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anushka

Bewertungen

Insgesamt 149 Bewertungen
Bewertung vom 13.06.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Kleines Buch mit großer Wucht

Jimmy verbringt die dröge Zeit der Sommerferien mit Sammeln und Suchen. Er versteht sich als ehrlicher Finder und sucht die Automaten des Ortes nach vergessenem Wechselgeld ab, damit er sich damit diverse Chipssorten kaufen kann, in denen seine heißgeliebten Flippos drin sind. Er hat eine wichtige Mission, denn er sammelt nicht nur für sich selbst, sondern auch für seinen Freund, dessen Eltern sich nur die No-Name-Chips leisten können. Denn Jimmys Freund Tristan ist eines von acht Kindern der albanischen geflüchteten Familie Ibrahimi. Als der Asylantrag der Ibrahimis abgelehnt und sie zur Ausreise aufgefordert werden, fassen die Kinder einen Plan ...

Diese Geschichte mit ihren nicht einmal 130 Seiten zieht einen mitten hinein in die tragische Geschichte einer ungleichen Freundschaft. Jimmy war Außenseiter bis Tristan in die Klasse kam. Tristan konnte kein Wort der neuen Sprache und kannte sich in Belgien nicht aus. So gibt diese Freundschaft den beiden Kindern unterschiedliche Dinge und mit unterschiedlichen Motiven sind sie nun Teil dieses Plans, der die Abschiebung der Ibrahimis verhindern soll. Eindringlich zeigt die Autorin in kleinen, wenig voyeuristischen oder sensationsgierigen Szenen, wie Krieg und Flucht alle Mitglieder der Familie geprägt haben. Aber auch die unbändige Hilfsbereitschaft des Ortes wird spürbar, von einer Bevölkerung, die die Abschiebung nicht hinnehmen will. Vor allem Jimmys Innenleben wird hier beleuchtet und die Hoffnungen, die er in die Freundschaft steckt, denn viel anderes hat er nicht. Durch ihn erlebt man die Familie und mit welchen Traumata sie zu kämpfen haben. Eine Geschichte, die ganz nah dran ist an der Lebensrealität zahlreicher Familien in Europa. Für mich ist es aber auch eine Geschichte, die durchaus hätte länger sein können. Sie verfehlt ihre emotionale Wirkung nicht, hätte aber noch stärker wirken und einen noch tiefer hineinziehen können. Gerade das sehr abgekürzte Ende lässt die Geschichte noch etwas skizzenhaft wirken. Insgesamt zeigt die Autorin aber ein weiteres Mal, dass sie sehr gut schreiben und ein Thema tiefgründig und menschlich vermitteln kann.

Bewertung vom 11.06.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Die Geschichte der Mütter

Issa ist auf dem Weg nach Kamerun. Eigentlich will sie da nicht hin, aber ihre Mutter hat ihr stark zugesetzt, dass sie, jetzt wo sie schwanger ist, noch die traditionellen Rituale vollziehen muss. Also reist Issa zu ihrer Verwandschaft, für die sie immer zu weiß ist, während sie in Deutschland immer zu schwarz bleibt. Und so wird dieser Familienbesuch unerwartet zu einer Suche nach Identität, Zugehörigkeit und den eigenen Platz im Leben.

"Issa" ist ein eindrucksvoller Debütroman, der von mehreren Frauengenerationen aus Issas Familie handelt, die jedoch beispielhaft für viele Familien stehen können. Während Issa die Merkwürdigkeiten über sich ergehen lässt, denen ihre Familie noch anhängt und denen sie mit ihrem westlichen Blick wenig abgewinnen kann, springt die Geschichte regelmäßig in der Zeit zurück zu den vorangegangenen Muttergenerationen, beginnend bei Issas Ururgroßmutter im Jahr 1906, als Kamerun unter der Kolonialherrschaft Deutschlands stand. Wie sich dieser Kolonialismus bis heute auswirkt, erfährt man Stück für Stück durch die Geschichte der Mütter und Großmütter.
Mit Humor und Ironie kommentiert Issa zunächst die verschiedenen Rituale und Weltanschauungen, doch zunehmend lässt sie sich darauf ein und beginnt zu verstehen. Parallel lernen auch die Lesenden sehr viel über Kamerun, seine vielen Völker und Clans, und die Kultur. Im Vordergrund steht dabei das Schicksal der Frauen, die wiederholt als Eigentum betrachtet und behandelt werden, sich oft den Mann mit anderen Ehefrauen teilen müssen, viel Leid erfahren und über ihr Leben hinweg unglaubliche Stärke zeigen. Nicht immer gelang es mir dabei, den einzelnen Frauen genau zu folgen, da einige Schicksale deutlicher im Fokus stehen und andere schneller und kürzer abgehandelt werden. Das machte es mir nicht immer einfach, die Schicksale auseinander zu halten. Dennoch sind mir während des Lesens die Figuren ans Herz gewachsen, ich habe mitgelitten und mitgefiebert und bin ich eine für mich völlig fremde Welt eingetaucht. Mit "Issa" ist der Autorin ein grandioses Buch über Identitätssuche, Rassismus und Kolonialismus gelungen, das einem eine fremde Kultur und völlig andere Lebenslinien erfahrbar macht.

Bewertung vom 11.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


ausgezeichnet

Eindrucksvolle Schnitzeljagd durch ein von Bürgerkrieg gebeuteltes Land

Saba ist noch ein Kind als er mit seinem Vater und seinem zwei Jahre älteren Bruder vor dem Bürgerkrieg in Georgien nach England flieht. Doch das Geld reicht nicht für die Mutter. Jahrelang müht sich der Vater ab, doch es kommt nie genug Geld zusammen, um die Mutter nachzuholen. Weitere Jahre später macht sich der Vater auf die Suche nach der Mutter und reist nach Georgien. Als seine Kommunikation abbricht, reist der ältere Bruder Sandro ebenfalls nach Georgien, doch auch seine Lebenszeichen bleiben aus. Sowohl Vater als auch Bruder haben eine Brotkrumenspur hinterlassen und so entschließt sich Saba, trotz Warnungen dieser Spur in Georgien folgen.

Nicht nur die Brotkrumenspur verbindet diese Geschichte mit der Märchenwelt. Saba und Sandro lieben Literatur und ihre Kindheitserinnerungen bestehen unter anderem aus einer Mutter, die ihnen Märchen erzählt. So sind auch die Hinweise, die Sandro hinterlässt, immer wieder Märchen entlehnt und führen Saba auf eine Schnitzeljagd durch das unbekannte Heimatland. Auch die Stimmung der Geschichte ähnelt oft einem düsteren Märchenwald, wenn Saba beispielsweise durch den dunkelnden Stadtpark läuft, während die Sicherheitsbehörden die nach einer Flut entlaufenen Zootiere suchen, unter denen sich auch Wölfe und Tiger befinden. Und dennoch bleibt die Stimmung nicht durchweg düster, sondern vermittelt oft auch Leichtigkeit und Lesespaß. Saba trifft bereits bei seiner Ankunft am Flughafen in Tbilissi auf den Taxifahrer Nodar, zu dem sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Die beiden frotzeln miteinander herum und vermitteln dadurch eine eigene Art von Humor. Dabei verkörpert Nodar die gute georgische Seele und das Sprichwort "Ein Gast ist ein Geschenk". Über Nodar erfährt man beim Lesen viel über die Gepflogenheiten in Georgien und dadurch, dass Saba das Land so jung verlassen hat, muten Nodars Erklärungen auch nicht konstruiert an.
Das Buch hat jedoch auch eine sehr ernste Seite, denn Georgien ist geprägt von einem Bürgerkrieg und die überwunden geglaubten sowjetischen Machtstrukturen bestehen fort, der Machtapparat ist durchzogen von Korruption, Einschüchterung und Gewalt. Auch der anhaltende Konflikt mit Russland, welcher dem Buch eine aktuellpolitische Dimension gibt, klingt immer wieder an, besonders im Alltag der Figuren. Fast alle haben im Bürgerkrieg Verluste erlitten, so bekommt auch Nodar abseits der Clownereien eine tiefere, traurige Dimension. Auch Saba wird durch die Geister seiner Verlorenen, die regelmäßig und teilweise zu den ungünstigsten Zeitpunkten mit ihm sprechen, immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Einige davon sind lauter als andere. So hat das Buch passend zum Märchenthema noch Elemente magischen Realismus`.
Das Buch wechselt hin und her zwischen leichten und teils skurrilen Momenten, Spannung und berührenden Emotionen. Saba muss die Leute überlisten, die hinter seinem Vater, seinem Bruder und nun auch ihm her sind. Dadurch bekommt das Buch Züge eines Schelmenromans. Am Ende verfliegt diese Leichtigkeit und die Nachwirkungen des Bürgerkriegs kommen noch einmal eindringlich zur Geltung, wenn Saba in das immer noch umkämpfte Ossetien reist.

Mit diesem Buch bekommt man einen unterhaltsamen, berührenden und nachdenklich machenden Eindruck eines Landes, von dem man abseits der tagesaktuellen Nachrichten wenig weiß und welches noch immer von Konflikten mit Russland geprägt und teilweise traumatisiert ist. Vermittelt wird dies über einen sympathischen Protagonisten, der ähnlich wenig weiß über sein Herkunftsland und mit dem man auf eine eindrucksvolle Reise in einem klapprigen Wolga geht, die ein großes Lesevergnügen und viel Verständnis beschert.

Bewertung vom 19.05.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Packendes moralisches Gedankenspiel

Hunter White, welch programmatischer Name, ist ein reicher Amerikaner, der nach Afrika reist, um das letzte Tier seiner Big Five Liste zu erlegen, ein männliches Nashorn. Trotz akribischer Vorbereitung und Vorsichtsmaßnahmen kommen ihm Wilderer zuvor. Hunter ist frustriert, hat er seiner Frau doch eine tolle Trophäe versprochen. Da bietet ihm sein Freund und Organisator der Jagd etwas völlig neues an. Ob er schon einmal von den Big Six gehört habe? Wie wird Hunter sich entscheiden?

Der vorliegende Roman testet Grenzen aus. Ich habe mich etwas vor dem Lesen gefürchtet, da man ja schon erahnen kann, was es mit den Big Six auf sich hat. Dies hätte durchaus in einem platten brutalen Thriller enden können, doch die Autorin behält den Anspruch und das Romangenre die gesamte Zeit über bei. Die Naturbeschreibungen sind grandios und über Strecken liest sich das Buch wie ein Abenteuerroman. Die Szenerie wirkt realistisch und sehr bildhaft. Das Leben in Afrika ist nahbar und faszinierend, doch neben weiter Landschaft und exotischer Tierwelt zeigt der Roman auch die Mechanismen und Korruption auf. Das wichtigste an diesem Roman ist allerdings die Erzählperspektive. Die Autorin versetzt einen beim Lesen in eine Perspektive, aus der man an vielen Stellen am liebsten ausbrechen möchte, weil sie sich oft nicht mit den eigenen Moralvorstellungen deckt. Schoeters zeigt die moralische Akrobatik auf, die reiche (weiße) Hobbyjäger betreiben, um ihr Handeln zu rechtfertigen. So redet sich auch Hunter sein privilegiertes Treiben mit dem Artenschutz schön. Das löst beim Lesen durchaus Widerstände aus, die jedoch durch wiederholte Widersprüche in Hunters Argumentationen befriedigt werden, ohne auch nur ansatzweise moralisierend zu wirken. Dennoch möchte man oft genug in das Buch hineingreifen und Hunter durchschütteln. Glaubt er ernsthaft, dass die Jagd fair sei; nur er gegen das Großwild, dass in einem Augenblick des Blickaustauschs angeblich die Jagd und die eigene Niederlage anerkenne? Während gleichzeitig noch weitere Männer im Hintergrund stehen, die bei einem unerwarteten Angriff Hunter dann doch durch einen Schuss vor dem Tod bewahren? Die Autorin erzeugt viel Mitgefühl mit der Beute durch die Schilderung von deren Alltag und Gewohnheiten.

Mich hat dieses Buch absolut begeistert. Ich mag Naturromane und an Naturszenen bekommt man hier viel geboten. Zudem wird hier ein hochaktuelles Thema verhandelt und ethisch beleuchtet, ohne mit dem Holzhammer daherzukommen. Man wird mit den Argumenten und den logischen Lücken in den Argumentationsketten vertraut gemacht durch den Protagonisten, dem man unfreiwillig folgen muss und der ein skrupelloser, privilegierter Unsympath ist. Zudem war das Buch meiner Meinung nach sehr spannend. Ich habe dieses packende moralische Gedankenspiel beim Lesen sehr genossen und zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder den Eindruck gehabt, dass Literatur nicht nur einem Selbstzweck dient, sondern Lesende konfrontieren und herausfordern kann. Absolut lesenswert.

Bewertung vom 15.05.2024
Der Wind kennt meinen Namen
Allende, Isabel

Der Wind kennt meinen Namen


gut

Wichtiges Thema, aber nicht das stärkste Buch der Autorin

Samuel Adler erlebt mit 6 Jahren den Aufstieg der Nazis in Wien. Irgendwann ringt sich seine Mutter vor Verzweiflung dazu durch, ihn mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Sein Lebensweg führt ihn schließlich als Musiker in die USA.
Jahrzehnte später flüchtet das kleine Mädchen Letitia mit ihrem Vater in die USA, nachdem ihr gesamtes Dorf in El Salvador einem Massaker zum Opfer gefallen ist.
Und wiederum Jahrzehnte später flüchtet die sehbehinderte 7jährige Anita mit ihrer Mutter vor willkürlicher Gewalt aus El Salvador in die USA. Doch die Einwanderungsbehörden trennen Mutter und Kind. Nun ist Anita allein und wird von der Sozialarbeiterin Selena Duran und dem hochkarätigen Anwalt Frank Agileri vertreten, die einerseits versuchen, Anita das Aufenthaltsrecht zu erstreiten und andererseits, sie mit ihrer Mutter wieder zu vereinen.

Inhaltlich bietet dieses Buch die geballte Tragik. Es greift verschiedene Fluchtgeschichten zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Geschichte auf und zeigt viele Parallelen sowie die Not der Geflüchteten auf. Allende versucht zu vermitteln, dass niemand aus Spaß flieht und dass die Flucht kein Spaziergang ist. Meiner Meinung nach gelingt es ihr aber nicht immer, die Emotionen auch passend zu vermitteln. An manchen Stellen fand ich die Geschichte auch etwas dick aufgetragen. Natürlich hat auch Selena einen Fluchthintergrund, der mit ihrer Urgroßmutter begann. Und damit Frank sich nicht so fehl am Platz fühlt, bekommt er im Verlauf des Buchs ebenfalls eine Migrationsgeschichte großväterlicherseits aus Italien. Ein bisschen Klischee darf auch nicht fehlen: Frank, der hochkarätige Anwalt, der Anwärter auf eine Partnerschaft in der Kanzlei, entdeckt zunehmend seinen weichen, unkapitalistischen Kern. Und auch wenn er immer wieder (bis zum Abwinken) betont, dass Selena so gar nicht in sein Beuteschema passt (zu moppelig, zu ungepflegt, zu wenig stilbewusst), kann man ja vielleicht trotzdem ein bisschen; schließlich hat sie irgendwie Ausstrahlung. Als dann alle Figuren zusammenfinden, gibt es auch noch ein bisschen Feel-Good-Vibes. Ich war auch etwas überrascht von dem eher einfachen Erzählstil. Ich hatte Allende von ihren früheren Büchern eher als gehobene Unterhaltungsliteratur in Erinnerung.
Ich weiß nicht, ob es der Zynismus des Asylsystems ist oder ein Detail des Buches, aber zwischenzeitlich weiß man gar nicht, ob man Anita nicht doch lieber wünschen sollte, dass ihre Mutter verschwunden bleibt. Denn dann würde sie als unbegleitete Minderjährige gelten und erhielte leichter das Aufenthaltsrecht. Dieser Zwiespalt wurde mir zu wenig beleuchtet. Überhaupt lässt Allende einige Gelegenheiten zur Gesellschaftskritik ungenutzt liegen. Gerade das Ende, das mir etwas abrupt kam, hätte man nochmal richtig kritisch beleuchten können, denn das Asylrecht spielt eine große Rolle dabei. Aber ich hatte das Gefühl, dass Allende lieber nicht allzu viel am großen Nachbarn kritisieren wollte. Dennoch muss man ihr auch dankbar sein, denn sie bringt das Thema Fluchterfahrungen und Behandlung von Geflüchteten in die Unterhaltungsliteratur und bereitet es so auf, dass es gut verdaulich bleibt, ohne einen großen Teil der Lesenden abzuschrecken. Und das ist durchaus wichtig, denn es gibt ja durchaus Studien, die zeigen, dass Literatur die Empathie fördern kann. Und wenn durch dieses Buch ein paar Menschen mehr ihre Menschlichkeit und ihr Mitgefühl mit den weniger Glücklichen entdecken, dann ist doch auch schon viel gewonnen. Für mich war dieses Buch jedenfalls nicht eines der stärksten der Autorin.

Bewertung vom 15.05.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Der große Roman über die amerikanische Drogenkrise

Demons Leben beginnt schon suboptimal. Als er geboren wird, auf dem Badfußboden im Wohnwagen, ist seine junge Mutter komplett zugedröhnt. Danach gibt sie sich Mühe, doch sie scheitert immer wieder und stolpert mehr schlecht als recht von einem Entzug in den nächsten. Demon wird von einer Pflegefamilie zur nächsten herumgereicht. Nur wenige Menschen behandeln ihn gut, hier im von Armut geprägten "Hinterland" der USA, als Teil jener Bevölkerungsgruppe, die landesweit als Hillbillys verlacht und Gegenstand vieler hämischer Scherze sind. Er versucht, die Schule als Chance zu nutzen, doch die Perspektivlosigkeit und das finanziell schwache Umfeld lassen die Motivation schnell schwinden. Und trotz nahegehender schlechter Beispiele landet auch Demon durch eine Schmerzbehandlung mit Oxycodon irgendwann bei den Drogen ...

Auf über 800 Seiten erzählt Kingsolver die berührende Geschichte eines Jungen, der schon von Anfang an kaum eine Chance hatte. Unbekümmert, flappsig und ironisch erzählt Demon seine Kindheit und Jugend aus seiner Perspektive. Dabei berührt sein unbändiger Lebenswille immer wieder. Als Adaptation des Klassikers "David Copperfield" erzählt die Autorin hier eine große Geschichte von Armut, Perspektivlosigkeit und Drogenkrise. Selbst Familien, die sich alle Mühe geben, haben hier in Lee County keine Chance und steigen gnadenlos ab. Der Detailreichtum und der nahbare Erzähler machen das Buch zu einem Genuss, indem man trotz der ernsten und bedrückenden Thematik tief in die Geschichte einsteigt und in dem Jungen, der trotz vieler Schicksalschläge nicht aufgibt, einen Sympathieträger findet. Vielleicht hätte die Geschichte an der ein oder anderen Stelle gestrafft werden können, aber insgesamt vermittelt die Autorin ein glaubhaftes und Mitgefühl hervorrufendes Bild einer von der Politik vergessenen und dem Kapitalismus ausgebeuteten Gesellschaftsschicht, deren harte Schicksale als Grundlage zahlloser schlechter Witze dienen. Eine Gesellschaftsschicht, in der schon die jüngsten kaum einen anderen Ausweg sehen als das Leben durch Opioide oder Alkohol erträglich zu machen. Demon Copperhead erzählt von dem weniger glamourösen Amerika, mit viel Sozialkritik und gut ausgearbeiteten Figuren. Das Buch behandelt viele Themen, die jedoch gut ineinander greifen und ein komplexes Bild zeichnen. Am Ende ist dieses Buch aber vor allem auch aufwühlend und eine definitive Leseempfehlung.

Bewertung vom 07.05.2024
Mein Name ist Estela
Trabucco Zerán, Alia

Mein Name ist Estela


sehr gut

Interessanter Roman über soziale Ungleichheit in Chile

Estela ist schon über 30 als sie in die Hauptstadt Chiles geht, um dort sieben Jahre lang als Hausangestellte bei einer reichen Familie zu arbeiten. Er ist Arzt, sie Geschäftsführerin, später kommt noch ein Kind dazu, das entgegen Estelas Protesten an sie abgeschoben wird. Nun ist das Kind tot und Estela sitzt in einem Verhörraum. Stück für Stück erzählt sie ihre Geschichte, die von unüberbrückbaren Klassenunterschieden, schwierigen gesellschaftlichen Verhältnissen und einer dysfunktionalen Familie erzählt.

„Mein Name ist Estela“ ist kein einfaches Buch. Mit jedem Kapitel wird es beklemmender und Estelas Leben immer enger. Außerdem hat die Erzählstimme eine, wie ich zunächst fand, schnodderige Art, die ich den Ereignissen unangemessen fand. Später kommt der Verdacht auf, dass sie vor allem aufmüpfiger wird. Estela erzählt, wie sie Teil des Haushalts, aber nie der Familie wird. Selbst wenn sie zum Weihnachtsessen eingeladen wird, wird von ihr erwartet, den Tisch auf- und abzudecken. Immer wieder erlebt sie Situationen, in denen ihr ihr Platz in der Welt klargemacht wird. Auch wenn sie wiederholt sagt, dass sie sich nicht um ein Kind kümmern möchte, bleibt es doch letztlich an ihr hängen. Das Verhältnis ist jedoch ambivalent. Von dem Kind wird viel erwartet, die Eltern sind ehrgeizig und die Erziehungsmethoden fragwürdig. So bilden Estela und das Kind bald eine Zwangsgemeinschaft. Doch die Kleine probiert bei Estela auch immer wieder ihre Privilegien aus und auch Estela instrumentalisiert das Kind in ihren kleinen Sabotageakten der Familie.
Dieser Roman ist nicht immer einfach, denn er lässt viel Raum für Interpretation und an der ein oder anderen Stelle wären kulturelle Hintergrundinfos sicherlich hilfreich. Deutlich wird jedoch die Kritik an den immer noch bestehenden gravierenden Klassenunterschieden. Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund der Proteste gegen die soziale Ungleichheit in Chile. Natürlich geht es auch darum, wie das Kind zu Tode kam und welche Rolle Estela dabei gespielt haben könnte. Aber die Handlung kann man auch vor dem größeren Rahmen betrachten und überlegen, ob Estelas Geschichte nur als Beispiel dient um die soziale Ungleichheit in Chile zu verdeutlichen. Viele doppeldeutige oder unnötig wirkende Szenen bieten zudem weiteren Interpretationsspielraum. Am Ende gibt die Autorin wenig vor, wie die Dinge zu interpretieren sind. Das kann an der ein oder anderen Stelle etwas unbefriedigend sein, denn der Bezug mancher Szene ist schwer nachzuvollziehen. Insgesamt bekommt man mit diesem Roman einen interessanten Einblick in die aktuelle chilenische Gesellschaft und deren Diskussionspunkte, gleichzeitig aber auch Spannung und Emotionen (in erster Linie eher Erschütterung und Empörung).

Bewertung vom 25.04.2024
Die Hexen von Cleftwater
Meyer, Margaret

Die Hexen von Cleftwater


gut

Die Hexenjagd von East Anglia

East Anglia, 1645: In Cleftwater geht die Angst um. Nachdem in den umliegenden Orten Frauen wegen Hexerei verhaftet wurden, hat man nun auch Prissy abgeholt, Köchin im Hause von Kit, für den Martha Bedienstete ist. Martha ist außerdem Kräuterfrau, Hebamme und seit ihrer Kindheit stumm. Weil sie den weiblichen Körper kennt, soll sie den Sucherinnen assistieren und die Frauen auf Hexenmale untersuchen. Doch das Misstrauen ist überall und Martha muss vorsichtig sein, wenn sie versuchen will, den Frauen zu helfen. Denn auch sie kann jederzeit als Hexe verdächtigt werden.

In diesem Buch werden historisch reale Erlebnisse zugrunde gelegt. Cleftwater, der Hexenjäger Makepeace und die verschiedenen Figuren sind fiktiv, es gab zu dieser Zeit jedoch den Hexenjäger Matthew Hopkins und Cleftwater vereint Merkmale verschiedener Ortschaften East Anglias während dieser Zeit. Die Romanhandlung selbst ist nicht neu und bietet auch wenig neue Ansatzpunkte, auch wenn die Geschichte über weite Strecken spannend und beklemmend erzählt ist. Das Misstrauen links und rechts ist beinahe greifbar, genau wie die Angst, die die Frauen von nun an verfolgt, die nächste zu sein oder durch irgendein unbedachtes Verhalten einen Grund zu liefern. Wie schnell das geht, zeigt eine impulsive Äußerung des Pfarrers. Überzeugend dargestellt ist, wie schnell die Dinge verdreht und absichtlich missverstanden werden. Das ist beim Lesen gleichzeitig äußerst frustrierend, denn man fragt sich, wie die Beschuldigten jemals ihre Unschuld beweisen sollten. Waren sie überzeugend, so wird es hier ebenfalls als Beweis für ein Bündnis mit dem Teufel angesehen, denn wer sonst könnte so einnehmend sprechen? Man kann fast Parallelen zur heutigen Zeit ziehen. Der Roman zeichnet nach, wie gefährlich Menschen sind, denen das Verständnis für komplexe Zusammenhänge abgeht oder für die die Mechanismen des weiblichen Körpers ein Mysterium darstellen. In der Person von Martha tun sich interessante Fragen auf. Welche Möglichkeiten hätte sie, den Frauen zu helfen? Und wann wird endlich jemand mit logischem Verstand diesem Wahnsinn entgegentreten? Der Aberglaube ist zudem tief verankert und die Menschen sind verunsichert, ob unerklärbare Dinge nicht doch auf Hexerei zurückzuführen sind. Nur allzu leicht sind sie gewillt, ihr Unglück oder Unvermögen auf andere zu schieben, was eigentlich im krassen Gegensatz zur gepredigten Schicksalsergebenheit der Religionen steht. Martha selbst möchte sich an Aberglauben und eine Wachsfigur klammern, doch bleibt deren Rolle und Macht bis zum Ende unklar.
Was mir in diesem Buch zu kurz kam, waren die Rahmenbedingungen, die die Hexenjagden zu dieser Zeit begünstigt haben. Gerade zu den Hopkins Trials finden sich bei einer Internetrecherche direkt zahlreiche fachliche Analysen, die die Rolle des englischen Bürgerkriegs hervorheben, aber auch die Rolle des Kapitalismus. Denn Hopkins wurde laut dieser Quellen pro verurteilter Hexe bezahlt.

"Die Hexen von Cleftwater" ist ein düsterer, beklemmender Roman, der gleichzeitig sehr wütend macht und zum Nachdenken anregt. Er erzählt von einer historisch verbrieften Hexenjagd aus der Sicht der 40jährigen Martha, die ihren Mitmenschen unheimlich ist. Sie beabsichtigt Gutes, erreicht aber oft genau das Gegenteil. Das lässt Mitleid mit ihr aufkommen, aber auch Ungeduld und die Hoffnung auf einen Lerneffekt, der bei Martha allerdings ausbleibt. Gleichzeitig sieht man zu, wie sich die Schlinge um sie herum enger zieht, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. Bis kurz vor dem Ende bleibt unklar, wie es für Martha enden wird. Der Roman liest sich flüssig und streckenweise fesselnd. Gleichzeitig hebt er sich aber nicht sehr von der Masse an Romanen über die Hexenverfolgung ab.

Bewertung vom 13.04.2024
Leute von früher
Höller, Kristin

Leute von früher


gut

Geschichten von den Nordseeinseln

Marlene ist orientierungslos. Das Studium abgeschlossen, aber keine Ahnung, was sie nun weiter machen möchte, nimmt sie einen Job als Saisonkraft in einem Erlebnisdorf an. Auf der Insel Strand in der Nordsee gibt es eine Kostümgrenze. Ab diesem Punkt haben die Saisonkräfte ihre historischen Kostüme zu tragen, dahinter leben sie in Baracken und ihre eigenen täglichen Dramen. Bei einem Spaziergang begegnet Marlene Janne, die auf der Insel wohnt. Marlene entdeckt Gefühle für sie, die sie vorher nicht kannte, und denen sie sich erst einmal stellen muss. Doch hinter der historischen Fassade lauert noch einiges mehr.

Die Grundidee dieses Buches ist sehr faszinierend. Mit Marlene schauen wir hinter die Kulissen und sehen die versteckten Heizungen und die digitale Kasse unter dem historischen Gehäuse. Doch nicht nur der historische Anstrich ist eine Fassade. Auch die Einheimischen haben ihr Leben und ihre Sorgen, die jenseits dessen passieren, was die Tourist:innen sehen. Das Ganze spielt auf einer Nordseeinsel, die es so seit dem Mittelalter gar nicht mehr gibt. Bereits 1634 wurde die Insel eigentlich durch eine Flut auseinandergerissen. Die Nordseeinseln sind dem ständigen Wandel ausgeliefert und jede Flut könnte sie wieder verändern. Zusammen mit dieser Macht der See sorgen auch die eingestreuten Mythen aus dem Nordseeraum, insbesondere über die Stadt Rungholt, für eine durchaus manchmal beklemmende Atmosphäre und eine bedeutungsschwangere Grundstimmung. Dieses Setting ist überaus interessant und mehrdeutig und man kann einiges hineininterpretieren. Ohne jeglichen erhobenen Zeigefinger bietet die Geschichte auch Denkanstöße dazu, was den Nordseeinseln mit dem Klimawandel eigentlich droht.

Dennoch konnte mich das Buch nicht so recht überzeugen. Vielleicht soll Marlene die neue Generation der Dreißigjährigen verkörpern, aber mit ihren fast 30 Jahren kam sie mir sehr unreif und entscheidungsunwillig vor und wirkte daher recht jung und naiv auf mich. Auch nimmt die Geschichte um Marlene und Janne viel Raum ein und war streckenweise recht zäh ohne wirkliches Vorankommen. Das Erzähltempo war zwischenzeitlich für meinen Geschmack zu langsam und die Geschichte zu ruhig und handlungsarm. Auf die angekündigten Merkwürdigkeiten muss man sehr lange warten und am Ende wirkt die Handlung dann ziemlich überstürzt. Ich hätte mir insgesamt noch mehr Nordseeflair und Handlung und dafür weniger Fokus auf die kleinsten Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen gewünscht. Die Idee und das Setting (Erlebnisdorf) fand ich aber prinzipiell originell und interessant und auch die verschiedenen Bedeutungsebenen fand ich eigentlich gut gelungen. Nur konnte mich das Buch am Ende eben doch nicht komplett abholen.

Bewertung vom 13.04.2024
Kantika
Graver, Elizabeth

Kantika


sehr gut

Jüdisches Leben zwischen der Türkei und Amerika

Rebecca Cohen ist sephardische Jüdin in Istanbul. Ihr Vater ist erfolgreicher Geschäftsmann, die Familie gehört zur Oberschicht. Das Leben ist bunt, viele Volksgruppen leben friedlich nebeneinander. Doch in den 1920ern ändert sich die Stimmung. Zuerst für die anderen. Dann für die Cohens. Aus Angst, dass Rebeccas Brüder zum Armeedienst eingezogen werden, flieht die Familie nach Spanien. Doch auch dort macht sich ein Gefühl der Bedrohung breit und so flieht Rebecca über Kuba in die USA, ihre jüdische Identität immer im Gepäck.

"Kantika" hat mich nicht sofort gebannt. Es hat erst einmal etwas Zeit gedauert. Ich musste mich zunächst in das bunte Treiben in Istanbul einfinden, musste die Privilegien, mit denen Rebecca aufwächst, erst verstehen sowie die Gepflogenheiten, mit denen Rebecca lebt. Es ist ein spannender Einblick in eine Zeit und Gesellschaft, die die friedliche Koexistenz verschiedener Völker in einem Land erlaubte. Aber aus der Geschichte wissen wir bereits, dass der Mord am armenischen Volk nicht weit ist. Spannend sind auch die religiösen jüdischen Gepflogenheiten, die sich mit dem türkischen Leben vermischen. Zunächst scheint es etliche Seiten lang, als würde die Handlung auf der Stelle treten, doch dann kommt langsam Tempo in die Geschichte. Die Bedrohung der Familie Cohen ist eher wirtschaftlicher als politischer Natur, sodass man hier vielleicht anderes erwartet hätte, mit dem heraufziehenden ersten Weltkrieg. Dann ziehen die Cohens nach Spanien, das unter Königin Isabella jüdische Menschen zur Konversion oder zur Emigration zwang. Auch 400 Jahre später prägt es sowohl die Menschen jüdischen Glaubens als auch die Bevölkerung Barcelonas noch tief. Das war für mich ein äußerst interessanter Aspekt, insbesondere die transgenerationale Weitergabe dieses historischen Ereignisses. Oft ist man auch in der Literatur vor allem mit den Ereignissen in Deutschland konfrontiert, dass es jedoch europaweit seit Jahrhunderten diese Verfolgung gibt, wird einem bei Büchern wie diesem eingängig bewusst. Zunehmend gebannt verfolgte ich Rebeccas Leben, das sie sich durch die Flucht und Emigration mehrfach neu aufbauen musste. Später kommt eine weitere Thematik hinzu mit einer Stieftochter mit Behinderung (Zerebralparese). Das mag sehr konstruiert klingen, aber es passt sehr gut in die Geschichte und ist wirkt absolut nicht überladen. Besonders glaubwürdig und beeindruckend ist dies, wenn man das Dankwort liest, aus dem ersichtlich wird, dass die Autorin hier ihre Familiengeschichte verarbeitet hat. Am Ende der Geschichte waren mir die Familienmitglieder alle ans Herz gewachsen und auch wenn Rebecca keine einfache Protagonistin ist, gerade im Umgang mit ihrer Stieftochter, der sie mit ihrem Ehrgeiz viel abverlangt, so war ich doch irgendwann mitten in diesem Familienleben und bin am Ende nur so durch die Seiten geflogen. Dieses Buch sticht nicht nur durch das wunderschöne Cover hervor, sondern ist auch unter den Familiengeschichten etwas Besonderes.