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MarieOn

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Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 19.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


gut

Eine Autorin sinniert über das Schreiben, darüber, was allgemeingültig, als schlechter Anfang gilt, wie das Wetter. Nur, um ihre Geschichte dann rigoros und konsequent mit den Worten: Es war ein launischer Frühling.” zu beginnen.

Sie hinterfragt sich und ihr Leben als Schriftstellerin. Die Zeit als sie wegen eines ihrer Bücher freche Emails bekam.

Dann damals in der Schule, dieser Junge, der sich mit ihr verabreden wollte, was sie nicht mochte. Wie er den ganzen Nachmittag mit dem Rad vor ihrem Haus auf- und abgefahren ist. Am frühen Abend schickte ihre Mutter sie hinaus, sie solle mit ihm reden, dass er nach Hause fuhr. In dieser Gegend konnte ihm schließlich “Gott weiß was” passieren.

Als Lilly bestattet wird, trifft sie ihre Freundinnen wieder. Während ihres Frühstücks am nächsten Morgen führen sie anregende Gespräche über Männer. Der Tod von Lilly hat die Vergangenheit heraufbeschworen, die sie teilen.

Dann bricht die Pandemie aus, die Autorin sitzt ganz allein inmitten einem verwaisten New York, und versucht ihre Schreibblockade zu überwinden. Deshalb kommt der Hilferuf, ihrer schwangeren Kollegin, auf ihren Papagei aufzupassen, der zu vereinsamen droht, nicht ungelegen.

Fazit: Das war nicht meins! Ich konnte keinem roten Faden folgen. Die Autorin schildert viele Eindrücke, folgt einem Gedankengang, lässt ihn ziehen, findet einen anderen. Es gibt keine durchgehende Geschichte. Mir ist nicht einmal klar, ob die Autorin über sich selbst schreibt, so wirkt es oder, ob sie eine Protagonistin entwickelt hat. Worum geht es überhaupt? Es geht ums Älter werden, um Einsamkeit, Vorbehalte gegenüber einer jungen, trotzigen Generation, die die Eltern nicht ehrt. Es geht ums Loslassen von Liebgewonnenem. Im Grunde um große und wichtige Themen, die mich sehr interessieren, an deren Bedeutung ich als LeserIn, bei diesem Buch gescheitert bin.

Der Klappentext hatte mir eine runde, zusammenhängende Geschichte versprochen, die das Buch nicht halten konnte. Auch die Urkomik hat mich nicht erreicht, obwohl ich durchaus Sinn für Humor habe. Ich hatte mich für dieses Buch interessiert, weil ich den Namen Sigrid Nunez schon häufiger gehört habe. Ganz sicher werde ich es mit einem anderen ihrer Bücher erneut versuchen.

Bewertung vom 12.12.2023
Nordstadt
Büsing, Annika

Nordstadt


ausgezeichnet

Die Ich-Erzählerin Nene liebt ihre Arbeit als Bademeisterin, die Schwimmhalle ist ihre Familie, Marlon der andere Bademeister, oder die freundliche alte Dame, die immer Dienstags kommt und ihre altmodische Schwimmkappe trägt, aber auch die Kassiererin, die immer gut drauf ist, Nele hat sie alle in ihr Herz geschossen.

Damals als sie im Schwimmverein das Seepferdchen erschwomm, waren es ihre TrainerInnen, die das Jugendamt informierten.

Geschichten über meinen Vater zu erzählen, über sein Leben, seine Kindheit, seine Jugend, das alles würde sein Verhalten womöglich in ein anderes Licht setzen. Dann könnte man denken: Ah, er tut das, weil dies oder jenes passiert ist. Bullshit. Denn es gibt keine Kausalität, die rechtfertigt, dass man Kinder schlägt, tritt, einsperrt und hungern lässt. Keine. Ich werde keine Geschichte über meinen Vater erzählen. Das hier ist meine Geschichte. S. 69

Und dann steht Er vor ihr. Nicht freundlich, aber bestimmt verlangt er ein Schwimmbrett, dass sie ihm eigentlich gar nicht geben dürfte, weil es der Schwimmschule gehört. Aber seine pechschwarzen Pantheraugen, mit den nassen Wimpern, die verklebt sind wie Fliegenbeine, beschleunigen ihren Herzschlag. Als er Richtung Becken geht sieht sie, dass die Beine nicht zum Rest passen sondern merkwürdig verdreht sind.

Als Boris und Nene miteinander schlafen wollen, sagt sie es ihm. Er sieht sie betroffen an und zum ersten Mal weiß sie, dass es um sie geht, weiß, dass es ihr passiert ist, keiner anderen. Er fragt, ob sie Angst hat. Sie weiß es nicht, horcht in sich hinein und merkt, dass sie dieses Gefühl, das in ihrer Kindheit so eine Übermacht hatte, einfach gelöscht hat.

Wir haben übrigens nicht miteinander geschlafen, nachdem ich ihm von der Vergewaltigung erzählt habe. Wir haben noch häufiger nicht miteinander geschlafen. In der Historie von Pärchen, die miteinander schlafen wollen, sind wir das mit den meisten Fehlversuchen. S. 24

Boris ist zügig außer sich, weil er so viele wunde Stellen hat. Weil die Leute immer auf ihn drauf geschlagen habe. Er hat die “Du-Spasti-Wunde”, die “Quasimodo-Wunde”, die “Das Kannst Du Nicht-Wunde” und er hat Schmerzen, schlimme Schmerzen und auch deswegen lügt er oft.

Die Lügerei ist eine heikle Sache. Sie schützt dich vor Scham und Zurschaustellung, aber sie erzeugt Reue und Schuldgefühle. S.46

Fazit: Was für eine gelungene Geschichte. Annika Büsing erzählt in ihrem Debüt von zwei verletzten Seelen. Wie sehr einem ein junges Leben vermiest werden kann. Die Autorin zeigt mir, mit ihrer wunderbar kohärenten und fesselnden Erzählweise, wie sich Menschen langfristig fühlen, die schon sehr früh Gewalt und Demütigungen erfahren haben. Es geht um Würde, darum, dass “die Würde des Menschen ist unantastbar”, in Wirklichkeit eine hohle Phrase ist, weil die Würde des Menschen ja eben doch, weltweit ständig, sekündlich angetastet wird und sich doch die Wenigsten dafür interessieren. Und es ist eine Geschichte über Wut, die es uns daran hindert, optimistisch nach vorne zu blicken. Meine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 01.12.2023
Die Unbestechliche
Welser, Maria von;Horbas, Waltraud

Die Unbestechliche


sehr gut

Als die fünfjährige Alice während der familiären Kaffeerunde gefragt wird, was sie später mal werden wolle, antwortete sie “Sturmführer”, wie dein Onkel, Herr Hocheder. Es schien ihr als der sinnvollste Beruf, denn dass ein ausgewachsener Sturm Anleitung und Kontrolle brauchte, schien ihr nur logisch. S. 26

Alice, 1947 geboren, wächst mit Bruder und ihren Eltern in Miesbach, nähe München auf. Ihr Vater ist viel beschäftigter Arzt und die Mutter schleicht sich morgens aus dem Haus und abends ins Haus, weil sie für ein Frauenboulevardmagazin arbeitet. Die Eltern engagieren Haushälterinnen, die sich um die Kinder kümmern, doch Alice fühlt sich oft unsichtbar. Umso lieber sind ihr die Sonntage, an denen sie sich fast unmerklich auf den Schoß des Vaters schleicht und mit ihm in seine Tageszeitung schaut. Seitdem liebt sie den Geruch von Druckerschwärze und Zigarren. Dass Alice mit fünf Jahren schon lesen kann, weiß niemand und so sieht sie ungebremst durch die Artikel in die Welt hinaus.

Alice ist einundzwanzig, als sie bei der Münchner Lokalzeitung als Volontärin beginnt. Einer ihrer Vorgesetzten schickt sie zu einem Fall. Sie sieht eine nackte Frau im Schnee, die von einer Brücke gestürzt wurde und wird von einer Welle Mitgefühl überrollt. Diese Frau begleitet Alice ein Leben lang, taucht immer dann auf, wenn ihr Leben in einen Umbruch gerät. Dann sitzt sie auf ihrer Bettdecke, oder materialisiert sich aus den dunklen Ecken des Zimmer.

Ihr Mann Karl ist Fotograf und fliegt in alle Länder, um seine Aufträge abzuarbeiten. Deswegen meistert Alice die tägliche Gratwanderung, den Alltag ihrer kleinen Tochter Elsa, mit ihrem eigenen zu verbinden, alleine. Als Alice sich von ihm trennt, geht sie mit Elsa nach München, in das Verlagshaus und arbeitet fortan im Sportresort, wo sie auf einen Aggressor stößt, der zu ungeahnten Machtspielen neigt.

Fazit: Die Autorin Waltraud Horas schrieb über die Lebensereignisse von Maria Von Welser, Gründerin, Redakteurin und Moderatorin des ersten Frauenjournals im deutschen Fernsehen Mona Lisa, und ich halte ein beeindruckendes Zeitzeugnis in den Händen. Waltraud Horas gibt ihrer Protagonistin eine feine Spur Humor, menschliche Wärme und eine große Beobachtungsgabe mit auf den Weg, in eine Welt, in der Männer wichtiger sind als Frauen. Ich las über so viele Ereignisse, die meiner Erinnerung abhanden gekommen waren. Kalter Krieg, Rudi Dutschke, Olympische Spiele in München, Grippe Pandemie und die Überschwemmung an der Lech. In all diesen Ereignissen hat die Protagonistin versucht ihre Aufgabe, ihren Lebensinhalt zu finden und das ist ihr mit Hartnäckigkeit und Biss gelungen. Ein spannendes deutsches Zeitzeugnis und ein schönes Porträt einer großen Frau. Wunderbare Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Britta lebt jetzt mit ihren Kindern, Marscha und Ben und ihrem Mann Philipp in den Marschlanden, einem Bezirk in Hamburg Bergendorf. Sie liebt die Reetdachhäuser von denen sie umgeben sind, Philipp jedoch bevorzugte ein größeres Haus im Neubaugebiet, viel Beton, viele Fenster. Im Gegensatz zu Britta ist Philipp angekommen, sie glaubt noch etwas Zeit zu brauchen. Statt die restlichen Kartons auszupacken, streift sie durch die Gegend, versucht sich die Deichlandschaft zu erschließen.

Als sie mit Marscha schwanger war, verzichtete sie auf eine Karriere als erfolgreiche Geologin. Philipp arbeitete mehr und brachte ein gutes Einkommen nach Hause. Sicher, sie hatte sich schon etwas mehr Einsatz von ihm gewünscht, um auch einmal Freiräume für sich zu schaffen, es dann aber hingenommen, wie es war. Jetzt ist er so eingespannt, dass er ihr abends nicht mehr zuhört, fast beschleicht sie das Gefühl, dass er sich nicht mehr für sie interessiert.

Britta fühlt sich in ihrer Umgebung wie eine Fremde, bleibt nirgends zu lange stehen, versucht keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, ein Gefühl beschleicht sie. Ein Gefühl, das sie kennt, als wäre es in ihre Genetik gebrannt. Sie liest den Namen eines Straßenschildes: Abelke Bleken – Straße und der Name geht ihr nicht mehr aus dem Sinn.

Britta forscht nach, was es mit dieser Frau auf sich hatte, die im fünfzehnten Jahrhundert hier lebte und entdeckt allerlei Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten. Während sie in die Geschichte Abelkes eindringt findet sie Parallelen zu ihrem jetzigen Leben und ihrem Dasein als Frau. Als ihre Tochter durch sexistische Stimmen ihrer neuen MitschülerInnen gemobbt wird schließt sich der Kreis des kaum Aushaltbaren.

Es reichte eine Frau zu sein, ein Mädchen, das reichte schon, um in Gefahr zu sein, eine Zielscheibe zu sein, erst recht, wenn man sich vorwagte, mit etwas herausragte, aus der Rolle fiel, die falschen Wege betrat oder zur falschen Zeit. S. 166

Fazit: Wow, was für eine Geschichte, geistreich, kreativ und so gut recherchiert. Jarka Kubsova hat eine Botschaft. Sie vermittelt uns, was ich auch so oft gespürt habe, was es heißt eine Frau zu sein. Es ist als wäre unsere Amygdala (Sitz der Angst unterhalb der Hypophyse) epigenetisch vergrößert, was uns zu vermehrter Angst, Sorge und Vorsicht bringt. Allein wegen unserem Geschlecht, sind wir manigfaltigen Gefahren ausgesetzt. Wenn dann noch patriarchales Machtdenken oder strukturelle Ungerechtigkeiten hinzukommen, werden wir aus der Bahn geworfen.

Die Technik der Autorin ist große Erzählkunst. Jedes Kapitel wird zu einem Cliffhanger, sie widmet ein Kapitel Britta und unserer Gegenwart, im nächsten schaut sie in Abelkes Vergangenheit. Sie lässt sich Zeit diese Geschichten zu erzählen, mich jedoch nicht ungeduldig zappelnd zurück, sondern hält mir einen interessanten anderen Erzählstrang hin, den ich dankbar annehme. Selten hat mich ein Buch, durch seine bildhafte Sprache so sehr bewegt, wie Marschlande. Danke, Jarka Kubsova, dass ich etwas so mitreißendes, schönes lesen durfte. Chapeau.

Bewertung vom 27.11.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Nilufars Vater Khosrow kommt aus Iran, ihre Mutter aus Deutschland. Sie leben in Gießen in einer Plattenbauwohnung. In Khosrows iranischer Familie sind nahezu alle Ingenieure geworden, deshalb ist Khosrow sehr ambitioniert zu studieren. Sein letzter Versuch zur Nachprüfung steht an, aber an dem Tag kommt Professor Fenner einfach nicht.

Manchmal, wenn er nicht zum Fußballspielen mit den anderen Iranern ging, fuhr er extra mit dem Bus eine Dreiviertelstunde zum Bahnhof, um sich eine persische Zeitung zu kaufen. Dann atmete er für einen Moment die Luft aus der Siedlung aus, seine Augen waren zwei rot geschwollene offene Wunden. S. 43

Sie ziehen nach Rabenau, weil Khosrow glaubt, dort die besseren Geschäfte machen zu können. Er findet einen Platz in der Kommunalpolitik und vertreibt Oettinger alkoholfrei nach Iran, aber wegen des Embargos laufen die Geschäfte schlecht.

Nilufar fühlt sich in Deutschland falsch, in Iran fremd. Als alle Stricke reißen, verlässt ihre Mutter Khosrow und geht mit Nilufar zurück nach Gießen, dort ist für Nilufar alles aussichtslos.

Wir kannten die ganze Welt, und sie war grau, feuchtkalt und neblig, ein feiner Nieselregen in unseren Köpfen. Wir lehnten wie Statisten an einer Waschbetonwand, bliesen perfekte Rauchkringel in die Nacht und warteten ab. Unsere Väter waren weg, tot oder unbrauchbar. Wir waren Gespenster. S. 115

Als sie ihren Vater viele Jahre später endlich in Iran besucht, versucht sie sich ihr Land zu erschließen. Nilufar trägt Kopftuch, hat aber ansonsten Schwierigkeiten mit dem Kleidercodex. Ihre Cousine Narges berät sie. Enge Hose, langes weites Oberteil, keine Sandalen auf dem Basar, im Norden Teherans schon. Frauen leben für die Familie, sie kochen Essen und Tee, erziehen die Kinder, führen den Haushalt. Ob, wann und wohin sie vor die Tür gehen, bestimmt ihr Vater, oder Mann. Nilufar befindet sich in einer Matrix aus gesellschaftlichen Konventionen und Benimmregeln Die Familie spricht nicht mehr mit Hassan, Khosrows Bruder, weil der konservativ ist. Während Familienfesten redet Nilufar nur, wenn sie gefragt wird, und dann in angemessener Wortzahl. Die Frauen schneiden ihr Aprikosenstückchen und legen sie vor sie. Begrüßungen sind voller Floskeln.

Friede sei mit dir, du bist mein Bruder, mögest du nicht müde sein, entschuldige, meine Tochter ist zu Besuch, ich möchte ihr zu Ehren gerne ein Lamm schlachten. S. 196

Fazit: Die Autorin hat sich für eine Ich-Erzählung im Präsens entschieden, die Protagonistin ist sie Selbst. Sie fand die richtigen Worte, um mir die beklemmende Beziehung zu ihrem distanzierten Vater zu vermitteln, der sich lieber hinter einer Zeitung versteckt, als sich den schwierigen Fragen zu stellen. Ich spüre die Zerrissenheit aller Beteiligten, die Mentalität, die so anders ist als die kühle Deutsche, die voll von Paragrafen und Regeln ist. Nilufars Vater ist nie hier angekommen, obwohl er sich wirklich bemüht hat. Nilufar selbst ist völlig entwurzelt. Der Klang der Geschichte ist melancholisch. Es ist kein leichter Wohlfühlroman, ich musste mich sehr konzentrieren, um immer wieder rein zu kommen. Ich hatte meine Probleme mitzufühlen und dadurch die Geschichte mitzuerleben und weiß nicht woran es lag.

Bewertung vom 23.11.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

Léa führt eine kleine Patisserie mitten in München. Sie verlässt ihre Freundin Toni, weil die kein Interessa mehr an ihrer Beziehung zu haben scheint, Léa ist ihr zu wenig geworden. Um dem Schmerz zu entfliehen renoviert sie ihr Café in einem wilden Dschungel-Look, aber das reicht nicht. Deshalb fährt sie in ihr altes Familiendomizil an der Cote d`Azur, um sich zu sammeln und zu vergessen.

Als erstes trifft sie Claire wieder, die alte Freundin ihrer Mutter. Sie essen, trinken und reden über die Vergangenheit des Hauses. Ihr Großvater, Biologe und Lebemann, der diesen Ort nutzte, um Partys zu feiern. Seine Frau, auch Biologin, die sich dem Nachwuchs, ihrer Tochter Brigitte verschrieb. Brigitte, die jung schwanger wurde und Léa allein gebar, denn erst da, war Léas Vater klar, dass er sich zu jung fühlte für ein Kind. Und so starben auch Brigittes Visionen an eine glorreiche Zukunft. Doch sie ließ sie gerne ziehen, im Tausch gegen das charmanteste, schönste Wesen auf dieser Welt, Léa.

An Léas zweitem Abend hört sie Geräusche. Aus dem Gebüsch tritt eine junge Frau, sie ist vielleicht sechzehn. Sie kommen ins Gespräch, lernen sich ein wenig kennen. Léa genießt die Anwesenheit von Alice und sie verabreden sich für den nächsten Tag. Doch als Léa die Zutaten für den Pain un chocolat besorgt, den sie versprach zu backen, da war Alice schon tot, ertrunken in der Badewanne ihrer Eltern, das Kind, das sie trug acht Wochen alt.

Fazit: Ich mag die Geschichte sehr. Die Autorin hat mich auf verschiedene Arten bewegt. Anika Landsteiner ist eine spannende Liebesgeschichte gelungen. Ich habe mit den beiden ProatagonistInnen mitgefiebert, wollte unbedingt, dass sie, trotz aller Ängste zusammenkommen. Ich mag auch die Seite des Romans, der auf die Probleme von Frauen hinweist, die alleinige Macht über ihren Körper zu behalten. Es geht um den Umgang mit Abtreibung und den gesellschaftlichen Druck. Und es geht um Frauen, die ihre Karriere zugunsten ihrer Kinder an den Nagel hängen, was so selbstverständlich zu sein scheint. Ebenso um Frauen, die nach der Geburt von den Vätern ihrer Kinder verlassen werden. Und um Frauen, die Frauen lieben. Insofern ist es ein feministisches Buch, interessant zu lesen, durch einen intelligenten, attraktiven, feinsinnigen jungen Mann, der Léa begleitet und gefährlich nah kommt. Was kann man noch wollen, von einem perfekten Buch.

Ich war selbst an der Cote d´Azur, in Nizza, Monaco, Cannes und St. Tropés, während ich in der kleinen mitteralterlichen Stadt Éze gewohnt habe. Deshalb hat mich die Stimmung des Buches so gut abgeholt, der Duft der Orangen, des weichen warmen Brotes. Das weiche Wasser, das die Haut umschmeichelt. Es ist auch ein sinnliches Buch, weil die Autorin die richtigen Worte findet diese Eindrücke wiederzugeben. Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 20.11.2023
Der Liebende
Ehrenhauser, Martin

Der Liebende


sehr gut

Monsieur Haslinger, pensionierter Geistlicher, gibt im Hopital Saint-Pierre in Brüssel, ehrenamtlich Beistand. Schon so lange allein lebend, weiß er was ihm gut tut, daher nimmt er kleine Portionen zu sich, immer voran ein kleines Gebet des Dankes. Er geht am frühen Abend zu Bett und lebt bescheiden in einem Ein-Zimmer-Appartement. Sein kleiner Balkon wird geziert von einem Blumenmeer, denn er versteht sich gut darin und weiß ihnen zu geben was sie brauchen.

An einem Abend liegt er noch lange wach, weil die neue Nachbarin Gäste hat. Es ist ein warmer Abend, daher geht er zum Fenster und schaut dem Treiben ein Weilchen zu. Nachdem die Gäste sich verabschiedet haben, räumt Madame Janssen Gläser und Flaschen ins Haus. Sie spürt, dass sie beobachtet wird und spricht in die Dunkelheit, fragt ihn, ob sie zu laut waren. Nach dem ersten Schreck des Ertappt werdens, beginnt Monsieur sich in ihrer Anwesenheit wohl zu fühlen.

Er lädt seinen besten Freund, den Docteur zu einer Runde Schach ein. Diesesmal untermalen sie das Spiel mit einer Flasche Champagner, denn Monsieur Haslinger will Madame Janssen zeigen, dass auch er voller Lebenslust steckt. Der Dokteur bemerkt, dass Monsieur, unruig immer wieder auf die untere Terasse schaut, sagt jedoch nichts.

Monsieur Haslingers Interesse für Madame wächst. Plötzlich sieht er sie aus dem Fenster einer Bücherei vorbeilaufen, oder den Marktülatz überqueren. Er bleibt versunken vor ihrer Haustüre stehen, weil er wissen will wie sie heißt. Elise steht auf ihrem Klingelschild. Elise.

Eines Tages kümmert sich Elise nicht um ihre Blumen. Tagelang trocknen die Pflanze in der Sommersonne vor sich hin und Monsieur Haslinger gerät in Sorge.

Fazit: Eine fein inszenierte Geschichte, die in aller Ruhe beginnt. Ein katholischer Geistlicher, der bekanntermaßen dem Zölibat verpflichtet ist, verliebt sich in eine souverän erscheinende, überaus weiblich wirkende Frau und ist hin und hergerissen. Seine Angst vor dem Gerede der Leute ist zuerst größer, als die Angst seinem Amt nicht gerecht zu werden. Er weiß, dass viele seiner Kollegen sich heimlich zwischenmenschlichen Gefühlen hingeben, doch deswegen muss er es ihnen nicht gleichtun. Der Autor hat beide Charaktere fein herausgearbeitet und so werden sie glaubhaft. Am Ende geht es um romantische Liebe, eigene Wertvorstellungen, den Lebensherbst und das Loslassen. Eine zärtliche berührende Geschichte, die ich gerne gelesen habe.

Bewertung vom 16.11.2023
Jahrhundertsommer (eBook, ePUB)
Grünfelder, Alice

Jahrhundertsommer (eBook, ePUB)


sehr gut

Als die dumme Kuh, Magda steckt, dass ihr Alter sich mit ner anderen trifft, ist er auch schon auf und davon. Das Geld von ihren Eltern hat sie ihm in den Rachen geworfen, für seine Weiterbildung. Sie selbst hat keine Ausbildung, wäre Zeitverschwendung gewesen. Ihr Weg war vorprogrammiert. Heiraten, Kinder, Haushalt. Jetzt geht sie Putzen, hat einen schlecht bezahlten Knochenjob gefunden. Die Leute im Dorf wechseln die Straßenseite, wenn sie sie sehen. Die Nachbarn tuscheln über sie.

Den Johnny lernt sie auf einem Dorffest kennen, kommt aus Amerika, ist hier stationiert und fährt die Pershings durch die Gegend. Dann ist er auf einmal weg, Vietnam sagen sie ihr. Jetzt reden die Leute erst recht blöd, weil plötzlich ein kleines Mädchen bei ihr lebt. Die Ellen, die sie heimlich zur Welt gebracht hat.

Jetzt traut Magda wirklich keiner glücklichen Fügung mehr. Die Enttäuschung wäre am Ende zu groß.

Fazit: Jahrhundertsommer ist eine solide Geschichte über das Nachkriegsdeutschland. Die Gesellschaft, eine einzige Wunde, aus Wut, Scham und Neid. Die Männer bestimmen, dass Frauen wertlos sind, einzig gut, um zu putzen und den Nachwuchs zu zügeln.

Die Autorin vermittelt gekonnt, wie das Pech an Magdas Nachkommen klebt, wie sich jeder von ihnen immer wieder durch harte Arbeit vor dem Untergang retten muss. Nichts gibt es umsonst, selbst das Unglück nicht. Sprachlich überzeugt die Autorin durch einfache kurze, teils abgebrochene Sätze und gibt damit ein exaktes Bild wieder, wie Menschen, mangels Bildung sprechen.

Auf den letzten Seite läuft Alice Grünfelder zur Hochform auf, schildert die Unerträglichkeit eines schweren Verlustes, lässt mich mitfühlen, mittrauern. Und am Ende schließt sich der Kreis, nichts ist leicht und schon gar nicht umsonst. Jahrhundertsommer (schöner Titel) habe ich gerne gelesen.

Bewertung vom 13.11.2023
Wilde Minze
LaCour, Nina

Wilde Minze


sehr gut

Sara ist 14 Jahre. Ihre Mutter starb an Heroin, das der Vater ihr besorgt hat. Seitdem kümmert Sara sich um ihren jüngeren Bruder. Sie verliebt sich in die Klassenkameradin Annie, die ihre Annäherungen erwiedert. Als Annie nach ihrem letzten heimlichen Treffen leblos aus dem Fluss gezogen wird, ändert sich für Sara alles. Sie lernt den mittellosen Grant kennen, der nach Los Angeles will.

In L.A. lebt Emilie, die sich für keinen ihrer Studiengänge entscheiden kann. Sie fängt an in einem Blumenladen zu jobben und entwickelt ein sicheres Auge für die schönsten Blumenarrangements. Einige feste Kunden in der Gastronomie sichern ihren Lebensunterhalt. Während sie das angesagte Lokal Yerba Buena dekoriert, kommt ihr der Inhaber näher.

Es ist schwierig die Handlung zu beschreiben ohne zu spoilern, deshalb ende ich hier.

Fazit: Zuerst erschienen mir in der Geschichte zu viele Namen. Zwei junge Frauen mit eigenen Familien und Freundschaften erschwerten mir das Folgen. Der Anfang von Saras Geschichte ist erschütternd drastisch und mir ist klar warum sie mit fünfzehn Jahren weg will. Emilies Geschichte unterscheidet sich von Saras dadurch, dass ihre Schwester drogensüchtig ist und mehrere Klinikaufenthalte, aber auch einen Suizid hinter sich hat. Beide haben traumatische Erfahrungen gemacht, die sich bei jeder anders zeigen. Während Sara nach außen sehr taff wirkt, ist sie im Inneren gebrochen und verletzlich. Emilie ist die gute Zuhörerin, die immer alles zu verstehen versucht. Das Buch hat von vielem etwas, ein bisschen Queerness, etwas Erotik, Vernachlässigung, Erwachsen werden, Selbstbestimmtheit, Verantwortung und Mut. Die Autorin hat alle diese Themen unter einen Hut gebracht, ohne belanglos oder trivial zu wirken. Es ist eine technisch gut gemachte Wohlfühlgeschichte, so angenehm und entspannend, wie ein warmes Bad an einem verregneten Herbstnachmittag.

Bewertung vom 09.11.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


ausgezeichnet

Die Ich-Erzählerin Mila Meyring, 34 Jahre, promovierte Kulturwissenschaftlerin wünscht sich ein Real Life Reset.

Als mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nicht einhielt. S. 13

Trotz Tinder, Okcupid und Co. hat Mila sich schon länger nicht mehr daten lassen, seit Nicki und sie nicht mehr zusammen sind. Ihre Accounts bei Facebook, Instagram und TicTok hat sie längst gelöscht. Sie entwickelt die Angst in einem digitalen Inferno gelyncht zu werden. Ebenso hat sie Angst die Kontrolle zu verlieren, in ihrer Real Time Life Balance zu kurz zu kommen und auch das Urteil anderer fürchtet sie zunehmend. Nach und nach schaltet Mila alles ab, was sie beeinflussen könnte. Das Fenster zur Welt schließt sich. Es erstaunt sie, dass sie scheinbar nicht vermisst wird. Einzig zu vier Menschen hält sie noch Kontakt. Sie schreiben sich SMS, oder Email, um sich zu verabreden, telefonieren aber selten.

Ein wenig verunsichert ist Mila schon, dass sie von Putin und der Ukraine kaum etwas mitbekommt, Einen atomaren Krieg kann sie sich vorstellen. Die Anbieter von Satellitenfernsehen hat sie gekündigt, einen Blick in den viralen Äther erlaubt sie sich nur noch selten. Die Erhöhung der Nebenkosten lässt sie schier verzweifeln, denn sie hat ihren Job gekündigt, weil die ihr Mitarbeiterinnenprofil ins Netz gestellt haben.

Mila versucht ihre digitalen Fußabdrücke zu löschen und stresst sich dabei zunehmend. Ihre Befürchtungen nehmen schizoide Züge an und führen zu irrationalen Vermeidungsstrategien. Sie steigert sich rein, alles dreht sich nur noch um sie, Selbstbezogenheit breitet sich aus. Die Kontrolle, die sie glaubte im viralen Dasein zu verlieren, verliert sie jetzt offline über sich selbst, ihren Körper, ihren Geist. Mila wird zum einsamen mentalen Wrack.

Fazit: Eine intelligent geschriebene Geschichte über unsere digitale Gegenwart, mit erfrischenden Abstechern in die Popkultur Berlins, in der Mila aufgewachsen ist.

Ich kam mir vor wie die Protagonistin eines Drop-out-Channels oder das verhüllte Gesicht eines NosurfPRStunts. S 170

Der Roman ist in drei Teile gegliedert, wärend derer, Milas Obsession sich der Welt zu entziehen sich steigert. Die Wahrnehmung der Protagonistin hat mich mitgerissen. Milas Selbstbezogenheit war zwischenzeitlich nervig, aber das liegt eher daran, dass ich das von mir selbst kenne und tut der Intention der Geschichte keinen Abbruch.

Der Haupttenor der Geschichte war für mich: “Sobald du dich dafür interessierst was andere über dich denken, fangen deine Probleme an.”