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anushka

Bewertungen

Insgesamt 140 Bewertungen
Bewertung vom 13.04.2024
Kantika
Graver, Elizabeth

Kantika


sehr gut

Jüdisches Leben zwischen der Türkei und Amerika

Rebecca Cohen ist sephardische Jüdin in Istanbul. Ihr Vater ist erfolgreicher Geschäftsmann, die Familie gehört zur Oberschicht. Das Leben ist bunt, viele Volksgruppen leben friedlich nebeneinander. Doch in den 1920ern ändert sich die Stimmung. Zuerst für die anderen. Dann für die Cohens. Aus Angst, dass Rebeccas Brüder zum Armeedienst eingezogen werden, flieht die Familie nach Spanien. Doch auch dort macht sich ein Gefühl der Bedrohung breit und so flieht Rebecca über Kuba in die USA, ihre jüdische Identität immer im Gepäck.

"Kantika" hat mich nicht sofort gebannt. Es hat erst einmal etwas Zeit gedauert. Ich musste mich zunächst in das bunte Treiben in Istanbul einfinden, musste die Privilegien, mit denen Rebecca aufwächst, erst verstehen sowie die Gepflogenheiten, mit denen Rebecca lebt. Es ist ein spannender Einblick in eine Zeit und Gesellschaft, die die friedliche Koexistenz verschiedener Völker in einem Land erlaubte. Aber aus der Geschichte wissen wir bereits, dass der Mord am armenischen Volk nicht weit ist. Spannend sind auch die religiösen jüdischen Gepflogenheiten, die sich mit dem türkischen Leben vermischen. Zunächst scheint es etliche Seiten lang, als würde die Handlung auf der Stelle treten, doch dann kommt langsam Tempo in die Geschichte. Die Bedrohung der Familie Cohen ist eher wirtschaftlicher als politischer Natur, sodass man hier vielleicht anderes erwartet hätte, mit dem heraufziehenden ersten Weltkrieg. Dann ziehen die Cohens nach Spanien, das unter Königin Isabella jüdische Menschen zur Konversion oder zur Emigration zwang. Auch 400 Jahre später prägt es sowohl die Menschen jüdischen Glaubens als auch die Bevölkerung Barcelonas noch tief. Das war für mich ein äußerst interessanter Aspekt, insbesondere die transgenerationale Weitergabe dieses historischen Ereignisses. Oft ist man auch in der Literatur vor allem mit den Ereignissen in Deutschland konfrontiert, dass es jedoch europaweit seit Jahrhunderten diese Verfolgung gibt, wird einem bei Büchern wie diesem eingängig bewusst. Zunehmend gebannt verfolgte ich Rebeccas Leben, das sie sich durch die Flucht und Emigration mehrfach neu aufbauen musste. Später kommt eine weitere Thematik hinzu mit einer Stieftochter mit Behinderung (Zerebralparese). Das mag sehr konstruiert klingen, aber es passt sehr gut in die Geschichte und ist wirkt absolut nicht überladen. Besonders glaubwürdig und beeindruckend ist dies, wenn man das Dankwort liest, aus dem ersichtlich wird, dass die Autorin hier ihre Familiengeschichte verarbeitet hat. Am Ende der Geschichte waren mir die Familienmitglieder alle ans Herz gewachsen und auch wenn Rebecca keine einfache Protagonistin ist, gerade im Umgang mit ihrer Stieftochter, der sie mit ihrem Ehrgeiz viel abverlangt, so war ich doch irgendwann mitten in diesem Familienleben und bin am Ende nur so durch die Seiten geflogen. Dieses Buch sticht nicht nur durch das wunderschöne Cover hervor, sondern ist auch unter den Familiengeschichten etwas Besonderes.

Bewertung vom 12.03.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


sehr gut

Falsche Liebe

Philipp ist in der Schule ein Einzelgänger. Er wünscht sich nichts mehr als einen Freund. Diesen findet er schließlich in Faina. Faina ist gerade aus der Ukraine nach Deutschland gezogen und Philipp macht sie zu seinem Projekt, indem er ihr Deutsch und die deutschen Gepflogenheiten beibringt. Es entwickelt sich eine enge Freundschaft, die Jahre später plötzlich zerbricht. Philipp hat inzwischen zwei Eigentumswohnungen, ein Auto und jede Menge Geld als Faina nach fast drei Jahren schwanger vor seiner Tür steht. Allein und verschuldet begibt sie sich wieder unter seinen Schutz, doch Philipps Liebe verlangt viele Opfer ...

Lana Lux schreibt sehr gekonnt über eine Freundschaft, die irgendwann zur Obsession wird. Abwechselnd wird die Geschichte aus den Perspektiven Philipps und Fainas erzählt, was die beiden unterschiedlichen Sichtweisen sehr gut veranschaulicht, wobei man jedoch auch aus Philipps Sicht schnell merkt, dass da etwas nicht richtig läuft. Wann immer etwas Mitleid mit Philipp aufkommt aufgrund seiner schwierigen Kindheit, macht er dies mit misanthropen Äußerungen wieder zunichte. Aber auch Faina kommt nicht immer gut weg: statt sich dem Konflikt zu stellen und sich klar von Philipp zu distanzieren, greift sie lieber zu Lügen und Heimlichkeiten. Allzu leicht glaubt sie Philipps Manipulationen und glaubt, dass er nur zu ihrem besten handelt. Immer wieder wird man beim Lesen Zeuge, wie Faina Situationen und Erlebnisse umdeutet und ihr Selbstbewusstsein abnimmt, bis zu dem Punkt, dass sie sich selbst kaum traut. Allzu leicht nimmt sie die Schuldzuweisungen an. Interessant und gelungen ist, wie gerade im ersten Teil noch nichts auf eine dysfunktionale Beziehung hindeutet, sondern alles wie eine gute und gegenseitig vorteilhafte Freundschaft wirkt. Doch erste Anzeichen gab es auch hier schon.
In diesem beklemmenden Roman seziert Lana Lux die Entwicklung einer obsessiven, besitzergreifenden Beziehung. Ist das, was Philipp fühlt, wirklich Liebe? Oder geht es hier nur um Kontrolle? Hinter Philipps Motivation kommt man leider nicht. Auch wird keine wirkliche Erklärung für sein Verhalten angeboten. Vieles kann, aber nichts muss, Ursache sein. Immerhin thematisiert der Roman aber auch familiäre Muster, die an die Kinder weitergegeben werden. Das Ende war mir dann auch zu abrupt und distanziert. Gerade hier hätte ich mir mehr Emotionen gewünscht.

Lana Lux greift ein brisantes, zeitgenössisches Thema auf und macht daraus einen beklemmenden Roman, der viele Dynamiken anschaulich und nachvollziehbar darstellt. Sie zeigt realitätsnah zwischenmenschliche Beziehungen des dysfunktionalen Spektrums mit zwei Protagonist:innen, die wenig Sympathien hervorrufen. Dennoch liest man gebannt und mit Faina mitfühlend dieses ergreifende und schockierende Buch.

Bewertung vom 25.02.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


ausgezeichnet

Was. Für. Ein. Buch!

Gehypte Bücher sind immer schwierig. Wenn ein Buch schon vor dem Erscheinen (der Übersetzung) derart präsent ist und hochgelobt wird, sind die Erwartungen enorm. Yellowface hat mich jedoch positiv überrascht.

June Hayward muss zusehen, wie Athena Liu, Freundin seit College-Tagen, Halbchinesin und Literatur-Shootingstar, vor ihren Augen stirbt. Beide verbindet der Kampf um erfolgreiche Veröffentlichungen auf dem Buchmarkt. Mit dem Unterschied, dass Junes Debüt floppte, während Athena zum Publikumsliebling aufstieg. Jetzt, nach Athenas Tod, veröffentlicht June ein Buch über chinesische Arbeiter während des Ersten Weltkriegs. Es wird binnen kürzester Zeit ein Bestseller und June lebt nun endlich das Leben, das sie sich verdient zu haben glaubt. Doch ebenso schnell kommen in den Sozialen Medien Gerüchte auf. Ist “Die letzte Front” nicht möglicherweise ein Buch von Athena Liu? Und selbst wenn nicht, darf eine weiße Frau ohne chinesische Wurzeln eine solche Geschichte veröffentlichen und daran viel Geld verdienen? Und hat die Autorin nicht sogar “yellowfacing” betrieben, indem sie unter dem Namen Juniper Song veröffentlichte und somit zumindest suggerierte, einen asiatischen Hintergrund zu haben?

Dieses Buch verbindet zahlreiche, durchaus kontroverse Themen gekonnt miteinander, ohne dass man das Gefühl hat, dass es überladen ist. Es ist vielschichtig und gibt vielfach Denkanstöße. Nicht nur im Buch selbst geht es um Fragen von kultureller Aneignung, Rassismus, Diskriminierung im Verlagswesen und Cancel Culture. Auch in Bezug auf “Yellowface” selbst kommt der Gedanke auf, ob eine Autorin anderer Herkunft hätte all diese (kritischen) Dinge schreiben dürfen. Thematisch ist das Buch absolut modern und auf der Höhe der Zeit und neben einem spannenden Einblick in das Verlagswesen spürt es überzeugend und authentisch den Social Media Shitstorms nach, denen Personen in der Öffentlichkeit bei dem kleinsten Verdacht auf Fehlverhalten ausgesetzt sind und was dies mit ihnen anzurichten vermag.
Der Stil ist angenehm, nicht lyrisch, aber doch immer mal mit herausragenden Sätzen, die ich mir gern angestrichen hätte, wenn ich in meinen Büchern herumstreichen würde. Genretechnisch ist es ein interessanter Mix aus verschiedenen Elementen. Die Protagonistin ist zwar leider eine Antiheldin, aber es ist dennoch spannend zu verfolgen, wie sie ihre eigenen Handlungen reflektiert und notfalls umdeutet.
Am Ende saß ich einfach nur sprachlos da. Ich wusste zunächst kaum, wie ich das Buch beschreiben soll. Also bleibt mir nur zu sagen, dass mir dieses Buch beim Lesen unglaublich Spaß gemacht hat. Allein schon das ganze Setting der Buchbranche hat mich als Buchliebhaberin gefesselt. Aber ich habe letztlich auch mit June gefiebert, war wie gebannt und habe die vielen Denkanstöße sehr genossen. Das Buch hat richtiggehend süchtig gemacht. Und es zeigt eindrucksvoll, wie man gesellschaftskritische und aktuelle Themen umsetzen kann, ohne beständig mit der Moralkeule zu schwingen. Stattdessen macht sich die Autorin vielerlei Emotionen und Stimmen gekonnt zunutze. Für mich jetzt schon ein Jahreshighlight und ein absolut verdienter Hype.

Bewertung vom 25.02.2024
Weiße Wolken
Seck, Yandé

Weiße Wolken


gut

Wie eine akademische Vorlesung im Roman-Gewand

Dieo und Zazie leben in Frankfurt. Zwei Schwestern, Töchter einer deutschen Mutter und eines senegalesischen Vaters. Dieo ist vollauf beschäftigt mit drei Kindern, einem Job als Psychotherapeutin und einem Mann, der als Mitarbeiter eines Startups eigentlich immer am Start sein muss, wenn der Chef wieder eine Nachtschicht anordnet. Zazie arbeitet in einem Jugendzentrum und überlegt noch, ob sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin zum Thema Rassismus an die Uni gehen möchte. Vor allem Zazie beschäftigt sich mit den vielen verschiedenen gesellschaftlichen Themen rund um Diskriminierung, Rassismus und Ungleichheit und hält - vor allem dem Rest der Familie - permanent einen Spiegel vor.

Die Ankündigungen versprachen einen Familienroman mit aktuellen gesellschaftlichen Themen und hintergründigem Witz. Tatsächlich fand ich in diesem Buch wenig Witz. Und was den Familienroman betrifft, fühlte es sich eher wie eine Verkleidung an. Es war fast wie eine Hochschulvorlesung, die als Familienroman verkleidet daherkam, um die Themen leichter verdaulich zu machen. Doch das ist leider meiner Meinung nach nicht gut geglückt. Zazie belehrt ihre Familienmitglieder in einem fort. Die Familienzusammenkünfte und andere Treffen, die hier erzählt werden, wirken eher wie akademische Diskussionskreise. Immer wieder werden sehr direkt und "in your face" die aktuellen Modebegriffe regelrecht definiert. "So, dann weiß ich ja jetzt auch, was Mansplaining [beliebig austauschbar mit anderen Begriffen] ist." Und es wird nicht besser dadurch, dass die Begriffe wie in einem Lehrbuch auch noch in kursiv hervorgehoben sind. Und dann wird selbst die eigene Großmutter noch ständig zurechtgewiesen. Ja, auch und gerade die älteren Generationen müssten sensibilisierter werden, aber diese Großmutter hat diese Enkelinnen doch schon seit 20 Jahren. Da ist das Ganze irgendwie wenig glaubhaft.
Über lange Strecken habe ich mich ziemlich durch dieses Buch gekämpft. Da ich selbst im akademischen Bereich tätig bin, weiß ich, wie wichtig die Themen dieses Buches sind. Dennoch hat es mir an fesselnder Handlung gefehlt für einen Roman. Der eigentliche Handlungspunkt, der auch im Klappentext genannt wird, passiert erst spät im Buch, sodass wenig Handlung im Senegal oder in Interaktion mit der senegalesischen Verwandschaft stattfindet. Dieser Abschnitt war tatsächlich deutlich interessanter und spannender und hätte noch mehr Potential gehabt, dass die Schwestern auch ihre eigenen Privilegien reflektieren, die sie trotz erlebter Diskriminierung haben. So haben beide beispielsweise ein Hochschulstudium genossen und Zazie hat trotz vorübergehender Arbeitslosigkeiten scheinbar keine existenziellen Sorgen.

Insgesamt ist dieses Buch sicher gesellschaftlich wichtig aufgrund der Themen, die es verhandelt. Leider bleibt es aber relativ trocken und theoretisch und wirkt eher wie eine Uni-Vorlesung verkleidet als Familiengeschichte. Und wenn es die Zielgruppe, die es am besten gebrauchen könnte, nicht schon direkt verfehlt, wird es sie wahrscheinlich auf halber Strecke verlieren aufgrund des ständigen erhobenen Zeigefingers und der mangelnden Handlung, die einen Roman nun einmal ausmachen.

Bewertung vom 18.02.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


gut

Träge See, träge Geschichte

Zu ihrem 100. Geburtstag bittet die berühmte russische Architektin Anouk Perleman-Jacob einen Schriftsteller, der den gleichen Namen wie der Autor trägt, zu sich um ihre Lebensgeschichte als Roman aufzuschreiben. Da man ihn als einen ausgezeichneten Fabulierer kenne, würde ihm sowieso niemand Perleman-Jacobs Geschichte glauben, weshalb sie endlich die Wahrheit erzählen könne. Denn als junges Mädchen wurden sie und ihre Eltern auf einem der sogenannten Philosophenschiffe aus Russland, auf Lenins eigenen Befehl, deportiert. Doch dann hält das Schiff plötzlich an und liegt mehrere Tage und Nächte reglos vor der Küste. Während unter den Passagieren die Panik umgeht, ob sie nun doch noch getötet würden, kommt ein weiterer Passagier an Bord: Lenin selbst.

Manchmal muss sich ein Buch einfach dem Kontext der jeweilig Lesenden beugen. Ich weiß, dass es Autor*innen gibt, die fordern, dass ihre Bücher nicht parallel mit anderen Büchern gelesen werden. Aber seien wir mal ehrlich: das ist ziemlich unrealistisch. Vielleicht hat dieses Buch bei mir einfach Pech gehabt, weil ich vorher und nebenher Bücher gelesen habe, die mich echt vom Hocker gehauen haben. Im Gegensatz dazu wirkte dieses Buch dann noch träger als ich es zuvor schon empfunden habe. Das mag dem Buch gegenüber vielleicht nicht fair sein, aber das ist nunmal die Lebensrealität von Lesenden. Hätte ich das Buch zu einer anderen Zeit oder nach anderen Büchern als den jetzigen gelesen, hätte es mir vielleicht besser gefallen. So habe ich mich nun etwas hindurchgequält und über einige, meines Empfindens nach, Unstimmigkeiten geärgert. Zum einen verfällt Anouk während der Erzählung hin und wieder in zusammenhangloses Geplapper. Das soll vielleicht stilistisch ihr Alter unterstreichen, mich hat es aber einfach genervt, da es auch recht stereotyp wirkte. Zudem ändert sie wiederholt die Schilderung der Ereignisse, "Ja, da habe ich Sie angelogen.", "Und eigentlich habe ich nochmal gelogen, denn es war jemand ganz anderes." und so weiter. Und warum Perleman-Jacob nicht will, dass jemand ihre Geschichte glaubt, erschließt sich bis zum Schluss nicht. Der Erzähler/Schriftsteller/Autor wirkt zudem immer recht wertend und das eher auf eine herabwürdigende Weise.
Inhaltlich befasst sich das Buch durchaus mit einer interessanten und berührenden Thematik: der Säuberung der intellektuellen Schichten Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aufschlussreich ist dabei auch der politische Hintergrund. Mit dem Kunstgriff, Lenin auf das Schiff zu bringen, muss er Rede und Antwort stehen und wird mit den Monster konfrontiert, das er selbst geschaffen hat. Auch die Pervertierung der eigentlich ursprünglich gedachten Gleichstellung aller Schichten wird nachvollziehbar in ihrem ganzen menschlichen Ausmaß. Dennoch hat mich dieser Kunstgriff auch gestört, denn zumindest Menschen, die in Ostdeutschland aufwuchsen wissen, dass bis heute Lenin in einem Mausoleum in Moskau zu betrachten ist. Warum dann also dieses alternative Ende, das entsprechend nicht annähernd glaubwürdig ist?

Insgesamt hat dieses Buch zwar eine interessante historische Epoche betrachtet und politische Zusammenhänge verständlich, aber nicht nahbar gemacht. Die Geschichte war sehr verkopft und meines Empfindens nach zu intellektuell. An vielen Stellen wirkte die Handlung sehr träge und etliche Elemente der Geschichte wurden in ihrer Bedeutung nicht nachvollziehbar. Ich hatte streckenweise eher das Gefühl, eine Selbstdarstellung des Protagonisten, der vielleicht auch der Autor sein soll, zu lesen. Das war leider wenig spannend oder sympathisch.

Bewertung vom 24.01.2024
Das Buch Eva
Clothier, Meg

Das Buch Eva


gut

Für meinen Geschmack zu mystisch-magisch

Italien während der Renaissance: Am Tor des Kloster tauchen zwei schwer verletzte Frauen auf. Sie haben ein seltsames Buch dabei, dessen Schrift niemand lesen kann. Die Bibliothekarin Beatrice spürt schnell, dass dieses Buch etwas Besonderes ist und dass sie es beschützen muss. Und tatsächlich, nur kurze Zeit später tauchen Männer am Tor auf und fragen nach den Frauen und was sie bei sich trugen ...

Die Geschichte wird aus der Perspektive von Beatrice erzählt. Sie ist nicht gerade eine Sympathieträgerin: als Bibliothekarin zieht sie sich von den anderen zurück, ist mürrisch, wenig zugänglich und nachtragend. Als Tochter eines Herzogs ging sie nach dem Tod des Vaters ins Kloster, weil sie nicht bei der Stiefmutter bleiben wollte. Im Kloster genießt sie aufgrund ihrer Stellung einige Sonderrechte, doch das gefällt nicht jeder. Das Klosterleben und die internen Intrigen vermögen in den Bann zu ziehen. Auch wird deutlich, wie wenig Macht Frauen hatten, wenn sie sich dem männlichen Willen widersetzen. Auch ein Kloster führen sie nur auf Gnade von Männern. Das Buch, das Beatrice vor dem Zugriff eines eifernden Mönchs schützen möchte, ist bald ein offenes Geheimnis. Doch was es damit auf sich hat, bleibt ein Mysterium. Angelehnt ist die Geschichte an das real existierende Voynich-Manuskript, das bis heute ein ungelöstes Rätsel der Kryptologie ist. Ziel der Autorin war es laut Nachwort, einen feministischen Roman über dieses Manuskript zu schreiben. Für mich ist dieses Umsetzung nicht überzeugend gelungen, denn es gibt zu viel Mystisch-Magisches. Das kann in einem historischen Roman durchaus seinen Platz haben, aber hier untergräbt es meiner Meinung nach die Botschaft. Es ist für mich zu viel Zauberei, die letztlich die Sicht der Männer wieder bestätigt und den Vorwurf von Hexerei und Hysterie untermauert. Hier gibt es keine starke Weiblichkeit, sondern wenn es eng wird, passieren unerklärliche mystische Dinge.

Alles in allem war das Buch unterhaltsam und durchaus spannend. Es liest sich flüssig, die düstere Grundstimmung kommt gut herüber, aber was das ungelöste Manuskript angeht, erscheinen mir die vorgeschlgenen Lösungen eher ideenlos. Auch der Anspruch, einen feministischen Roman zu schreiben, erfüllt das Buch meiner Meinung nach nicht. Für meinen Geschmack war zu viel Zauberei, zu Mystisch-Magisches im Spiel, sodass ich das Buch nicht restlos überzeugen konnte.

Bewertung vom 12.01.2024
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Tolles Buch über schwierige Familienbeziehungen

Eine Reise durch das ländliche Schweden. Ein zehnjähriges Mädchen und sein Vater, ein Mann mit seiner Frau in einer kriselnden Ehe und eine junge Frau auf der Suche nach den Antworten zu ihrer Kindheit. Sie alle sind unterwegs nach Malma, weil sie hoffen, dort die Lösung für ihre dysfunktionalen Familienbeziehungen zu finden.

Für mich war es das erste Buch des Autors, sodass ich "unvoreingenommen" an das Buch herangehen und es nicht mit vorherigen Werken vergleichen konnte. Und es hat mich sehr beeindruckt. Die Geschichte ist toll konstruiert, wie die verschiedenen Reisen und Personen letztlich zusammengehören. Und auch wenn das nach relativ wenigen Kapiteln schon klar ist, möchte ich das hier nicht spoilern. Die Zugreise strukturiert die gesamte Geschichte, obwohl man durch Rückblenden während der Reise in die jeweilige Geschichte der Figuren eintaucht und vieles abseits der Bahnreise erfährt. Schulman ist eine emotionale Familiengeschichte gelungen, die gleichzeitig dramatisch und andererseits nicht übertrieben oder unglaubwürdig ist. Alle Figuren sind bemitleidenswert und es ist tragisch, wie sie in ihren Familiendynamiken gefangen sind. Das eigentlich Tragische an der Geschichte ist, dass vieles hätte anders verlaufen können, wenn die Figuren nur aus sich heraus gekonnt oder aus ihren Strukturen hätten ausbrechen können. Auch wenn die Handlungsbeschreibung dieses Buches zunächst eher langweilig klingt - ich gebe zu, dass ich mich nicht vom ersten Blick an für dieses Buch interessiert habe, sondern erst nach ein paar Stimmen dazu - entwickelt die Handlung einen stillen Sog und eine gewisse Spannung. Gleichzeitig geht es mit transgenerationalen Beziehungsproblemen oder gar Traumata um ein sehr ernstes Thema, das in einen angenehmen Erzählstil verpackt wird. Wechselnde Erzählperspektiven beleuchten die verschiedenen Probleme von verschiedenen Standpunkten, die alle nachvollziehbar und gerade dadurch besonders beklemmend und tragisch sind. Die Unfähigkeit der Eltern beeinflusst die Kinder ein Leben lang, selbst im Umgang mit ihren eigenen Kindern. Hier wird kein leichtes Thema verhandelt, doch "Endstation Malma" ist es ein beeindruckend einfühlsames Buch, das ich gern gelesen habe.

Bewertung vom 28.12.2023
Die Kinder des Don Arrigo
Sciapeconi, Ivan

Die Kinder des Don Arrigo


gut

Wichtige Geschichte über Zivilcourage, die mich emotional nicht abgeholt hat

Nathan versteht die Welt nicht mehr, alles um ihn herum wird feindseliger, die Erwachsenen vorsichtiger. Nur sein Vater erzählt weiterhin scheinbar unbekümmert Geschichten und Witze. Doch dann kommen eines Tages die Braunhemden und holen seinen Vater ab. Eines Tages klingelt eine Frau an der Tür und bietet an, Nathan außer Landes zu bringen. Sein Bruder sei noch zu klein und so können er und die Mutter nicht mitkommen. Der Name der Frau ist Recha Freier. Zusammen mit anderen Kindern reist Nathan quer durch Europa, immer knapp vor den Braunhemden. Schließlich landen sie in dem kleinen Dorf Nonantola. Nicht alle sind begeistert von den Neuankömmlingen, doch viele halten zu ihnen. Und so schmiedet der Pfarrer Don Arrigo einen tollkühnen Plan als die Braunhemden auch Nonantola erreichen und sich auf die Suche nach versteckten Juden und Jüdinnen machen.

Das vorliegende Buch ist ein Versuch, den Sprung vom Kinderbuch zum Erwachsenenbuch zu schaffen. Das merkt man ihm auch an, denn der Schritt in das Erwachsenengenre gelingt noch nicht ganz. Die Geschichte hat mich nicht wirklich abgeholt, sie wirkt nicht gut ausgearbeitet und bringt nicht viel emotionale Tiefe mit. Zugegeben, die Geschichten der einzelnen Kinder sind tragisch und eigentlich berührend, aber es sind teilweise zu viele und man lernt die Kinder selbst wenig kennen. Zum Thema des Buches und insbesondere zu dieser Epoche gibt es bereits zahlreiche Bücher, sodass sich dieses Buch durchaus messen lassen muss. Die Kinder ziehen quer durch Europa, immer verfolgt von den politischen Entwicklungen. Bei mir kam allerdings nie so richtig Spannung auf. Auch bleibt der Erzähler reserviert und emotional wenig greifbar. Die eigentliche Handlung in Nonantola wirkte auch etwas oberflächlich und im Vergleich zum gesamten Buch recht kurz abgehandelt. Insgesamt erzählt das Buch eine wichtige Geschichte über die Zivilcourage vieler einzelner Personen, deren Zusammenwirken es ermöglicht hat, zahlreiche jüdische Kinder zu retten. Doch als Roman hat es mich nicht überzeugt und konnte mich emotional nicht abholen.

Bewertung vom 29.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


sehr gut

Sehr gutes Buch über Misogynie im Wandel der Zeit

Um 1580 im Hamburger Marschland führt Abelke Bleken allein einen großen Hof. Für eine Frau zu dieser Zeit ist das nicht ungefährlich, insbesondere, wenn sie auch noch weiß, was sie tut. Dank weiser Voraussicht ist ihr Hof von einer Springflut weniger betroffen als andere Höfe. Das ruft Neid, Missgunst und Misstrauen auf den Plan.
450 Jahre später zieht Britta Stoever in das Hamburger Marschland. Als studierte Geologin würde sie sich sicherlich als emanzipierte Frau betrachten. Erste Risse zeigen sich, doch werden ignoriert, als ihr Mann die Kaufentscheidung für das Haus trifft. Nun sitzt Britta ohne Job und Beschäftigung in ihrem “Eispalast” im Marschland. Ihr bleiben lange Spaziergänge und die Hausarbeit. Bei ihrem Engagement für den Heimatverein stößt sie auf die Geschichte von Abelke Bleken und taucht immer tiefer in diese ein. Und stellt dabei fest, dass ihre Lebensumstände mehr mit denen von Abelke gemein haben, als ihr lieb ist.

Ich muss zugeben, dass ich dieses Buch zunächst mit anderen Erwartungen gelesen habe. Ausgegangen war ich von einem historischen Roman zu einer wahren Geschichte. Nachdem ich dann recht zu Beginn der Geschichte nach Abelke Bleken gegoogelt habe, hatte ich mir auch etwas die Spannung genommen. Spannung ist etwas, das man von diesem Buch insgesamt weniger erwarten kann, insbesondere im Handlungsstrang um Britta. Die Geschichte geht auch weit darüber hinaus, nur ein historisches Ereignis wiederzugeben. Es geht vielmehr um das Erkennen von Mustern. Neben der Lebensgeschichte von Abelke Bleken seziert “Marschlande” vor allem das Aufkommen neuer Strukturen. War es zunächst noch üblich, dass die Menschen seit Generationen Bauern waren und ihre eigenen Höfe und Ländereien bewirtschafteten, werden wir hier Zeuge des aufkommenden Kapitalismus. Zunehmend geht es um Investitionen von Hamburger Bürgern, das Aufkaufen von Land, und die Ansammlungen von Besitzungen. Dabei steht Abelkes Geschichte eigentlich nur symptomatisch für etwas, das zunehmend mehr Bauern ereilt hat. Was Brittas Geschichte damit zu tun hat, wird erst auf den zweiten Blick deutlich und irritiert daher ein ums andere Mal, wenn der Handlungsstrang wechselt. Gerade das Nachwort der Autorin bietet hier noch einmal viel Substanz, die zum Verständnis beiträgt.

Mich hat dieses Buch sehr positiv überrascht. Man traut es sich kaum zu schreiben, weil dann viele dieses Buch von vornherein nicht lesen, obwohl es für sie aufschlussreich und interessant sein könnte: ja, dieses Buch ist deutlich feministischer ausgerichtet, als ich erwartet hatte. Dass die Hexenprozesse der Vergangenheit viel mit Misogynie und Machtverhältnissen zu tun hatten, ist längst bekannt. Dennoch empört und berührt es einen, Abelkes Geschichte zu lesen. Bei Britta fällt einem das Mitfühlen deutlich schwerer, weil sie unsympathischer wirkt. Auch sind die Probleme hier subtiler und damit nicht immer so eindeutig ungerecht. Gleichzeitig sind die Geschichten jedoch in eine faszinierende Umgebung verpackt. Die Autorin hat einen atmosphärischen Erzählstil: die vielen gelungenen Natur- und Tierbeschreibungen erwecken eine klamme, düstere und manchmal bedrohliche Stimmung, die der ganzen Geschichte einen sehr passenden Rahmen gibt. Auch sprachlich ist das Buch ein Genuss.

“Marschlande” hat mir sehr viele Denkanstöße mitgegeben und das oft auf eine fesselnde Art (zumindest bei Abelke). Der Handlungsstrang im Britta war mir allerdings für einen Roman dann doch etwas fade. Und dennoch ist dieses Buch eines meiner Jahreshighlights, weil es so wichtige Botschaften auf zumeist tolle Weise mit einem tollen Schreibstil vermittelt.

Bewertung vom 25.07.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


sehr gut

Bissige Familiengeschichte vor der Kulisse des Klimawandel

Dass das Klima sich verändert, leugnet hier keiner mehr: Die Mutter der Familie, Ottilie, ersetzt Teile ihrer Gerichte durch Insekten und Raupen und versucht insgesamt, mehr durch Selbstversorgung abzudecken. Sowohl sie als auch ihr Mann ächzen unter der monatelangen Trockenheit und Waldbrandgefahr in Kalifornien. Da geht es bei Cat, der Tochter, ganz anders zu. War ein Haus am Strand auf einer Halbinsel Floridas vor Jahren noch ein begehrtes Objekt, sind die Straßen nun ständig überschwemmt. Damit der knallrote Tesla von Cats Freund nicht korrodiert, muss sie ihn außerhalb der Halbinsel parken und ständig zu Fuß durch die überschwemmten Straßen waten. Um ihre Karriere als Influencerin in die Gänge zu bringen, kauft sie sich einen Tigerpython. Und dann ist da noch Cooper, Sohn der Familie, Bruder von Cat, und Insektenforscher. Auf Parties ist er mit seinem Weltuntergangsgerede die absolute Spaßbremse, umso mehr, nachdem ein Schicksalsschlag sein Leben drastisch verändert.

Ich habe zugegebenermaßen etwas mit diesem Buch gekämpft. Nicht, weil es nicht gut geschrieben oder nicht interessant wäre. Sondern weil Boyle so plastisch schreibt und seine Beschreibungen so realistisch sind, dass es meine Phobie extrem getriggert hat. Dazu ist das Buch vergleichsweise aufwendig gestaltet, mit Illustrationen von Schlangenkörpern zwischen den großen Abschnitten der Geschichte. Der wiederholte Alarmzustand meines Körpers hat das Lesevergnügen doch zwischendurch immer wieder um einiges eingeschränkt. Die entsprechenden Beschreibungen konnte ich zeitweise nur grob überfliegen. Als potentielle*r Leser*in mit entsprechender Phobie sollte man das vorab besser wissen.

Ansonsten erzählt Boyle hier eine bissige Familiengeschichte von Figuren, die den Klimawandel und etliche Einschränkungen spüren, ihr Leben daran anpassen, aber nicht wirklich viel verändern. Ottilie lässt sich ihre Insektenzucht von Amazon liefern und als diese alle an einer Krankheit eingehen, wird das Gefäß ohne zu zögern entsorgt und ein neues bestellt. In abwechselnden Kapitel über die jeweiligen Familienmitglieder geht es um die sozialen und emotionalen Auswirkungen, wenn beispielsweise die Nachbarn ihr Haus an einen Waldbrand verlieren und man sich nun gemeinsam in einem Haus arrangieren muss. Insgesamt wirft Boyle hier viele Themen in einem Topf und garniert sie mit der Klimawandelthematik: überforderte Mutter, deren Partner die ganze Zeit auf Reisen ist; Shitstorm in den sozialen Medien für öffentlich gewordenes Fehlverhalten; Behinderung und die Anpassungsschwierigkeiten daran; Influencertum; und vieles mehr. Dabei lässt er seine Figuren ganz schön leiden, erzählt ihre jeweiligen Geschichten überspitzt böse-humorvoll und zeigt dabei immer wieder ohne Moralkeule ihre Doppelmoral auf. Es bleibt einem aber auch immer wieder das Lachen im Halse stecken, wenn man darüber nachdenkt, wie präsent die Klimaveränderungen sind und wie sie die "normalen" Probleme noch potenzieren.

Insgesamt ist Boyle meiner Meinung nach eine gute Mischung aus Familiengeschichte und Gesellschaftskritik gelungen, die nicht mit dem Holzhammer daherkommt, sondern im Gewand einer neuen Normalität. Die Ereignisse und Veränderungen sind faktisch fundiert und stimmig, Das Buch ist keine Endzeit-Dystopie, sondern erzählt alltägliche Geschichten, in die sich die Endzeit längst eingeschlichen hat. Auch wenn meiner Meinung nach nicht alle Themen ausreichend Aufmerksamkeit bekommen haben bzw. es vielleicht zu viele Themen insgesamt waren, und die Frage letztlich bleibt, wohin die Geschichte insgesamt eigentlich führen sollte, ist dieses Buch für mich dennoch eine Leseempfehlung.