommt, dass sie im Gegensatz zu Konrad zu vielen Fehltritten neigt, die sie in spannende Situationen versetzen.

Konrad Vonvalt, die treibende Kraft des Romans, verkörpert nämlich eine Figur, die erst in der zweiten Hälfte des Romans unser Interesse weckt. Er erinnert an eine Mischung aus Judge Dredd und den Hexer Geralt und scheint somit prädestiniert zu sein für viele actionreiche Szenen. Diese sind jedoch aufgrund seines streng gesetzestreuen Charakters eher spärlich gesät und so würden wir uns wohl langweilen, wenn wir mit Vonvalt stundenlang Protokolle wälzen und Gerichtsverfahren vorbereiten. Wie zerbrechlich sein Schutzschild ist, zeigt sich erst später: Ist er dazu in der Lage, die Gesetze zu brechen, die er seit Jahrzehnten eisern verteidigt, um das Reich zu retten? Und wenn ja, was macht das dann mit ihm?

Weniger gelungen sind die Antagonisten. Dass es letztlich um religiöse Verstrickungen und das Streben nach Macht geht – geschenkt. Das haben wir zwar tausendmal gelesen, aber in der Realität läuft das auch nicht anders. Dann erwarte ich allerdings auch besser ausgearbeitete Gegenspieler und nicht einfach das Klischee eines fanatischen Priesters.

Fazit:

Im Namen des Wolfes von Richard Swan wird den hohen Erwartungen (glücklicherweise) mehr als nur gerecht. Der Roman überzeugt durch eine packende Handlung mit starkem Justiz-Krimi-Einschlag, interessante Charaktere und eine faszinierende Hintergrundwelt - einzig die Ausarbeitung der Antagonisten ist noch ausbaufähig. Für mich bereits jetzt das Highlight des Jahres!

Bewertung vom 19.02.2023
Die Jungen von der Paulstraße
Molnár, Ferenc

Die Jungen von der Paulstraße


ausgezeichnet

Ferenc Molnars Kinderbuchklassiker Die Jungen von der Paulstraße gilt vielerorts als Klassiker der Jugendbuchliteratur und gehört sogar zum Pflichtkanon an ungarischen Grundschulen.

Im Budapest der vorletzten Jahrhundertwende werden wir Zeugen eines erbitterten Konflikts zweier verfeindeter Gruppierungen: Die „Rothemden“, eigentlich heimisch im botanischen Garten, sind auf der Suche nach einer neuen Basis, um endlich ungestört Ball spielen zu können. Als Ziel haben sie sich den „Grund“ auserkoren, eine schon seit Jahren brachliegende Baustelle. Das Problem? Der „Grund“ ist schon die Heimat der Jungen von der Paulstraße und die sind natürlich alles andere als begeistert von den Bestrebungen der verfeindeten Rothemden. Es beginnt ein erbitterter Kampf, der beiden Seiten alles abverlangt und auf beiden Seiten Verräter, Opfer und Helden hervorbringt …

Starten wir zunächst auf der handwerklichen Ebene: Molnar bedient sich eines allwissenden Erzählers, um uns durch das Geschehen zu leiten. Dabei gelingt es ihm mühelos mithilfe weniger Worte die Stadt Budapest vor unseren Augen auferstehen zu lassen. Ich selber hatte leider noch nicht das Vergnügen, diese Stadt persönlich zu besuchen, aber durch die Mischung aus kurzen Beschreibungen, eingestreuten Kommentaren des Erzählers und dem lebendigen Figurenensemble fiel es mir nicht schwer, mich in Stadt und Zeit zu versetzen.
Sprachlich merkt man Molnar die Bemühungen an, den (vermeintlichen) Anforderungen an ein Jugendbuch gerecht zu werden und in weiten Teilen gelingt ihm dies auch. Die Landschaftsbeschreibungen beschränken sich auf das notwendige Minimum und sowohl Wortwahl als auch Satzbau sind auf einem einfachen Niveau anzusiedeln. Dafür nimmt er sich viel Zeit, um die Fantasiewelten und Gedanken seiner jungen Protagonisten detailliert zu schildern.

Als weniger gelungen erweisen sich hingegen einige Kommentare des Erzählers selbst: Stellenweise drängt er sich mit seinen moralischen Vorstellungen dem Leser geradezu auf und erklärt lang und breit, welches Verhalten aus welchem Grund richtig oder falsch war. Ich selber habe im konkreten Fall zwar keine „problematischen“ Stellen ausmachen können, aber im Zweifel und falls man das Buch relativ jungen Lesern an die Hand geben möchte, sollte man überprüfen, ob man diese Werte auch vermitteln möchte.

Das ist allerdings auch der größte Vorwurf, dem man diesem Roman machen möchte und kann, da er in allen anderen Aspekten brilliert. So versteht es Molnar, den Zauber der Jugend wieder aufleben zu lassen und Erinnerungen an die eigene Kindheit zu wecken. Wer hat nicht ganze Welten in seinem Kopf aufleben lassen, Schlachten gegen übermächtige Armeen geschlagen und dabei so lästige Hindernisse wie Erwachsene oder die letzten fünf Minuten vor Schulschluss überwinden müssen? Anders als die Rezension bislang vermutlich nahegelegt hat, geht es aber nicht ausschließlich um einen fiktiven Krieg. Als Leser erwarten uns viele weitere Nebenschauplätze, man denke beispielsweise an den skurrilen Kittverein (mein persönliches Highlight) oder so manche Szene, die sich an ein älteres Publikum richtet. Auf letztere möchte ich dabei nicht weiter eingehen, um nicht das Ende des Romans vorwegzunehmen.

Das breit gefächerte Figurenensemble bietet dabei gerade für junge Leser mehr als genug Identifikationspotential. So begeistert der ruhige und besonnene Johann Boka in seiner Rolle als Anführer der Bande, während der junge Nemecsek über sich hinaus wächst und bald schon zum eigentlichen Helden der Geschichte wird. Aber auch die Rothemden als gegnerische Gruppierung verfügen mit Ats Feri oder dem tollpatschigen Szebenics über genügend sympathische Figuren.

Ferenc Molnars (Jugend)Buch Die Jungen von der Paulstraße hat mich im Großen und Ganzen positiv überrascht. Trotz des einfachen und auf das Zielpublikum ausgerichteten Schreibstils schafft er es, Kinder und junggebliebene Erwachsene gleichermaßen in ein humorvolles und spannendes Abenteuer zu ziehen, dass den Zauber der frühen Jugend wiederauferstehen lässt. Die liebevoll ausgestalteten Charaktere bieten genügend Identifikationspotential und trösten über die wenigen gut gemeinten altväterlichen Äußerungen des Erzählers hinweg.

Fazit: Die Jungen von der Paulstraße von Ferenc Molnar hält für junge und nicht mehr so junge Leser gleichermaßen zahlreiche Abenteuer bereit und lässt den Zauber der frühen Kindheit wieder auferstehen!

Bewertung vom 16.12.2022
Charlotte Löwensköld
Lagerlöf, Selma

Charlotte Löwensköld


ausgezeichnet

Selma Lagerlöf dürfte vielen Lesern in erster Linie durch ihren Kinderbuchklassiker Nils Holgersson bekannt sein. In den letzten Jahren erfuhr ihr Werk im deutschsprachigen Raum eine kleine Renaissance, die in Charlotte Löwensköld ihren vorläufigen Höhepunkt findet.

Den Ausgangspunkt unserer Erzählung bildet der junge Karl-Artur Ekenstedt, ein hoffnungslos verzogener Zögling einer reichen und adligen Familie. Unter dem Einfluss eines religiös fanatischen Freundes entschließt er sich dazu, Theologie zu studieren und wird schließlich Hilfspfarrer einer kleinen Gemeinde.

Während seiner Tätigkeit macht er die Bekanntschaft mit der titelgebenden Charlotte Löwensköld, und verlobt sich letztlich auch mit ihr. Im Laufe der Zeit kommt es immer wieder zu kleineren Konflikten zwischen beiden, da Karl-Artur sich strikt weigert, Karriere in der Kirche zu machen und stattdessen ein einfaches Leben anstrebt - mit der Folge, dass er sich eine Hochzeit schlichtweg nicht leisten kann. Zum Bruch kommt es, als der reiche Bergwerksbesitzer Schlagerström Charlotte einen Heiratsantrag macht. Zwar lehnt Charlotte diesen ab, doch zwischen ihr und ihrem Verlobten kommt es daraufhin infolge zahlreicher Missverständnisse zum Streit.

Karl-Artur löst schließlich die Verlobung auf und verlobt sich mit der ersten Frau, der er auf der Straße begegnet. Aus Liebe zu ihm klärt Charlotte die Hintergründe ihrer Trennung nicht auf und wird Opfer von Hass und Abscheu seitens der Gemeinde. Kann sich Charlotte aus dieser Situation befreien?

Selma Lagerlöf nimmt sich in Charlotte Löwensköld der Rolle der Frau im frühen 19. Jahrhundert an und zeigt auf, wie sehr die wirtschaftliche Existenz und soziale Rolle einer Frau von ihrem Mann abhängig war. Bedauerlich ist in meinen Augen insbesondere, dass Lagerlöf die Gelegenheit verpasst hat, mit Charlotte eine wirklich starke Frauenfigur zu etablieren. Charlotte wird durch das Verhalten ihres Verlobten Opfer von einem Phänomen, was wir heutzutage wohl am ehesten als Shitstorm bezeichnen würden. Obwohl sie selbst keine Fehler gemacht hat, trennt sich ihr Verlobter von ihr und stilisiert sich anschließend selbst zum Opfer. Seine Gemeinde liegt ihm zu Füßen und wendet sich empört gegen Charlotte. Jedoch denkt diese gar nicht daran, sich dagegen zu wehren, sondern lässt jede Schmach ungerührt über sich ergehen.

Ihr Verhalten ist dabei gerade nicht die Konsequenz einer wirtschaftlichen oder sozialen Abhängigkeit. Das gerade dies nicht die Triebfeder ihres Verhaltens ist, zeigen beispielsweise ihre Szenen mit Schlagerström, in denen sie sich durch Witz, Unabhängigkeit und Selbst-Bewusstsein auszeichnet, obwohl gerade dies dort auf dem Spiel steht. Diese Szenen eignen sich jedoch nicht, um sie als starke Frau zu charakterisieren, bietet Schlagerström selbst als moderne Männerfigur wenig Angriffsfläche in dieser Hinsicht.

Stattdessen bleibt es einem Mann, nämlich Karl-Artur selbst, überlassen, die ungerechte Rollenverteilung durch sein eigenes Betragen anzuprangern. Er stellt eine wohl in jeglicher Hinsicht unsympathische Figur dar. Bereits als kleiner Junge wird er von seiner Mutter verwöhnt und entwickelt sich zu einem jungen Mann, der gerne recht hat und seine Meinung allen anderen aufzwingen möchte. Dabei legt er eine Selbstgefälligkeit an den Tag, wie man sie nur selten erblickt. Kar-Artur ist eine Figur, für die die Redewendung „Wasser predigen und Wein trinken“ erfunden zu worden sein scheint: Er gefällt sich dabei in seiner Rolle als zweiter Christus, der selbst asketisch lebt und auf jegliche weltlichen Freuden verzichtet. Dass er dabei bis auf Worte nichts zu bieten hat und die anfallende Arbeit an andere abwälzt (etwa bei den zehn Waisenkindern) ist am Ende nur konsequent. Letztlich bleibt Charlotte in ihrer Beziehung zu Karl-Artur also immer in ihrer Opferrolle und übernimmt an keiner Stelle die Kontrolle.

Stilistisch handelt es sich um einen hervorragend komponierten und erzählten Roman, der eindrucksvoll aufzeigt, dass der Nobelpreis mehr als nur verdient war.

Bezeichnend für den Roman ist, dass jedes Kapitel für sich eine kleine Sinneinheit darstellt, die sich in jeglichen Aspekten deutlich von den anderen Kapiteln unterscheiden kann. Lagerlöf wechselt dabei munter Perspektive, Ton und Tempo, ohne dabei jemals den roten Faden zu verlieren. So erinnern einige Kapitel an eine Komödie (man denke nur an Löwenskölds Kutschfahrt mit Schlagerström), während andere Abschnitte eher einer Tragödie gleichen. Teilweise begleiten wir die Figuren dabei ganz nah, in anderen Abschnitten übernimmt hingegen ein allwissender Erzähler die Führung über das Geschehen.

Fazit: Charlotte Löwensköld ist ein stilistisch starker Roman, der auch inhaltlich in weiten Teilen überzeugen kann. Leider trübt eine schwache Hauptfigur den ansonsten guten Gesamteindruck.

Bewertung vom 19.11.2022
Ein Dämon kommt selten allein / Dämonen-Reihe Bd.4
Asprin, Robert

Ein Dämon kommt selten allein / Dämonen-Reihe Bd.4


ausgezeichnet

Zauberlehrling auf sich allein gestellt

Unsere Geschichte beginnt einige Zeit nach den Ereignissen in Ein Dämon auf Abwegen und versetzt den Zauberlehrling Skeeve in eine bislang unbekannte Situation: Sein Lehrmeister Aahz hat ihn für unbestimmte Zeit verlassen und zum ersten Mal in seinem jungen Magier-Karriere muss er sich alleine in seiner Stellung als Hofmagier des Königreichs Possiltum beweisen. Dabei folgt prompt die erste große Herausforderung, soll er doch den König mittels seines Tarnzaubers vertreten, um ihm seinen Urlaub zu ermöglichen. Dumm nur, dass ausgerechnet in diesen Zeitraum die königliche Hochzeit fällt …
Erschwerend kommt hinzu, dass dann auch noch die Mafia auftaucht und von Skeeve Kompensation für einen zurückliegenden Konflikt fordert. Die Ereignisse überschlagen sich, doch zum Glück kann er auf einen illustren und verlässlichen Freundeskreis zurückgreifen …

Eine Reihe im Umbruch

Rein äußerlich ließe sich der Roman in zwei Teile aufspalten: Die erste Hälfte findet dabei noch zu weiten Teilen im mittelalterlichen Königreich Possiltum statt und spielt damit noch am ehesten mit den Stereotypen der klassischen High-Fantasy.
Im zweiten Teil verlässt Skeeve seine angestammte Umgebung und zieht auf den schon aus dem Vorgängerband bekannten Planeten Tauf. Auch wenn der dazugehörige Basar der Handlung ein Stück weit orientalisches Flair verleiht, überwiegt hier doch der Science-Fiction Einschlag, begegnen wir doch hier von nun an zahlreichen Reisenden aus anderen Dimensionen.

Nur oberflächlich Oberflächlich

Ein wesentlicher Bestandteil seiner Geschichten ist, dass er jeden von ihm aufgegriffenen Themenkomplex geistig durchdringt, die wesentlichen sozialen und ökonomischen Elemente herausdestilliert und anschließend karikiert. Seine Werkzeuge mögen dabei in erster Linie leichte Dialoge und Situationskomik sein, aber als Leser hat man immer das Gefühl, dass hinter seinen Geschichten mehr als nur oberflächlicher Klamauk steckt. Das bedeutet nicht, dass wir es hier mit dem feinsinnigen und gesellschaftskritischen Humor eines Terry Pratchetts zu tun haben, aber weit weg davon sind wir auch nicht.

Liebenswertes Figurenensemble

Gerade die Charaktere sind für die Reihe ein kleines Problem geworden, dass Asprin in diesem Band recht elegant gelöst hat: Im Laufe ihrer Abenteuer hat sich um unsere Protagonisten eine illustre Schar von Freunden gesammelt, die allesamt immer wieder kleinere Auftritte haben. Als Leser freut man sich darüber, gelingt es dem Autor doch, zahlreiche liebenswerte und schrullige Charaktere zu erschaffen.
Vergegenwärtigt man sich allerdings den Umfang der Romane und die Anzahl der Abenteuer, so wird schnell das Problem deutlich: Zu wenig Platz für zu viele Charaktere. Der vollzogene Ortswechsel in der zweiten Hälfte des Romans entschlackt das Figurenensemble dabei deutlich und sollte in Zukunft für Besserung sorgen.
Aber egal wie stark die zahlreichen Nebenfiguren auch sind, im Fokus stehen immer noch die beiden Hauptfiguren Skeeve und Aahz. Aahz mehr als die erste Hälfte des Romans nicht auftauchen zu lassen, war dabei eine in mehrfacher Hinsicht mutige Entscheidung, lebt die Reihe doch von der Dynamik ihrer Beziehung, sei es in Form von Slapstick-Einlagen oder in Form von bissigen und humorvollen Wortgefechten.

Den freigewordenen Raum nutzt der Autor, um die bereits im vorherigen Band angedeutete Entwicklung von Skeeve zum selbstständigen Magier (und Menschen) fortzusetzen. Auch wenn dieser Teil einen gewissen – sogar hohen – Unterhaltungswert hatte, bin ich mir nicht sicher, ob dieser Prozess der Reihe langfristig gut tun wird. Jedenfalls hatte ich nach den kurzen Eindrücken in der zweiten Hälfte nicht das Gefühl, dass die beiden als gleichberechtigte Partner nebeneinander funktionieren können – auch wenn ich mich gerne eines Besseren belehren lasse.

Zumindest diesen Band konnte Skeeve als Hauptfigur auch alleine tragen, erweisen sich seine trockenen Bemerkungen mit einem „schwächeren“ Gesprächspartner als erstaunlich humorvoll und können jeden noch so durchschnittlichen Dialog aufwerten, man denke nur an den großartigen Urlaubs-Dialog mit dem König von Possiltum oder ein beliebiges Gespräch mit der Mafia.

Was bleibt?

Mit Ein Dämon kommt selten allein liegt eine weitere kurzweilige und humorvolle Geschichte von Robert Asprin vor. Der Roman kann vor allem durch witzige Dialoge, die schier unerschöpfliche Vorstellungskraft des Autors und seinen scharfen Blick für gesellschaftliche Strukturen und wie man mit ihnen spielen kann begeistern. Wer humorvoller Fantasy etwas abgewinnen kann, wird hier hervorragend unterhalten!

Fazit

Mit Ein Dämon kommt selten ist Robert Asprin ein weiterer Glücksgriff innerhalb der humorvollen Fantasy gelungen: Ein leichter, aber niemals oberflächlicher Roman, der durch starke Dialoge und die sprühende Vorstellungskraft des Autors begeistern kann!