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MarieOn

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Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 22.02.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Mutter war acht Jahre, als sie eine Dirn wurde. Ihre Eltern schickten sie zu fremden Bauern, auf einen großen Hof einige Kilometer entfernt. Das war nichts Ungewöhnliches. Familien, die nicht alle ihrer Kinder ernähren konnten brachten die Überzahl woanders unter. Befremdlich war, dass die Eltern nach Mutters Weggabe weitere Kinder bekamen. Und warum traf es ausgerechnet Mutter? Die Protagonistin fährt in das Tal, zu dem Hof, der Mutter verschluckte, sucht nach den Spuren, die Mutter in Nichts auflösten, nach Worten, die Mutters Schweigsamkeit begründen.

Die Protagonistin möchte das Mutterrätsel über ihr Schreiben ergründen und hegt den Anspruch ihre Mutter so zu zeichnen, wie sie war und nicht, wie sie sie gern gehabt hätte. Sie versinkt in Erinnerungen und sieht Mutter, wie sie ihre Arbeit mit großer Sorgfalt und Dringlichkeit erledigte. Wie sie an Karfreitagen im Haus schuftete und danach mit großer Ernsthaftigkeit betete. Mit dem Vorrücken der Zeiger sank ihre Stimmung, bis sie zu der Stunde als der Heiland ans Kreuz geschlagen wurde, langsam aus ihrer Erstarrung erwachte.

Ich hörte Mutter lautlos beten. Am Morgen am Tisch. In der Stube, wo die Uhr laut tickte und in die Stille schlug. S. 133

Die Bäuerin auf dem Hof soll eine bösartige Frau gewesen sein. So oft es ging lief Mutter bei Wind und Wetter zu ihrer Familie. Sang laut gegen ihre zahlreichen Ängste an und schrie Gedichtzeilen in die Luft. Doch Zuhause lud niemand sie ein zu bleiben. Sie gehörte nirgendwohin, war überflüssig und wertlos.

Fazit: Ich liebe diese Geschichte! Selten habe ich so eine Sicherheit im Umgang mit Worten erlebt. Die Autorin schreibt sich mit wortgewandter Poesie durch diese Geschichte, die von Anfang bis Ende überzeugt. Die Sprachbilder sind sinnlich und wecken Bilder und Gefühle. Die Autorin schreibt über schlimme Dinge ohne jeden Pathos, sondern mit einer Ruhe, die mich eines Spaziergangs gleich, durch die Zeilen führt. In ihrer Sprachmelodie glaube ich einen Österreichischen Dialekt zu hören. Die Reise von der Tochter zur Mutter deckt die Vergangenheit bis zu ihren Urgroßeltern auf. Es ist eine der schönsten Vergangenheitsbewältigungen, die ich je gelesen habe. Jeder Satz ein Genuss.

Bewertung vom 13.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


sehr gut

Jirka ist neunzehn als er in sein Heimatdorf “Krummes Holz” zurückkehrt. Erwartungsgemäß ist niemand glücklich ihn zu sehen. Leander nicht, der ihn auf dem Weg zum väterlichen Hof aufsammelt, Magret, seine Schwester nicht und sein Vater Georg ganz sicher auch nicht, aber den wird er erstmal nicht zu sehen bekommen. Er steigt in den verbeulten Taunus und erinnert sich an Leanders Vater Vilém Dorodzala. Er war der beste einarmige Suffkopp, der jemals gelebt hat, bevor der Tod ihn aus Jirkas Leben gepflückt hat. Vilém war der einzige von den ganzen Wanderarbeitern auf dem Hof, der ihn aus dem Hundezwinger wieder rausließ, in den sein Vater ihn regelmäßig sperrte.

Im Grunde hätte Jirka schon eher kommen müssen, weil seine Schwester ihn darum gebeten hatte, vor einigen Wochen. Doch dann hatte der weltbeste Sozialarbeiter Jochen ihn bekifft erwischt und Hausarrest erteilt. Für Jirka war das kein Problem, für seine Schwester schon.

Im Taunus muss er seine heiße Stirn an die kühle Scheibe der Beifahrertür lehnen. Leanders starker Unterarm, mit dem roten Flaum verwirrt ihn, sein Geruch nach Erde und Zigarettenrauch lässt ihn die Augen schließen. Fünf Jahre haben sie sich nicht gesehen. Eine lange Zeit, die alles verändert, wenn man so jung ist wie Jirka.

Fazit: Zuerst einmal, die vielen Namen und Infos brachten mich zu Anfang ins Stolpern. Die Geschichte ist aber so interessant gemacht, dass ich dran bleiben musste. Mir gefällt die Technik des Rückblicks sehr. Die Autorin packt ganz langsam und bedächtig aus, was Jirka und seiner Schwester passiert ist. Die Charaktere sind sensibel gezeichnet. Leanders erotische Aura, die Jirka die Luft nimmt und zutiefst verunsichert, war spürbar, Jirkas Unsicherheit nachvollziehbar. Jirka begibt sich auf Spurensuche, um sich selbst zu verstehen. Er ist ein sensibler, trotziger, junger Mann. Wie traumatisiert er ist, wird ihm erst durch seinen Besuch auf dem Hof klar, wo sein Vertrauen mehrfach missbraucht wurde. Doch ja, ich mag dieses Debüt sehr und empfehle es ganz klar.

Bewertung vom 03.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

John Hunter White geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach, während seine schöne Frau in Mexico weilt. Normalerweise entwirft Hunter Investitionsblasen, mit denen er seine Käufer blendet. Bevor die Blase platzt holt er das Maximum raus. Es ist durch und durch unethisch, aber schnelles Geld.

Van Heeren hat ihn wieder einmal nach Afrika eingeladen. Er betreibt eine Lodge umgeben von einer Unmenge Land, an den Grenzen zum Nationalpark. Hunter hatte schon alles vor der Linse, wendige Springböcke, schlanke Antilopen, gefräßige Löwen, sogar eine Giraffe, aber das war irgendwie unschön. Das stolze Tier hat sich gar nicht gewehrt. Selbst einen unberechenbaren Büffel, auf diese Drecksviecher verzichtet er lieber. Die rennen einfach weiter, selbst wenn man ihnen längst einen Krater zwischen die Augen verpasst hat. Hunter weiß genau, dass er in der Nahrungskette ganz oben steht.

Hier, die Gefahr zum Greifen nahe, kann er sein, wer er wirklich ist. Er, Hunter, Mann. S. 27

Van Heeren hat Hunter einen, von nur noch drei Spitzmaulnashornbullen angeboten. Eigentlich stehen sie unter Naturschutz, aber Van Heelen hat in seinem Bestand ein älteres Männchen, das den beiden jüngeren Konkurrenz macht und bevor er die anderen noch verletzt, hat Van Heelen ihn vernünftigerweise zum Schuss freigegeben. Hunter hat für die Jagdlizenz einen sechsstelligen Betrag investiert, für den er extra eine neue Firma eröffnet hat, aber was tut man nicht alles für ein ausgefallenes Geburtstagsgeschenk für die Gattin.

Seit über zwei Jahrzehnten jagen sein Gastgeber und er zusammen. Auch Van Heeren freut sich auf morgen. Nicht jeden Tag, macht einer seiner Gäste die Big Five voll.

Fazit: Ganz großes Kino. Die Geschichte läuft wie ein Film vor Augen ab. Ich war mittendrin, habe geschwitzt, mich verausgabt, gefürchtet und erschrocken. Von Anfang an gewann ich den Eindruck, dass der Protagonist ein selbstgefälliger Mensch ist und das, was er vorhat, nicht richtig. Doch dann flicht die Autorin gute Gründe ein, warum er so tickt und ich verstehe ihn. Der Logebetreiber macht plausibel, warum er selbst bestimmte Ideen protegiert und ich gerate ins schwanken. Am Ende wird mir ganz schwummrig, weil ich richtig und falsch nicht mehr auseinanderhalten kann. In dem Roman stecken so viele Informationen. Ich erfahre viel über die uralte Befölkerung, die fast ausgerottet wurde und deren Lebenseinstellung, ohne von Wissen erschlagen zu werden. Gaea Schoeters führt mir auf gekonnte Art vor, was Doppelmoral bedeutet. Wie verwerflich Menschen gestrickt sind und überlässt mich am Ende der Überzeugung, dass Geld eben doch ganz schön stinkt. Ich liebe dieses Buch, weil es mich fassungslos gemacht hat.

Bewertung vom 22.01.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


sehr gut

In dem Buch finden sich fünfzehn Kurzgeschichten, die alle das gleiche thematisieren. Ein Amerika der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre. Es dokumentiert den sozialen Umbruch und die Integration schwarzer Amerikaner*innen in den Südstaaten.

In der Shortstory Nachbarn erleben wir rassistische Anfeindungen gegen Ellies Bruder Tommy. Tommy wird morgen seinen ersten Grundschultag haben, mit der Besonderheit, dort, der erste schwarze Junge zu sein. Sein Vater berät sich mit anderen Männern, was zu tun ist, wie er mit all den Briefen voller Hass umzugehen vermag.

In Die Kammer im ersten Stock lernen wir Winifred kennen. Sie wird von ihren wohlhabenden Eltern in das College gebracht, in dem sie wieder, im dreizehnten Jahr ihrer Schulausbildung, die einzige Schwarze ist. Ihre weißen Komillitoninnen wettern gegen sie, zuerst in suptilerem Flüsterton, später feinden sie Winifred offen an und meiden ihre Nähe.

Vor der Dämmerung erinnert an den tragischen Mord George Floyds, der sich unfassbare siebzig Jahre nach dieser Kurzgeschichte ereignete. Im gemütlichen Roast Crest Tea Room werden nur weiße bedient. Das wollen vier schwarze Jugendliche ändern. Sie ziehen ihre beste Kleidung an und besuchen die Tee Stube, aber statt bedient zu werden, werden sie verhaftet.

In der Geschichte Stau arbeitet Libby als Hausmädchen bei der weißen Mrs. Nelson. Libby selbst hat fünf Kinder um die sie sich kümmern müsste, das Jüngste gerade erst geboren. Mrs. Nelson kümmert es nicht, dass Libby keine Zeit für Überstunden hat. Libby braucht das bisschen Geld, das sie verdient dringend, denn ihr Mann Hal ist vor einer Weile abgehauen.

Fazit: Die Geschichten sind sensibel erzählt. Sie zeichnen ein genaues Bild der Armut und Ausgrenzung schwarzer Amerikaner*innen Frauen waren kinderreich, arm und abhängig von schlecht bezahlten Jobs, in denen sie ausgebeutet wurden. Ihre Männer haben ihre Herkunftsländer, in den Südstaaten verlassen, weil es keine Zukunftschancen gab. Die wenigen wohlhabenderen schwarzen Frauen, die Aussicht auf Bildung hatten, waren heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Das besondere an diesem Buch ist, dass es die einzigen, jemals veröffentlichten Kurzgeschichten von Diane Oliver sind, weil sie im Alter von 22 Jahren, bei einem Motorradunfall ums Leben kam.

Bewertung vom 02.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


sehr gut

Lev lernte Kato auf eigentümliche Weise kennen, auf eine Art, die er sich nicht gewünscht hat, denn eigentlich wollte er mit dem eigenbrötlerischen Mädchen, aus seiner Klasse nichts zu tun haben. Doch dann lernen sie sich kennen und schätzen. Viel später, nach dem Fall der Grenzen, fahren sie gemeinsam von Zurich, nach Paris, Nantes, Montpellier, Richtung Osten, an der Küste entlang.

Dann erscheint Tom, der göttlich aussehende Hamburger, mit langem blondem Haar und goldbraunen Augen, der auf anziehende Weise keine Manieren hat und sich nicht um Konventionen schert, der Sprachbarrieren einfach weglächelt. Katos Interesse für den unabhängigen Tom wächst, ihr fiebriger Blick verrät es. Er ist ihr Freifahrtschein in die Welt, um ihrem Unglücklichsein zu entkommen.

Sie schreibt Lev regelmäßig Postkarten und auf einer davon, stehen nach fünf Jahren die Worte: Wann kommst du? Nicht mehr, nur diese drei Worte.

Fazit: Zuerst tat ich mich schwer, hatte Schwierigkeiten der Erzählung zu folgen, wenn mitten in einer interaktiven Szene, Levs eigene Gedanken auftauchten, konnte ich das nicht gleich ihm zuordnen. Im weiteren Verlauf klarte meine anfängliche Verwirrung auf. Die Autorin begann die Geschichte in der Gegenwart und widmete jedes Kapitel Levs Vergangenheit, schrieb immer weiter zurück und verdichtete ihr Konstrukt zu einem stimmigen Gesamtbild. Lichtungen, so der Titel, sind die Flächen in einem Wald, die heller, weil frei von Bäumen sind. So habe ich die Geschichte empfunden. Jedes Kapitel bringt mehr Licht ins Dunkel, Levs Geschichte, seine Freunde, Familie, sein Land und seine Werte, ans Tageslicht. Ich verstehe, was er erlebt hat und wer er dadurch ist. Verstehe, wer Kato ist. Die Sprache ist poetisch, zart und besonders, jedes Wort sitzt und gehört an die Stelle, für die es steht. Kein unnötiger Balast stört die Wahrnehmung. Lichtungen ist kein bequemes Buch, das man mit einem Haps wegliest, es mag erarbeitet werden. Wer sich darauf einlässt, wird mit einer außergewöhnichen Geschichte belohnt, die einen tiefen Eindruck hinterlässt.

Bewertung vom 19.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


gut

Eine Autorin sinniert über das Schreiben, darüber, was allgemeingültig, als schlechter Anfang gilt, wie das Wetter. Nur, um ihre Geschichte dann rigoros und konsequent mit den Worten: Es war ein launischer Frühling.” zu beginnen.

Sie hinterfragt sich und ihr Leben als Schriftstellerin. Die Zeit als sie wegen eines ihrer Bücher freche Emails bekam.

Dann damals in der Schule, dieser Junge, der sich mit ihr verabreden wollte, was sie nicht mochte. Wie er den ganzen Nachmittag mit dem Rad vor ihrem Haus auf- und abgefahren ist. Am frühen Abend schickte ihre Mutter sie hinaus, sie solle mit ihm reden, dass er nach Hause fuhr. In dieser Gegend konnte ihm schließlich “Gott weiß was” passieren.

Als Lilly bestattet wird, trifft sie ihre Freundinnen wieder. Während ihres Frühstücks am nächsten Morgen führen sie anregende Gespräche über Männer. Der Tod von Lilly hat die Vergangenheit heraufbeschworen, die sie teilen.

Dann bricht die Pandemie aus, die Autorin sitzt ganz allein inmitten einem verwaisten New York, und versucht ihre Schreibblockade zu überwinden. Deshalb kommt der Hilferuf, ihrer schwangeren Kollegin, auf ihren Papagei aufzupassen, der zu vereinsamen droht, nicht ungelegen.

Fazit: Das war nicht meins! Ich konnte keinem roten Faden folgen. Die Autorin schildert viele Eindrücke, folgt einem Gedankengang, lässt ihn ziehen, findet einen anderen. Es gibt keine durchgehende Geschichte. Mir ist nicht einmal klar, ob die Autorin über sich selbst schreibt, so wirkt es oder, ob sie eine Protagonistin entwickelt hat. Worum geht es überhaupt? Es geht ums Älter werden, um Einsamkeit, Vorbehalte gegenüber einer jungen, trotzigen Generation, die die Eltern nicht ehrt. Es geht ums Loslassen von Liebgewonnenem. Im Grunde um große und wichtige Themen, die mich sehr interessieren, an deren Bedeutung ich als LeserIn, bei diesem Buch gescheitert bin.

Der Klappentext hatte mir eine runde, zusammenhängende Geschichte versprochen, die das Buch nicht halten konnte. Auch die Urkomik hat mich nicht erreicht, obwohl ich durchaus Sinn für Humor habe. Ich hatte mich für dieses Buch interessiert, weil ich den Namen Sigrid Nunez schon häufiger gehört habe. Ganz sicher werde ich es mit einem anderen ihrer Bücher erneut versuchen.

Bewertung vom 12.12.2023
Nordstadt
Büsing, Annika

Nordstadt


ausgezeichnet

Die Ich-Erzählerin Nene liebt ihre Arbeit als Bademeisterin, die Schwimmhalle ist ihre Familie, Marlon der andere Bademeister, oder die freundliche alte Dame, die immer Dienstags kommt und ihre altmodische Schwimmkappe trägt, aber auch die Kassiererin, die immer gut drauf ist, Nele hat sie alle in ihr Herz geschossen.

Damals als sie im Schwimmverein das Seepferdchen erschwomm, waren es ihre TrainerInnen, die das Jugendamt informierten.

Geschichten über meinen Vater zu erzählen, über sein Leben, seine Kindheit, seine Jugend, das alles würde sein Verhalten womöglich in ein anderes Licht setzen. Dann könnte man denken: Ah, er tut das, weil dies oder jenes passiert ist. Bullshit. Denn es gibt keine Kausalität, die rechtfertigt, dass man Kinder schlägt, tritt, einsperrt und hungern lässt. Keine. Ich werde keine Geschichte über meinen Vater erzählen. Das hier ist meine Geschichte. S. 69

Und dann steht Er vor ihr. Nicht freundlich, aber bestimmt verlangt er ein Schwimmbrett, dass sie ihm eigentlich gar nicht geben dürfte, weil es der Schwimmschule gehört. Aber seine pechschwarzen Pantheraugen, mit den nassen Wimpern, die verklebt sind wie Fliegenbeine, beschleunigen ihren Herzschlag. Als er Richtung Becken geht sieht sie, dass die Beine nicht zum Rest passen sondern merkwürdig verdreht sind.

Als Boris und Nene miteinander schlafen wollen, sagt sie es ihm. Er sieht sie betroffen an und zum ersten Mal weiß sie, dass es um sie geht, weiß, dass es ihr passiert ist, keiner anderen. Er fragt, ob sie Angst hat. Sie weiß es nicht, horcht in sich hinein und merkt, dass sie dieses Gefühl, das in ihrer Kindheit so eine Übermacht hatte, einfach gelöscht hat.

Wir haben übrigens nicht miteinander geschlafen, nachdem ich ihm von der Vergewaltigung erzählt habe. Wir haben noch häufiger nicht miteinander geschlafen. In der Historie von Pärchen, die miteinander schlafen wollen, sind wir das mit den meisten Fehlversuchen. S. 24

Boris ist zügig außer sich, weil er so viele wunde Stellen hat. Weil die Leute immer auf ihn drauf geschlagen habe. Er hat die “Du-Spasti-Wunde”, die “Quasimodo-Wunde”, die “Das Kannst Du Nicht-Wunde” und er hat Schmerzen, schlimme Schmerzen und auch deswegen lügt er oft.

Die Lügerei ist eine heikle Sache. Sie schützt dich vor Scham und Zurschaustellung, aber sie erzeugt Reue und Schuldgefühle. S.46

Fazit: Was für eine gelungene Geschichte. Annika Büsing erzählt in ihrem Debüt von zwei verletzten Seelen. Wie sehr einem ein junges Leben vermiest werden kann. Die Autorin zeigt mir, mit ihrer wunderbar kohärenten und fesselnden Erzählweise, wie sich Menschen langfristig fühlen, die schon sehr früh Gewalt und Demütigungen erfahren haben. Es geht um Würde, darum, dass “die Würde des Menschen ist unantastbar”, in Wirklichkeit eine hohle Phrase ist, weil die Würde des Menschen ja eben doch, weltweit ständig, sekündlich angetastet wird und sich doch die Wenigsten dafür interessieren. Und es ist eine Geschichte über Wut, die es uns daran hindert, optimistisch nach vorne zu blicken. Meine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 01.12.2023
Die Unbestechliche
Welser, Maria von;Horbas, Waltraud

Die Unbestechliche


sehr gut

Als die fünfjährige Alice während der familiären Kaffeerunde gefragt wird, was sie später mal werden wolle, antwortete sie “Sturmführer”, wie dein Onkel, Herr Hocheder. Es schien ihr als der sinnvollste Beruf, denn dass ein ausgewachsener Sturm Anleitung und Kontrolle brauchte, schien ihr nur logisch. S. 26

Alice, 1947 geboren, wächst mit Bruder und ihren Eltern in Miesbach, nähe München auf. Ihr Vater ist viel beschäftigter Arzt und die Mutter schleicht sich morgens aus dem Haus und abends ins Haus, weil sie für ein Frauenboulevardmagazin arbeitet. Die Eltern engagieren Haushälterinnen, die sich um die Kinder kümmern, doch Alice fühlt sich oft unsichtbar. Umso lieber sind ihr die Sonntage, an denen sie sich fast unmerklich auf den Schoß des Vaters schleicht und mit ihm in seine Tageszeitung schaut. Seitdem liebt sie den Geruch von Druckerschwärze und Zigarren. Dass Alice mit fünf Jahren schon lesen kann, weiß niemand und so sieht sie ungebremst durch die Artikel in die Welt hinaus.

Alice ist einundzwanzig, als sie bei der Münchner Lokalzeitung als Volontärin beginnt. Einer ihrer Vorgesetzten schickt sie zu einem Fall. Sie sieht eine nackte Frau im Schnee, die von einer Brücke gestürzt wurde und wird von einer Welle Mitgefühl überrollt. Diese Frau begleitet Alice ein Leben lang, taucht immer dann auf, wenn ihr Leben in einen Umbruch gerät. Dann sitzt sie auf ihrer Bettdecke, oder materialisiert sich aus den dunklen Ecken des Zimmer.

Ihr Mann Karl ist Fotograf und fliegt in alle Länder, um seine Aufträge abzuarbeiten. Deswegen meistert Alice die tägliche Gratwanderung, den Alltag ihrer kleinen Tochter Elsa, mit ihrem eigenen zu verbinden, alleine. Als Alice sich von ihm trennt, geht sie mit Elsa nach München, in das Verlagshaus und arbeitet fortan im Sportresort, wo sie auf einen Aggressor stößt, der zu ungeahnten Machtspielen neigt.

Fazit: Die Autorin Waltraud Horas schrieb über die Lebensereignisse von Maria Von Welser, Gründerin, Redakteurin und Moderatorin des ersten Frauenjournals im deutschen Fernsehen Mona Lisa, und ich halte ein beeindruckendes Zeitzeugnis in den Händen. Waltraud Horas gibt ihrer Protagonistin eine feine Spur Humor, menschliche Wärme und eine große Beobachtungsgabe mit auf den Weg, in eine Welt, in der Männer wichtiger sind als Frauen. Ich las über so viele Ereignisse, die meiner Erinnerung abhanden gekommen waren. Kalter Krieg, Rudi Dutschke, Olympische Spiele in München, Grippe Pandemie und die Überschwemmung an der Lech. In all diesen Ereignissen hat die Protagonistin versucht ihre Aufgabe, ihren Lebensinhalt zu finden und das ist ihr mit Hartnäckigkeit und Biss gelungen. Ein spannendes deutsches Zeitzeugnis und ein schönes Porträt einer großen Frau. Wunderbare Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Britta lebt jetzt mit ihren Kindern, Marscha und Ben und ihrem Mann Philipp in den Marschlanden, einem Bezirk in Hamburg Bergendorf. Sie liebt die Reetdachhäuser von denen sie umgeben sind, Philipp jedoch bevorzugte ein größeres Haus im Neubaugebiet, viel Beton, viele Fenster. Im Gegensatz zu Britta ist Philipp angekommen, sie glaubt noch etwas Zeit zu brauchen. Statt die restlichen Kartons auszupacken, streift sie durch die Gegend, versucht sich die Deichlandschaft zu erschließen.

Als sie mit Marscha schwanger war, verzichtete sie auf eine Karriere als erfolgreiche Geologin. Philipp arbeitete mehr und brachte ein gutes Einkommen nach Hause. Sicher, sie hatte sich schon etwas mehr Einsatz von ihm gewünscht, um auch einmal Freiräume für sich zu schaffen, es dann aber hingenommen, wie es war. Jetzt ist er so eingespannt, dass er ihr abends nicht mehr zuhört, fast beschleicht sie das Gefühl, dass er sich nicht mehr für sie interessiert.

Britta fühlt sich in ihrer Umgebung wie eine Fremde, bleibt nirgends zu lange stehen, versucht keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, ein Gefühl beschleicht sie. Ein Gefühl, das sie kennt, als wäre es in ihre Genetik gebrannt. Sie liest den Namen eines Straßenschildes: Abelke Bleken – Straße und der Name geht ihr nicht mehr aus dem Sinn.

Britta forscht nach, was es mit dieser Frau auf sich hatte, die im fünfzehnten Jahrhundert hier lebte und entdeckt allerlei Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten. Während sie in die Geschichte Abelkes eindringt findet sie Parallelen zu ihrem jetzigen Leben und ihrem Dasein als Frau. Als ihre Tochter durch sexistische Stimmen ihrer neuen MitschülerInnen gemobbt wird schließt sich der Kreis des kaum Aushaltbaren.

Es reichte eine Frau zu sein, ein Mädchen, das reichte schon, um in Gefahr zu sein, eine Zielscheibe zu sein, erst recht, wenn man sich vorwagte, mit etwas herausragte, aus der Rolle fiel, die falschen Wege betrat oder zur falschen Zeit. S. 166

Fazit: Wow, was für eine Geschichte, geistreich, kreativ und so gut recherchiert. Jarka Kubsova hat eine Botschaft. Sie vermittelt uns, was ich auch so oft gespürt habe, was es heißt eine Frau zu sein. Es ist als wäre unsere Amygdala (Sitz der Angst unterhalb der Hypophyse) epigenetisch vergrößert, was uns zu vermehrter Angst, Sorge und Vorsicht bringt. Allein wegen unserem Geschlecht, sind wir manigfaltigen Gefahren ausgesetzt. Wenn dann noch patriarchales Machtdenken oder strukturelle Ungerechtigkeiten hinzukommen, werden wir aus der Bahn geworfen.

Die Technik der Autorin ist große Erzählkunst. Jedes Kapitel wird zu einem Cliffhanger, sie widmet ein Kapitel Britta und unserer Gegenwart, im nächsten schaut sie in Abelkes Vergangenheit. Sie lässt sich Zeit diese Geschichten zu erzählen, mich jedoch nicht ungeduldig zappelnd zurück, sondern hält mir einen interessanten anderen Erzählstrang hin, den ich dankbar annehme. Selten hat mich ein Buch, durch seine bildhafte Sprache so sehr bewegt, wie Marschlande. Danke, Jarka Kubsova, dass ich etwas so mitreißendes, schönes lesen durfte. Chapeau.

Bewertung vom 27.11.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Nilufars Vater Khosrow kommt aus Iran, ihre Mutter aus Deutschland. Sie leben in Gießen in einer Plattenbauwohnung. In Khosrows iranischer Familie sind nahezu alle Ingenieure geworden, deshalb ist Khosrow sehr ambitioniert zu studieren. Sein letzter Versuch zur Nachprüfung steht an, aber an dem Tag kommt Professor Fenner einfach nicht.

Manchmal, wenn er nicht zum Fußballspielen mit den anderen Iranern ging, fuhr er extra mit dem Bus eine Dreiviertelstunde zum Bahnhof, um sich eine persische Zeitung zu kaufen. Dann atmete er für einen Moment die Luft aus der Siedlung aus, seine Augen waren zwei rot geschwollene offene Wunden. S. 43

Sie ziehen nach Rabenau, weil Khosrow glaubt, dort die besseren Geschäfte machen zu können. Er findet einen Platz in der Kommunalpolitik und vertreibt Oettinger alkoholfrei nach Iran, aber wegen des Embargos laufen die Geschäfte schlecht.

Nilufar fühlt sich in Deutschland falsch, in Iran fremd. Als alle Stricke reißen, verlässt ihre Mutter Khosrow und geht mit Nilufar zurück nach Gießen, dort ist für Nilufar alles aussichtslos.

Wir kannten die ganze Welt, und sie war grau, feuchtkalt und neblig, ein feiner Nieselregen in unseren Köpfen. Wir lehnten wie Statisten an einer Waschbetonwand, bliesen perfekte Rauchkringel in die Nacht und warteten ab. Unsere Väter waren weg, tot oder unbrauchbar. Wir waren Gespenster. S. 115

Als sie ihren Vater viele Jahre später endlich in Iran besucht, versucht sie sich ihr Land zu erschließen. Nilufar trägt Kopftuch, hat aber ansonsten Schwierigkeiten mit dem Kleidercodex. Ihre Cousine Narges berät sie. Enge Hose, langes weites Oberteil, keine Sandalen auf dem Basar, im Norden Teherans schon. Frauen leben für die Familie, sie kochen Essen und Tee, erziehen die Kinder, führen den Haushalt. Ob, wann und wohin sie vor die Tür gehen, bestimmt ihr Vater, oder Mann. Nilufar befindet sich in einer Matrix aus gesellschaftlichen Konventionen und Benimmregeln Die Familie spricht nicht mehr mit Hassan, Khosrows Bruder, weil der konservativ ist. Während Familienfesten redet Nilufar nur, wenn sie gefragt wird, und dann in angemessener Wortzahl. Die Frauen schneiden ihr Aprikosenstückchen und legen sie vor sie. Begrüßungen sind voller Floskeln.

Friede sei mit dir, du bist mein Bruder, mögest du nicht müde sein, entschuldige, meine Tochter ist zu Besuch, ich möchte ihr zu Ehren gerne ein Lamm schlachten. S. 196

Fazit: Die Autorin hat sich für eine Ich-Erzählung im Präsens entschieden, die Protagonistin ist sie Selbst. Sie fand die richtigen Worte, um mir die beklemmende Beziehung zu ihrem distanzierten Vater zu vermitteln, der sich lieber hinter einer Zeitung versteckt, als sich den schwierigen Fragen zu stellen. Ich spüre die Zerrissenheit aller Beteiligten, die Mentalität, die so anders ist als die kühle Deutsche, die voll von Paragrafen und Regeln ist. Nilufars Vater ist nie hier angekommen, obwohl er sich wirklich bemüht hat. Nilufar selbst ist völlig entwurzelt. Der Klang der Geschichte ist melancholisch. Es ist kein leichter Wohlfühlroman, ich musste mich sehr konzentrieren, um immer wieder rein zu kommen. Ich hatte meine Probleme mitzufühlen und dadurch die Geschichte mitzuerleben und weiß nicht woran es lag.